Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine romantische Anekdote
Da in unserem nüchternen Zeitalter kein vernünftiger Mensch mehr Philander heißt, so wollen wir aus Zartgefühl mit diesem Namen den hübschen jungen Mann benennen, der eben jetzt von einer kleinen Reise zurückkehrt – im Bummelzug natürlich, Holzklasse, denn er ist scheußlich arm; und allein, denn seine schöne Begleiterin ist ihm unterwegs davongelaufen. Einerlei – er schreitet beschwingt daher und lächelt, wie nur ein Mann mit leeren Taschen und vollem Herzen lächeln kann, der die Hauptgestalt in einer romantischen Geschichte ist. In der Hand hat er einen nicht mehr ganz neuen, aber vortrefflich erhaltenen Handkoffer, den er vor Jahren von seinem unbegütert und fromm verstorbenen Oheim Eusebius als dessen einziges Vermächtnis ererbt hat. Sage niemand, daß es uns nicht angeht, was dieser Koffer enthält – es ist nötig, daß wir es wissen. Er enthält ein Hemd, das der anspruchsvolle Leser verschmähen würde, obschon es sauber ist; zwei Papierkragen; Strümpfe; ein Stück Seife; Hölderlins Gedichte; grüne Morgenschuhe, die mit sehr roten Rosen bestickt sind; und die Handschrift von Philanders »Liedern an eine Blonde«, die er sehr schön findet, obschon ihm, während und weil er sie dichtete, die Blonde davonlief.
Da ist er also durch eine braungoldene Herbstlandschaft gefahren und hat sich an sacht verfärbten Wiesen, farbflammenden Wäldern und grauen Gewässern gefreut. Nun läßt er sich von hastigen Geschäftsleuten und plumpen Bäuerinnen durch die Bahnsteigsperre knuffen; entdeckt, den Schritt verhaltend, in der Mitte seines Innern ein Unlustgefühl – und gelangt dazu, es als Hunger zu erkennen. Er klaubt aus seinen Taschen ein paar Groschen zusammen, tritt an den Schanktisch im Wartesaal und kauft sich einige Früchte, die er, süßen Saft lustvoll schlürfend, zu verzehren beginnt. Seinen Handkoffer hat er neben sich an die Erde gestellt. Als er, gesättigt, das letzte Kerngehäuse vorschriftsmäßig in den dafür bestimmten Korb geworfen hat, greift er zuversichtlich nach seiner Handtasche. Holla, aber da greift er vergebens. Die Tasche ist fort. Wer hat sie gestohlen? »Man,« müssen wir sagen; denn alle Leute, die in der Nähe sind, haben oder machen harmlose Gesichter, und soviel wir auch mit Philander umherspähen – wir sehen viele, denen wir den Diebstahl zutrauen möchten, aber keinen, dem wir ihn beweisen können.
Was tut Philander? Er geht zur Polizei. Zwar hat er noch niemals Steuern bezahlt. Strafbares gebüßt oder sein Wahlrecht ausgeübt, aber er fühlt sich trotzdem plötzlich als Staatsbürger. Er hat Vertrauen zur Polizei. Sie ist unfreundlich, aber gerecht; sie wird es mißbilligen, daß man einem armen Hans-guck-in-die-Luft seine einzige Habe stiehlt, und sie wird ihm die Habe wieder herbeischaffen. Sie mißbilligt es auch; aber vom Wiederherbeischaffen ist einstweilen nicht die Rede, sondern von Philanders Personalien, seinem Vorleben, Bildungsgang, Elternpaar und Reisezweck. Als Philander in seiner Verwirrung auch von der Blonden spricht, feixt der Beamte und will auch über sie alles wissen, obzwar sie, wie gesagt, davongelaufen ist. Dann ist von einem Protokoll die Rede und vom Inhalt der Tasche, wobei der Beamte abermals feixt; hierauf muß Philander alles unterschreiben. »Ja,« sagte der Beamte wichtig – »das ist eine Kofferfalle gewesen.« Und er beginnt, auf Philanders fragenden Blick antwortend, die Sache zu erläutern: Das ist ein Handkoffer, nicht wahr, unter dem man den Boden weggeschnitten hat; stattdessen hat man an den unteren Rändern Metallstäbe angebracht, die, wenn man auf einen kleinen Hebel oben am Bügel der Tasche drückt, hervorschießen und sich unter dem Hohlraum verschränken. Man setzt das Ding wie eine Käseglocke ganz harmlos im Gewühl über die Tasche eines Reisenden, die man stehlen will, drückt auf den Hebel, hat die Beute wie eine Maus in der Falle und geht zufrieden weg. Niemand kann etwas sehen. »Niemand,« denkt Philander mit nie gekannter Bitterkeit – »vor allem die Beamten nicht.« Und er geht, ohne den schuldigen Dank zu entrichten.
