Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Anekdote
Es ritt der alte Blücher an den Rhein, weil er sich, wie man weiß, von dem Napoleon nicht trennen konnte; und hinter ihm drein in seinem Heere ritt ein junger Leutnant, den wir uns einmal ein wenig näher ansehen wollen. Wir haben Muße dazu, denn die Kompanie, die der Leutnant ziert, ist als Nachhut in ein Dörfchen auf dem linken Rheinufer gelegt worden, und nun klirrt er gelangweilt und abenteuerlüstern durch die Gassen: Tschako auf dem linken Ohr, Stiefel und Augen blitzblank, Hand am Degen – ein wahrer Teufelskerl, allen Mädeln im Dorf ein Entzücken, allen Männern ein Greuel.
Das kriegerische Abenteuer in Frankreich scheint ihm in diesen Tagen noch weit, aber das friedliche liegt, wie angeblich alles Gute, ganz nahe. Er braucht sich nur in dem Hause seines Quartierwirts, eines Färbers, recht umzutun. Zwar ist der Färber ein unlieblicher Mann, riesenhaft, plump, struppig, einäugig (über den Verbleib des anderen Auges redet er nur nach elf Uhr abends, und auch dann nicht immer), und wenn das Auge mitten auf der Stirn säße, so möchte er überall ohne weiteres als Zyklop durchgehen. Aber er hat natürlich eine hübsche Frau, und die hat zwei Augen im Kopf. Nun, der Leutnant tut sich recht um, ganz gründlich um, und das Abenteuer ist da; und jeder von uns kennt seinen Boccaccio gut genug, um hier selbst einen Absatz in die Geschichte hineinschreiben zu können, wenn er dessen bedarf.
Daß auch der Färber den Boccaccio kennt, ist nicht wahrscheinlich: aber er sieht mit seinem einen Auge mehr, als mancher andere mit zweien oder vieren, und merkt alsbald, daß seine Frau an der fremden Nachtigall im Nest und ihrem Gesang ein zärtliches Wohlgefallen gefunden hat. Bemühen wir nun abermals unsere Bildung, so erinnern wir uns, daß solche plumpen Gesellen, wie zum Beispiel der tüchtige Hephaistos, oft mit großer Kunst und List ein feines Netz zu verfertigen wissen, um den Störer ihres Ehefriedens in dem zu erwischen, was man ›flagranti‹ nennt. Da fällt also dem Färber am Nachmittag ein, daß er drüben in der Stadt etwas zu tun hat; wie dumm, daß er nicht eher daran gedacht hat! – nun wird er die Nacht beim Vetter Jupp verbringen und seine arme junge Frau allein lassen müssen. Aber der Herr Offizier wird acht geben, daß ihr nichts geschieht, nicht wahr? Sie küßt ihn zärtlich zum Abschied, die Verruchte; er schnallt brummelnd sein Bündel zu und stapft davon. Natürlich geht er nicht in die Stadt, sondern legt sich draußen in der »Blauen Traube« vor Anker und gießt bis zur sinkenden Nacht Wein auf seinen Zorn, daß es zischt. Dann, als es stockdunkel ist, stapft er ins Dorf zurück, schleicht sich in sein Haus, zündet ganz leise eine Laterne an und steht, hastdunichtgesehen, mitten in seiner ehelichen Schlafkammer. Und da erwischt er denn richtig das arge Paar in dem, was man ›flagranti‹ nennt. Ares zappelt im Netz.
Keine Angst – dies ist zwar eine traurige Geschichte, aber es wird kein Blut darin vergossen; denn der Färber ist ein kluger Mann, und der Leutnant hat seinen Waffenschmuck abgelegt. Freilich macht der Färber mit ihm nicht viel Federlesens; und wären auch wohl, möchte man meinen, in dieser Stunde nicht eben viel Federn an ihm zu finden gewesen. Während die Frau ihr Heil im Heulen sucht, packt der Färber seinen Kostgänger mit seinen riesigen Fäusten, schleppt ihn in den dunklen Hof hinaus und tunkt ihn einmal, zweimal, dreimal bis über die Ohren in einen Bottich mit einer eiskalten Flüssigkeit. Dann läßt er ihn los. Der triefende Liebhaber schleicht sich zähneklappernd in sein Zimmer, reibt sich ab, zieht im Finstern irgend etwas über und kriecht, bebend vor Kälte und Wut, ins Bett. Natürlich müßte er nun eigentlich ein Blutbad anrichten – aber dazu verspürt er nicht die mindeste Lust. Er kann nur hoffen, daß die Geschichte mit dem Wasserbad und einem tüchtigen Schnupfen ihr Bewenden haben wird, denn der Oberst besitzt für solche Affären leider nicht das mindeste Verständnis. Mittlerweile kehrt der Färber in sein Schlafzimmer zurück, faßt seine gestrauchelte Gattin am Arm und geleitet sie höflich vor die Tür des Hauses: Sie solle, so sagt er, dahin gehen, wo sie vor der Ehe gewesen sei.
Als der Leutnant am anderen Morgen erwacht, steht ein Soldat vor seinem Bett und macht ein Gesicht, als hätte man ihn unversehens aus der Dorfstraße vor den Großmogul oder sonst ein Weltwunder versetzt. Auf die zornige Frage des Offiziers, »was es da so blödsinnig zu glotzen gäbe,« stottert der Mann mit allen Zeichen des Entsetzens: »Herr Leutnant sind ja blau!« Der Leutnant streckt die Hand nach seinem Stiefel aus, um ihn dem unverschämten Kerl an den Kopf zu werfen; aber da erstarrt er mitten in der Bewegung: Seine Hand ist in der Tat blau. Sein Bett, das Tuch, mit dem er sich abgerieben hat, der Fußboden – alles ist blau. Er fährt aus den Federn: Ja, auch er selbst ist von den Haaren bis zu den Sohlen blau wie der liebe Sommerhimmel an einem schönen Julitage.
Der Oberst, der die Ordonnanz entsandt hat, vernimmt erstaunt, daß sein jüngster Leutnant, dies Urbild der Gesundheit, erkrankt ist; über die Art der Krankheit will der Mann nicht mit der Sprache heraus, aber der Oberst hat eine nachdrückliche Art der Fragestellung, mit der er natürlich die Geschichte sehr schnell an den Tag bringt. Das ist nun ein Fall, den er sich selbst ansehen muß; und er steht alsbald, hastdunichtgesehen, in der Kammer des Leutnants – eben rechtzeitig, um zu sehen, wie der blaue Vogel, müde des vergeblichen Reibens, Bürstens und Kratzens, verzweifelt auf einen Stuhl sinkt; denn der Färber, als gründlicher Mann, hat für die Prozedur das benutzt, was man damals »aufrichtigen Indigo« nannte. Nun muß die ganze bittere Wahrheit heraus. Dem Oberst bleibt das fällige Himmeldonnerwetter im Halse stecken, und stattdessen drängt sich ein der Autorität höchst abträgliches Gelächter hervor. Er wendet sich kurz, geht zur Tür und brüllt nach dem Färber.
Gewiß, sagt der Zyklop, und ein grimmiges Lächeln verrieselt in seinem struppigen Bart – das sei ein böser Irrtum gewesen. Er habe den Herrn Leutnant, der ihm in der Nacht bedrohlich erhitzt vorgekommen sei, in bester Absicht ein bißchen abkühlen wollen und dabei im Finstern den falschen Bottich erwischt. Aber lebensgefährlich sei die Sache nicht, und in ein paar Wochen werde die blaue Farbe ganz von selbst wieder verblassen. Der Oberst donnert in gespieltem Zorn mit der Faust auf den Tisch: »Sofort macht Er mir den Leutnant wieder weiß!« Das, sagt der Färber, stehe nicht in seiner Macht. Da es ihm aber eingängig sei, daß ein Mensch nicht blau sein dürfe, ohne sich mit Natur und Brauch in Widerspruch zu setzen, so sei er bereit, den Leutnant schwarz zu machen, denn schwarze Menschen solle es ja wohl geben.
Hat es Zweck, den Färber wegen fahrlässiger Beschädigung eines preußischen Leutnants vor ein Kriegsgericht zu stellen und ein ungeheures Gelächter aller Unbeteiligten zu entfesseln? Der Oberst findet es richtiger, den rachsüchtigen Zyklopen schleunigst hinauszubefördern und statt dessen den Feldscher kommen zu lassen.
Der Feldscher blinzelt durch die Brille und bringt nach allerlei »Ei, ei!« und »Hm, hm!« und »Tjaja!« eine Salbenbüchse herbei, deren Inhalt dem Leutnant die ursprüngliche Farbe wiedergeben soll. Der Unglückliche greift hastig nach der rettenden Dose und denkt keinen Augenblick daran, daß er den bebrillten Doktor erst vor vierzehn Tagen bei einem Mädel mitleidlos ausgestochen hat. Er reibt sich von Kopf bis zu Fuß mit der Salbe ein und erwartet zähneklappernd das Ergebnis.
Das Ergebnis –? Vermöchte er noch zu erbleichen, so wäre jetzt Anlaß dazu vorhanden. Mit einem dumpfen Stöhnen gewahrt er, daß sich an seinem schlotternden Leibe eine furchtbare Metamorphose vollzieht: War er vorher blau wie der lichte Sommerhimmel an einem schönen Julitage, so sprenkeln jetzt grünliche Töne seine Haut, und bald leuchtet er in sattem Grün wie die unter einem solchen Himmel sich dehnende Wiese.
Der Chronist und Kalendermacher, dem wir diese Geschichte verdanken, berichtet nicht, wie lange der Unselige im Bett hat liegen müssen, bis er wieder einem Menschen und nicht mehr einem Laubfrosch gleichsah. Aber wir beruhigen uns, denn wir wissen: so grün kann ein junger Mann gar nicht sein, daß diese Farbe nicht schließlich doch einer ernsthafteren Färbung Platz machte.
