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Die Straße, die Blaugast draußen empfing, als Sturmnacht ihn aus dem Bett scheuchte, als er das schwüle Zimmer verließ, um auf ziellosen Wanderungen den Kopf im Sommerregen zu kühlen, hatte sich plötzlich beruhigt. Der Ausbruch, der sie eine Zeitlang verwirrte, hatte wohliger Stille Platz gemacht. Über Neubauten am Ende kamen schon Sterne herauf, blinkten versöhnlich über Ziegelhaufen und aufeinandergetürmten Balken. Ein Mann mit aufgeschlagenem Rockkragen ging vor ihm her, drehte sich hüstelnd um, als ob er entschlossen wäre zu warten. Die Art, wie er hinkte, verdrossen den Fuß nachzog, ungeschickte Bogen um Pfützen machte, kam Blaugast bekannt vor. An der Ecke, wo er ihn überholte, sah er für Augenblicke sein Gesicht, wie es ausgedörrt und verkniffen im Schein der Laterne feixte.
»Schobotzki!« rief er, und Erstaunen darüber, daß er den Genossen der Schulzeit nach einem Menschenalter im Finstern erkannte, färbte seine Stimme mit Freude.
Schobotzki blieb stehn. Die langen Arme, die den flatternden Mantel rechtwinkelig gebogen über der Brust zusammenhielten, die scharfe Nase zwischen den Augen gaben ihm das Profil eines riesigen Raubvogels. Der Mund war groß, die Brauen buschig, die Stirn unterm Hutrand faltig verknotet. »Du bist es –«, sagte er endlich, entblößte beim Sprechen unförmige Vorderzähne. – »Septima B., drittes Bankeck beim Fenster. Klaudius Blaugast Schwachmathikus, Primus im deutschen Aufsatz –« Das Lächeln, das er zelebrierte, das zwischen Melancholie und verfluchter Vertraulichkeit eine ungewisse Mitte hielt, war Blaugast gut in Erinnerung.
»Was treibst du?« – fragte er mit geflissentlicher Munterkeit, die geeignet schien, den Verkehrston alter Kumpane mit einem Schlag wieder gültig zu machen.
Schobotzki sah mit einem schiefen Blick an ihm vorbei in die Straße.
»Ich gehe zugrunde –«, sagte er nebenhin. »Von Stufe zu Stufe. Die Vokabeln sind ziemlich geläufig –«
Als Blaugast stumm blieb, Mißbehagen in fragendem Schweigen sammelte, gluckste er gutgelaunt, hüllte sich kichernd in seinen Kragenumhang.
»Das gehört zum Programm –« meinte er, ohne sich deutlicher zu erklären. – »Hängt mit Studien zusammen, die ich betreibe. Hättest du Lust, mein Laboratorium zu besichtigen?«
»Laboratorium?« – Blaugast wog den Ton der Frage pedantisch mit Gründlichkeit. Etwas im Tempo der Einladung machte betreten. Unbehaglich, ohne im Bilde zu sein, dehnte er unschlüssig die Silben.
»Laboratorium? – Braust du um Mitternacht noch Elixiere? –«
Schobotzki preßte den Arm des Gefährten nachdrücklich mit spitzen Fingern.
»Bist du kein Freund der Nacht? – Das nimmt mich wunder. Wenn man über sich selbst Genaues erfahren will, ist es ergiebiger, man schläft bei Tag und speist am Abend das Frühstück. Lampenlicht macht Gedanken der anderen durchsichtig. Unbegreifliches fällt von den Dingen ab, Banales phosphoresziert im Dunkeln. Ich kenne keine bessere Arbeitszeit als zwischen Polizeistunde und Morgen. Besonders, wenn so wie heute der Sturm das Unterste an die Oberfläche kehrt. Allerhand Fanatismus bekommt da das Stallfieber. Ich habe da hinter der nächsten Ecke ein Etablissement für Eingeweihte entdeckt, für Liebhaber von Romanlektüre und unsentimentale Gäste. Es ist nicht gut, in solchen Nächten ohne Führer zu sein. Du siehst so aus, als ob du Spundus vor Angelegenheiten hättest, die das Unwetter vorhin in deinem Gehirnkasten aufstöberte. Komm mit, Schwachmathikus. Denk an den Wahlspruch über der gymnasialen Aborttür: Nemo Germanus navigat solus. Weiß nicht, ob es gutes Latein war, aber es klang überzeugend –«