Da sitzt er nun, seht ihr, in seiner häßlichen, aber romantischen Dachstube und sieht die Sonne und die letzten Schwalben nicht, sondern verwühlt sich in finstere Gedanken. Es gibt so viele Leute, die es verschmerzen können, wenn man sie bestiehlt; er kann es nicht verschmerzen. Wo blieb die höhere Gerechtigkeit, als es galt, die Hand des Diebes zu lenken? Oh, man kann dieser höheren Gerechtigkeit nicht zu Leibe; aber der irdischen, dieser blinden Schnecke, kann man höhnisch eine Nase drehen. Und wie? Wir müssen befürchten, daß der sanfte Philander zur Hyäne wird. Kein Gedanke an Brandstiftung und Amoklauf; aber das kranke Feuer der sogenannten fixen Idee flackert in seinen Augen. Er wird ein Pirat auf den Bahnhöfen werden, ein Störtebeker im Landverkehrswesen, ein Michael Kohlhaas in bezug auf Handtaschen. Seht: Er sucht mit zitternden Fingern in der wackligen Kommode sein letztes Geld zusammen; er geht zum Trödler und kauft sich einen großen, bieder aussehenden Handkoffer. Er entsinnt sich einst geübter Bastelkünste und macht sich zu Hause daran, den Boden des Koffers wegzuschneiden. Stattdessen bringt er an den unteren Rändern Metallstabe an, die, wenn man auf einen kleinen Hebel oben am Bügel der Tasche drückt, hervorschießen und sich unter dem Hohlraum verschränken werden. Er macht die Probe auf die Zuverlässigkeit dieser Kofferfalle mit Hilfe seiner alten Fußbank und verläßt dann am anderen Abend mit der Tasche das Haus, die verzweifelte Entschlossenheit des Wahnsinns im Blick.
Aber es ist Methode in diesem Wahnsinn. Philander – wer hätte das gedacht? – handelt wie ein alter, erfahrener Zunftfachmann. Er betritt, Angstanwandlungen kräftig hinunterschluckend, den Bahnsteig, wo der Nachtschnellzug nach Berlin abfahren wird; er durchwandelt gelassenen Schrittes die dichtgedrängte Menge der wartenden Reisenden und macht ein Gesicht dabei, als wäre die Benutzung von Nachtschnellzügen ihm eine alltägliche, abstumpfende Gewohnheit. An dem Eisengeländer, das den Schacht der Bahnsteigsperre begrenzt, stehen viele Koffer und Handtaschen in allen Größen, mit und ohne Aufsicht. Philander wählt hastig eine davon, die in der Größe passend erscheint, für sein Probestück; pirscht sich heran; setzt seine Kofferfalle darüber; drückt auf den Hebel und hört das leise Klicken des einschnappenden Metalls; wartet einen Augenblick voll herzabdrückender Spannung und nimmt dann, mit einer gemurmelten Bemerkung, als hätte er sich in der Richtung geirrt, die Beute auf. Er hat Glück: Eben läuft auf der anderen Seite des Bahnsteigs ein Zug ein; so kann er sich unauffällig unter die Ausgestiegenen mischen und sich von der niederschwappenden Woge in den Treppenschacht spülen lassen. Mit zitternden Knien, schweißbedeckt, kreisende Feuerräder vor den Augen, aber, ach, voll wilden Triumphes verläßt er den Bahnhof.
In der Nähe ist ein kleiner Park, und darin steht, verborgen in einem Gebüsch, aber beleuchtet von einer Laterne, eine einsame Bank. Da läßt sich Philander nieder, der Kälteschauer in der nassen Abendluft nicht achtend, und befreit voll gieriger Spannung seinen Raub aus dem Käfig. Warum zuckt er, als er die gestohlene Tasche genauer betrachtet, zusammen? Warum reißt er sie mit einem knirschenden Ruck auf und zerrt den Inhalt mit bebenden Fingern heraus? Warum lacht er so schrecklich, daß wir uns besorgt umschauen, ob auch niemand es hört? Betrachten wir den Inhalt; vielleicht erhalten wir Aufklärung. Da ist ein Hemd, das wir kennen; aber es hat Gesellschaft bekommen in Gestalt eines zweiten, das auch der etwa nicht anspruchsvolle Leser verschmähen würde. Da sind Hölderlins Gedichte; die uns geläufige Zahl der Papierkragen hat sich auf einen verringert, aber die Strümpfe sind noch da; auch die grauen Morgenschuhe mit den sehr roten Rosen fehlen nicht; ebensowenig die Seife, wenn sie auch etwas kleiner geworden ist; zu den »Liedern an eine Blonde« hat eine fremde Hand schauerlich gemeine Randzeichnungen gemacht und ihnen die Aufzählung des gesamten legitimen und illegitimen Besitzstandes der »Wirtin an der Lahn« nachgefügt. Und schließlich findet sich noch ein dickes Buch, aus dem man sich über die Geheimnisse der Nonnenklöster unterrichten kann. Hat etwa Philander die entwendete Tasche seines Oheims Eusebius wiedergestohlen, in dem Augenblick, wo der Dieb damit hinwegreisen wollte? Wir können es nicht bezweifeln.
