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Als Pearson einige Minuten später aus tiefer Bewußtlosigkeit erwachte, stellte er fest, daß er an dem Stuhl festgebunden war, auf dem er gesessen, als der Mann mit dem Barte ihm das Taschentuch auf das Gesicht gepreßt hatte. Schmerz empfand er nicht. Vor ihm stand zu seiner größten Bestürzung sein alter Schulkamerad Hugh Dain, und dieser einst so freimütige, temperamentvolle Mensch, den er seit langen Jahren kannte, schaute mit harten, unbarmherzigen Augen auf ihn hernieder. In Pearsons Gehirn, das noch von dem Dunst des rasch wirkenden Betäubungsmittels umnebelt war, drängten sich bildhaft die Ereignisse der letzten Augenblicke, und blitzartig durchfuhr ihn das Bewußtsein, daß er durch jenen verlogenen Brief in das einsame Landhaus gelockt worden war und daß hinter der fratzenhaft grinsenden Maske des Mannes, den er für einen Freund gehalten hatte, der Mord lauerte.
Er machte einen erfolglosen Versuch, sich seiner Fesseln zu entledigen, sank aber infolge der vergeblichen Anstrengung erschöpft zurück.
So geschwächt auch sein Sehvermögen war, konnte er doch erkennen, daß außer Dain sich niemand im Zimmer befand. Der Mann, der sich Frank Cartland nannte, war verschwunden.
»Wo bin ich?« fragte Pearson mit matter Stimme. »Was soll das heißen?«
Dain sprach leise und eindringlich. »Es soll heißen, daß du die Vermessenheit gehabt hast, dich mir in den Weg zu stellen, und ich aus Selbsterhaltung Sorge tragen muß, daß du es nicht nochmals versuchst. Zweimal habe ich dich deutlich gewarnt, doch in deiner unverschämten Dünkelhaftigkeit beliebtest du keine Notiz davon zu nehmen.«
In Pearsons Augen spiegelte sich die große Frage, welche seine ausgetrocknete Zunge nicht in Worte zu formen vermochte. Die unheilvolle Bedeutung jener wohlüberlegten Sätze war zu klar, um mißverstanden zu werden.
»Zwei Mal habe ich dich gewarnt,« wiederholte Dain in dem gleichen, leisen, unerbittlichen Ton. »Als du mir sagtest, du wolltest nach Paris gehen, riet ich dir so eindringlich wie möglich davon ab, dich in das Valrose-Geheimnis einzumischen, und empfahl dir, es jenen zu überlassen, deren Berufspflicht es ist, sich mit solchen gefährlichen Aufgaben zu befassen. Bei deinem unbesonnenen und eigensinnigen Charakter, ließest du dich aber nicht davon abbringen. Das unglückselige Ergebnis kennst du. Damals entgingst du wie durch ein Wunder dem Tode. Berton, ein Neuling in der Methode, vergriff sich in der Dosis und gab dir so viel, daß du an der Schwelle des Schattenreiches noch einmal umkehren konntest. Man sollte meinen, daß eine einzige derartige Erfahrung jedem Menschen genügen würde. Aber gelegentlich unserer gestrigen Unterhaltung ließest du deutlich erkennen, daß die Lektion spurlos an dir vorüber gegangen war.«
»So warst also du und nicht Thurston Bertons Inspirator?«
Dain nickte mit dem Kopfe. »Ich war es. Jetzt kann ich dir die ganze Wahrheit sagen. Berton befand sich seit kurzem im Hotel Vinci, und als du mir mitteiltest, du wolltest von dort aus deine Ermittlungen beginnen, wußte ich, daß du mir ausgeliefert warst. Ich setzte kein besonderes Vertrauen in deine Talente als Detektiv. Es schien mir wenig wahrscheinlich, daß du dort Erfolg haben würdest, wo die Pariser Sureté und Scotland Yard, vertreten durch den scharfsinnigen Deschamps und durch Shaddock, der seinem Konkurrenten kaum nachsteht, versagt hatten. Aber es war immerhin nicht ausgeschlossen, daß auch ein unerfahrener Mensch etwas finden konnte, was zur Entdeckung führte, wenn es berufenen Händen zur weiteren Verfolgung übergeben wurde. Und vor allen Dingen war ich nicht sicher, ob du irgend etwas durch den Verräter Valrose erfahren hattest, bevor ihn sein gerechtes Schicksal ereilte.«
Er hielt einen Augenblick inne, ehe er fortfuhr. »Du wirst dich vermutlich erinnern, daß ich, als wir gestern zusammen frühstückten, gerade heraus die Frage an dich richtete, ob du endgültig den Gedanken aufgegeben hättest, das Valrose-Rätsel lösen zu wollen. Deine Antwort, daß du auf die Weiterverfolgung nicht verzichten würdest, sobald du neue Anhaltspunkte fändest, besiegelte dein Schicksal. Ich warnte dich dann zum zweiten Mal. Wäre deine Antwort ausgefallen, wie ich hoffte, hätte ich dich geschont. Jetzt geht es nicht mehr.«