Vor Hundert oder mehr Jahren – was sind Zahlen und Zeiten im Historienbuche der Liebe? – verlor ein Gewürzkrämer sein junges Weib durch den Tod. Die Trübsal warf ihn nicht gänzlich aus dem gewohnten Gleichgang seiner Tage, aber sie löschte vor seinem Blick alle Farben des Lebens aus, ließ sein derbes Lachen verstummen und traf sein Denken wie mit lähmendem Hieb: also daß er seine kleinen Hantierungen in abgerücktem Schweigen tat und die Nachbarn nachts den Lichtschein seiner Kerze durch die Zimmer seines Hauses wandern sahen. Eines Morgens in aller Frühe aber übermannte ihn die Hilflosigkeit vor der Leere seines Lebens; er nahm einen festen Strick, stieg in den Keller hinab und traf die Anstalten, die ihn geeignet dünkten, um die Wiedervereinigung mit seinem Weibe vom Schicksal zu erzwingen.
Schon hatte er die Schlinge geknüpft und schickte sich an, zwischen Ölfässern und Kisten den Sprung über die große Grenze zu wagen, als ein lautes Pochen an sein Ohr klang: Droben begehrte Kundschaft Einlaß. Dieser mahnende Ruf seines Alltags hatte soviel Macht über ihn, daß er, ohne es eigentlich zu wissen, die Schlinge fahren ließ, nach oben ging, die Ladentür aufschloß und ein junges Mädchen einließ, das eine Kanne Öl verlangte. Der Krämer mußte, um das Öl zu holen, in den Keller hinab; aber er sah die eben noch so schicksalhafte Schlinge nicht: Der Glanz aus zwei blitzenden Augen hatte ihn getroffen und machte ihn blind für so dunkle Dinge.
Am nächsten Tage nahm er, wieder ohne es recht zu wissen, mit einem verlegenen Lächeln die Schlinge vom Haken und warf sie in die Ecke; abermals einen Tag später dröhnte zum erstenmal wieder sein derbes Lachen durch den Laden; vier Wochen darauf aber war er mit jenem Mädchen verheiratet und dachte mit keinem Gedanken mehr daran, daß er die Rückkehr zu neuer Freude an altem Tun nur der tausendnamigen namenlosen Macht verdankte, die überlegen lächelnd nach Gefallen mit Zufällen schaltet.
Von dem Manne, um den es in dieser kurzen, aber seltsam ergreifenden Geschichte geht, ist uns nicht viel mehr überliefert, als daß er den herzhaft irdischen Namen Kohl führte und zur Zeit der Kaiserin Elisabeth als Professor der deutschen Sprache zu Petersburg wirkte. Dagegen wissen wir von ihm, was man von nicht vielen Lebewesen des irdischen Werkeltags sagen kann: daß ihn das Schicksal einmal mit dem herrlichen und furchtbaren Geschenk einer Leidenschaft bedachte, die ihn aus der gewissenhaften und nüchternen Alltäglichkeit seines Daseins emporriß und die Kraft seines Gefühls, die sonst wohl nach üblicher Menschenart in vielen trüben Feuerchen verflackert wäre, zu einer großen und wilden Flamme brausend auftrieb.
Dies widerfuhr dem Professor Kohl, als er einmal durch irgendwelche Beziehungen eine Einladung zu einer Hoffestlichkeit erhalten hatte und dabei in die Nähe der Kaiserin geriet: Da fühlte er mit wunderlich lustvollem und schmerzlichem Erschrecken, daß der Anblick Elisabeths ihn wie ein himmlischer Feuerschlag bis in unergründete Tiefen seines Wesens traf. Der Brand freilich, der da entzündet war, konnte hier nicht sogleich hell und heiß aufschießen – aber er schwelte, er griff um sich, er fraß und fand ungeahnte Nahrung, und schließlich war er eine schwere und sengende und düstere Flamme: so daß der Professor Kohl verstört und mit wachsendem Entsetzen merkte, wie sehr sein peinlich geregelter Alltag ihm zur Unmöglichkeit und zum wesenlosen Schattenspiel wurde, und wie eine gefährliche und furchtbar lockende Kraft ihn in abenteuerliche Bezirke riß.
Man darf glauben, daß er sich mit ernstem Vorwurf zur Ordnung rief, vor der fremden und gefährlichen Lust seiner Träume am Tage ängstlichen Abscheu empfand und sich mit aller Kraft gegen die Erkenntnis wehrte, daß er mit einer nach bürgerlich-irdischen Begriffen wahnsinnigen und sträflichen Leidenschaft die Kaiserin liebte. Ja, liebte: so daß sein seltsames und strenges Schicksal seines ängstlichen Wehrens spottete und ihn aus allen gehüteten Bindungen trieb und ihn, einen wirren und trunkenen und von seinen ratlosen Freunden gemiedenen Mann, durch menschenleere Straßen jagte, über deren eisigem Dunkel ein mächtiger sternenüberflammter Himmel gleißte.
Wir weichen der betrüblich verwahrlosten Gestalt, die ihre sehnsüchtige Not und Beglückung mit stammelnden und rasenden und vermessenen Worten zu diesem Himmel emporschickt, nicht aus und lächeln nicht über ihr tolles Tun: Wissen wir doch, daß die hohe Flamme in jeglichem Gefäß heilig ist und sich ihres Ursprungs aus dem Weltenfeuer rühmen darf.
Vielleicht hatte eine Ahnung den Professor Kohl gelenkt, als er eines Morgens, aus blicklosem Starren erwachend, vor sich das riesig gewölbte Portal einer Kirche sah und sich inmitten einer plappernden Schar zerlumpter Bettler fand, die, von gutmütig-grimmigen Wachen zurückgehalten, die Stufen umdrängten: Denn im Augenblick, da er seine Umgebung erkannte, sauste es mit klappernden Rädern und sprühenden Hufen und Gefunkel und Peitschenknall durch den kahlen Vorfrühlingstag heran, war da und hielt: blanke Karossen mit blitzender und sehr erlauchter Menschenlast. Dem Professor Kohl war, was sie herantrugen, ein verschwommenes Gewoge farbiger Schatten – bis auf eine Gestalt, die er durch aufschießende Tränen ganz deutlich und mit großer, feierlicher Klarheit sah: Elisabeth. Ihm aber war es nicht die Kaiserin, die über ein Reich von märchenhaften Maßen gebot, die gekrönte Abenteurerin, vor deren weltgeschichtlichen Affären er zu einem Nichts schrumpfte, und von der, wie wir Kundigen aus vielen Beispielen wissen, wirklich eine Welt ihn trennte: ihm war es die himmlische und irdische, die heilige und seinen zitternden Händen und Sinnen erreichbare Gestalt der Frau, die er liebte. Über den trennenden Weltenraum riß sein Sprung ihn hinweg, an verdutzten Wachen vorüber, mitten durch erstaunt zurückweichendes Gefolge – nieder zu ihren Füßen, hinauf zu ihren Knien.
So lag er und wußte nicht, daß Tränen in seinen struppigen Bart strömten, daß sein abgezehrtes Gesicht von Glut überlodert war, daß er mit stoßendem Atem wilde und tiefe und heiße Worte stammelte, die niederzuschreiben keine Feder wagen darf. In diesen wenigen Augenblicken ergriff die Flamme der Erfüllung die ganze Kraft seines Lebens, schoß steilauf und erlosch. Er sah nicht, daß rings die Klingen aus den Scheiden fuhren, und daß der elegant geführte Degen Schuwalows ihm am nächsten war; er fühlte vielleicht, daß Elisabeths Hände sie mit einer schützenden Bewegung von ihm fernhielten und dabei einen Herzschlag lang sein Haar berührten; und er vernahm gewiß den Klang ihrer Stimme, wenn er auch nicht die Worte verstand, die wir, da sie schön waren, hier aufzeichnen müssen:
»Wenn Sie diesen Menschen töten wollen, weil er mich liebt – was wollen Sie dann mit denen tun, die mich hassen?« –
Wer das fernere Schicksal des Professors Kohl wichtig findet, möge wissen, daß besorgte Freunde ihn, den ausgebrannten Rest eines glühenden Erlebnisses, auf dem leeren Platz vor der Kirche fanden und mit ängstlicher Hast nach Deutschland – man sagt, nach Hamburg – schafften, wo er sich selbst in einem stummen und leidlich vernünftigen und vom Geleucht eines sehr fernen Erlebnisses beglänzten Dasein überlebte – einem Dasein übrigens, das seine irdische Erhaltung einem von der Kaiserin Elisabeth ausgesetzten Ruhegehalt verdankte.
Eine Franklin-Anekdote
Benjamin Franklin, Buchdrucker, Philosoph, Freiheitsmann und kühlköpfiger Rechner, gab vor dem Beginn seines eigentlichen Aufstiegs in Philadelphia eine Zeitschrift heraus, deren aufklärerisches Fortschrittlertum von wackeren Männern wohlwollend begönnert wurde. Als indessen das Blatt des rührigen jungen Eigenbrötlers die zeitlichen Gewalten, besonders soweit sie im Auftrag des englischen Königs amteten, gar zu heftig angriff, ließen die besorgten Gönner eine wohlgemeinte Warnung vernehmen: Sie könnten, sagten sie, ihn künftig nicht mehr unterstützen, wenn er von der Kritik zum Umstürzlertum überginge. Zur Antwort darauf lud Franklin die Herren eines Abends zum Essen in sein Haus.