Da sitzt nun Philander, seht ihr, auf der Bank, hat die Hände vors Gesicht geschlagen und läßt durch die Finger zornige Tränen tropfen. Wohl hat er der irdischen Gerechtigkeit eine Nase gedreht, aber von der höheren hat er dafür eine schmerzende Ohrfeige bekommen. Und er sieht ihren schulmeisterlich erhobenen Zeigefinger, wie sie spricht: »Es hat gar keinen Zweck, daß du dich in den Abgrund des Verbrechens hinabschleuderst, Philander; ich will dich da nicht haben, und ich werfe dich mit starker Hand in die Ebene deiner Bestimmung zurück. Bleib bei deinen Leisten – und schreib zur Strafe bald die »Lieder an eine Blonde« ab, damit sie wieder eine anständige Verfassung bekommen.«
Ein stämmiger, bürgerlich gekleideter Mann von heiterer Gemütsart, Bauführer etwa oder Architekt mittleren Grades, geriet, seine etwas abgeschabte Aktentasche unterm Arm, eines Abends in ein kleines Wirtshaus am Flußufer. Er steuerte, müde von einem ehrlichen Arbeitstage, auf einen der Holztische los, ließ sich, behaglich durch den unmodisch biedern Schnauzbart prustend, nieder, aß mit Lust und Sachkenntnis, was der Wirt an Gerichten zu bieten hatte, und spülte die kräftige Kost hörbar und nachdrücklich mit deutschem Pilsener hinunter. Danach blickte er sich mit erwachender Aufmerksamkeit in der Schankstube um, warf hier und dort ein Wort ins Gespräch der Gäste, rückte schließlich mit Verlaub in eine Stammtischrunde ein und erlangte mit seinen Witzen, Mordgeschichten und Biergesängen bald das Übergewicht über den bisherigen Ehrenmeister des Kreises. Schließlich, als auch die Ausgepichtesten ihre Ladelinie erreicht sahen und Anker gelichtet hatten, suchte sich der Unverwüstliche einen neuen Liegeplatz bei den letzten Gästen, zwei fremden Männern, augenscheinlich Küpern oder Stauern, und schickte bald in traulichem Verein mit ihnen Lieder und Lachsalven zur Decke empor, daß das säuberlich geschnitzte Modell der Galeasse »Simon van Dordrecht« an seinem Strick wie bei grober See schwankte.
Als der Wirt Feierabend geboten und die Schankstube mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt geräumt hatte, fand unser wackerer Freund ein köstliches Vergnügen daran, über die Kaimauer hinweg den mondbeglänzten Fluß zu betrachten, während seine beiden Kumpane gegen Wasser, zumal in solcher Menge, eine aus den Umständen erklärbare Abneigung bekundeten. Er machte diese Abneigung mit donnerndem Gelächter zur Zielscheibe unziemlicher Scherze, rühmte sich, je mehr sie ungläubig meckerten, um so lauter seiner sportlichen Vertrautheit mit dem Süß- wie Salzwasser und machte sich schließlich in einer Art von wütendem Überschwang anheischig, den Fluß da unten sogleich und mit voller Zivilbekleidung zu durchschwimmen. Das Anerbieten, zunächst mit Hohngelächter aufgenommen, wurde zum Gegenstand einer Wette um hundert Mark gemacht; man trommelte den Wirt, der drinnen gerade die Stühle auf die Tische stellte, heraus, ernannte ihn trotz seinem weisen Abraten zum Schiedsrichter und hinterlegte bei ihm beiderseits den Wettbetrag. Hierauf packte der kühne Schwimmer seine Wertsachen in die Aktentasche, übergab diese dem nur noch pflichtschuldigst widerredenden Wirt zur Aufbewahrung, stapfte, glühend vor Tatendrang, etwas knickebeinig die Steintreppe zum Wasser hinab und warf sich mit dumpfem Plumps hinein.
Er versackte sogleich, arbeitete sich wieder hoch, spie den unerwünschten Wasserballast von sich und schwamm mit wütenden Stößen ohne Besinnen drauflos. Bald nötigten seine schwerer werdenden Kleider ihn zu besonnenerer Anwendung seiner Kräfte; etwa in der Mitte des Flusses aber packte ihn ein Wirbel, drehte ihn dreimal rundum, tunkte ihn gründlich unter und wollte ihn kaum wieder loslassen. Davon wurde er völlig nüchtern, und als er mühsam wieder hochgekommen war, verhehlte er sich nicht, daß es hier nicht um hundert Mark, sondern ums Leben ging. Er spuckte mit dem Wasser einen kräftigen Fluch auf seine blödsinnige Dummheit aus, ließ unversehens ein Stoßgebet folgen, nahm sich zusammen und strebte mit verzweifelter Zähigkeit schräg zur Strömung dem Ufer zu. Gerade als er in einem saugenden Wirbel aus Wasser, rauschendem Gebrause und kreisenden Sternen zu versinken wähnte, spürte er Grund unter den Füßen, verlor ihn wieder, strampelte, packte irgendwo eine Kette, fiel mit dem Gesicht auf nassen Sand und feierte, quer über dem Körper eines umgekippten Bootes liegend, seine wunderbare Rettung mit einem ungemein mißtönenden Gebrüll.