»Dann war also alles, was du mir erzähltest, von Anfang bis zu Ende eine Lüge?«
»Nein, durchaus nicht,« entgegnete der Schurke gelassen. »Mit einer einzigen Ausnahme war alles bis in alle Einzelheiten hinein die Wahrheit. Setze nur an Stelle des Namens Thurston den Namen Hugh Dain, dann braucht kein Sterbenswörtchen geändert zu werden.«
»Und du bist es auch gewesen, der Arthur Valrose ermordete?«
Ein finsteres Lächeln umschattete das harte Gesicht. »Ich bin es gewesen, der das gerechte Urteil an jenem Verräter vollzog, wie ich das auch bei anderen tat, die im Begriff standen, ein falsches Spiel zu spielen, zum Beispiel bei de Boeck. Nie schreckte ich davor zurück, die Funktion des Henkers auszuüben, wenn die Klugheit oder Gerechtigkeit mir vorschrieb, was ich zu tun hatte. Auch jetzt werde ich keine Scheu zeigen.«
In diesen bestialischen Augen, dieser unbarmherzigen Stimme lag keine Spur von Menschenähnlichkeit. Dieser kaltblütige Schuft war jener Typ eines Schwerverbrechers, als den er Thurston fälschlich bezeichnet hatte. Das Leben eines Menschen, der seinen Weg kreuzte, bedeutete für diesen Henker nichts.
Pearson war eine durch und durch heldenhafte Natur. Nichts verachtete er mehr als Feigheit. Auf dem Schlachtfeld, in jedem ehrlichen Kampfe würde er ohne mit der Wimper zu zucken dem Tod ins Auge geschaut haben. Aber hier kalten Blutes durch einen Menschen, den er bisher als Freund betrachtet hatte, sich hinmorden zu lassen, das war ihm ein furchtbarer Gedanke.
Kein Wunder, daß sein Blut zu Eis erstarrt schien, daß er einen letzten verzweifelten Versuch machte, diesen fanatischen Bluthund von seinem grausamen Vorsatz abzubringen.
»Aber was kann ich dir denn für einen Schaden zufügen? Du hast ja kein großes Zutrauen in meine Fähigkeiten als Detektiv. Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, daß Arthur Valrose mich niemals in sein Vertrauen zog, daß er mir niemals auch nur die leiseste Andeutung machte, durch welche ich später einen Anhaltspunkt hätte gewinnen könne, wer sein Mörder war.«
War nach dieser feierlichen Erklärung irgendeine Spur von Gewissensregung bei diesem herzlosen Schuft zu bemerken? Wenn Pearson eine leise Hoffnung gehabt hatte, so wurde sie durch Dains Antwort vernichtet. »Dafür hätte ich nichts weiter als dein Wort. In deiner Lage ist es nur zu natürlich, eine solche Behauptung aufzustellen. Wenn ein Mensch dem Tode gegenübersteht, wird er nie zögern, Ausflüchte zu machen. Ich würde in solchem Falle das Gleiche tun. Aber du mußt einsehen, daß du die Dinge zu weit hast treiben lassen, als daß ein Zurück noch möglich wäre. Auch wenn du die feierlichsten Eide schwören würdest, vergessen zu wollen, was sich am heutigen Morgen ereignete, und wenn du versprächst, das Geheimnis darüber bis zu deinem Tode zu bewahren, falls ich dich freiließe, würde ich es doch nicht tun. Kein vernünftiger Mensch könnte dir unter solchen Umständen Vertrauen schenken.«
Pearson riß all seinen Mut zusammen. In seinem gemarterten Gehirn schwanden all seine Hoffnungen auf ein künftiges Glück an der Seite Ceciles dahin.
»Ich werde jetzt nichts mehr sagen,« äußerte er verbissen. »Wahrlich, du sprichst von gesundem Menschenverstand. Du selbst mußt aber wahnsinnig sein, so kaltblütig einen Mord zu begehen. Gut denn, mach' es aber so rasch wie möglich. Verlängere nicht unnötig meine Qual.«
War es, daß die Heldenhaftigkeit seines unglücklichen Opfers den grausamen Menschen mehr ergriff, als angstvolle Bitten um Gnade es vermocht hätten? Zum erstenmal während dieser erschütternden Zwiesprache zeigte sich etwas wie ein Schimmer von Mitleid in den harten, seelenlosen Augen. Wer könnte sagen, welche besänftigenden Erinnerungen an eine lange Freundschaft das Eis dieses gefühllosen Herzens schmolzen?
