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Nach der dramatischen Groteske, die Schobotzki bei der Wiederbegegnung mit dem Schulfreund verübte, war Blaugast aus dem Hause gegangen. Ein aufgespartes Stück seiner Selbstachtung, die von ungeweinten Tränen, Folterhitze und Brandresten zerstört wurde, hieß ihn die Flucht ergreifen. Die Überbleibsel einer eingelernten Moral, die nicht mehr die seine war, der er trotzdem verpflichtet blieb, rebellierten in seinem Körper. Er ließ die Wohnung, die er mit Wanda teilte, die Zimmerecke, die sie ihm zugestand, die strafwürdige Täuschung einer verkrüppelten Behaglichkeit im Stich und mischte sich unter die Obdachlosen und Stromer. Mit dem Bündel seiner zusammengerafften Habe mietete er sich im Kellergeschoß einer Sippe von Plattenbrüdern als Bettgeher ein. Die Gewohnheiten seiner bisherigen Existenz, die Zugeständnisse an die Karikatur eines Vorrangs, der im Verlassenschaftsprozeß seiner Haltung den Sinn einbüßte, gerieten ins Hintertreffen. Sein Rock war mit Speisebrocken befleckt und verschlissen. Er rasierte den Bart nicht mehr und eisfahle Stoppeln deckten die Lippen zu.

Den Hut in der Hand, mit dem ausgeschämten Pathos eines Deklassierten, verlangsamte er als totschlächtiges Hindernis den Verkehr, der vor den Mutterstätten des Vergnügens und eines verbürgerten Wohlbefindens kreuzte. Sein Standplatz war bei den Kinopalästen, wo in der Zeit nach der Vorführungsdauer ein rührselig gesättigtes Publikum über den Gehsteig wogte, das für die Bitternis seiner Beschwörung teilnehmend empfänglich war. Blaugast bettelte. Er tat es verdrossen, mit der Pedanterie eines Beamten, dem die vorgesetzte Behörde eine neue Dienstleistung zuweist. Die Handschuhe, die er trug, die zerhatschten Gamaschen, die er als unvermeidliches Wahrzeichen eines gespenstischen Untergangs noch immer über die Fußknöchel knöpfte, gaben seiner Erscheinung den Nachdruck schauspielerischer Regiekunst. Das Volk, das aus der Halbwelt geläufig gemünzter Gefühle in hausbackene Begriffe zurückfand, die Ladenmädchen und Bedienerinnen, die ihren Feierabend im Reiche der Flimmerleinwand verbrachten, zögerten vor der Mahnung seiner Vermummung. Das Mitleid, das noch vom Abseim des eben verklungenen Textes beträufelt war, blies ihnen den Trick ein, die Vorsehung zu bestechen, unklare Sicherungen auf Ratenzahlung zu kaufen. Die Almosen, die Blaugast im Rinnstein zartmütiger Tonfilmprogramme auflas, waren die beste Losung, die das Gewerbe ihm eintrug.

Mittags und abends stillte er seinen Hunger in den zugigen Abfütterungsräumen, wo grämliche Invaliden hinter den häßlichen Tischen der Armut eine hurtige Mahlzeit schlürften. Manchmal erstand er in einer Auskocherei oder im Selcherladen eine lauwarm gesottene Wurst, die er im Zwielicht einer versteckten Durchfahrt verzehrte, die eine willkommene Ergänzung der Brotrinden in der Manteltasche bildete, oder er wartete mit der Gruppe der Ungeduldigen vor den Stufen der Emmauskirche auf die Klostersuppe. Hier, in dem kahlen Mauerhofe vor der Türe der Wenzelskapelle, hatte er früher als Gymnasiast die Pausen vor dem Beginn der Sonntagsmesse vertrödelt, Schulschwatz und Anekdoten gekostet, die über das Privatleben steifleinener Professoren gerade im Schwange waren. Das Brausen der Orgel, der Stimmbruch der Oktavianer, der den emphatischen Hochklang der Gesänge gefährdete, kamen fernher, fluteten unwiederbringlich in seine Ohren.