Sie kamen, auf kräftige Genüsse hoffend, bereitwillig herbei, wurden freundlich empfangen und sahen sich alsbald um einen großen Tisch versammelt, auf dem sie zu ihrem peinlichen Erstaunen nur einen riesigen Brotpudding von verdächtiger Farbe und einen großen Krug mit Wasser gewahrten. Verblüfft und ärgerlich saßen sie da und zerkrümelten, nachdrücklich zum Zulangen genötigt, den schäbigen Pudding auf der nackten Tischplatte; während Franklin mit einem sorgsam vorbereiteten Appetit tüchtig drauflos aß. Als er fertig war, sagte er laut und schlicht:
»Dies, meine Herren, ist meine tägliche Nahrung. Wer es vermag, damit auszukommen, braucht keine Gönner.«
Die Herren waren durchaus geneigt, dem kühnen jungen Anfänger diesen anmaßlichen Anschauungsunterricht übelzunehmen; da aber blickten sie in sein Gesicht, das er mit selbstbewußter Ruhe vom einen zum andern wandte; und was sie da sahen, dämpfte ihren Ärger. Sie sahen um den Mund des Mannes die strengen Falten harter und zäher Rechtlichkeit; Stirn und Nase zeugten von dem starren und doch leidenschaftlichen Sendungsglauben der Pioniere; in der Tiefe der Augen aber glitzerte die kühle und spöttische Wachsamkeit, die sich zu rechter Zeit ohne Gewissenshemmungen des überlegen gehandhabten Bluffs bedient. Sie sahen dies alles zusammengefaßt zu einer sieghaften Sicherheit, die sie sachlich und neidlos als Genie erkannten. So nickten sie ihm zu, nicht mehr gönnerhaft, auch nicht etwa hochachtungsvoll, sondern mit der trockenen Kameradschaftlichkeit, wie sie ihresgleichen zu grüßen pflegten, und überließen ihn vertrauensvoll seinen Gedanken und weitgreifenden Berechnungen.
Der seltsame Schicksalsweg, der den Eulogius Schneider, ehemaligen Priester, über die Professur in Bonn und das Hofpredigeramt bei Karl Eugen in Stuttgart in die rasenden Reihen der Jakobiner führte, setzte sich später in einer recht unheimlichen Form irdischen Wallens fort: Denn als dieser Eulogius Schneider es durch seinen mörderischen Eifer zum öffentlichen Ankläger beim Peinlichen Tribunal des Niederrheins gebracht hatte, ließ er sich eine handliche Ausgabe der neuen Weltreinigungsmaschine, Guillotine genannt, anfertigen und trat mit ihr an der Spitze einer freudig erregten Horde seine Bekehrerfahrt an. Wo immer ihm ein Gesicht mit den gerechten Anforderungen revolutionärer Menschheitsförderung im Widerspruch zu stehen schien, ließ er es unter Beobachtung sehr einfacher rechtlicher Formen von dem dazugehörigen Halse trennen und in den Sand legen.
Dabei kam er einmal um die Mittagsstunde in ein Dorf und machte mit seiner todbringenden Karawane vorm Hause des Friedensrichters halt. Stumm, rätselhaft lächelnd, vorgebeugt, aus tiefliegenden, glasig glitzernden Augen musterte er den Richter, einen ernsten Mann, der ihm mit würdig gewahrter Fassung entgegentrat, und dessen Familie, die sich angstvoll verschüchtert im Winkel drängte. Man trug ein in Eile angerichtetes Mahl auf, das der ungeladene Gast mit derbem Hunger hinunteraß, indessen er mit kauenden Kiefern an den Richter diese und jene scheinbar unverfängliche Frage richtete: und die Gastgeber atmeten, vom würgenden Griff der Angst befreit, erleichtert auf, da sie das zuckende Funkeln in Schneiders Augen als fröhliche Weinlaune, die in seinem mächtigen Nacken aufsteigende Röte als Behagen deuteten. Plötzlich aber hob er das Glas, dessen Inhalt er in einem Zuge hinuntergeschüttet hatte, und fragte: »Haben Sie noch mehr von diesem prachtvollen Wein, Bürger?« »Es ist die letzte Flasche,« antwortete der Richter. Schneider schleuderte das Glas gegen die Wand, daß es zerschellend niederklirrte. »Macht nichts,« sagte er. »Sie sind, wie man mir sagt, ein politisch verdächtiger Mann und hätten ihn doch nicht mehr trinken können.« Damit warf er ein Papier auf den Tisch, trat zur Tür und klatschte in die Hände: seine Knechte kamen herein, packten den Richter und schleppten ihn hinaus. Schneider stand massig aufragend, vorgebeugt, taub gegen alles Bitten und Schreien, und sah aus glasig glitzernden Augen zu, wie der Richter im Hofe enthauptet wurde.
Wenige Minuten später saß Eulogius Schneider im Sattel und wollte eben den Hof verlassen, als er das Pferd anhielt und, die Hand in die Hüfte gestemmt, noch einmal zurückblickte. Dem Revolutionär Schneider war plötzlich ein Liedvers eingefallen, den der Priester Schneider vor Jahren gedichtet hatte, und er brummte ihn nach eigener Melodie vor sich hin:
»Treue Bruderliebe üben,
Jeden, der ein Mensch ist, lieben,
Dies, o Gott, dies lehre mich;
Daß ich, Schöpfer, dir gefalle,
Weise durch dies Leben walle,
über alles liebe dich.«
Es stand nicht so um ihn, daß der einstige Sinn dieses Verses vor ihm eine jähe Flammenhelle entzündete, die ihn sein heutiges Tun als Widersinn erkennen ließ; auch mühte er sich nicht um Rechtfertigung des blutigen Heute vorm friedlichen Einst: Ihm schien es weiter nichts als ein närrischer Spaß, daß ihm die Strophe gerade in dem Augenblick einfallen mußte, da er sich noch einmal nach dem dunklen Fleck im gelben Sande des Hofes umsah. So lächelte er mit schiefgezogenem Munde und trieb das Pferd an, indessen der rumpelnde Karren mit der Guillotine sich hinter ihm schwerfällig in Bewegung setzte.
Eine Napoleon-Anekdote
Als der erste Napoleon herrisch und kalt, dennoch brennend im Feuer eines ungeheuerlichen Willens, mit schnellen Schlägen die durch Überlieferung geheiligte Form Mitteleuropas in Trümmer hieb, Erfolge rücksichtslos nutzend, aus Mißerfolgen unglaubhaft rasch sich wieder aufrichtend, legte eine Laune der Fügung einmal das Geschick der Welt für wenige Minuten in die Hände eines für uns Heutige namenlosen Mannes, des Dorfküsters von Eylau.
Es war das am Tage vor jener seltsamen Schlacht bei Preußisch-Eylau, die den Russen unter Bennigsen verlorenzugehen drohte und dann durch das rechtzeitige Eingreifen des preußischen Generals Lestocq in eine Remispartie verwandelt wurde. Die Franzosen hatten die schwache Besatzung des Dorfes überrannt und standen nun jenseits des Ortes mit den Russen im Kampf. Der Kaiser, der dies Gefecht nur als Vorpostengeplänkel ansah, ritt mit seinem Gefolge und kleiner Bedeckung in das Dorf und bestieg den Kirchturm, um dort oben den Plan für die Schlacht des kommenden Tages zu entwerfen. Er stand, nachdem er sich auf der Karte orientiert hatte, stumm, unempfindlich gegen die Kälte, die rechte Hand nach seiner Gewohnheit zwischen zwei Brustknöpfe des Rockes gehakt, mit der Linken zuweilen den Feldstecher handhabend, und überblickte mit ruckhaft kurzen Wendungen des Kopfes das Gelände, dessen Bild sich sogleich unverwischbar in sein stets empfangsbereites Gedächtnis grub; der Blick seiner kalten blauen Augen unter gefurchten Brauen war dem Gegenwärtigen entrückt und suchte das Kommende planmäßig berechnend zu erfassen. Indessen seine Vorstellungskraft auf dem weithin gedehnten Schneefeld wie auf einem Schachbrett das kommende Entscheidungsspiel entwarf, hatte er das belanglose Spiel der Vorhuten eine kurze Weile vergessen – bis er plötzlich bemerkte, daß die Russen im Vordringen waren. Ärgerlich über die Störung, mit ein paar rasch über die Schulter geworfenen Befehlswörter:, entsandte er einige Offiziere seines Gefolges als Ordonnanzen und bemerkte bald darauf, daß der Einsatz der letzten noch im Dorfe stehenden französischen Infanterie und das Eingreifen der Reitertruppen Murats das Gefecht wiederherstellten. Die zähe Angriffslust der Russen machte indessen alsbald die Entsendung weiterer Ordonnanzen erforderlich; bald waren die Franzosen durch einen geschickten Flankenangriff von Kosaken und Kürassieren in Gefahr, vom Dorfe abgedrängt zu werden.
Der Kaiser, gereizt mit dem Fuße aufstampfend, wandte sich: Er war allein. Ohne dessen innezuwerden, hatte er alle Offiziere des Gefolges weggeschickt. Er blickte in die Dorfstraßen hinab: Sie waren leer. Die Bewohner waren geflüchtet oder hatten sich in den Häusern verkrochen, und ein mißverstandener Befehl hatte die ganze Bedeckung des Kaisers ins Gefecht entführt. Unten vor der Kirchentür stand einsam, an einen Baum gebunden, Napoleons Pferd. Über den Platz vor der Kirche aber kam mit zögernden Schritten, mißtrauisch nach allen Seiten spähend, ein Mann.
Napoleon entsann sich, daß sein Blick vorhin im raschen Vorbei diesen Mann gestreift hatte, der vor dem Küsterhause stand und mit wilden Augen voll Furcht, Haß und Bauerntrotz den Kaiser und sein Gefolge betrachtete. Er mußte den Apfelschimmel des Kaisers wiedererkennen; mit einem scheuen Griff faßte er in die Mähne des Tieres und sah dann aufmerksam am Kirchturm empor. Napoleon schoß seine Pistole auf ihn ab – aber der Schuß ging fehl, und der Lärm des Gefechtes verschlang den schwachen Knall des Schusses. Wütend warf er die Waffe weg. Dies war der Augenblick, da drüben Murats Reiter sich zur Flucht wandten, das planlos knatternde Abwehrfeuer der französischen Infanterie zu beiden Seiten des Dorfes allmählich erstarb und den Kosaken der Weg in die Dorfstraße offenstand.