»Ich werde dich nicht quälen,« sagte er mit einer Stimme, die fast freundlich klang. »Es tut mir leid, daß meine eigene Sicherheit und die Sache, der ich mich geweiht habe, diesen Schritt notwendig macht. Du hast nun genug Seelenangst ausgestanden. Jetzt werde ich dich zunächst schmerzlos in tiefen Schlaf versenken, und bevor du daraus erwachst, das übrige tun. In weniger als einer Minute wirst du kein Bewußtsein mehr haben. Ich bin kein grausamer Henker. Sogar bei Valrose, für dessen Verräterei ich den größten Abscheu empfand, machte ich ein schnelles, schmerzloses Ende, ebenso bei de Boeck.«
Mit namenlosem Entsetzen beobachtete Pearson, wie Dain zum Tische ging und ein Taschentuch reichlich mit jener Lösung tränkte, welche die Vorhut für die tödliche Dosis darstellte.
Doch bei aller Bestürzung über das Furchtbare, das er vor seinen Augen sich abspielen sah, empfand Pearson eine gewisse Genugtuung in der Überzeugung, daß sein Tod gerächt werde. Dain war in dem festen Glauben, daß Pearson seit ihrer gestrigen letzten Unterredung Shaddock nicht gesprochen habe. Sich in diesem Punkte verrechnet zu haben, würde sein Verderben werden.
Pearsons Geschäftsführer würde beunruhigt sein, wenn er nicht in sein Büro zurückkehrte, und sich mit Scotland Yard in Verbindung setzen. Jener mit Frank Cartland unterzeichnete Brief brachte dann Shaddock auf die richtige Spur. Selbstverständlich hatte Dain das Lügendokument über Thurston nicht abgeschickt, Shaddock war ein viel zu kluger Mensch, um sich nicht einen Vers aus alledem zu machen.
Als Dain mit dem durchtränkten Taschentuch auf ihn zukam, durchfuhr Pearson blitzschnell ein Gedanke. Sollte er Dain sagen, daß er Shaddock, was der Mörder nicht ahnen konnte, am vorhergehenden Abend gesprochen und ihm alle Einzelheiten des Dainschen Lügenberichtes über Thurston mitgeteilt hatte? Würde es Dain veranlassen, sein Vorhaben aufzugeben?
Doch in der nächsten Sekunde verwarf er diesen Plan. Wenn Dain ihn nicht schonen wollte, so lange er sich verhältnismäßig sicher fühlte, würde er es dann tun, wenn ihm klar wurde, wie nahe er sich dem Galgen befand? Nein, Pearson mußte den Tod ohne weiteren Kampf hinnehmen, jedoch in der Zuversicht, daß den Mörder binnen kurzem sein Schicksal ereilen werde.
Als Dain mit abgewandten Augen das Taschentuch auf Pearsons Gesicht drückte, war dieser noch genügend seiner Sinne mächtig, um eine letzte Frage zu stellen. »Natürlich hast du den Bericht über Thurston nicht nach Scotland Yard geschickt?«
Und seine schwindenden Sinne erfaßten die Antwort: »Selbstverständlich nicht. Shaddock würde auf eine solche Geschichte nicht hereinfallen!«
Als die grausige Tat vollbracht war, begab sich Dain in ein Zimmer im zweiten Stockwerk, wo er den Mann mit dem großen Bart ruhelos auf- und abgehend vorfand. »Ist alles vorüber?« fragte der Spießgeselle, hastig.
»Der letzte Akt steht noch bevor,« antwortete Dain, der bei weitem gefaßtere von den beiden. »Ich hatte mit dem armen Teufel eine Auseinandersetzung. Schade, daß er darauf bestand, sich in eine Sache einzumischen, bei der er nichts zu suchen hatte. Doch nun zu dir. Deine Anwesenheit hier hat für die nächsten paar Stunden keinen Zweck. Ich weiß, wie zuwider dir solche Dinge sind. Ich empfehle deshalb, daß du dich jetzt aus dem Staube machst und etwa um drei Uhr wieder zurück bist. Wir können dann die entsprechenden Maßnahmen treffen. Vermutlich wird vor dem Abend kein Lärm geschlagen werden. Scotland Yard bekommt dann eine recht interessante kleine Aufgabe zu lösen. Ich glaube nicht, daß wir etwas übersehen haben. Wir werden unsere Spuren ebenso restlos verwischen, wie im Falle de Boeck.