Als er wenige Minuten später, die Ellbogen in die Hüften gestemmt und den Kopf schief gegen den Wind geneigt, in dröhnendem Dauerlauf über die Brücke zurückkehrte und eine feuchte Spur hinter sich herzog, flammte in ihm ein gewaltiger Triumph auf. Ha – dies war nicht nur eine gewonnene Wette um hundert Mark, dies war eine Leistung ohne Beispiel, ein Rekord vor Zeugen, eine druckreife Heldentat; dies war ein Anlaß, Lokalberichterstatter in Bewegung zu setzen, sein Bild in Sonntagsbeilagen zu bringen, prämiierte Meisterschwimmer an gelbem Neid krepieren zu machen. So bog der Sieger hallenden Schrittes um die Straßenecke, bereit, sich in die Umschlingung von sechs begeisterten Armen zu stürzen.
Niemand umschlang ihn; dagegen saß der dicke Wirt an der Kaimauer auf dem Straßenpflaster, stützte sich auf gespreizte Hände, hatte aus zunächst nicht ersichtlicher Ursache ein kornblumenblaues Gesicht und stieß Töne aus, die jenseits aller Schilderungsmöglichkeit liegen. Erst nach geraumer Zeit war aus seinen Äußerungen ein Bild der Ereignisse zu gewinnen. Danach waren die beiden fremden Männer in jäher Ernüchterung zu der Erkenntnis gelangt, daß man ihnen selbst im Falle ihres Sieges den Wettbewerb gewiß als Erbmasse streitig machen würde. Sie hatten ihren Einsatz zurückverlangt, waren darüber mit dem Wirt uneins geworden und hatten plötzlich seine Einwände mit zwei zünftigen Magenhaken knock-out geschlagen; worauf sie, ohne Zweifel irrtümlichermaßen, beide Hundermarkscheine und die Aktenmappe ergriffen und damit im Gewirr der Seitengassen verschwanden, wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Der Wirt, noch immer auf seinem Pflasterplatz, würzte im Maße seines wiederkehrenden Sprechvermögens diesen Bericht mit einer großen Zahl ungeschminkter Vorwürfe, in die er ungerechterweise den anwesenden Sieger mit einbezog.
Wir unternehmen es nicht, den Gefühlsabsturz, den der unselige Mann bei dieser furchtbaren Wendung durchmachte, mit Worten nachzubilden. Dagegen stellen wir uns bewegt seine mitleidweckende Erscheinung vor, wie er keuchend und dampfend dastand und den Wirt aus kugelig vorquellenden Augen anstarrte; indessen das von ihm niederrieselnde Wasser sich rings um seine stämmigen Beine zu zwei Tümpeln sammelte, auf deren Oberfläche schwermütig der Widerschein des Mondeslichtes glänzte.
Zwei Stunden nach Mitternacht, als der oft mit Eisnadelschauern klirrende Nordwest nach Südwest umgesprungen war und die kümmerlich hingeduckte Kate unter den pressenden Stößen des warmen Windes erbebte, fuhr der Bauer aus der winterlichen Dumpfheit seines Schlafes empor. Langsam erwachte sein schwerfälliges Gehirn zu dem Bewußtsein, daß etwas Fremdes drohend in die stickige Enge seiner Umwelt eingedrungen war. Zuerst meinte er wohl, es sei das Tauwetter und die veränderte Stimme des Windes; aber nein, das war es nicht: plötzlich erkannte er, daß sein Weib neben ihm nicht wie sonst in trägem Gleichmaß gelassen schnarchte, sondern hastig und mit einem seltsam pfeifenden und wimmernden Keuchen atmete. Der Bauer schickte eine kurze Frage in die Finsternis und wartete eine Weile auf Antwort; als sie nicht kam, knurrte er etwas von »Traum« und »Schlafenlassen« und drusselte wieder ein. Aber schon ein paar Stunden später schrak er wieder auf: nun war neben ihm in der feuchten Wärme des Kissengebirges ein deutliches Stöhnen, unterbrochen von leisen Klageworten. Mühsam kletterte der Bauer aus dem Alkoven, suchte brummend seine Pantoffeln und tastete sich zum Herde, um das Feuer aufzustökern; dann zündete er die kleine Petroleumlampe an und schlurrte zum Bett. So stand er, den riesenhaften Körper etwas verkrümmt, mit der Linken nachdenklich die grauen Kinnborsten kratzend, mit der Rechten die blakende Lampe emporhaltend; und wenn sich auch in seinem braunen, von Wetter und Alter zu Pergament verhärteten Gesicht kein Muskel regte, so dämmerten doch in seinen hellen Augen Unbehagen und Verwunderung auf: das da in den rotgewürfelten Kissen war nicht das gewohnte Gesicht seines Weibes, verrunzelt, rotbackig, gleichmütig; das war ein verfallenes, kleines, gelbliches Gesicht, mit ängstlich flackernden Augen und einem schiefgezogenen Munde, der abgerissene Klagen über Schmerzen im Leibe mummelte.