Als der Kaiser sich der Turmtreppe zuwandte, erkannte er, daß in diesen Minuten das Geschick der Welt im Kopfe des Dorfküsters von Eylau entschieden wurde. Wille, Macht, Herrschgier, Pläne, Furcht der Völker, alle steil aufsteigende Maßlosigkeit und gewaltig schreitende Sicherheit seines schicksalformenden Daseins – sie sanken zusammen und waren ein jämmerliches Nichts, wenn dieses Nichts da unten, der plumpe, langsame Bauer, den Mut fand, die Kirchentür zu verschließen und den Kaiser der Franzosen wie eine Ratte in der Falle zu fangen. Überwältigt von einem schneidenden Gefühl der Machtlosigkeit, geblendet vom jäh ihm zu Kopfe schießenden Blut, taumelte Napoleon einen Augenblick, ehe er die Treppe fand und polternd die Stufen hinabhastete.
Der Küster, geduckt, hin und her geschüttelt von Furcht und Trieb zur Tat, ließ den entscheidenden Augenblick ungenutzt aus den Händen. Gleich darauf sah er, zurückweichend, aus der zur Seite geschleuderten Kirchentür den Kaiser treten. Er sah nicht einen kleinen, schon etwas beleibten Mann im lässig geöffneten Mantel, unter dem ein grüner Rock und eine über rundlichem Leibe straff sich spannende weiße Hose sichtbar waren; er sah nicht den in der Hast schief aufgestülpten Dreispitz, die kleinen, vom Staub der Turmtreppe beschmutzten Hände, das vom beginnenden Leberleiden gelblich gefärbte Gesicht; er sah nur zwei von einem ungeheuren Willen geweitete blaue Augen, deren Blick mit seiner furchtbaren Kälte ihn lähmte und seine Glieder zu Eis gefror. So ließ er es geschehen, daß der Kaiser ihm den Zügel entriß und sich aufs Pferd schwang, und daß die Hufe des im Schmerz des Sporenstichs bäumenden Tieres ihn mit kotigem Schnee überschütteten. Reglos starrte er dem Kaiser nach und hatte wenige Minuten darauf gerade noch Zeit, zur Seite zu springen, um nicht von den heranpreschenden Kosaken überritten zu werden.
Am Tage darauf, als die Franzosen Eylau zurückerobert und verwüstet hatten, war der Mann, der ein paar Herzschläge lang das Schicksal der Welt in Händen hielt, nur noch ein vernichteter, jämmerlicher Mensch, der vor den schwelenden Trümmern seines kleinen Wohlstandes die in ohnmächtiger Wut verkrampften Fäuste schüttelte.
Von dem grell flammenden Glanz, den das Leben des ersten Napoleon mit wilder Gewalt über die Länder warf, fiel nur einmal für eine kurze Stunde ein Strahl auf den Weg des Pfarrers Buonaparte. Er lebte durchaus zufrieden, heiter und bäurisch derb in einem winzigen Dörfchen zwischen Santo Crosciano und Certaldo, nicht weit von Florenz. Hier aber denkt der Gebildete zu Unrecht mit einem Lächeln des Certaldesen Giovanni Boccaccio; denn der Pfarrer Buonaparte nahm von den angenehmen Dingen dieser Welt nur das, was ihm durch die Erträgnisse seines winzigen Gartens, seiner Weinstöcke und seiner legefreudigen weißen Henne (die natürlich Bianca hieß) geboten war. Er las zweimal wöchentlich die Messe, hielt seiner kleinen Gemeinde jeden Sonntag eine kräftige und überaus verständliche Predigt und sammelte zweimal jährlich den Zehnten ein, ohne dem Schicksal jemals die Kärglichkeit des Erträgnisses zum Vorwurf zu machen. Die schöne junge Mattea, die ihm sein Haus in Ordnung hielt und die Löcher in seiner vielgeprüften Soutane stopfte, gab ihm keinen anderen Wunsch ein als den, sie durch eine Heirat mit seinem Küster, Kirchensänger, Koch und Gärtner Tommaso glücklich zu machen; woraus man denn ersieht, daß dieser Tommaso ein braver und vielseitiger junger Mann war, dessen einziger Fehler in gelegentlicher Rauflust bestand. Dies war die Welt, deren Grenzen der Pfarrer Buonaparte niemals in Taten noch Gedanken überschritt: indessen sein Großneffe Napoleon alle menschlichen Grenzen riesenhaft zu überwachsen schien. Und während dieser Napoleon sich den Papst aus dem Vatikan nach Frankreich holte, um sich von ihm in Notre Dame krönen zu lassen, kümmerte sich der Pfarrer Buonaparte um die wirren Gerüchte, die vom jähen Aufstieg seines Hauses zu ihm drangen, nicht mehr, als ob sie von China oder vom Monde handelten.
Hatte er indessen in seiner catonischen Genügsamkeit die große Welt vergessen, so besann sich die große Welt oder doch ihr Beherrscher auf ihn. Denn eines Tages rasselte ein Reitertrupp mit Geklirr und Getrappel durch die aufgestörten Dorfstraßen, daß Kinder und Getier kreischend flüchteten, und machte vor dem Pfarrhause halt. Der Pfarrer, der eben in seinem Gärtchen bastelte, trat erstaunt und argwöhnisch herzu; worauf der Führer des Trupps seinen Dragonern einen Befehl in fremder Sprache zurief und selbst vom Pferde stieg, um sich mit höflicher Verbeugung dem Pfarrer zuzuwenden: Ob er, so fragte er in schlechtem Italienisch, die Ehre habe, den Herrn Pfarrer Buonaparte vor sich zu sehen? Der Gefragte, geblendet durch das blitzende Gefunkel der goldverschnürten Uniform, verwirrt durch den scharf und schonungslos prüfenden Blick kalter, herrischer Augen, bejahte mit einem Kopfnicken und lud den fremden Offizier mit stummer Handbewegung ins Haus.
Es war nur eine einzige Stube darin, und in dieser Stube nur ein einziger vertrauenswürdiger Stuhl; so daß der rasche und ein wenig spöttische Rundblick des Offiziers nichts Sehenswertes zu erfassen fand und der Stuhl, den der Gast höflich ablehnte, unbesetzt blieb. Der Besucher, mit einem leisen, sporenklingelnden Zusammenrücken der Hacken, kam nun militärisch knapp zur Sache: er sei, sagte er, General Ney vom französischen Heere und habe dem Herrn Pfarrer eine Botschaft Seiner Majestät des Kaisers auszurichten; »des Kaisers Napoleon,« fügte er hinzu, als er im Blick des Pfarrers fassungsloses Nichtbegreifen las. Der alte Priester faßte stützesuchend nach der Stuhllehne, da ihn die plötzliche Wirklichkeitsnähe von Dingen, die er immer wie Gerüchte aus einer fernen Welt vernommen hatte, überwältigte; aber auf seinem Gesicht war doch der Schatten eines gerührten Lächelns, als er sagte: »Da ist also der kleine dicke Napoleon doch Kaiser geworden! Und wie geht es der schönen Lätitia?«
»Ihre Majestät die Kaiserin-Mutter befindet sich wohl,« antwortete Ney förmlich. Und er entledigte sich mit raschen Worten seines Auftrages: Seine Majestät der Kaiser, stets auf das Wohl seiner erlauchten Familie bedacht, habe vernommen, daß sein verehrter Großoheim auf einer armseligen Landpfarre ein unwürdiges Leben fristen müsse; es sei daher des Kaisers Wunsch, diesem Zustande ein Ende zu machen. »Ich habe, Herr Pfarrer,« schloß Ney mit einer weltmännischen Verneigung, »den Auftrag, Sie ganz nach Ihrer Wahl an den Hof oder nach Rom zu geleiten; es steht Ihnen frei, zu wählen, ob Sie eine hohe geistliche Stellung bei Hofe bekleiden, ein Bistum in Frankreich oder Italien haben – oder in Rom als Kardinal in der Umgebung des Papstes leben wollen. Ich bitte Sie nur, Ihre Wahl so schnell zu treffen, wie Ihr Wunsch durch die Macht Seiner Majestät erfüllt werden wird.«
Der Pfarrer Buonaparte schloß die Augen, als wäre er von grell flammendem Glanz getroffen. Die Zeit der lockenden Hoffnungen, der kühn zu höchsten Zielen schweifenden Träume lag so weit hinter ihm, daß die jäh auf ihn eindringende Wirklichkeit sich vor seinem argwöhnischen Blick zu unfaßbarer Größe aufreckte. Schon aber spürte er, dem seit langen Jahrzehnten die goldene Mitra des Bischofs von Fiesole der ehrfürchtig bestaunte und unerreichbare höchste Ausdruck kirchlicher Macht war, wie vergessene und nie mehr erprobte Kräfte sich in ihm regten; das alte korsische Abenteurerblut stieg aus längst verschütteten Quellen leise singend auf. Aus seinen wirr taumelnden Gedanken formte sich ein Erinnern, daß auch er einmal zu Macht und Größe hatte aufsteigen wollen – um nun in einem weltentlegenen Dorfe, unter armen Bauern zu sitzen, schmutzige Kinder zu unterrichten, überaus verständliche Predigten zu halten und sich nur vor den Amtshandlungen zu rasieren. Er ließ sich auf den Stuhl sinken, bedeckte die Augen mit der Hand und sagte leise: »Ich will es bedenken.« Ney musterte ihn ein wenig mitleidig, ging taktvoll zum Fenster und sah hinaus; aber nur, um es mit einem gemurmelten »Fichtre!« aufzustoßen und zornig in den Hof zu blicken. Denn draußen hatte sich ein ungebührlicher Lärm erhoben.