Die fromme Wollust der Gewissenserforschung brach als verlorene Welle aus seiner Vergangenheit. Als Knabe war er zu Hause vor dem zerlesenen Beichtspiegel gesessen, wenn die Exerzitien der Ostertage die Monstranzen erhöhten, wenn Sündengeflüster in Steingrotten umging, die der Zerknirschung geweiht waren. Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. Das böse Gesetz dieser ehernen Tafel wölbte sich unnachgiebig über ihn, verdarb und besudelte seinen Ehrgeiz. Kein Bußgebet hatte ihm je geholfen. Lehrjahre, die sich betulich um seine Gunst bemühten, Wanderjahre im Knieholz frühzeitig geduckter Stämme, wälzten sich raupenartig, wie stählerne Tankmaschinen, über ihn her, und die Wiese der Jugend, Landblumen und Grasland, welkten auf ihren Spuren.

Die Furcht vor den Wandspiegelungen einer Gefahr gab Winkelzügen das Gepräge, die ihn umgarnten. Da war das Mädchen, das wöchentlich einmal in den Amtsstuben und Kanzleiräumen die Runde machte, um giftgelbe Seife, Zahnbürsten und Staubkämme feilzubieten. Sie war noch ein Kind, aber die Vorstadt, aus der sie stammte, macht auch die Zwölfjährigen wissend. Die verbeulte Pappschachtel, aus der sie Groschenartikel, Tuben und Blechtiegel aus der Verschnürung packte, war nur ein Aushängeschild für gangbare Angebote. Das Zimmerchen, wo der Aktenschrank mit dem verdorbenen Schließschloß neben dem Schreibtisch thronte, war winterlich überheizt, als die Kleine hereinschlüpfte, zutraulich zu zirpen begann und ihren Warenkram anpries. Das Kleidchen war kurz, zwischen Wollstrumpf und Hose kam das nackte Hautfleisch zum Vorschein und war vom Wetter gerötet.

»Ist dir nicht kalt?« – fragte er wider Willen beengt, und der Kragenknopf, hart und empfänglich, drückte an seinem Halse. Die Feder spießte sich ins Papier, streute verwirrende Tintensterne über die Zeilen. Seine Hand, die plötzlich den Dienst versagte, sank kraftlos abwärts, faßte nach ihren Kniekehlen.

»Nicht mehr ein bißchen, wenn Sie so lieb zu mir sind.«

Ihre Koketterie, die ihm sachlich entgegenkam, freimütig ihr Unterzeug aufband, machte ihn kühner. Eine kurze Minute züngelten Flämmchen an ihm empor, knabberten frechlich an seinem Rockärmel, laugten den Schweiß aus den Poren. Dann war es vorüber. Was war das? Was tat er? Der gleißnerische Fallstrick des Paragraphen, der Minderjährige schirmte, fiel unvermittelt zu Boden, lockerte die Verschlingung. Er reichte dem Balg eine Banknote hin, ohne erst auf die Ziffer zu achten.

»Geh!« – schrie er beinahe.

Sie ging. Schadenfroh klirrte die Glastür, als sie mausschnell entschwand, im Vorhaus den Fund belugte. Aber sie kehrte wieder. Schon am nächsten Morgen war sie zur Stelle, als Blaugast mit klopfendem Nacken, unlustig und schlafblind, ohne gefrühstückt zu haben, die Frone der Arbeit beging. Unüberlegte Hast, die die Begünstigung eines heimlichtuerischen Wunsches freigebig ablohnte, scheuchte sie täglich in seine Nähe. Wenn er die Treppe des finsteren Gebäudes erstapfte, wo sengender Mundgeruch baufälliger Kachelöfen vergebens die Kälte bekämpfte, wo klappernde Zahlenbände, beschmutzte Klosette das Tagwerk verunzierten, huschte ihr Schatten hinter ihm her, zischelte eifervoll, ihn zu beglücken. Er wehrte sich, jagte die Brut mit Unmut in die Distrikte, die ihr gebührten. Aber der Puppenspieler hinter der Szene war stärker als seine Einrede. Ihr verwelktes Gesicht, zotig und unrein, begierig nach leichtem Verdienste, folgte ihm auf der Straße. Sie lief hinterdrein, wenn er mit raschem Sprung sich in die Elektrische rettete, sie spürte die Wohnung auf, nach der er heimfloh, drang listig und eigensüchtig durch allerhand Barrikaden. Bis wochenlange Betthaft ihn unsichtbar machte, die Lauscherin an der Wand die Fuchshetze aufgab, bis seine Genesung zugleich Befreiung vom Übel bescherte.

