Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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XII.
Aus dem Tagebuch des
Rechtsanwalts Dr. Richard Menkus
.

. . . Grausame Pflichten des Tages, ihr verkümmert uns das karge Recht, geliebten Toten nachzuweinen. . . . Tägliche Sorgen, ihr ruft uns mit barscher Stimme in die Wirklichkeit zurück, ihr schreckt uns aus dem holden Träumen, das unsere Seele in die Gefilde der Seligen führt! . . .

Nicht die Zeit heilt und lindert den Schmerz. Die Arbeit ist es, die dem Gram den Stachel nimmt, die nahende Verzweiflung von der Schwelle jagt.

Lange habe ich mit mir gekämpft, ob ich nicht Edith nachfolgen sollte in das geheimnisvolle Reich der Schatten. . . . Ich meinte, ohne ihren Anblick dieses Dasein nicht mehr ertragen zu können, und die ganze Kraft meiner Liebe kam mir erst so ganz zum Bewußtsein, da sie nicht mehr unter uns weilte. Aber ihr letzter Wille ist für mich ein heiliges Vermächtnis. Und da ich nur als Lebender das Werk verrichten kann, dessen Vollstreckung sie von mir heischt, so muß ich eben schweren Herzens der Hoffnung auf Sterben entsagen. . . .

Niemals werde ich den traurigen Morgen vergessen, an dem ich eilig in die Wohnung meines 118 Onkels gerufen wurde. Es war acht Uhr, als ich dort eintraf. Die verstörten Gesichter der Dienstboten ließen mich ein trauriges Ereignis ahnen. Der erste der Familie, der mir begegnete, war Franz. Schluchzend fiel er mir um den Hals und geleitete mich in das Zimmer seiner Schwester. Sie lag auf ihrem Bett, still und bleich, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Die Fenster waren weit geöffnet. Der Geruch des Giftes war kaum mehr zu spüren. Ich beugte mich über ihre Hände und . . . weinte! Die eisige Starrheit des Todes ließ meine Tränen schnell erkalten. . . . Ich forschte nicht, ich fragte nicht. . . . In einer Ecke des Zimmers saß mein Onkel, zusammengebrochen unter der Macht des Unglücks – ein müder Greis. Unsere Blicke begegneten sich in dem Ausdruck unfaßbaren Schmerzes. . . .

Franz war der erste, der das Schweigen brach. Stammelnd erzählte er den Hergang.

»Als die Jungfer des morgens ihre Herrin wecken wollte, erhielt sie keine Antwort . . . ein unangenehmer Geruch von Blausäure machte sich schon im Korridor bemerkbar . . . sie schöpfte Verdacht und trat ins Zimmer, denn die Tür war unverschlossen. Sie sah Edith regungslos auf ihrem Lager. Auf der Erde ein zerbrochenes Glas, die Reste einer Flüssigkeit auf dem Teppich. . . . Nun alarmierte sie das Haus, 119 der Arzt wurde geholt, es war natürlich zu spät. Der Tod war längst eingetreten . . . »auf der Stelle«, wie der Sanitätsrat versicherte.

»Und keine Zeile – nichts?« stieß ich hervor.

Franz reichte mir mit zitternder Hand einen Briefbogen, der Ediths Schriftzüge aufwies.

»Lieber Vater!

Verzeihe mir! Niemand trägt Schuld an meinem Unglück, als ich allein: Ich habe meinen Beruf verfehlt. Nach dieser Erkenntnis versiegte in mir die Kraft und der Wille zum Leben. . . . Mein Leichnam soll verbrannt und die Asche in alle vier Winde zerstreut werden. Die Todesanzeige mag erst erfolgen, wenn alles vorüber ist.

Deine Edith.«

. . . Schweigend reichte ich Franz das Papier zurück. . . .

