Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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V.
Aus dem Tagebuch des
Rechtsanwalts Dr. Menkus
.

. . . . . Als mein Onkel Ludwig mich heute früh durch das Telephon sehr liebenswürdig und sehr höflich anfragte, wann ich für ihn in meinem Bureau zu sprechen sei, wußte ich bereits, daß etwas ganz Besonderes vorliegen müsse. Sonst pflegt er nicht so zarte Rücksichten auf mich zu nehmen, sondern bestellt mich zu einer bestimmten Stunde zu sich, ohne sich viel darum zu kümmern, ob mir die Zeit paßt oder nicht. Ich habe mich auch nicht getäuscht. Als er in mein Studierzimmer eintrat, drückte er meine Hand herzlicher und wärmer als sonst. Er markierte den liebenden Verwandten und verstieg sich sogar dazu, mich per »lieber guter Richard« anzureden. Während er sonst schnell, klar und bestimmt sein Anliegen vorbringt, dauerte es diesmal ziemlich lange, bis er sich dazu entschloß, mir den Zweck seines Kommens darzulegen.

Die lange Einleitung drehte sich um meine arme verstorbene Tante, um ihre letztwilligen Verfügungen, um ihre Güte und 39 Menschenfreundlichkeit. Seine Stimme zitterte etwas, er wurde verlegen, und ich glaubte aus seinem ganzen Verhalten mehr die Stimme des schlechten Gewissens als die der Trauer herauszuhören. Um ihm Mut zu machen, schlug ich auch etwas herzlichere Töne an, und so bequemte er sich endlich dazu, mit der Sprache herauszurücken.

»Mein lieber Richard,« so begann er etwas zögernd, »ich komme heute in einer Angelegenheit, die nicht nur den Scharfsinn des tüchtigen Juristen, sondern vor allem den Rat eines treu ergebenen Freundes und Verwandten erfordert. Ich bin in einer sehr unangenehmen Lage. . . .«

Ich nickte teilnahmsvoll, um ihm Mut zu machen.

»Du weißt,« fuhr er leiser fort, »daß ich noch ein rüstiger Mann bin, der sich manchmal vielleicht jünger fühlt, als es eigentlich seinen Jahren geziemt. Meine arme Rosalie« – hier wischte er sich eine Thräne aus dem Auge« – »war mir schon lange keine Frau mehr im eigentlichen Sinne des Worts. Sie war meine treue Freundin, meine unvergeßliche Beraterin, die aufopfernde Hüterin meines Hauses und meiner Kinder. . . .«

Der Herr Kommerzienrat zündete sich eine Zigarre an.

40 . . . »Um es kurz zu machen: ich unterhalte seit mehreren Jahren intime Beziehungen zu einer Dame . . . . Fräulein Lydia Welden. Sie hat mich durch ihre Anmut, durch ihre Liebenswürdigkeit gefesselt, und mein Johannistrieb hat mich dazu verleitet, ihr Briefe zu schreiben, die besser ungeschrieben geblieben wären.«

Onkel Ludwig wischte sich mit dem Taschentuch einige Schweißtropfen von der Stirn.

Mir war die Sache in diesem Augenblick klar. Und so legte ich meine Hand auf seinen Arm und fuhr an seiner Stelle fort: »Und diese Dame macht jetzt von deinen Briefen Gebrauch, sagen wir, nach materieller Richtung hin; sie verlangt eine große Abfindungssumme und hat den jetzigen Augenblick gewählt, weil du ihr wahrscheinlich mitgeteilt hast, daß deine Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat bevorsteht und ein öffentlicher Skandal, den sie eventuell herbeiführen würde, die Verleihung des Titels unmöglich machen könnte. . . .«

Onkel Ludwig nickte.

»Du hast es erraten. Es ist noch schlimmer. Lydia hat sich bereits mit dem Redakteur der Zeitung »Das Gewissen« in Verbindung gesetzt, und wenn ich ihre Wünsche nicht befriedige, so können wir es erleben, daß meine Briefe in den Spalten dieses Blattes abgedruckt erscheinen. 41 Dann bleibt mir nichts übrig, als schleunigst zu verschwinden.«

Er seufzte laut auf und sah mich hilfesuchend an.