Der Bauer, ein bis zu tagelanger Stummheit wortkarger Mann, wußte nichts von Angst und weichherziger Besorgnis; er wußte auch nichts von Krankheit. Hart und einsam, kinderlos und ohne Wunsch an die Zukunft stand er im Gleichgang seiner Tage, die ihn unabänderlich an starre Gewöhnung ketteten – an das tödliche Schweigen der Mooreinöde, an das Geracker auf kärglichem Ackerland und am Torfstich, an das Kommen und Gehen der Taglöhner, an die langen stillen Fahrten auf schwarzen Moorgräben, wenn er seine Ladungen zum Torfwerk vor der Stadt stakte und ohne Neugier zu den fern ragenden Türmen hinübersah, die er niemals in der Nähe erblickt hatte; und an das stumpfe Verdämmern der Wintermonate. In dieser Morgenstunde aber witterte er mißtrauisch eine Gefahr für dieses mit scheinbar unerschütterlicher Zuverlässigkeit ablaufende Leben. Wenn die Frau krank wurde, so gab es einen Riß, den er nicht zu flicken wußte.
Indessen der Kessel mit dem Wasser für den Kamillentee am Haken über dem Feuer summte und der Bauer ächzend in die Kleider kletterte; dann, als er im Stall die Ziege, das Schwein und die Hühner versorgte, kaute er an einem schweren Entschluß. Auf dem Rückwege zur Kate aber zwang die Besorgnis den harten Brocken hinunter. Während er aus einem Kasten, der unterm Brennholz verborgen stand, eine Handvoll Silberstücke hervorholte, durchzählte, zögernd und seufzend ein paar davon im Taschentuchzipfel verknotete und den Rest sorgsam wieder verbarg, überlegte er. Drei Wegstunden entfernt war eine Haltestelle der Kleinbahn, die das Moor durchquerte; von dort war es eine halbe Stunde Fahrt bis zu dem großen Dorf, wo der Doktor wohnte. So weit recht; aber auf den Gräben war noch dickes Eis, das kein Boot durchließ; ein Gespann hatte er nicht, und bis zum Nachbar war es weit; auch mit der Schiebkarre war im Morast der Wege kein Durchkommen. Bedachtsam packte der Bauer Holzpantoffeln und Reiserbesen, das Ergebnis der Winterarbeit, in einen Tragkorb; das ließ sich wohl im Dorf verkaufen. Dann fuhr er in seine langschäftigen Stiefel, holte die Frau aus dem Bett hervor, kleidete sie an, so gut es gehen wollte, und packte sie in Decken und Tücher. Als er auf ihre ängstlichen Fragen etwas wie »Doktor« knurrte, erschrak sie und versicherte hastig plappernd, es ginge ihr schon besser. Er aber hörte kaum hin, langte nach Wolltuch, Kappe und Fausthandschuhen und trug erst den Korb, dann die Frau hinaus. Dann versperrte er die Tür, nahm die Frau auf, trug sie eine Strecke weit, setzte sie am Rande des schmalen Pfades an einer einigermaßen trockenen Stelle ab, kehrte um und holte den Tragkorb. So schleppte er, zuweilen ein wenig schwankend unter den Stößen des Windes, immer abwechselnd die Frau und den Korb durch Schlamm und Schlackerschnee, nasses Heidekraut und zähe Ginsterstrünke. Den Gehöften ging er aus dem Wege; mit überflüssigen Fragen wollte er nichts zu schaffen haben. Er wußte, was er wollte, und er setzte es durch.
Gegen Mittag erreichte er die Haltestelle und betrat den Raum, in dem ein mürrischer Beamter gelangweilt hinterm Kaffeetopf hockte und überrascht aufblickte, als bei solchem Wetter Fahrgäste erschienen. Der Bauer setzte die Frau neben den Ofen, holte den Tragkorb nach und fragte, ob der Mittagszug schon »durch wäre«. Nein, er war noch nicht durch. Nun wollte der Bauer den Fahrpreis wissen, für eine Person und zwei Traglasten. Der Beamte wunderte sich: Zwei Traglasten …? Jawohl, bekräftigte der Bauer gelassen, die Frau hätte er tragen müssen, weil sie nicht gehen könnte, und so etwas wäre für ihn Traglast. Aber das wollte der Beamte nicht gelten lassen. Für ihn war in solchem Falle Mensch – Mensch, ob gehfähig oder nicht; und er nannte den Fahrpreis. Hier ließ der Bauer den Taschentuchzipfel mit den Silberstücken zurückgleiten. Er hatte eine glatte Rechnung gemacht: der Doktor sollte sozusagen mit Holzschuhen und Reiserbesen aufgewogen werden; und nun sollte schon die Bahnfahrt mehr kosten, als er überhaupt mitgenommen hatte. Die schöne glatte Rechnung war hin. Er sackte ein wenig zusammen, nahm mit einer hilflosen Bewegung die Kappe ab und wischte sich mit dem Handrücken die feuchten grauen Haarsträhnen aus der Stirn und das tropfende Wasser aus den Augenbrauen; denn er wußte, was jetzt kam. Und richtig, die Frau, die seit Stunden vor Schmerz und Angst stumm gewesen war, wickelte ihr Gesicht aus den Tüchern, holte Atem und sprudelte mit verwunderlicher Geläufigkeit einen Strom von höhnischen Vorwürfen, wimmernden Klagen und triumphierendem Gekeif hervor.