Onkel Ludwig erhob sich, trat auf mich zu und blickte mir fest ins Auge, als ob er dort die Wahrheit ergründen wollte. . . . Aber ich blieb stumm und regungslos. Immer und immer wieder betrachtete ich die Tote. Es war mir, als ob ich ihren eigenen Vater, ihren eigenen Bruder aus dem Zimmer weisen, als ob ich ausrufen müßte: »Verlaßt Ediths Sterbegemach, ihr, die nur dem Namen nach die Angehörigen der 120 Verblichenen wart! . . . Nie habt ihr einen Blick in ihre Seele getan, nie habt ihr diesen Schatz an eurer Seite zu würdigen gewußt! . . . Ich, ich ganz allein darf hier trauern, darf hier Wache halten.« . . .

Ich kniete am Bettrand nieder und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Da überkam es mich wie eine Ahnung, daß Edith nicht aus dem Leben geschieden sein könnte, ohne mir ein Wort zu hinterlassen. Denn ich hatte es ihr ja gesagt, daß ich sie liebte, und an jenem letzten traurigen Abend unseres Zusammenseins hatte ich gefühlt, wie dicht beieinander unsere Seelen wohnten. Diese Idee bemächtigte sich meiner und nahm immer festere Formen an. Ich schlich mich aus dem Sterbegemach, eilte zum Telephon und ließ mich mit meinem Bureauvorsteher verbinden. . . .

Ja . . . ein eingeschriebener Brief war für mich angekommen, – »offenbar eine Damenhandschrift auf dem Kuvert«, wie mein Beamter hinzufügte. Keine Macht der Erde hätte mich länger zurückhalten können! . . . Ohne von Franz und Ludwig Abschied zu nehmen, eilte ich nach Hause.

Ein Blick auf den Brief – es war Ediths Handschrift. . . .

Ich verriegelte mein Zimmer und gab die strenge Weisung, daß ich für niemanden zu 121 sprechen sei. Mit bebenden Fingern öffnete ich den Umschlag.

»Mein lieber Richard!

Du sollst der einzige sein, dem ich in der Todesstunde mein armes gequältes Herz offenbare. Kann ich Dir einen größeren Beweis meines Vertrauens geben?! So nimm denn Du, Du guter und edler Mensch, die Beichte eines gequälten Menschenkindes entgegen, das zu schwach und zu hilflos ist, um noch länger die Schmerzen des Daseins zu ertragen. Du wirst mich erst ganz verstehn, wenn Du einen Blick auf die Schreiben wirfst, die Dir gleichzeitig mit diesem meinem Abschiedsbriefe zugehen.« . . .

Ich legte das Papier aus den Händen und griff nach den Dokumenten. Ich las das letzte Vermächtnis meiner seligen Tante an ihre Tochter, und Fifis Geständnis. Langsam begann ich zu begreifen . . . wieder nahm ich Ediths Abschiedsworte zur Hand. . . .

». . . Nach jenem schrecklichen Abend, den wir zusammen verlebten, hatte ich keine Ruhe mehr. Ich wollte und mußte Gewißheit haben – ich habe sie erlangt! Ich sah Fifi um drei Uhr in das Haus ihres Geliebten gehen, ich stellte fest, daß sie es drei Stunden später 122 verließ. Ich habe meine Schwägerin am nächsten Tage aufgesucht. Sie hat in meiner Gegenwart dem Herrn Referendar einen Brief geschrieben, durch den sie ihm verbietet, fortan ihr Haus zu betreten – sie hat mir endlich selber ihre Schuld bescheinigt. Für ihren Fehltritt mag jene ernste Stunde, in der ich sie entlarvt und mit Worten gezüchtigt habe, eine gerechte Sühne sein. Mir gegenüber will ich strenger zu Werke gehn. Den Makel, den ich dadurch auf mich geladen, daß ich an diesen Elenden mein Herz gehangen, kann ich nur dadurch büßen, daß ich dem Leben freiwillig entsage. Denn in meiner Arbeit finde ich kein Pflaster für die Wunde, die das Schicksal mir geschlagen hat. Darum habe ich nicht gelogen, da ich meinem Vater schrieb, daß ich meinen Beruf verfehlt hätte. Nur pflichttreues Schaffen, ersprießliches Wirken hätten mich retten können. Die Betätigung in meiner Wissenschaft bedeutete aber für mich nicht so viel, daß ich darüber alles andere hätte vergessen können. Und dazu, mein lieber Richard, kommt noch eines! Ich schäme mich meiner weiblichen Schwäche. Ich kann die Schande nicht ertragen, daß die beiden meine reine jungfräuliche Neigung dazu mißbraucht haben, ihr Verbrechen zu verschleiern. Unwissend 123 freilich habe ich diese schmähliche Rolle gespielt, aber mein Stolz sträubt sich dagegen, den Mitwissern meiner Schande jemals wieder in die Augen zu sehen.