Es hatte das, wie sich nachher erwies, eine dreifache Ursache. Tommaso, der Vielseitige, hatte sich, angelockt durch das lustige fremde Geschnatter und das Gefunkel der Uniformen, an die Dragoner herangemacht und bestaunte sie mit runden neidischen Augen. Man setzte ihn zum Spaß auf ein Pferd, das ihn sogleich entrüstet abwarf. Darüber gab es ein großes Gelächter. Die schöne Mattea, angelockt durch feurige Blicke und scherzende Zurufe, die sie leider nicht verstand, kam ebenfalls herbei; worauf ein als Draufgänger berüchtigter Wachtmeister sie ohne langes Verhandeln umfaßte, über sein Pferd warf, sich zu ihr in den Sattel schwang und mit der kreischenden Beute unter dem Jubel der anderen aus der Dorfstraße und in den Wald galoppierte. Die Henne Bianca aber, von einem der groben Spaßmacher gescheucht, flatterte mit entsetztem Gegacker zwischen den Beinen der Gäule umher, und ihre weißen Federn stoben als traurige Trophäen ihrer Peiniger durch die Luft. Bei der wilden Jagd wurden zugleich die sorgsam gepflegten Gemüsebeete jämmerlich zertrampelt.
Als der Pfarrer Buonaparte, durch den Lärm aus seinem Grübeln aufgestört, voll böser Ahnungen zur Tür eilte, kam ihm schon Tommaso entgegen und hatte die mit Mühe gerettete, arg zerzauste Bianca unter dem Arm. Er berichtete, während sein Herr das Tier erschreckt und besorgt betrachtete, vom Schicksal Matteas. Der Pfarrer richtete einen vorwurfsvollen Blick auf Ney, und es entging ihm nicht, daß der General sich zwingen mußte, eine strenge Miene aufzusetzen, während seine Augen leichtfertig lächelten. »Soldaten sind rauhe Leute, Herr Pfarrer,« sagte Ney. »Aber der Wachtmeister wird das Mädchen heiraten, dafür stehe ich Ihnen.« Nun rückte Tommaso keck und verlegen zugleich mit einem Anliegen heraus: Die fremden Soldaten hätten ihm versprochen, wenn er ins Heer einträte, so würde er in kurzer Zeit Capitano werden; und da möchte er nun also mit den Dragonern ziehen. Ney musterte den ranken Burschen wohlgefällig. »Es ist gut,« sagte er. »Du kannst mitkommen.«
Hier wandte sich der Pfarrer Buonaparte, immer noch die Henne im Arm, zu dem General, und in seiner Stimme war ein solcher Ernst, daß Ney betroffen lauschte. »Sie wollten mir das Glück bringen, Herr General,« sagte der alte Priester, »und ich danke Ihnen dafür. Aber blicken Sie um sich: Hat nicht Ihr Kommen in einem einzigen Augenblick das, was das Glück meiner Tage war, zerstampft, geraubt, zunichte gemacht? So hat mich der Himmel dafür gestraft, daß ich mich eine Minute lang von dem Glanz der Welt versuchen ließ und die kleine Welt, in die ich gestellt bin, mißachten wollte. Überbringen Sie meinem Neffen Napoleon meinen väterlichen Segen und sagen Sie ihm, daß er mich meinen Weg in Frieden soll zu Ende gehen lassen.«
Ney, der bei unverrichtetem Auftrag den Zorn des Kaisers fürchtete, legte sich aufs Überreden, aufs Bitten, schließlich aufs Drohen. Da aber traf ihn aus den Augen des Pfarrers Buonaparte ein stählern aufblitzender Blick, dem er nicht standhielt; und er sah plötzlich in dem hageren Antlitz des Greises auf seltsame Art des Antlitz gespiegelt, vor dessen Ausdruck die Völker bebten – das von einem unbeugsamen Willen gestraffte, von der Erkenntnis eines unabänderlichen Schicksals leidenschaftlich und machtvoll erfüllte Antlitz des Kaisers. So wandte sich Ney mit unwillkürlich tiefer Verneigung zur Tür, ging in den Hof hinaus und befahl aufzusitzen. Gleich darauf rasselte der Trupp mit Geklirr und Getrappel davon.
Der Pfarrer Buonaparte sah dem gleißenden Spuk nach, bis der aufgewirbelte Staub den letzten Waffenblitz verschluckte; und es war, als er in sein verödetes Haus zurückkehrte, in seinem leichten Schulterheben etwas, das an das stumme Achselzucken gemahnte, mit dem Napoleon wenige Tage darauf bei Neys Bericht die erwiesene Unzulänglichkeit seines Verwandten zu den unabänderlichen Torheiten der Menschen warf.
Ob Monsieur Ladoucette, von Napoleons wohlerwogenen Gnaden Präfekt zu Aachen, sich das bewährte Verfahren des Grigorij Alexandrowitsch Potemkin zu eigen machte, oder ob seine Einfälle in seinem eigenen gesalbten Schädel gewachsen waren, wissen wir nicht; wohl aber wissen wir, daß der findige und windige Pariser die Kulissen, mit denen die Kunst der Höflinge den gekrönten Herrschaften ein Bild dieser Welt vorgaukelt, ebenso gewandt bemalte und aufstellte wie sein Artgenosse im Moskowiterland. Denn als Paolina Borghese, Napoleons schöne Schwester, wieder und immer wieder nach Aachen kam, hatte Monsieur Ladoucettes kundiger Spürsinn alsbald herausgefunden, daß die erlauchte Dame sich durch ihre schwärmerische Vorliebe für die alte Stadt in einen lieblichen Wahn hatte einspinnen lassen: Sie glaubte sich von den Aachenern geliebt und verehrt, und in ihrem Überschwang deutete sie jeden Gruß, jede Äußerung heiterer Neugier in den Straßen zu einer Huldigung des Volkes um.
Der ehrgeizige Monsieur Ladoucette wußte diesen frommen Selbstbetrug zu nutzen und zu nähren, und seine nimmermüde Regiekunst ersann immer neue Mittel: Er fand lärmfrohe Leutchen, denen es Spaß machte, gegen gute Bezahlung unter den Fenstern der Fürstin ein bißchen Hurra und Hoch zu schreien; er entlieh sich von den französischen Beamten und Soldaten Kinder, die der Dame auf ihren Spaziergängen auflauerten und ihr Blumen überreichten, wobei sie einige ihnen vorher sorgsam eingetrichterte deutsche Sätze zu sprechen hatten; er veranstaltete tausend kleine rührende Begegnungen und Begebenheiten und hüllte alle Wege seiner Gönnerin in den rosenfarbenen Nebel dieses holden Trugs.
Immer war er im rechten Augenblick zur Stelle, den schmalen Schädel höflich geneigt, ritterlich lächelnd, daß unter seinem duftenden schwarzen Schnurrbart die weißen Zähne blitzten, und erläuterte den Vorgang mit Schmeicheleien von pariserisch-eleganter Gewagtheit; indessen auf Paolinas Wangen das lustvoll pulsende Blut rosig durch den Puder schimmerte.
Eines Tages nun entdeckte der Präfekt bei einer Besichtigung im Hof des »Grashauses« eine schöne, schlichte schwarze Granitsäule, die herrenlos auf einem Haufen von Schutt und Bausteinen lag. Seine rege Phantasie schenkte ihm sogleich einen herrlichen Einfall. Als Paolina Borghese einige Tage darauf, von ihrem getreuen Vasallen geleitet, zu jenem Aussichtspunkt über der Stadt lustwandelte, der ihr zu Ehren den Namen »Paulinenwäldchen« erhalten hatte, wartete ihrer dort dank Monsieur Ladoucette der neueste Liebesbeweis der zartsinnigen Aachener: eine schlanke schwarze Säule, von Blumengewinden umrankt; und darauf lasen Paolinas staunende Augen die in Goldbuchstaben leuchtende Inschrift:
A la Vertu de la Princesse.
In ehrfürchtigem Schweigen standen die Damen des Gefolges; Monsieur Ladoucette trällerte bezaubernd wohllautende Ausrufe der Überraschung und entzückten Rührung; Paolina Borghese aber, die sonst so Rasche und jeder Leidenschaft Hingegebene, verharrte in regloser Ergriffenheit und hinderte es nicht, daß ein paar Tränen auf ihre Wangen verräterische Spuren zeichneten und auf ihr kostbares Spitzentuch niedertropften.
Da nun geschah es, daß ein wohlgesinnter Aachener Bürger, in Gesellschaft ehrsamer Freunde auf den Genuß frischer Luft bedacht, den Vorgang gewahrte, stehen blieb, stutzte und dann, von plötzlicher Erkenntnis getroffen, ausrief: »Dat is ja da Kaatsch!«
Er hätte den unbedachten Ausruf gern wiedergehabt, aber da die verwundert aufblickende Fürstin ihn freundlich heranwinkte und zur Erläuterung seines ihr unverständlichen Satzes aufforderte, gab er stockend erst, dann mit wachsendem Vergnügen, in leidlichem Französisch die verlangte Aufklärung: Die Säule da – und er wies mit dem Stock auf das granitene Denkmal – habe dereinst als Pranger schändliche und stadtbekannte Dienste getan, bis die Heilsbringer der französischen Revolution kamen und die Hoheitszeichen der verruchten alten Erdenmächte ausrotteten, weil sie – wie der Sprecher nicht ohne beziehungsvolle Bosheit hinzufügte – das Brandmarken, Einsperren und Kopfabschlagen nach der Weise der neuen Freiheit bewerkstelligen wollten. Nun sei der gewissermaßen ehrwürdige Pranger, vom Volke »Kaatsch« genannt, nach langer Ruhe im Hofe des Grashauses unerwarteterweise als Denkmal im Paulinenwäldchen auferstanden.
Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß Monsieur Ladoucette der »Tugend der Fürstin« ausgerechnet den Schandpfahl der Stadt Aachen als Wahrzeichen errichtet hatte. Die Fürstin sah den Präfekten an: und sein zur Farbe geronnener Milch erbleichtes Gesicht kennzeichnete ihn deutlich als den Urheber eines schmählich mißlungenen Betruges.
Die Fürstin, atemlos vor Zorn und Scham, wandte sich jäh, mit einem rauhen Kehllaut, der einem Fauchen glich, und verließ stolpernd vor Hast die Stätte, wo sich eine vermeintliche Ehrung in eine unnennbare Schmähung verwandelt hatte; die Damen des Gefolges trippelten verstört hinterdrein.
Indessen noch andere Neugierige sich sammelten und die flinke Erkenntnis eines ungeheuren Witzes hügelab ein brausendes Gelächter aufbranden ließ, stand Monsieur Ladoucette, ein vom Blitz erschlagener Mann, und lehnte sich, ohne es zu wissen, haltsuchend an die schwarze Säule: in einer Stellung, die den Aachenern aus der Vergangenheit dieses grausamen Schandgerätes nur allzu wohl vertraut war.
Seltsam und schauerlich sind in einer alten Geschichte, die über zwei Jahrhunderte hinweg zu uns herüberklingt, Tod und Leben ineinander verschränkt: als hätte es der Fügung gefallen, einmal beispielhaft deutlich zu zeigen, wie rasch und leicht uns ihre Hand her und hin über die dünne Grenze zwischen den beiden Bezirken hebt. Denn so viel uns Menschen diese Grenze gilt – was gilt sie ihr? Wir können es nicht ermessen.
Dies war, so darf man respektvoll vermuten, der Gedanke eines alten baltischen Edelmannes, der täglich beim einsamen Mittagsmahl im Speisesaal seines Schlosses einen herrlichen kristallenen Pokal leerte und um so andächtiger und nachdenklicher wurde, je näher er beim guten Trunk dem Grunde des Kelches kam; denn je mehr der rote Wein zur Neige ging, um so deutlicher las man die Worte, die der kunstreiche Glasbildner drunten als sinnbildlichen Bodensatz der Füllung zierlich eingeschnitten hatte: »Memento mori« – denk an deinen Tod.
Lächelnd, die hageren Hände um das kühle blanke Rund des Pokals gelegt, betrachtete der alte Herr diesen Spruch und fand wohl in ihm die rechte Krönung und Würze einer alltäglichen Verrichtung, die der Erhaltung des offenbar gottgewollten fleischlichen Vorhandenseins galt; erhob sich dann, reinigte mit eigener Hand das kostbare Gefäß und trug es in den Ahnensaal, um es an seinem Platz im Schrank zu verwahren. Dann verweilte er lange und ganz dem Schauen hingegeben in dem strahlenden, funkelnden, gleißenden, tiefleuchtenden, buntsprühenden Glanz, mit dem er diesen Saal erfüllt hatte: denn es standen darin auf Borten, Tischen und Simsen, in Schränken, Fächern und Nischen viele Hunderte von Gläsern, Karaffen und Pokalen aus edelstem Kristall und von erlesenem Schliff. Schien die Sonne nicht, so ließ der alte Herr die Fenster verdunkeln und viele Kerzen anzünden, um die verborgenen bunten Feuer in den zauberischen Kristallen zu wecken: alle Flammen und Farben des unvergänglichen himmlischen Lichts in den vergänglichen und zerbrechlichen Gefäßen aus irdischem Stoff. Dies war für ihn die höchste und deutungsreichste Stunde des Tages, und was er in den anderen tat, schien ihm daneben in seinen letzten Jahren: so unwichtig, daß auch wir uns nicht darum zu kümmern brauchen.
Wir finden es nach alledem nicht verwunderlich, daß er die letzte Probe auf seine standhafte Weltweisheit einsam und ohne das übliche Drum und Dran ablegte und seinen Leuten, die ihn eines Morgens leblos im Bett fanden, ein zur unausdeutbar rätselhaften Maske erstarrtes Antlitz zeigte. Man bahrte ihn, wie es seit langem bestimmt war, im Ahnensaal auf und sandte einen Kurier zu seinem Neffen und einzigen Leibeserben, der als Offizier bei einem feudalen Reiterregiment ein von allen Kennern weltlicher Vergnügtheit bewundertes, von seinem nun verblichenen Oheim aber um so gründlicher verabscheutes Dasein führte. Er reiste sogleich herbei, musterte, schlank und hochmütig in blitzender Uniform auf dem Trittbrett der Kalesche stehend, Schloß und Dienerschaft mit herrischem Blick und verweilte zu der schuldigen stummen Betrachtung an der Leiche; klirrte dann mit klingelnden Sporen durch alle Räume und ließ sich von einem feierlichen Notarius bestätigen, daß dem Oheim nichts anderes übriggeblieben war, als ihn nach dem Hausgesetz zum Herrn des Besitzes zu machen und damit von allen Schulden und Sorgen zu entbürden.
Einsam, wie das des Oheims seit so vielen Jahren, war sein Nachtmahl im Speisesaal: aber während der alte Herr sich den Tod als unsichtbaren Tischgenossen geladen hatte, dachte der neue Herr, dem Freude und Wein im Blute brausten, nicht an den dunklen Gast, der sich, geladen oder ungeladen, eines Tages zu uns an die Tafel setzt: ihm wäre wohl ein anderer Tischgeselle recht gewesen, der ihm bei einem Trinkspruch auf das Leben mit lachender Kameradschaft Bescheid tat. Zum Bescheidtun war niemand da – aber es kam ihm, der schon ein wenig trunken war, plötzlich der Einfall, dem stillen Mann im Ahnensaal aus dem eigenen Lieblingskelch einen triumphierenden Gruß des Lebens zuzutrinken. Sogleich ergriff er die Kanne und ging hinüber; stand einen Augenblick geblendet und beklommen vom Schein der Kerzen, dem bunten und blitzenden Gefunkel der tausend Kristalle, der ferngerückten Erhabenheit des Antlitzes auf dem weißen Atlaskissen; riß sich dann mit einem Ruck zusammen, nahm den Pokal aus dem Schrank, füllte ihn und wollte, das leuchtende Gefäß in hochaufgeschwungener Hand haltend, zur Bahre gehen: schlank, straff, in herrischem Hochmut und triumphierender Kraft.
Da nun geschah es, daß er sich mit den Sporen in einer Matte verfing und, da er im Taumeln nach einem Halt griff, einen der kristallgefüllten Schränke stürzend mit sich riß: so daß die Gläser und Schalen mit schmetterndem Geklirr am Boden zerschellten. Als er sich, schwankend und blutend, aufrichten wollte, sah er sich vor einer gespenstischen Erscheinung, die ihm den gurgelnden Atem in die Kehle zurückstieß: der Tote, der vermeintlich Tote öffnete die Augen und sah ihn an – richtete sich auf und sah ihn an.
Die Dienerschaft, aufgestört durch den Lärm, lief herbei – nur um alsbald schreiend zu flüchten und drunten im Dorf eine schauerliche Kunde zu verbreiten. Man wird es ihr nicht verargen, daß sie dem gedoppelten Entsetzen nicht standhielt, da sie den eben noch lebenden neuen Herrn tot, mit zerschmettertem Schädel, drunten am Fuße der Treppe und den eben noch toten alten Herrn lebend droben im Ahnensaal gefunden hatte. Der Pfarrer, durch sein geistliches Amt ebenso verpflichtet wie nach allgemeiner Überzeugung geschützt, entschloß sich, dem Spuk zu Leibe zu gehen; nicht ohne sich den irdisch verläßlichen Beistand des Arztes zu sichern. Sie konnten freilich nur feststellen, daß droben im Schloß der eine ebenso unabänderlich tot wie der andere unabänderlich lebendig war: ohne daß der vom Tode Erweckte ihnen auf ihre Fragen irgendeine Antwort gegeben hätte. Er saß, den durch eine sinnvolle Absicht der Fügung unversehrt gelassenen Kelch in der Hand, auf dem Rande des Lagers, in einer Haltung, wie er sie im stummen und leisen Gleichklang seiner ferneren Tage noch zu vielen Malen einnahm: lächelnd, die hageren Hände um das kühle blanke Rund des Pokals gelegt, den er so unverwandt betrachtete, als ob ihm die auf dem Grunde zierlich eingeschnittene Inschrift das Rätsel des vertauschten Todes auf eine gute und tröstliche Art zu lösen vermochte.