Cartland ging die Treppe hinab, betrat das Vorderzimmer und lugte behutsam durch das Fenster, um sich zu vergewissern, daß niemand auf der Landstraße zu sehen war. Dann schlich er sich leise zur Tür, die er geräuschlos hinter sich schloß, und ging schnellen Schrittes in der Richtung auf Hounslow zu.
Er war nicht weit gekommen, als er ein Auto mit fünf Männern bemerkte, das sich ihm in höchster Eile näherte. Der Führer des Wagens, ein Mann von jovialem Aussehen, verlangsamte die Fahrt, als sie sich trafen, und fragte laut, wie weit es noch bis Rose Cottage sei.
Cartland mäßigte seine Schritte, vermied es jedoch, die Insassen mehr als sein Profil erkennen zu lassen. »Tut mir leid, kann darüber nichts sagen,« rief er in abweisendem Ton zurück. »Ich bin selbst fremd hier.«
Der Wagen fuhr weiter, und sobald er außer Sicht war, fing der Mann an zu laufen, bis er atemlos den Bahnhof von Hounslow Barrack erreichte. Hier löste er eine Fahrkarte nach London. Doch fuhr er nicht direkt dorthin, sondern stieg in Hounslow aus und ging auf Umwegen in die Stadt. Sein geübtes Auge hatte erkannt, wer die Insassen jenes höchst verdächtigen Autos waren. Er wußte, das Spiel war aus. Sein Genosse und Führer saß in der Falle, so wie sie Pearson in der Falle gehabt hatten. Rose Cottage würde Cartland nicht wiedersehen. Jeder mußte für sich selbst sorgen. Es war wie ein Wunder, daß er noch zur rechten Zeit das Haus verlassen hatte.
Als Shaddock und Berenger Pearsons Geschäftsführer verlassen hatten, waren sie mit einem Schnellauto nach Scotland Yard zurückgejagt und rasten von dort mit drei von ihren Leuten nach Rose Cottage. Shaddock hoffte die Eisenbahn zu überholen. Doch das Glück war ihnen nicht hold. Es dauerte geraume Zeit, ehe sie sich durch die enge Durchfahrt bei Brenthord hindurchwanden, und dann mußten sie in langsamem Tempo durch die verkehrsreiche Hauptstraße von Hounslow.
Shaddock erkundigte sich bei einem halben Dutzend Leuten nach Lage und Entfernung von Rose Cottage, doch stets ohne richtige Auskunft zu erhalten. Alles, was er erfahren konnte, war, daß dieses Grundstück irgendwo an der Landstraße nach Staines lag.
Der erste Mensch, dem er begegnete, war Cartland, der Mann mit dem Bart, der behauptete, die Gegend nicht zu kennen. Shaddock war jetzt in größter Unruhe und in hochgradiger Besorgnis. Da sah er einen Arbeiter auf sich zukommen. Er verlangsamte die Geschwindigkeit und schrie ihm die gleiche Frage entgegen; diesmal mit mehr Erfolg.
Der Mann zeigte mit dem Finger in ihrer Fahrtrichtung. »Eine kurze Strecke hinter der Kurve, auf der linken Seite.«
Shaddocks Gesichtszüge entspannten sich, denn nun schien er sogleich an Ort und Stelle zu sein. Gebe der Himmel, daß es nicht zu spät war.
An der Straßenbiegung stiegen vier von den Leuten aus. Der fünfte blieb im Auto zurück. Das kleine Landhaus mit seinen weißen Mauern lag wenige Schritte vor ihnen inmitten eines schmalen, blumenbewachsenen Streifens. Keine andere Behausung lag in der Nähe. Es war ein idealer Tummelplatz für Verbrechergesindel.
Vorsichtig pürschten sie sich heran, bis sie nahe genug waren, um durch das Fenster in das Innere des Vorderzimmers sehen zu können. Der Raum war leer. Dann schlichen sie nach der Hinterfront des Hauses und untersuchten durch die Fenster auch die dort liegenden Zimmer. Zu ihrem unbeschreiblichen Entsetzen erblickten sie dort eine leblose Gestalt, welche an einen Stuhl gefesselt war. Sie wußten sofort, daß dies kein anderer als Pearson sein konnte. Das Taschentuch lag noch auf seinem Gesicht.
