Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.
Aus dem Tagebuch des
Rechtsanwalts Dr. Richard Menkus
.

. . . Heute mittag haben sie meine gute Tante begraben; natürlich auf dem Kirchhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Als einziges ungetauftes Mitglied der Familie kam ich mir da draußen ziemlich komisch vor. Aber eigentlich gehöre ich ja gar nicht zu der Familie Gleiwitzer. Ich bin ja nur der arme Neffe der Frau Kommerzienrätin und zähle zu der verschnorrten Linie, von der man nicht gern spricht. Der Verstorbenen verdanke ich alles. Als meine Eltern mittellos starben und mich als zehnjährigen Waisenknaben hinterließen, da war sie es, die mich erzog, die später dafür sorgte, daß ich die Universität beziehen und Rechtsanwalt werden konnte. Ich bin dankbar. Vielleicht kann ich es noch einmal beweisen. . . . Der Kommerzienrat hatte die Freundlichkeit, mich gestern zur Abendtafel zuzuziehen. Es war unerquicklich, wie immer, ein Vorwurf für einen boshaften Sittenschilderer unserer Zeit. Onkel Ludwig gefiel sich in der Rolle des weltentsagenden Witwers. Aber sein schwarzer neuer Gehrock saß tadellos, die Hände waren wie immer manikürt, 11 der graue Spitzbart elegant gestutzt . . . man sah ihm an, daß er vorher einen Blick in den Spiegel geworfen und wohlgefällig gelächelt hatte. Er sieht mit seiner großen Figur stattlich aus wie ein pensionierter Major. Aus seinen Augen sprüht unverminderte Lebenskraft und Lebenslust. In seiner Weise hat er ja die Verstorbene geliebt – in seiner Weise!

Franz, sein Sohn und mein Vetter, sieht älter aus als er. Die kränkliche gelbe Gesichtsfarbe, die gebückte Haltung lassen ihn neben seinem Vater beinahe greisenhaft erscheinen. Man sollte gar nicht denken, daß dieser Mann, der die waghalsigsten Spekulationen mit Seelenruhe ausführt, im Leben schüchtern ist wie ein Kind. Nur das unruhige Flackern seiner schwarzen Augen deutet auf die unermüdliche Arbeit der Nerven und des Geistes hin. Er hat seine Mutter innig geliebt, er dankt ihr alles, vor allem das Glück, seine angebetete Fifi zu besitzen. Aber da Fifi für ihn eben alles ist, hat es seiner Sohnesliebe wohl etwas Abbruch getan, daß Fifi und Tante Rosalie sich nie so recht verstanden haben. Und Edith? Stumm, geisterhaft blaß, wie immer, ein unergründliches Rätsel! Selten ein Wort, das von Herzen kommt und zu Herzen geht. Die jungfräuliche Brust von Eisen umpanzert. Ich kann mich über sie nicht beklagen. Bin ich doch 12 der einzige, zu dem sie Vertrauen hat, zu dem sie sich offen ausspricht. Bei ihr ist die Trauer um die Tote sicherlich am tiefsten; oder wenigstens ebenso tief wie bei der alten Köchin Elise, die schon seit zwanzig Jahren im Hause ist, und die in der Verstorbenen das Muster aller wirtschaftlichen Tugenden verehrte. Elise ist wirklich noch die einzige aus der alten Gleiwitzerschen Zeit in der Königstraße. Ich sehe noch die kleine Wechselstube vor mir. Onkel Ludwig und ein Kommis, das war alles. Und dann kam der große Aufschwung, die neue Zeit, der neue Reichtum, der neue Ehrgeiz, das große Bankgeschäft Unter den Linden, die Verlegung der Privatwohnung nach den neuen Linden, nach dem Kurfürstendamm. . . .