Um ihn zu trösten, zog ich die Sache ein wenig ins Lächerliche. »Lieber Onkel, du bist nicht der erste, der sich in einer derartigen Angelegenheit an mich wendet; ich kann zu deiner Beruhigung hinzufügen, daß bis jetzt noch immer alles gut gegangen ist. Du hast ganz recht, daß du nicht einmal daran denkst, die Person bei der Staatsanwaltschaft zu denunzieren. Damit kannst du den Skandal auch gar nicht verhindern und hast nur Scherereien und Laufereien, die am Ende doch zu nichts führen. Das einfachste ist: Du ersuchst die Dame, mich in meiner Sprechstunde zu besuchen, und wenn du mir bezüglich der Summe Vollmacht erteilen willst, so hoffe ich, dir noch heute abend deine Briefe zurückstellen zu können.«

Onkel Ludwig bemächtigte sich meiner beiden Hände, um sie liebevoll zu drücken. Da diese Aufwallung die erste war, seitdem ich das Glück habe, ihn zu kennen, so konnte ich mich dem Reiz der Neuheit nicht ganz entziehen und erwiderte die verwandtschaftliche Liebkosung ebenso innig. Mit der Hoffnung auf eine gütliche Lösung kehrte sein Selbstbewußtsein bald wieder, und 42 auch der kluge nüchterne Geschäftsmann kam wieder zum Vorschein.

»100 000 Mark kostet mich schon der Geheime Kommerzienrat,« meinte er wichtig. »Du weißt ja, daß bei solchen Auszeichnungen natürlich nur persönliche Verdienste bei uns in Preußen maßgebend sind, aber ich bin in der Lage gewesen, einer hochstehenden Persönlichkeit einen außerordentlichen Dienst erweisen zu können. . . .«

»In Höhe von 100 000 Mark«, unterbrach ich ihn trocken.

Er sah mich etwas verdutzt an. Vielleicht glaubte er in meinem Tonfall eine Ironie zu entdecken.

»Ganz richtig!« entgegnete er etwas unsicher. »Aber der Titel wäre mir nicht die Hauptsache. Ich selbst mache mir ja aus solchen Äußerlichkeiten nicht viel, aber diese Ehrung ist mir wertvoll meines Sohnes und – meiner Tochter wegen.«

»Deiner Tochter wegen?«

Ich mochte diese Worte etwas zu lebhaft ausgerufen haben, denn er blickte mich verwundert an und wiederholte erstaunt: »Gewiß, meiner Tochter wegen! Weshalb wundert dich das in diesem Maße? Mit Edith geht es so nicht weiter. Sie wird von Tag zu Tag stiller, einsilbiger. Was 43 ist aus dem lebenslustigen charmanten Wesen geworden, das sie noch vor zwei Jahren war? Dagegen hilft nur ein Mittel . . . die Ehe. . . .«

»Und du glaubst einen passenden Mann für Edith gefunden zu haben?«

»Ich glaube ja. Und weil der Herr, den ich im Auge habe, der Sohn eines Geheimen Kommerzienrats ist, so würde . . . .«

»Dr. Fritz Arndt?« warf ich ein.

»Richtig! Edith, die sonst seit langer Zeit jeden Verkehr meidet, folgt mit Vergnügen Fifis Einladungen, wenn sie weiß, daß sich Fritz in der Gesellschaft meines Sohnes und meiner Schwiegertochter befindet.«

»Das weiß sie in diesem Falle wohl immer«, bemerkte ich ziemlich kühl. Onkel Ludwig achtete indessen nicht weiter auf den Einwurf.

»Ja! Immer. Und wenn Fritz doch zufällig im letzten Augenblick am Erscheinen verhindert ist, kommt sie auch früher heim, und ist noch schlechterer Laune als gewöhnlich. Ich glaube sicher, daß sie sich für den jungen Mann interessiert, und ich würde dieser Verbindung von Herzen gern zustimmen.«

Ich schwieg. Was sollte ich ihm erwidern in diesem Augenblick, da alles langverhaltene Sehnen in mir erwachte und zum Ausbruch drängte, da mein Herz zum Zerspringen klopfte, 44 da sich alles in meinem Herzen aufbäumte, alles, was ich in den letzten Jahren verbarg und verschwieg. Ich starrte vor mich hin, eine Welt von Gedanken flutete durch mein Hirn, ich vergaß ganz, weshalb Onkel Ludwig zu mir gekommen war.

Seine Frage: »Wann willst du dir Fräulein Lydia Welden kommen lassen?«, brachte mich erst wieder zur Besinnung. Ich fuhr wie aus einem schweren Traum empor.

»Hat sie Telephon?«

Onkel Ludwig nickte und nannte mir die Nummer.

Ich rief sie sofort an und teilte ihr in wenigen Worten mit, worum es sich handle. Sie erwiderte, daß sie in einer Stunde bei mir sein würde. Onkel Ludwig war überglücklich, sah bereits alles in schönster Ordnung und klopfte beim Verlassen des Zimmers seinen »famosen« Neffen, wie er sich auszudrücken beliebte, freundlich auf die Schulter.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die Stunde verbracht habe, die auf diese Szene folgte. Nie war mir der Gedanke gekommen, den Onkel Ludwig eben so klar und bestimmt ausgesprochen hatte. Dieses feine, vornehme und durchgeistigte Wesen – und dieser Säufer und Frauenjäger! Erst wies ich die Idee meines Onkels als gänzlich 45 unmöglich weit von mir, aber dann überlegte ich mir, daß er in vielen Dingen recht hatte. Edith haßt ihre Schwägerin. Sie macht sich nichts aus ihrem Bruder. Warum drängt sie sich deren Gesellschaft auf, wenn es nicht Fritz ist, den sie sucht. Und doch! . . . je mehr ich über Edith nachdenke, desto unbegreiflicher erscheint mir das alles. Kann das häufige Beisammensein nicht einen anderen Grund haben? Ist ihr nicht vielleicht die Freundschaft zwischen Fifi und Fritz verdächtig? Will sie am Ende Hüterin der Ehre des Hauses sein? Das wäre eine Lösung, die der Lauterkeit ihres Charakters weit mehr entspräche. . . .