Du aber, mein lieber Richard, Du sollst die Aufgabe erfüllen, die meine selige Mutter mir übertragen hat, und der ich mich nicht gewachsen zeigte. Wache Du über das Haus meines Bruders und über seine Kinder! Sorge Du dafür, daß ihre Ehre nicht wieder befleckt werde, und daß die Unehre verborgen bleibe. Durch den Brief hast Du, solange Du lebst, Fifi in der Hand. Laß sie wissen, daß Du die Macht hast, sie zu vernichten, zwinge sie dazu, eine anständige Frau zu werden! Sei grausam und unerbittlich, wenn sie es noch einmal wagen sollte, vom Pfad des Rechten abzuweichen – aber tritt den Gerüchten nicht entgegen, die meinen Tod in mehr oder minder schmachvoller Weise mit »ihm« in Verbindung bringen werden. Auf den Namen meines Bruders soll kein Schatten fallen, und ich will es im Grab gern auf mich nehmen, in »der Gesellschaft« als Sünderin zu gelten.

Du hast einmal zu mir von Liebe gesprochen. In meiner Verblendung wies ich Dich ab. Zürne mir deswegen nicht, verzeihe mir! Die letzten Stunden meines Erdenlebens haben 124 eine gewaltige Veränderung in mir zuwege gebracht. Da erst erkannte ich Dich in Deiner ganzen Vornehmheit und Herzensgüte. So gilt denn der letzte Gedanke, mit dem ich von hinnen scheide, Dir – Dir ganz allein! Mögest Du ein Wesen finden, das Dich versteht, das so ganz in Dir aufgeht, das Dich glücklich macht und Deiner würdiger ist, als

Deine arme Edith.«

* * *

Nun sind vierzehn Tage seit Ediths Bestattung vergangen. Ihr Vater, Franz und ich gaben ihr das letzte Geleit. Ihren letztwilligen Verfügungen ist pietätvoll entsprochen worden. . . .

Onkel Ludwig hat sich zur Stärkung seiner Nerven an die Riviera begeben; er mochte in dem vereinsamten Hause nicht mehr weilen. Wie mir Franz mitteilte, beabsichtigt auch Fifi sich mit den Kindern für einige Wochen in Meran niederzulassen. Ich konnte daher die Unterredung nicht länger hinausschieben, die ja zu den traurigen, mir von Edith auferlegten Pflichten gehört.

Ich hatte sie seit der Katastrophe nicht gesehen. Sie schien mir etwas gedrückter und niedergeschlagener, aber hübscher denn je. Erst 125 als ich ihr gegenübersaß, empfand ich, wie peinlich die Situation war. Wie sollte ich ihr enthüllen, daß ich Mitwisser eines Geheimnisses sei, das sie bei der Toten wohlverwahrt glaubte. Ohne viel Umschweife zu machen, erklärte ich ihr, ich sei durch den Willen der Verewigten im Besitz ihres Geständnisses. Während meiner Worte beobachtete ich sie scharf und hatte den Eindruck, als ob meine Enthüllung sie weniger erschreckte, als unangenehm berührte.

»Und was gedenken Sie zu tun?« . . . fragte sie verlegen.

»Zunächst gar nichts!« erwiderte ich trocken. »Und es wird einzig und allein von Ihnen abhängen, ob es dabei bleibt.« . . .

Der rein geschäftsmäßige Ton meiner Stimme schien ihr zu behagen und den letzten Rest weiblicher Scheu von ihr zu nehmen. In ihrer weichen, farblosen Weise faselte sie von ihrer »Dummheit«, von ihrem »Unglück«, von ihrer »Unvorsichtigkeit« – das Wort »Schuld« kam nicht über ihre Lippen. . . .