»Zu spät,« stöhnte Shaddock verzweifelt. Bei diesem grausigen Anblick versagten selbst seine eisernen Nerven. »Ich möchte wissen, ob jener erste Mann, dem wir auf der Landstraße begegneten, etwas mit der Sache zu tun hatte. Es fiel mir auf, wie er sich bemühte, sein Gesicht zu verbergen. Sie haben den armen Kerl gründlich genug erledigt.«
So erschüttert Shaddock auch war, ließ ihn seine Geistesgegenwart doch nicht im Stich. »Jones und Hayward«, rief er den beiden Männern zu, die zu seiner Begleitung gehörten, »lauft nach vorn und haltet Wache! Herr Berenger und ich werden hier nach dem Rechten sehen. Kommt sofort hierher zurück, wenn ihr meinen Pfiff hört.«
Während des Sprechens hatte er mit der Klinge eines starken Messers den Riegel des Fensters geschickt gelockert. Er und Berenger waren gerade im Begriff, den niedrigen Fensterrahmen in die Höhe zu schieben und einzusteigen, als sich die Zimmertür öffnete und Dain eintrat – der Mann, den sie am vergangenen Abend in Malcolm's Club in Soho gesehen hatten.
Shaddock zerrte seinen Kollegen entschlossen hinter ein Gebüsch an der linken Seite des Fensters. Dadurch konnten sie beobachten, was im Zimmer vorging, ohne selbst gesehen zu werden.
»Warten wir einen Augenblick, um festzustellen, was dieser Teufel vor hat. Daß der arme Pearson unsere Hilfe nicht mehr braucht, ist leider offensichtlich.«
Dain, mit dem Rücken nach dem Fenster stehend, schritt langsam auf den Tisch zu. Er hielt in den Händen eine Spritze und ein kleines Fläschchen, das eine Flüssigkeit enthielt. Das Fläschchen setzte er vorsichtig nieder und füllte die Spritze sehr bedächtig mit dem Inhalt. Es schien, als habe er beides aus dem oberen Stockwerk mitgebracht.
Als Shaddock den Zusammenhang dieser Vorgänge erkannte, erwachte neue Hoffnung in ihm. Jene Flasche enthielt fraglos das tödliche Gift, und das Instrument sollte dazu dienen, es in den Körper einzuspritzen. Wenn Pearson schon tot wäre, wie Shaddock befürchtet hatte, warum füllte Dain die Spritze dann so sorgfältig?
»Jetzt!« flüsterte Shaddock erregt. »Das Fenster hoch! Hineinspringen! Die Revolver in Anschlag!«
Sie kamen noch zur rechten Zeit. Dain war mit der Füllung fertig und hatte einige Tropfen der Flüssigkeit in die Luft gespritzt, um auszuprobieren, ob das Instrument nicht etwa versage.
Bei dem durch das Eindringen der Männer verursachten Geräusch drehte Dain sich verstört um. Er hielt die Spritze in der Hand. Als er die Kommissare erblickte und die beiden Schußwaffen auf sich gerichtet sah, wurde er totenbleich, und seine Lippen zuckten krampfhaft.
»Werfen Sie das teuflische Ding fort,« brüllte Shaddock, »oder ich schieße es Ihnen aus der Hand! Hugh Dain, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Mordes oder versuchten Mordes an Kenneth Pearson!« Der überrumpelte Mordbube warf wilde Blicke um sich. Von den beiden zum Äußersten entschlossenen Männern, von zwei drohend auf ihn gerichteten Waffen schweiften seine Augen zu der regungslosen Gestalt im Stuhl hinüber. Sollte er sich auf Pearson stürzen, ihm das Taschentuch vom Gesicht reißen und die feige Mordtat vollenden? Aber wenn er auch mit diesem Gedanken spielte, so gab er ihn in der Erkenntnis seiner Zwecklosigkeit doch schnell wieder auf.
»So ist denn alles aus, und Sie sind die Sieger. Pearson ist vermutlich gestern bei Ihnen gewesen. Aber bekommen sollen Sie mich auch jetzt noch nicht!«
So schnell, daß es nicht möglich war, es zu verhindern, spritzte er den Inhalt des Instruments in sein eigenes Gesicht, wankte einen Augenblick und fiel dann, wie morsches Gemäuer zusammenbrechend, schwer zu Boden.
Ein unbeschreiblicher Ekel stand in Shaddocks Gesicht, als er sich jetzt Berenger zuwandte.
»Kümmern Sie sich jetzt nicht um diesen Hundsfott. Nehmen wir uns des armen Pearson an. Vielleicht hat sich abermals ein Wunder ereignet, und er ist zum zweiten Male dem Tode entronnen. Noch zwei Minuten, und es wäre zu spät gewesen.«