Als sie erschöpft schwieg, richtete sich der Bauer aus geduckter Haltung zu voller Größe auf und reckte seine mächtigen Glieder, daß die Gelenke knackten. Wortlos, mit dröhnenden Schritten, ging er zur Tür, stieß sie auf, trug erst den Korb, dann die Frau hinaus und warf die Tür mit grobem Knall hinter sich zu. Draußen nahm er die Frau auf, trug sie eine Strecke weit, setzte sie am Rande des schmalen Pfades an einer einigermaßen trockenen Stelle ab, kehrte um und holte den Tragkorb. So trat er ohne einen Augenblick des Verweilens den Heimweg an, immer abwechselnd die Frau und den Tragkorb schleppend, mit sturer Unbeirrbarkeit, wie ein plumper Gaul dahinstapfend durch Schlamm und Schlackerschnee, nasses Heidekraut und zähe Ginsterstrünke. Der Beamte stand am Fenster und sah in starrem Staunen dem seltsamen Erlebnis nach, bis der stärker fallende Schnee den Mann und seine doppelte Last wie mit einem streifigen Schleier überspann und die fahlgraue Mooreinsamkeit die Gestalt des riesigen Wanderers verschlang.
Zart und schön und von selten herzrührendem Zauber ist die Geschichte von dem Liede, das der junge Lehrer eines schwedischen Dorfes erdachte, als im hellen Grase über den Schären die ersten Gänseblumen aufglänzten. Es war ein sehr einfaches Lied, voll sachter Schwermut und silbriger Herbheit, wie der schwedische Frühlingstag, den es sang, wie seine blasse Sonne und seine schimmernde Verhaltenheit, wie die Frühnebelschleier und der Wind, dessen kühler Atem immer eine Ahnung vom Eishauch des hohen Nordens in diesen lichtgrünen Frühling trug. Aber es war auch eine Sehnsucht darin, der das helle zartdunstige Blau dieses Himmels wie eine begrenzende Hülle erscheinen wollte: Wenn sie sich einmal kühn hindurchschwang, so war ihr vielleicht eine flammende Unendlichkeit aufgetan. Der junge Lehrer war stolz auf das Lied, aber auch ein wenig scheu davor, wie vor den wunderlich süßen und beklemmenden Träumen, die ihn zuweilen seiner Welt der kleinen Pflichten und der gewissenhaften Sparsamkeit, der kargen Bücher und des immerwährenden Einsamseins entrückten. Er sang es in seinem Schulzimmer und freute sich daran, daß die ruhigen hellhaarigen Kinder die Weise, zögernd und leise erst, aufnahmen und dann heller und sicherer nachsangen und mit ihrem jungen Leben füllten; er sang es abermals: und nun ergriff und hob ihn ein Gefühl, als vermöchte er zum erstenmal in beschwingt steigendem Flug sich einen Herzschlag lang über jene begrenzende Hülle hinwegzuheben und einen kurzen glanzgeblendeten Blick in die flammende Unendlichkeit zu tun. Es war ein ungeheures Erlebnis, beseligend und tief verwirrend zugleich; aber später erst, als er in der Einsamkeit seines kleinen Zimmers der rätselhaften Kraft nachsann, die ihn getragen hatte, erkannte er, daß diese Kraft aus einem großen unverwandt auf ihm ruhenden Blick strömte: dem Blick blauer Augen in einem schmalen blassen Mädchengesicht.
Kein Wort aus dem Alltag, und sei es noch so behutsam, darf das Erlebnis streifen, das den Lehrer mit diesem Kinde schicksalhaft verknüpfte. Denn sie war ganz ein Kind noch, so ernst und voll gelassener allzu früher Reife sie schien. Auch hätte der Lehrer dieser Verknüpfung nicht Namen noch Deutung geben können, selbst wenn er nach solcher Deutlichkeit gesucht hätte. Er suchte sie nicht – mied sie wohl gar. Er fühlte nur, daß er in den wiederkehrenden Augenblicken, da ihn die Melodie zum kurzen ahnenden Ausblick in das Unendliche emportrug, immer in dem großen magischen blaubrennenden Glanz dieser Augen stand: in einer linden und zugleich mächtigen Flamme, die nicht verzehrte und versehrte, sondern ihn mit zauberischer Kraft ganz ergriff und ihn vielleicht einmal in die klaren und freien Bezirke einer unirdischen Erfüllung heben würde.