Lange konnte sich Blaugast vom unlautern Schreck dieser Einkreisung nicht mehr erholen. Der Vorfall, geringfügig in der Wirklichkeit, wurde im Dämmerschein der Versuchung feigherzig aufgetrieben, ins Maßlose abgeändert. Er war das Wild gewesen, dem die Meute ans Fellhaar wollte, und konnte sich an die Gewähr seiner endgültigen Sicherheit nur ungläubig gewöhnen. Hinter Mauerpfeilern, im Gewühl der Passanten meinte er nachmals noch öfters das Augenpaar zu erkennen, das liebedienerisch aufglomm, sein Einverständnis und ein bezügliches Schweigegeld erpresserisch heischte. Das Ränkespiel seines Rückzugs war durch die Standhaftigkeit nicht beseitigt, auf die er Bedacht nahm und überdauerte Jahreszeiten.

Früher einmal, als blutjunger Volontär, hatte er beim Versickern trübe ergrauter Geschäftsstunden einen Brief empfangen, der ähnlich auf ihn wirkte. Da war er im Inseratenteil der Zeitung auf die Anzeigen gestoßen, die in der Geheimsprache ihrer Chiffren halblaute Bekenntnisse ausboten, Spione des Liebesmarktes postlagernd in die Laube lockten. Lichtscheu verkürzte Andeutungen spreizten sich mulmig zwischen den Lettern. Ein Austausch ausgehungerter Dreistigkeiten, die unter dem Deckmantel der Anonymität jede Zurückhaltung sparten, war die Folge. Die Laune der Sinne, die von Verboten geknebelt wurden, kannibalische Freßlust ungezügelter Wunschträume zielten eine Zeitlang ins Unbekannte, um ausgeglüht und mißhandelt zu ihm zurückzukehren. Bis er mit furchtsamem Herzschlag das Schreiben zerknitterte, das seinen Namen als Anschrift trug, das die Ahnung bestätigte, die ihn mitunter befallen hatte. Er war einem Lockvogel in die Grube gegangen, dem widerwärtigen Genießer fremder Geheimnisse, der mit verstellter Handschrift die Stichworte brachte. Unbefugte Wisser nahmen die Witterung auf. Die Skepsis behüteter Drangsal war nicht mehr sein Eigentum.

Der Drohung, die ihn verschämt, in die Maske des Biedersinns eingehüllt, aus dem Hinterhalt ansprang, war keine zweite gefolgt. Aber die Warnung zitterte in ihm nach, sah ihn aus Türspalten an, war jahrelang sein Begleiter. Das Ebenmaß der bürgerlichen Gewöhnung barst anders, als er gefürchtet hatte, in die Fransen. Und doch war es das Weib, das unheilvolle Gewicht ihres niederziehenden Nenners, das die Ordnung umstieß, die Rechnung ins Wanken brachte. Daran dachte Blaugast, als er im Vorhofe des Emmausklosters neben Armen, Faulen und Siechen die Suppe löffelte. Er zählte die Würfel der Pflastersteine, die sein zerrissenes Schuhwerk schürften. Es waren ebenso viele Werkzeichen einer entzauberten Welt, Minuten, Stunden und Tage eines verwandelten Lebens. Blaugast aß hastig, der Geifer rann über den Bart in den Napf und vermengte sich mit der Speise. In den Fugen der locker gefügten Steine, wo der Wind eine spärliche Erde vertragen hatte, sprießte ein staubgrünes Hälmchen. Wie ein unbefahrener Schacht, mit entzündlichen Gasen geschwängert, gähnte das Loch der Erinnerung.


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