Ich blickte in ihre Seele und sah in ein ödes, leeres Nichts. Sie glich einem Menschen, der froh ist, einer augenblicklichen Gefahr entronnen zu sein, und den überstandenen Schreck schon im nächsten Augenblick vergißt. Die Trennung 126 von Fritz ging ihr anscheinend ebensowenig nahe. Sie dachte sicherlich nicht mehr viel an das kleine Abenteuer, das so tragisch geendet hatte. Ich vermied es, mit ihr von der Toten zu sprechen, und sie wußte augenscheinlich auch nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollte. Ich hatte eine aufregende Szene befürchtet, und statt dessen tauschten wir nichts als banale Redensarten aus. – Ich erhob mich.

Sie sagte mir zum Abschied: »Wir bleiben doch hoffentlich Freunde?« . . .

Ich bemerkte den Anflug eines mokanten Lächelns, das dabei um ihre Lippen spielte. . . .

Als ich wieder auf die Straße hinaustrat, ärgerte ich mich über meine Ungeschicklichkeit. Ich warf mir vor, wie ein Stümper gehandelt zu haben. Aber was hätte ich tun sollen? . . . Ich glaube, Edith hat mir eine unmögliche Aufgabe gestellt. Fifi wird selbstverständlich alles tun, um mich ihrem Hause mehr und mehr zu entfremden, was ihr bei der Macht, die sie über ihren Mann ausübt, sehr leicht fallen wird. Und wie soll ich, der bescheidene Rechtsanwalt, der mit der »großen Welt« nichts gemein hat, diese Weltdame überwachen? Was mir noch gestern als eine große, schöne Lebensaufgabe erschien, zeigt sich schon heute als unausführbar. – Arme 127 Edith! – Dein Beauftragter wird dieses Herz genau so wenig ergründen, wie du dazu imstande warst. Denn was da in dieser anmutigen Hülle schlägt und pocht, das ist eben kein Herz – das kennt kein Gefühl und keine Seele – keine Leidenschaft und keinen Gram! Das tickt wie eine Uhr – nüchtern, kalt und gleichmäßig. Wenn mich nicht alles trügt, wird sich Fifi nur in einem Punkte ändern: Sie wird vorsichtiger werden. . . .

* * *

Am nächsten Tage harrte meiner eine neue Enttäuschung. Ich hatte Herrn Dr. Fritz Arndt um seinen Besuch gebeten. Pünktlich war er zur Stelle. Kalt und förmlich trat er ein, ganz »alter Korpsstudent«, »ganz Reserveoffizier«. Ich bot ihm einen Stuhl an, er setzte sich mit einer leichten Verbeugung. . . .

»Durch den letzten Willen meiner Kusine«, begann ich, »bin ich Mitwisser eines Geheimnisses geworden, das Sie und Frau Fifi Gleiwitzer betrifft.« . . .

Er verlor anscheinend etwas von seinem Selbstbewußtsein.

»Mich und Frau Gleiwitzer?« . . . fragte er gedehnt.

128 Sein Erstaunen war offenbar ungekünstelt. Ich gewann jedenfalls dadurch die tröstliche Überzeugung, daß er mit Frau Fifi seit jenem letzten Zusammensein in der Passauer Straße kein Rendezvous mehr gehabt haben konnte. Mit ernster Miene fuhr ich fort:

»Ich bin nicht beauftragt, Ihnen nähere Details zu geben. . . . Es möge Ihnen genügen, daß der Besuch der Frau Fifi Gleiwitzer in Ihrer Wohnung, der an dem Tage nach dem Souper bei Borchardt stattfand, beobachtet worden ist, und daß Frau Fifi ein reumütiges schriftliches Geständnis abgelegt hat, das sich in meinen Händen befindet.« . . .

Meine Erklärung raubte ihm jetzt doch einigermaßen die Fassung. Aber in diesem Augenblick, da er sich mir gegenüber nicht mehr so ganz sicher fühlte, erwachte die alte Schneidigkeit.