Wir waren nur Fünf bei Tisch. Onkel Ludwig, Edith, Franz, Fifi und ich. Fifi sah entzückend aus. Das schwarze Gewand brachte ihre schlanke Figur noch besser zur Geltung und ließ das Blond ihrer Haare noch goldener erscheinen. Franz war, wie immer, still und in sich gekehrt, er dachte vielleicht an die Tote, vielleicht auch an die neue Terraingesellschaft, in deren Mittelpunkt er steht und von der man so viel spricht. Ich saß zwischen Fifi und Edith. Wir gedachten viel der Güte der Verstorbenen. Den schönsten Teil ihres Schmuckes hat sie Fifi vermacht, wohl 13 nur aus Liebe zu ihrem Sohn. Das hat Fifi einigermaßen versöhnt; sie war liebenswürdig und fand warme Töne. Das ist natürlich nur Heuchelei. Es erschien mir wie eine Entweihung, wenn sie plötzlich die Tugenden der Entschlafenen rühmte. Edith hatte dasselbe Gefühl. Auch sie zuckte dabei unmerklich zusammen, wenn unsere Blicke sich bei solcher Gelegenheit begegneten. Aber Franz, der dumme Kerl, war wieder ganz in Fifis Bann und berauschte sich an ihrer Schönheit. Daß dieser kluge, feine Menschenkenner immer noch nicht merkt, welche sträfliche Oberflächlichkeit diese anmutige Hülle birgt. Liebe darf kurzsichtig machen, aber nicht blind. Franz jedoch hat bei dieser Frau sein Sehvermögen vollständig eingebüßt. Auch die Enkel hat Tante Rosalie bedacht. Marie war ihr Liebling, und sie bekommt die kleine Villa im Grunewald, in der ihre Großmutter die wenigen glücklichen Stunden ihres Lebens verlebte. Mit diesen Mitteilungen, die Ludwig uns während des Abendbrots machte, kam das Gespräch auf materielle Dinge und endete mit einer geschäftlichen Unterhaltung zwischen Vater und Sohn. Wir drei anderen schwiegen. Fifi langweilte sich ^wie gewöhnlich, und Edith und ich empfanden die Herzlosigkeit und Lieblosigkeit der Hinterbliebenen, ohne es uns zu sagen.

14 In wenigen Tagen wird wieder alles im alten Geleise sein. Jeder wird sich um seine Angelegenheiten und seine persönlichen Interessen kümmern, und Edith wird den anderen die Sorge um das frische Grab auf den Höhen von Westend abnehmen. Auch sie wird das mehr aus Pflichtgefühl tun, denn aus echter Kindesliebe. In den letzten zwei Jahren scheint ihr Herz wie erstarrt, und ich forsche vergeblich nach dem Grunde. Früher war sie lebenslustig, heiter und sorglos. Seitdem sie das Abiturientenexamen gemacht hat und studiert, ist sie wie umgewandelt. Die Wissenschaft allein kann diese Änderung nicht zuwege bringen. Vergebens suche ich die Ursache zu erforschen. Ich habe deswegen schon manche schlaflose Nacht verbracht und bin nicht imstande, auch nur einen Zipfel des Schleiers zu lüften. Manchmal fühle ich ihre Augen, diese braunen, guten Augen ihrer Mutter, auf mich gerichtet, als ob sie mich um Rat fragen wollten. Aber wenn ich den Blick erwidere, ebenso offen und ehrlich, um ihr zu zeigen, daß ich ihres Vertrauens würdig sei, dann schlägt sie die Augen nieder, gleich als ob sie das Bekenntnis widerrufen wollte.

Als ich Abschied nahm, drückte sie mir die Hand etwas herzlicher als gewöhnlich; das war aber auch alles. Ich begleitete Franz und Fifi 15 nach Hause, wobei Fifi die Frage erörterte, wie lange sie wohl die tiefe Trauer halten müßte. Sie meinte, gerade bei der Stellung ihres Gatten dürfte man sich der Welt doch nicht so ganz entziehen, und nach Weihnachten könne man getrost schon einige Konzerte und ernste Theater besuchen. Wenn auch natürlich nicht von großen Gesellschaften die Rede sein könne, so sei es doch dringend erforderlich, daß sie im Januar bereits ihren Jour wieder abhalte. Franz war augenscheinlich während dieser Auseinandersetzungen mit seinen Gedanken ganz wo anders, und ich fand diese Art der Konversation so taktlos und brutal, daß ich kaum hinhörte, geschweige denn antwortete. Fifi weiß im übrigen ganz genau, wie ich über sie denke und gibt sich auch gar keine Mühe, eine Eroberung zu versuchen, die ihr doch niemals glücken würde. So endete der traurige Tag trübe und unharmonisch. . . .

 


 << zurück weiter >>