Blaugast spürte verwundert, wie bei der Rede, die Treuherzigkeit wahllos mit Pathos mischte, Unruhe über die Haut lief, der er sich hingab. Die nüchterne Physiognomie der Gasse wurde ihm gegenwärtig, wo die gelbe Fassade des Schulhauses zwischen ausdruckslosen Zinsbauten stak. Laute Fröhlichkeit quirlte in Stiegengängen, mausscheues Trappeln und Bubenwitze. Aber es war immer etwas Gespenstisches in der Erinnerung, die seine Phantasie mit der Schulzeit verknüpfte. Da waren Nachmittage, wo Regensträhnen das Fenster verhängten, Tropfenschlag, der einlullte und lähmte. Gedämpfter Unterricht schreckte aus unbotmäßigen Spuren, Müdigkeit verdickte die Adern. Oder war es die Furcht, die in Flurwölbungen klopfte, Bankreihen ablief, zögernd im Munde aufquoll – Blaugast schmeckte den Nachgeschmack mißmutig verhafteter Feigheit noch heute in seinem Speichel. Er sah die schwarze Schultafel mit Ziffern bedeckt, die mit dünnen Strichen sein Verständnis zerkleinerten, sah Schobotzki, dessen spinnige Hände die Kreide umklammerten, und sein dürr gemeißelter Kopf neigte sich frühgealtert vor dem Ernst des Katheders. Lange war dieser Bursche eine Art Ideal für sie gewesen, der mit Lässigkeit Ambitionen zurückwies, eigenbrötlerisch an Umgangsformen festhielt, die höflich gezierte Schrullen statt ungehemmter Herzlichkeit ausboten. Lange war sein Zynismus eine Zwingburg geblieben, gebieterisches Exempel verlegener Gesellen, die missetäterische Verschlossenheit dieses Gesichts mit Ehrfurcht genossen. Jetzt ging Schobotzki, gerissener Kunde aus Knabenjahren, Organisator des Schwindelzettelvertriebs bei hochnotpeinlichen Versetzungsprüfungen, Abgott und Schwarm benachbarter Unterklassen, berüchtigter Repetent des Stephansgymnasiums neben Blaugast durch die stockdunkle Gasse, in der nur streckenweise die Lampen hinter verregneten Gläsern brannten. Etwas von der Autorität, die ein achtstündiger Karzer unsterblichen Angedenkens vormals ins Unbedingte befestigte, begann sich unmerklich auf die Beziehung zu legen, die freundschaftlich wieder hochkam. Unabwendbar wachte Respekt wieder auf, der die Atmosphäre der Schule semesterlang bannte, der widerspruchsloses Gesetz schien. Hörigkeit, der das Wesen Schobotzkis von Anbeginn an ihre Nahrung lieferte, wurde durch die Begegnung aufs neue entsichert.
Blaugast zog die Hutkrempe tiefer und knöpfte entschlossen den Rock zu.
»Ich gehe mit dir –« verkündete er, fegte Bedenken mit einer Handbewegung zur Seite. – »Dein Laboratorium – kalkulier ich – wird Möglichkeit bieten, dort einen Schnaps zu trinken. Was sind das für Studien, die derart verheerende Folgen haben? –«
Schobotzki schraubte den mageren Hals vielsagend aus seinen Schultern.
»Biologie der Verkümmerung. Wissenschaft des Verfalls. Interessieren dich Katastrophen? –«
Blaugast suchte verblüfft nach einer Plattform, Gedankengänge zu überschauen, die sein Begleiter aphoristisch verbrämte, ohne sich einigermaßen um ihre Klarstellung zu bemühen. Er entsann sich des Umstandes, der tagende Lehrerkonferenzen oft ratlos beschäftigt hatte, daß dieser Schobotzki es immer verstand, seelisch und körperlich minder Bemittelte unter die Diktatur zu zwingen. Aus den Reihen der Jüngsten und Kurzbehosten wußte er immer einen Stab um sich zu berufen, den er zu Botengängen und Dienstarbeiten verwendete, der seine Briefmarken verschachern und Reklamebilder für ihn hamstern mußte. Leibeigenschaft eindeutigen Stils war diese Bereitschaft, deren Dimensionen der Lehrkörper kopfschüttelnd abmaß, ohne dagegen die Handhabe zu gewinnen. Diese Fronwilligen waren glänzend dressiert, standen uniform auf der Seite des Angeklagten, denn undurchsichtige Gerüchte von Mißhandlungen murrten, wenn Außenseiter die Erwachsenen mobil machten. Daran dachte Blaugast, obzwar ein Zusammenhang mit der Frage nicht greifbar erweislich schien, die rätselvoll neben ihm aufklang, die jener genießerisch mit der Zunge prüfte: »Interessieren dich Katastrophen?« –
Fatale Beschämung, dem Komplex dieser Dinge wehrlos zu unterliegen, gab seinen Worten unfreundliche Hast, als er unwirsch entgegnete:
»Katastrophen? – Was ist das?«
Schobotzki versuchte mit verschlagenem Lachen eine unschöne Heiterkeit.