»In jedem Falle«, bemerkte er mit erhobener Stimme, »wäre ich bereit gewesen, die Konsequenzen meiner Handlungen zu tragen.« . . .

»Wie meinen Sie das?«

»Ich hätte mich Herrn Franz Gleiwitzer selbstverständlich zur Verfügung gestellt, und auch keinen Augenblick gezögert, eine durch mich kompromittierte Frau zu heiraten.« . . .

129 »Das ist nun wohl nicht mehr nötig, Herr Doktor!« gab ich ihm zur Antwort. »Mein Vetter weiß nichts und soll auch im Interesse der Kinder nichts erfahren. Außer Ihnen und Frau Fifi kenne nur ich das Geheimnis, und Sie dürfen überzeugt sein, daß ich es wahren werde! . . . Aber ich habe eine andere Bitte. Es handelt sich dabei um eine Verstorbene. Sie wissen, Herr Doktor, wie übel man dem Andenken dieses edlen Mädchens mitgespielt hat, und . . .«

Er unterbrach mich.

»Ich verstehe Sie, Herr Rechtsanwalt. Meine Abwesenheit würde die Gerüchte verstummen lassen.«

Ich nickte zustimmend.

»Das habe ich«, bemerkte er weiter, »bereits selbst empfunden, und ich gedenke in drei Tagen Berlin zu verlassen. Ich habe zum Zweck einer Weltreise von meiner Behörde einen einjährigen Urlaub erbeten und erhalten.« . . .

Er machte Miene, aufzustehen.

»Noch einen Augenblick, Herr Doktor! Darf ich Sie um die Versicherung bitten, daß Sie die Beziehungen zu Frau Fifi Gleiwitzer als vollständig abgebrochen betrachten?«

»Mein Ehrenwort!«

130 Eine kurze, verlegene Pause. . . . Er sah ein, daß wir uns eigentlich nichts weiter zu sagen hätten, machte mir eine korrekte Reverenz und ging hinaus.

In meinem Ohr klang noch der Ton nach, in dem er die wenigen Silben »mein Ehrenwort« ausgesprochen hatte. Das war wie ein Schrei der Erleichterung . . . der Befreiung! Wenn ich sein Leibbursch gewesen wäre, hätte er mir vielleicht gesagt: »Gott sei Dank, lieber Junge, daß die Geschichte zu Ende ist, ich hatte schon längst genug davon!« . . .

Wenn er von seiner Weltreise wiederkommt, wird er sein Examen machen und dank seinen Fähigkeiten und seinen Verbindungen Staatsanwalt oder Richter in unseren Landen werden. Er wird im Namen des Staates die menschlichen Verfehlungen geißeln und die Sünder an den Pranger stellen. Er wird im Namen des Königs die Übeltäter zu strengen Strafen verurteilen, welche die Grenze des Erlaubten in ungesetzlicher Weise überschritten haben. Er wird eine treffliche Stütze werden von Thron und Altar. Dann wird er einem vornehmen jungen Mädchen aus seinen Kreisen die Hand zum ewigen Bunde reichen – und wehe dem, der verlangend seine Blicke auf sie zu richten wagt! Tag und Nacht wird er bereit sein, den letzten Blutstropfen 131 hinzugeben für die eigene Ehre und sich der Zeit nicht mehr erinnern, da er leichtsinnig und gewissenlos fremde Ehre mit Füßen getreten. . . .

* * *

. . . Draußen lacht die Aprilsonne.

Die Vögel piepsen und zwitschern vor meinen Fenstern. Das junge Grün läßt sich in seiner Neugier durch die kalte Luft nicht beirren und blickt munter und hoffnungsfroh in die Welt hinaus. Ostern steht vor der Tür, die Saison ist zu Ende. Man spricht in Berlin W nicht mehr vom Fall Gleiwitzer; er ist abgelöst durch neue Begebenheiten, durch neue Skandale. Die bösen Mäuler haben sich ausgelästert. Es war herzbrechend, was sie der armen Edith alles nachgesagt haben. Manche witterten sogar ein Verbrechen wider das keimende Leben. Aber auf Fifi ist nicht ein Schatten des Argwohns gefallen! Und ganz Berlin W fand es außerordentlich »korrekt«, daß der junge Mann seiner Vaterstadt für einige Zeit den Rücken gekehrt hat. Wenn er wiederkommt, wird er desto interessanter sein, seine Chancen bei der Frauenwelt sind dann entschieden im Steigen begriffen.