Ein Schauspieler, der als junger Anfänger ein Gastspiel Emil Devrients am Leipziger Stadttheater mitwirkend erlebte, pflegte in späteren Jahren zu erzählen, daß er in Erscheinung und Auftreten des großen Darstellers die höhere und die niedere Wirklichkeit des gestalteten und des durch keine Gestaltung gebändigten Lebens in erschütternder Verflechtung sich offenbaren sah. Man probte das Schauspiel »Rubens in Madrid« von der Birch-Pfeiffer, und Devrient erschien erst auf der vierten oder fünften Probe, niedersteigend aus den olympischen Bezirken eines fast schon mythisch gewordenen Ruhmes: ein schlanker, mit lässiger und leiser Anmut sich bewegender Mann, dessen weltmännischer Verhaltenheit man seine sechzig Jahre nicht angesehen haben würde, wenn nicht das Grau über den hager gewordenen Schläfen und ein paar scharfgekerbte Falten sie dem aufmerksameren Blick verraten hätten. Zu solcher Betrachtung aber hatten die aufgeregten und ehrfurchtsvoll beflissenen Mitspieler weder Mut noch Zeit; denn der Gast, der bei der üblichen Vorstellung das verbindlich-unverbindliche Lächeln einer fast kränkenden Zerstreutheit zeigte, nahm in seinen Auftritten alsbald in einer alles zusammenraffenden Weise die Führung. Er selber sprach, immer in derselben zugleich lässigen und straffen Haltung, seine Sätze flüchtig, rasch und mit halbem Ton; nur zuweilen hob sich die ein wenig näselnde Stimme plötzlich zu einem Klang, der klirrend aufflog wie rauschender Trommelwirbel oder wie heller Schlag auf Metall tönte: Dann stand ein Satzgebilde licht wie gleißendes Gold im horchenden Raum, und vor der so jäh verwandelten Gestalt stockte den Hörern der Atem. Sie freilich kamen nicht zu einer so haushälterischen Einsetzung ihrer Kräfte; denn mit schnellen, gleichsam befestigenden Gesten und beiläufigen Bemerkungen, in denen nur zuweilen die Ungeduld mit flüchtiger Schärfe aufblitzte, wies Devrient ihnen in seinen Auftritten Rang und Stellung an und zog um sich her einen magischen Kreis, dessen Grenzen keiner von ihnen mehr überschreiten konnte. Während der Auftritte, in denen er nicht beschäftigt war, saß er auf einem Stuhl an der Rampe, mit gekreuzten Armen, völlig unbeteiligt; und in der Pause ging er rasch in sein Ankleidezimmer.
Als er zurückkam, um die Szene zu proben, in der Rubens in eine Verkleidung als alter holländischer Maler schlüpft, sah er, daß auf der dunklen Bühne sich dem Verbot zum Trotz eine Anzahl von nicht beschäftigten Damen und Herren des Ensembles versammelt hatte. Sogleich – man probte noch im Straßenanzug – blieb er stehen und sagte: »Mantel und Stock.« Mit dem Mantel, den er sich lose um die Schultern warf, mit dem Stock, den er in die Hand nahm, schien er sich zu völliger Verwandlung zu verzaubern, einer gespenstischen Verwandlung: Seine Schultern zogen sich zusammen, sein Rücken rundete sich zu sachter Krümmung, seine Augen glühten in tief verschatteten Höhlen, und um die Krücke des Stockes schloß sich mit hartem Griff eine knochige Greisenhand. Aber es war eine Gestalt voll Erhabenheit, ein Idealbild des Alters: Er gab, sagte der Erzähler, dieser schönen Maske mit erstaunlicher Verwirklichungskraft die Form, die ihm sein Wunsch als Erscheinung seines eigenen Alters malte. Dann, beim Abgehen, als er in der Kulisse die ergriffenen Gesichter der ungebetenen Zuschauer sah, warf er den Mantel ab, mit der Bewegung, wie man eine Last abschüttelt: Sein Körper straffte sich mit biegsamem Schwung wie eine aus gewaltsamer Beugung aufschnellende Klinge, er stieß mit einer befreiten Bewegung die Arme in die Luft, lächelte wie von einer Last erlöst und sprang, ehe irgendwer das Wort an ihn richten konnte, auf schlanken, federnden Beinen die Treppe hinan, die zu den Ankleidezimmern führte.
Der Zufall fügte es, daß wenige Minuten später droben eine vom Luftzug aufgewehte Tür dem Erzähler den Blick auf die vierte Verwandlung des großen Mimen freigab; und diese schonungslos grausame Enthüllung zeigte ihm einen sehr alten, von gewaltsamer Anspannung tief erschöpften Mann, kauernd auf dem Stuhl, auf den ihn die Atemlosigkeit hingeschleudert hatte, mit rasselnder Brust nach Luft ringend, die Hand, eine welke Greisenhand, um die schweißfeuchte Stirn gekrampft. Der unfreiwillige Lauscher, aus Ehrfurcht und neidvoller Bewunderung jäh herabgerissen zur Zeugenschaft dieser letzten, von der rachsüchtigen Natur angerichteten Verwandlung, stand einen Augenblick erstarrt, bis der Schleier aufschießender Tränen ihm den schauerlichen Anblick dieser letzten Szene wie ein gnädig zur rechten Zeit gesenkter Vorhang entzog.
Ein Leutnant, dessen jungfröhliche Art sich unter dem harten Griff unerhörten Erlebens zu bewußter Männlichkeit gefestigt hatte, bestieg, seinen Anteil an den wilden flandrischen Kämpfen durch eine Fahrt in die lang entbehrte Heimat unterbrechend, in Brüssel den nach Deutschland bestimmten Zug. Er traf im Abteil mit einem Hauptmann zusammen, der vor dem Kriege in einem westfälischen Städtchen den wenig aufregenden Posten eines Amtsrichters ausgefüllt hatte und durch den nervenanspannenden Wachtdienst in einem belgischen Küstenort aus der leise beginnenden Beschaulichkeit zunehmender Jahre aufgerüttelt worden war. Da der ältere Offizier an der heiteren Offenheit des jüngern ein rasch erwidertes Gefallen fand, verging ihnen die Zeit, da der Zug seinen Weg durch den regnerisch verhangenen belgischen Herbsttag nahm, in gutem Gespräch rasch genug.
Erst als der wirre Klirrklang der über viele Weichen hineilenden Räder sie aus dem Getriebe des ersten deutschen Bahnhofs entführte, wurde ihr angenehm empfundenes Alleinsein durch eine junge Dame unterbrochen. Indessen die neue Reisegefährtin sich mit anmutig runden, sicheren Bewegungen ihres geschmeidigen Körpers augenscheinlich für eine längere Fahrt einrichtete, tröpfelte das unwillkürlich verlangsamte Gespräch der Herren in spärlichen Worten weiter, da sie beide in der unauffälligen, aber gründlichen Art, wie sie Männern von Welt eignet, ihre Beobachtungen anstellten. Das übereinstimmende Ergebnis war die Feststellung großen natürlichen Reizes, der durch eine schelmische, naiv ungezwungene Koketterie eher vermehrt als vermindert erschien. So kam es, daß dem Leutnant das Zusammentreffen wie ein Gruß und Vorgenuß lange ersehnter friedlicher Heimatstage war, und er sah sich alsbald von rheinischer Fröhlichkeit, die das Abteil mit hellem Lachen und melodisch zwitscherndem Plaudern füllte, in ein heiteres Wortgeplänkel verstrickt, in dem er sich in aufquellender Frohlaune wacker behauptete.
Darüber entging es ihm, daß der ältere Kamerad allmählich in ein Stillschweigen verfiel, das seinen Grund in einer ihm selbst nicht recht erklärlichen Verstimmung hatte. Hätte jemand sie ihm als Folge einer mißgünstigen Regung gedeutet, so würde er das sicherlich weit von sich gewiesen haben; immerhin gewann sie soviel Macht über ihn, daß er, obwohl seinem Reiseziel noch ziemlich fern, seinen Säbel einhakte und sich, aufbruchsbereit dasitzend, einem verdrossenen Spiel mit der Säbelquaste widmete. Bald aber mischte er sich, einem plötzlichen Antrieb folgend, in das Gespräch der anderen und geriet dabei in einen solchen, ihm selbst seit langem fremden Eifer, daß in dem anfangs spielerisch harmlosen Hin und Her launigen Wortgefechtes zuweilen die schärferen Waffen einer leichten Spannung flüchtig aufblitzten.
Diese seltsame Wendung der Dinge brachte es mit sich, daß in dem Leutnant, der erst nur dem prickelnden Regen seines nach langer Haft wieder lustvoll aufwallenden Blutes nachgegeben hatte, ein Plan entstand, der, anfänglich fast erschrocken und abweisend beiseite geschoben, bald sich unwiderstehlich aufdrängte. Als daher der unerleuchtete Zug durch den Schacht eines langen Tunnels toste, erhob sich nach einem letzten kopfschüttelnden Zögern der junge Offizier und tastete sich in herzklopfender Spannung vorwärts, um, ohne der möglichen Folgen seines Tuns zu gedenken, von den willfährig lockenden Lippen seines anmutigen Gegenübers in knabenhaftem Trotz die Bekrönung dieser wunderlich erregten Stunde zu pflücken. Da geschah es, daß er innehielt, in dem unabweisbaren, alle Nerven durchzuckenden Gefühl, daß jemand neben ihm stehe; er tat einen unwillkürlichen, heftig zufassenden Griff ins Dunkle und hielt einen Gegenstand in den Händen, in dem er tief erschrocken die Säbelscheide des Hauptmanns erkennen mußte.
Es ist sicher, daß beide Herren sich nach dieser Begegnung wieder an ihre Plätze verfügten und die ihnen noch verbleibende kurze Spanne Dunkelheit dazu benutzten, ihre ins Wanken geratene Sicherheit und Unbefangenheit zurückzugewinnen. Nicht sicher dagegen ist, ob die junge Dame, die zu alledem Anlaß gewesen war, des unterbrochenen Erlebnisses inne ward. Denn beide Offiziere wagten keinen Blick in ihr Gesicht. Der Leutnant sah unverwandt zum Fenster hinaus, um nicht zu zeigen, daß ihn nach anfänglichem Ärger eine kaum zu bezwingende Lachlust anwandelte; und der Hauptmann, dem das Blut in die Ohren gestiegen war, saß vorgeneigt, mit einer scharfen Falte zwischen den Brauen, und ließ den Zorn über sich selbst an der heftig zwischen den Fingern gewirbelten Quaste seines schuldig-unschuldigen Säbels aus.