»Das sind Spitzenleistungen. Resultate in Reinkultur. Veränderungen im Rhythmus der Zellenbildung. Aber da sind wir schon. Gib acht auf die Stufen.«
Eine elektrische Birne, die kühl und fadenscheinig unterm geweißten Blechschirm hing, beleuchtete eine verlotterte Stiege. Kellerdünste, aus Tabak und Nachtschweiß geronnen, kamen von unten herauf, Geruch nach Suppe und ausgekochtem Gemüse. Ein Würstelverkäufer mit Schürze und Leinenjacke saß stumpfsinnig hinter dem Kessel und stützte das unrasierte Kinn auf die geballten Fäuste. Blaugast blieb widerstrebend beim Eingang stehn, wo ein Weibsstück mit abgetragenem Wolltuch sich unverschämt gegen den Türpfosten lehnte.
»Unsere Primadonna, die schöne Wanda –«, informierte Schobotzki. Aber der Blick, mit welchem die Frau sein Gemecker zurückgab, machte Blaugast betroffen.
Die Kellerstube hinter verglaster Drucktür war nicht übermäßig bevölkert. Es war eine Sorte eigenwilliger Bürger, die hier häuslich zusammenfanden, schaumfreies Gebräu aus dickwandigen Gläsern schlürften, dem Quartett applaudierten, das neben durchlöcherten Vorhangfalten des Stiegengeländers seine Notenpulte postierte. Die abgestandene Munterkeit, mit der die einen den Takt auf verklebten Untertassen schlugen, stach aufwühlerisch von der Ruhe der anderen ab, die unbeweglich in ihren Bierrest starrten. Abweisendes Gemurmel flankierte den Einzug, als sie zwischen den Tischen Umschau hielten, beim Schankkellner ihren Likör bestellten.
Ein Mann mit karierter Weste, eine frisch verheilte Rißwunde auf der verbuckelten Nase, spie verächtlich den Fußboden an, als Blaugast beim Sitzen die scharfgebügelte Hose aufstreifte. Die saloppe Eleganz des Besuchers, der sein Glas angewidert zwischen den Fingern drehte, erregte sein Mißfallen. Aber Schobotzki blinzelte ihm beschwichtigend zu, und ein Kopfnicken, verständnisinnig gehorsam, markierte unmerklich die Antwort. Rank, frech und geziert kam Wanda auf die Ankömmlinge zu und setzte sich neben Blaugast.
Fast unterwürfig machte sie von dem Vorrecht Gebrauch, das ihr Handwerk mit sich brachte, das ihn nach Monaten strenger Zerwürfnisse blitzartig aufhorchen ließ. Das Duwort, das sie ihm gab, kam dunkel, von Heiserkeit angerauht, an ihn heran, daß er unwillkürlich ihr Gesicht ansah, ihre Ansprache grüblerisch überdachte:
»Warum bist du so traurig?«
Ihre Augen, gleichmütig kalt, flackerten wie ein Lichtstumpf vor dem Erlöschen. Das Haar, pagenartig gekämmt, war widerspenstig verstaubt, unordentlich brüchig. Ihre Brust steifte sich unter der Ärmelbluse, die mit Speiseresten bekleckst war.
Blaugast bemerkte es nicht. Lange entbehrter Zuspruch löste unvermutet Verstörtes in ihm, hüllte ihn ganz in den Glanz ihrer Frage. Warum war er so traurig? Verkrampftheit der letzten Wochen, wenn er in seinem Bett die Müßigkeit seiner Tränen als unverständliche Schmach bereute, lockerte sich vor diesen Worten.
»Hast du Hunger, Wanda?«
Sie nahm sein Anerbieten mit einem Eifer auf, der ihm ein Lächeln abrang. Während sie aß, Wurstscheiben genäschig mit den Lippen enthäutete, erzählte sie Kunterbuntes.
Plötzlich, ohne daß Blaugast davon berührt wurde, war Schobotzki verschwunden. Sein eckiger Kopf, der bei der Annäherung Wandas sich lauernd vornüber neigte, tauchte noch einmal im Saalwinkel auf, wo die Musikanten mit flauer Bravour die Instrumente kratzten. Sein Auge, mit Spannung geladen, registrierte belustigt, wie Apathie des Schulfreunds im Geschwätz des Weibes verfiel, seine Reserve zerstäubte. Er stülpte den Rockkragen hoch, schoß einen Blick nach den beiden, der schrägschielend haften blieb, tastete vorsichtig über die Kellertreppe zur Türe.
»Dein Freund hat sich gedrückt«, sagte Wanda nach einer Weile.
Blaugast nickte, ohne Notiz davon zu nehmen. Wie eine Vision stieg in dieser Minute sein Zimmer vor ihm auf, das zerwühlte Bett, die Uhr an der Wand, die ihn äffte –
»Wo wirst du schlafen?« fragte er unvermittelt. Sie zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Da oder dort. Ich bin ohne Bleibe –«
»Komm mit zu mir. Ich bin allein in der Wohnung. Und ich fürchte mich so im Finstern.«