Als er freilich im darauffolgenden Winter, durch einen Knecht herbeigerufen, sich durch eine windsausende und eisklirrende Nacht bis zu dem Bauernhof hindurchgekämpft hatte, der den Eltern des Mädchens gehörte, schien das Tor zu solcher Erfüllung für immer geschlossen, und das schmale blasse Gesicht war, augenlos geworden, in die geheimnisvolle Endgültigkeit eines rätselhaften Ausdrucks gebannt: Denn das Mädchen war an einem jähen Fieber gestorben, und der Lehrer kam zu spät, um den letzten Wunsch zu erfüllen, um dessentwillen er herbeigerufen war. Er vernahm von allem, was zu ihm gesprochen wurde, nur dies: daß er ihr noch einmal sein Lied habe vorsingen sollen, bevor sie sterben müsse; und er suchte dabei unablässig den Ausdruck dieses Gesichts zu deuten. Sehnsucht, dachte er; und Liebe – ja, Liebe; ein großes Verlangen, das über alles irdisch Endliche hinausgreift; und ein Wissen, eine Gewißheit, die der Erfüllung klar und gläubig sicher ist. Danach wandte er sich plötzlich und lief so rasch in die Nacht hinaus, daß der Knecht, den sie ihm mit der Laterne nachschickten, Mühe hatte, ihn einzuholen und heimzugeleiten.
Die Deutung der Botschaft, die das Antlitz der Toten ihm sagen wollte, muß zu ihm gedrungen sein wie ein unabweisbar zwingender Ruf. Die Bauern und Kinder, die dem Sarge auf dem weiten Wege zum Friedhofe folgten, fanden es kaum verwunderlich, daß der Lehrer barhaupt und stumm unter ihnen erschien: denn sie kannten es an ihm, daß er zuweilen auf eine seltsame und unzugängliche Art anders war als sie. Der und jener sah wohl erstaunt auf, als er dann vor ihnen allen an der Spitze des Zuges dahinschritt. Alle aber hoben betroffen die Köpfe, als er zu singen begann. Er sang der Toten sein Lied, das noch einmal zu vernehmen der Lebenden versagt worden war. Als er es zum ersten Male sang, schwankte seine Stimme ein wenig und verflackerte zuweilen in dem eisigen Wind, der über die hartgefrorenen Felder daherfuhr, daß die Luft schrill und gläsern klang und die Bäume und Büsche klirrten. Dann aber, beim zweiten Male, hob sich die Stimme hoch und frei und siegte über Kälte und Wind und war ein helles sieghaft schwebendes Getön über der winterlichen Öde. Sie sahen ihn schreiten und hörten ihn singen, und sie mochten wohl ahnen, daß der Mann da vor ihnen einen Schicksalsweg ging. Noch aber ahnten sie nicht, daß dieser Weg vor ihren Augen in die Vollendung münden sollte: Denn schon war der Singende dahingeschritten durch den aufleuchtenden, den endlich wieder vor ihm aufleuchtenden magischen blaubrennenden Glanz, der ihn wie eine linde und zugleich mächtige Flamme ganz ergriff. Schon hatte sie ihn steilauf über alle irdische Begrenzung emporgetragen in die flammende Unendlichkeit einer Erfüllung, in die er, singend, völlig und selig sich verströmte: So daß, noch ehe der letzte Ton des Liedes verklungen war, Wissen und Erkenntnis des uns Lebenden Unerkennbaren ihn ganz in Klarheit hüllten und er, niederstürzend ins Endliche und dennoch emporgerissen ins Unendliche, die Berührung mit der Erde nicht mehr spürte.
Eine bremische Anekdote
Ein Gastwirt, seiner guten Eigenschaften wegen mit Recht beliebt, war an einem Leberleiden, das er sich durch treue Erfüllung seiner Berufspflichten ordnungsgemäß zugezogen hatte, tapfer und unauffällig gestorben; und seine Kollegen, zu einem in jedem Betracht stattlichen Verein zusammengeschlossen, faßten einstimmig den Beschluß, ihm die in einem solchen Falle üblichen letzten Ehren mit besonderer Pracht und Herzlichkeit zuteil werden – oder, um im rechten Ausdrucksstil zu bleiben: angedeihen zu lassen.