Als indessen der Hauptmann, seinem Reiseziel nahe, von dem jungen Kameraden Abschied nahm, da sah der Leutnant in dem Gesicht des anderen ein gütiges und von leichter Traurigkeit überschattetes Lächeln, das von einer wehmütigen Resignation Kunde gab; und er umspannte die dargereichte Hand mit festem Druck. Er begriff plötzlich, daß jenem diese Stunde mehr bedeutete als den überlegen belächelten Verzicht auf eine flüchtig lockende Tändelei. Und er blieb auf der ferneren Fahrt schweigsam und sinnend, da er sich nicht eines billig errungenen Sieges freuen mochte. Denn er fühlte tief, daß ihn in diesem Erlebnis ewiges und schmerzliches Schicksal mahnend gestreift hatte.
Der konsularische Vertreter einer südosteuropäischen Macht in einer Hansestadt, ein beleibter, harmloser, überall wohlgelittener Mann, mußte es in den ersten Novembertagen des auch sonst unheilvollen Jahres 1918 erleben, daß einige schwer bewaffnete, mit roten Schleifen geschmückte Männer sein Haus betraten, sich als Beauftragte des »Sicherheitsdienstes« auswiesen und die Herausgabe etwa gehamsterter Lebensmittel verlangten. Sie vollführten beträchtlichen Lärm, mißachteten alle Proteste, zerkratzten mit ihren genagelten Stiefeln das Parkett, sagten allen weiblichen Haushaltsmitgliedern schauerliche Dinge und zogen schließlich unter Mitnahme eines halben Kalbes, das sie in der Speisekammer gefunden hatten, mit dröhnendem Frohsinn ab.
Dies nun war nicht nur eine Verletzung der Exterritorialität jener südosteuropäischen Macht, also ein diplomatischer Zwischenfall reinsten Wassers – sondern es war auch ein gewaltsamer Eingriff in das Ernährungsprogramm ihres konsularischen Vertreters; und zwar hatten die Eindringlinge damit im Innern des sonst friedliebenden Mannes die einzige Saite berührt, die kriegerische Klänge von sich zu geben imstande war. Er holte sich, ächzend vor Zorn, Rat bei einem Kollegen, der eine andere südosteuropäische Macht repräsentierte und innerlich erheitert, aber äußerlich mit schwerem Ernst den Standpunkt vertrat, daß hier ein außergewöhnlich ruchloser, nachdrücklich zu ahndender Übergriff geschehen und das heiligste Recht politischer Vertreter verbrecherisch angetastet sei. Nach seiner Meinung seien zunächst sofortige dringliche Vorstellungen beim Chef des »Sicherheitsdienstes« und die Erzwingung einer vollen Genugtuung eine staatsmännische Notwendigkeit.
Der Generalkonsul, also bestärkt, begab sich heim, zog sich einige Ordensbänder durchs Knopfloch, setzte seinen Staatszylinder auf und fuhr in seinem Kraftwagen, auf dessen Kühler die Miniaturflagge der südosteuropäischen Macht flatterte, beim Chef des Sicherheitsdienstes vor. Dieser, ein schlichter Matrose von riesigem Körperbau, aber geringer Amtseignung, stand eben an einem Pult und unterzeichnete nicht ohne Anstrengung eine Anzahl von Erlassen. Er warf auf den erregten Besucher nur einen schiefen Blick und knurrte eine Bemerkung etwa des Inhalts: Er habe stets eine unüberwindliche Abneigung gegen Männer mit Zylindern gehabt und müsse daher bitten, den Ankömmling sogleich aus seinem Gesichtskreise zu entfernen, widrigenfalls er für sein weiteres Benehmen keinerlei Gewähr leisten könne. Sein Adjutant indessen, nicht minder riesenhaft, aber etwas welterfahrener, daher zu Kompromissen geneigt, klärte ihn darüber auf, daß der Mann Vertreter eines fremden Staates sei und die Hervorkehrung rauher Sitten daher das zur Folge haben könne, was er »Impomperabilien« nannte. Daraufhin sah sich der Chef, ein wenig herabgestimmt durch das bedrohlich klingende Fremdwort, veranlaßt, den Besucher nach seinen Wünschen zu fragen. Der Generalkonsul holte tief Atem; Ärger über die anfängliche schlechte Behandlung, das Bewußtsein schändlich verletzter Rechte und der Schmerz um das halbe Kalb verliehen ihm eine Beredsamkeit, die wie ein Hagelwetter auf den Gegner herab- oder richtiger: an ihm in die Höhe fuhr. Die Rede gipfelte in der Forderung nach völliger Genugtuung und der Drohung mit den völkerrechtlich bedingten Weiterungen.
Der Chef des Sicherheitsdienstes, dem bisher lediglich verhältnismäßig primitive Erfahrungen auf innerpolitischem Gebiet zur Seite standen, sah sich hier plötzlich sozusagen in die Weltpolitik eingespannt, und zwar auf eine Weise, die alles andere eher als behaglich war. Er hatte keine Ahnung, welcher Art die angedrohten Weiterungen sein konnten, und auch die »Impomperabilien« waren ihm gänzlich unbegreifbar; ebensowenig war es ihm gegeben, die mehrfach erwähnte Exterritorialität mit dem halben Kalb in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. Doch wurde es ihm nach kurzem Bedenken klar, daß diese gefährlichen Fremdwörter nebst Folgen schleunigst aus der Welt geschafft werden mußten. Zu diesem Zweck erschien es ihm als das beste, wenn er sich an das Greifbare hielt. Das in der Nähe der Stadt gelegene Altenlander Feld, wo sich große Viehherden reicher Bauern tummelten, tauchte als Rettungsmittel vor seinem geistigen Auge auf. Er rief einen seiner Leute herbei und erteilte ihm einen Befehl, der im reizvollen Originalbilde hier stehen muß: »Lop mal hen nah 'n Olenlanner Felle un fang for den Keerl 'n Kalf.« Den ideellen Teil der Genugtuung glaubte er durch den an seinen Besucher gerichteten Satz: »– und denn entschuldigen Sie man!« hinlänglich zu erledigen. Der Generalkonsul, durch diese Wendung der Dinge seinerseits etwas aus der Fassung gebracht, zog sich hierauf stumm zurück.
Bald darauf erschien in dem Hause, das mit dem Wappen der südosteuropäischen Macht geziert war, in der Tat der entsandte Beauftragte; er trug ein kunstgerecht geschlachtetes und hergerichtetes (ganzes) Kalb auf der Schulter, begab sich damit in die Küche, legte es auf den Tisch und ging, ohne ein Wort zu reden.
Es ist nicht bekannt geworden, daß der Generalkonsul gegen diese Form der Wiedergutmachung irgendwelchen Widerspruch erhoben hätte. Man kann hinter diesem Schweigen mehrere Gründe vermuten: vielleicht hatte er Mitgefühl mit dem Chef des Sicherheitsdienstes und hielt die durch den Kälberfang etwa hervorgerufenen innerpolitischen Schwierigkeiten für weniger schlimm als die vorher drohenden außenpolitischen; vielleicht achtete er in dem Manne einen zweiten Salomo, der das Streitobjekt, da es bereits geteilt war, wieder zu einem Ganzen fügte; vielleicht auch war er zu der Erkenntnis gelangt, daß Form, Beschaffung und prozentuale Bemessung der Entschädigung mit den Gepflogenheiten der von ihm vertretenen südosteuropäischen Macht im Einklang standen.
Man berichtet, daß die Polen bei den Kämpfen in Oberschlesien einen deutschen Feldwebel fingen – oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war: denn den linken Arm und das rechte Bein hatte ihm bei Arras eine gut funktionierende amerikanische Granate abgeholt, und am wilden Schädel brannten ihm, wenn er in Wut kam, zwei vernarbte Schrammen in rotem Feuer. Aber da es um die heilige Heimat ging, hinkte er in der glühenden Freischar mit und hieb und schoß und stach – bis zu der Minute, wo rasselndes Geknatter vor ihm und neben ihm und hinter ihm die Leiber der Kameraden zerfetzt hatte und die Polen an ihm waren und ihm die leergeschossene Pistole aus der Hand schlugen und ihn niederzerrten und wegschleiften.
Da lag er in einer Holzfällerhütte im Winkel und riß sich mühsam immer wieder aus der Ohnmacht hoch, die ihn überwältigen wollte, und kaute in rasendem Zorn seinen zerfaserten Schnauzbart und spie das Blut, das ihm von der aufgeschlitzten Wange in den Mund lief, in die Stube. Und durch das surrende Sausen halber Betäubung, das seine Ohren füllte, drangen polnische Worte zu ihm: Fünf verwetterte Kerle beratschlagten, was sie mit ihm aufstellen könnten, um aus ihm herauszupressen, was sie über die deutschen Truppen wissen wollten, bevor sie Schluß machten mit ihm.
Steilauf fuhr er wie eine jäh aufschießende Flamme und war mitten unter ihnen, in der Hand eine Axt, die er aus dem Winkel unterm Brennholz hervorgerissen hatte: »Zerhacken könnt ihr mich!« schrie er. »In Stücke schlagen! Verbrennen! Ihr Hunde! Seht her, ich nehm' euch die Arbeit ab!« Mit brüllendem Lachen schwang er den linken Arm, den künstlichen, auf den Tisch und hieb mit der Axt die Stücke herunter und höhnte, als die Polen erbleichend zurückwichen. Als er aber auch noch das rechte Bein, das künstliche, dröhnend auf die Pritsche fallen ließ und mit einem Streiche den Fuß herunterhieb und die hochaufgeschwungene Axt sich zischend in das Schienbein grub, bekreuzigten sich die Polen und drängten sich polternd zur Tür hinaus und wetzten schreiend ins Gebüsch, als wäre ihnen das Donnerwetter auf den Hacken.
Der Feldwebel tanzte auf einem Bein zur Tür, schmiß mit hoho und haha die Axt hinter ihnen drein, wischte sich mit dem Jackenärmel Blut und Schweiß von der Stirn, griff sich einen weggeworfenen polnischen Schießprügel als Stütze und hinkte in den Wald hinein, dorthin, wo Gewehrgeknatter das Nahen der Kameraden ankündigte.