Mein Bureauvorsteher trat ein und meldete mir Fräulein Lydia Welden.

Eine schlanke, hübsche Erscheinung, nicht auffällig gekleidet. Ein weiches angenehmes Organ, ein zartes blasses Gesichtchen, angenehme bescheidene Manieren.

»Bitte nehmen Sie Platz, gnädiges Fräulein!«

Sie sah mich forschend an und schien von dem Eindruck befriedigt. In ihrer Hand hielt sie ein kleines Paket, auf das ich meine Blicke heftete.

»Sie haben die Briefe gleich mitgebracht?«, meinte ich lächelnd, um gleich von Anfang an der Unterhaltung alles Tragische zu nehmen.

46 »Jawohl, Herr Rechtsanwalt.«

»Dann«, entgegnete ich möglichst jovial, »brauchen wir wohl nur über die Höhe der Summe zu unterhandeln.«

»Ich habe sie Herrn Kommerzienrat Gleiwitzer wiederholt genannt: 50 000 Mark.«

»Das ist etwas reichlich, gnädiges Fräulein.«

»Für den Kommerzienrat eine Lappalie, und für mich das ganze Leben . . . . meine und meines Kindes Zukunft.«

»Sie haben von dem Kommerzienrat ein Kind?!« fragte ich überrascht.

Sie schüttelte das Köpfchen.

»Nein, Herr Rechtsanwalt. Ich will Ihnen in wenigen Worten alles sagen. Ich stamme aus einer sehr guten Familie. Der Name Welden ist nur ein angenommener. Als junges Mädchen bin ich von einem Schuft verführt worden. Er ist der Vater meines Kindes. Meine Eltern haben mich verstoßen; ich wollte leben – erlassen Sie mir alle weiteren Details! Ich habe Herrn Kommerzienrat Gleiwitzer alles das gegeben, was er von mir verlangte; wie Sie sich denken können – widerwillig und auf Kosten des letzten Restes von weiblichem Schamgefühl. Das will ich bezahlt haben; nicht meinetwegen, meines Kindes wegen. Ein Elender hat mein ganzes Leben 47 ruiniert, und ich verlange von Herrn Kommerzienrat Gleiwitzer nur eine Entschädigung, die für ihn ein kleines Almosen bedeutet, um . . . nicht mehr Dirne sein zu brauchen. Mein Kind wächst heran und ist ein Mädchen von zehn Jahren. Meine Lippen sollen fortan nur noch seine Stirn küssen . . . – aber . . . wenn Herrn Kommerzienrat Gleiwitzer die Summe zu hoch ist, dann ist mir alles gleich; ich kann ja nicht mehr entehrt werden . . .«

Ihre Stimme klang etwas sanfter, als sie fortfuhr: »Ich bin wirklich keine Erpresserin, Herr Rechtsanwalt, aber hier bietet sich endlich die Gelegenheit für mich, wieder eine anständige Frau werden zu können, und diese Möglichkeit habe ich mir, glauben Sie es mir, sauer genug verdient. Mit dem Gelde kann ich in der Provinz bescheiden, aber anständig leben, und in einigen Jahren, wenn mein Kind herangewachsen ist, sind die letzten Spuren meiner Vergangenheit verwischt. Ich brauche das Geld nicht für mich, ich brauche es für den edlen menschlichen Zweck, daß ein schuldloses Wesen nicht mit dem Kainszeichen der Schande und des Makels an der Stirn in dieses Dasein zu treten braucht . . .«

Ich sprach kein Wort mehr, begab mich ins Nebenzimmer und telephonierte mit dem Kommerzienrat. Er willigte ein. Als ich ihr das 48 erfreuliche Endresultat mitteilte, reichte sie mir die Hand und übergab mir das Paket mit den Briefen. Nie werde ich den Ausdruck dieser Augen vergessen. In diesem Blicke lag das grenzenlose Glück der Wiedergeburt zu einer besseren Welt, der sieghafte Triumph echter Mutterliebe. Schweigend schieden wir, und mir schien es, als ob nicht die Sünde, sondern die Tugend bei mir zu Gaste gewesen wäre. . . .

 


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