Der Träger des Vereinsbanners, der – mit einem leisen Kopfschütteln sei es gesagt – zu dieser Würde hauptsächlich durch die überragende Wucht seiner Körperlichkeit gelangt war, wurde beauftragt, feierlich seines Amtes zu walten. An die ernste Arbeit dieser Beratung schloß sich ein sogenanntes Beisammensein, das ungewöhnlich ausgedehnt und befeuchtet wurde – teils um des Verewigten in traulichen Gesprächen nach Verdienst zu gedenken, teils um das merkwürdig kühle und unbehagliche Gefühl, das sein jäher Hintritt im Innern der Überlebenden hinterließ, mit bewährten Mitteln zu bekämpfen. Die Folge davon war, daß der Bannerträger, bis zur Unkenntlichkeit getröstet, seinen späten Heimweg mit vielen unerwarteten Hindernissen besät sah; und daß er, auf seinem Bettrand hockend und in einen zähen Kampf mit unterschiedlichen Bekleidungsstücken buchstäblich verwickelt, es für nötig hielt, sich den verpflichtenden Ernst seiner Aufgabe durch eine eindringliche Selbstansprache klarzumachen.
Doch gelangte er am andern Morgen unter kundiger Mitwirkung seiner Gattin in das übliche Trauergewand (Bratenrock und schwarze Schleife, hinten zugeschnallt), kam in einer Droschke sehr frühzeitig zum Friedhof und fand die Kapelle noch gänzlich leer. Er quetschte seine riesigen Gliedmaßen in eine Bankecke und war alsbald von der Welt der Wirklichkeit durch einen sacht schaukelnden Nebel getrennt, der sich rasch so sehr verdichtete, daß er alle weiteren Vorgänge zu einem sanft summenden Schattenspiel dämpfte. Erst als die mit Gebraus einsetzende Orgel den Schleier jäh zerriß, erhob sich der Bannerträger mühsam, befreite seine Fahne von der Lederhülle, stülpte seinen etwas struppigen Zylinder auf und schritt, die Blicke starr auf seine unsicheren und merkwürdig weit entfernten Stiefel gerichtet, an der Spitze des Trauerzuges zum Grabe. Da stand er dann, die mit schwarzer Baumwolle umkleidete Faust um den Schaft gekrampft, alle Leidtragenden um zwei Haupteslängen überragend; und das seidengestickte Banner des »Gastwirtevereins von 1856« pendelte leuchtend über den lehmigen Schollen und dem sinkenden Sarge.
Der herbe Wind indessen, der mit scharfen Stößen über die Gräber fegte, trieb aus dem Kopfe des Bannerträgers rücksichtslos den Nebel fort und wischte ihm die Augen klar: so daß die Umgebung ihm näherrückte und die Umrisse normaler Wirklichkeit gewann. Diese Wirklichkeit aber – auf dem schmerzenden Schädeldach des Bannerträgers unter dem gigantischen Zylinder hoben sich in peinlicher Weise die Haare – war ganz anders, als man sie hier erwartete. Unter dem Trauergefolge, das zumeist aus irgendwie bedrohlich aussehenden Damen bestand, entdeckte der angstvolle Blick des unseligen Mannes kein vertrautes Gesicht, das mit dem Gastwirtsgewerbe in irgendeine sinnvolle Beziehung zu setzen war. Er mühte sich, die Worte des Geistlichen zu erfassen: Und daraus ergab sich, wenn schon nichts sonst, so doch die Tatsache, daß dort unten nicht ein ihm bekannter Gastwirt, sondern eine ihm unbekannte Frau zur Ruhe gebettet wurde. So stand er, pflichtgetreu, aber um genau vierundzwanzig Stunden zu früh, durch das Riesenmaß seines Wuchses genötigt, standzuhalten und neben dem Banner aufzuragen, das ihn mit grausamer Deutlichkeit weithin sichtbar auswies, und das die Treue seines Trägers noch nie auf eine so harte Probe gestellt hatte. Was er in dieser Viertelstunde zu sich selbst sagte, kann hier nicht wiederholt werden, da es geeignet erscheint, einen Stand zu schädigen, der für diese Vorgänge nur in sehr begrenztem Maße haftbar gemacht werden kann.
Wohl aber müssen wir berichten, was der grauhaarige kleine Mann sagte, der am Schlusse der Feier den Bannerträger am Arm ergriff und ein rührendes Gesicht mit rotgeweinten Augen und einem tränenfeuchten verstruwelten Graubart zu ihm emporkehrte: Es seien ihm, sagte der Fremde mit wankender Stimme, beim Tode seiner lieben Frau unzählige Beweise der Teilnahme gespendet worden; keiner aber hätte ihn so tief ergriffen und zugleich in seinem Leide so stolz gemacht wie die hochherzige Selbstverleugnung des »Gastwirtevereins von 1856«, der seiner schärfsten Gegnerin, der Vorsitzenden und Vorkämpferin des Abstinentenbundes, auf ihrem letzten Wege das Ehrengeleit gebe. Dies, sagte er, indessen er die schwarzbaumwollene Riesenfaust mit beiden Händen umklammerte, werde er nie vergessen; und er wandte sich schluchzend zum Gehen: Während der Bannerträger, jeder Fähigkeit zur gedachten oder gesprochenen Stellungnahme durchaus beraubt, wie ein Standbild auf eine unverdiente Niederlage einsam am Grabe zurückblieb.