. . . Ich habe mich bemüht, aus der Tragödie, in deren Mittelpunkt ich ja leider selbst stand, 132 und aus ähnlichen Katastrophen, die gewisse Kreise immer aufs neue wieder in Erregung versetzen, Schlüsse auf die heutige Zeit zu ziehen. Und ich bin zu dem Resultat gelangt, daß die Verhältnisse, in denen wir gegenwärtig leben, einen günstigen Nährboden für diese krankhaften Erscheinungen bilden.

Die alten Linden, die sich vom Brandenburger Tor bis zum Denkmal Friedrichs des Großen hinziehen, sind alt und morsch geworden. In den großen Tagen der nationalen Erhebung, da sie noch hinübersahen zu dem bescheidenen greisen Herrn, der Preußens Geschicke lenkte, da waren sie voll Saft und Mark, und ihre Zweige blühten und dufteten. Aber das erste Geschlecht, das stolz und ruhmgekrönt unter ihnen wandelte, geht zu Grabe. Und das zweite gleicht jenen neuen Linden, die in dem jungen Erdreich noch nicht kraftvoll genug Wurzel gefaßt haben, die noch schwanken und zagen, wenn der Wintersturm heranbraust. . . .

Das Alte ist verdorrt, das Neue noch nicht gereift. . . .

Alles ist in Gärung begriffen, längst überwundene Vorurteile wagen einen letzten Sturm auf die Schanze des Fortschritts. Mittelalterliche Ehrbegriffe, verknöcherte Paragraphen, verstaubte Privilegien rüsten sich zum letzten 133 Kampf gegen das »ungeschriebene Gesetz«, das immer lauter und mächtiger Anerkennung heischt. In richtiger Erkenntnis der Gefahr haben die herrschenden Gesellschaftskasten unter sich eine Notbrücke geschlagen, die aber dem andrängenden Hochwasser nicht lange widerstehen kann. Die moralische Zersetzung, wohlvorbereitet durch den materiellen Wohlstand, geht unaufhaltsam ihren verderblichen Weg. Das eiserne Pflichtgefühl, das die gewaltige Triebfeder des ersten Geschlechts bildete, hat bei dem zweiten keinen Bestand mehr. Eine Kunst ohne Größe, eine Literatur ohne Tiefe schmeichelt der Jugend und wird zum Dank dafür von dieser auf den Schild gehoben. Und diese Jugend, die ohne Ideal dahinlebt, sucht im banalsten Vergnügen die Befriedigung des Lebens. Das erste Geschlecht hat geschafft, das zweite will genießen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Denn die neue Moral gebietet: »Sich ausleben um jeden Preis!« . . .

Fifi und Fritz – sind sie nicht echte Kinder dieser Zeit? Oberflächlich und flatterhaft, immer bereit, dem Rausch des Augenblicks zu unterliegen, unfähig zu einer großen Leidenschaft, unkundig des Begriffs der Pflicht! Und selbst Edith, diese vornehme, feinfühlige Natur, wäre sie imstande gewesen, das Leben so leicht von 134 sich abzustreifen, wenn ihr Charakter gefestigt gewesen wäre durch den unbeugsamen Willen, ihre Sendung treulich zu erfüllen? Sie selbst hätte das tun müssen, was sie mir übertrug! Sie selbst hätte wachen müssen über die Kleinen, deren Wohl ihr am Herzen lag; und im freudigen Vollbringen dieses Werkes wäre sie bald Herrin ihrer selbst und ihrer Zukunft geworden. . . .

Vielleicht beschatten einst die neuen Linden, wenn sie groß und gesund geworden, ein drittes Geschlecht, das sich tatkräftig seiner Pflichten gegen die Ahnen erinnert. Auf seinen Schultern ruht die Zukunft des Vaterlandes und des deutschen Volkes! . . .«

 


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