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Unter den hochkreuzigen Fenstern läuft die Straße. Die Straße, die alle gehen müssen. Die eine Straße. Der eine Weg.
Pferdehufe schlagen das bucklige Pflaster. Wagenräder, die in sich zerbrechen, kratzen darüber hin. Und so viel Schuhe. Hochmütig spitze aus weichem Leder, behäbig breite, löcherige und Holzsandalen.
Vielleicht sind alle die Eilenden lautlos. Und nur der rohe Stein lärmt. Poltert, rattert, zerschmettert – in nichts.
Die Luft war weich geworden und der Schnee schmolz in großen, brandigen Klumpen. Strähnig schleckte er sich über die Dächer. Schwamm in den braunen Pfützen. Die Schaufenster waren frisch gewaschen. Straßenlichter stritten mit langer Dämmerung.
Das war schon immer gewesen. Ruth lag vor ihrem Fenster und getraute sich nicht, es zu öffnen. So war sie einen ganzen, langen Scharlach hindurch einmal an den Fenstern gelegen. Als sie so klein war, daß sie ein Fragezeichen von einem großen S nicht unterscheiden konnte. Und beide ineinander an das trübe Fensterglas zeichnete. Als sie zu Mutter betete und ihre Furcht vor der nahen Nacht unter erdachten Abenteuern vergrub.
Nun lag sie an dem Fenster und wußte: Dieses junge Mädchen wird bald ein neues, lustig blaues Sommerkostüm bekommen. Der Mann dort schleppt die eine Achsel schwer. Er muß viele Lasten darauf getragen haben. Warum lebt die alte Frau noch, mit den traurigen weißen Haaren? Ob das kleine Mädchen mit der Springschnur auch so parkmüde ist, wie sie es immer war, nach den stundenmäßig eingeteilten Spaziergängen –
Sie gingen alle in einem Rhythmus. Ruth spürte das gleichmäßige Aufschlagen der Sohlen – jetzt – und jetzt – wieder – und jetzt – wieder – und jetzt. Ein Betrunkener johlte unten in dem Wirtshaus, daß man den sauren Weingeruch heraufwirbeln fühlte: Dann das Schweigen der Schritte – jetzt – und jetzt – wieder und jetzt –
Bis ein Lastwagen dieses Schweigen zerbricht, so daß tausend lebendige Splitter über den Rinnstein springen.
Richard kommt die Straße herunter. Er trägt noch den steifen, schwarzen Hut, wie im Winter. Er weiß nicht, daß heute Sommer ist. Daß sich alle ungefesselten Glieder ausziehen müssen und dem durstenden Föhn anbieten. Mutter schlägt im Nebenzimmer eine Tür zu –
Ruth suchte sich pfeifend ihren alten Strohhut aus einem eingekampferten Kasten. Schlug ihn platt auf den Tisch, daß das Geflecht knirschte. Und lief davon. Ohne Handschuhe.
Lief durch die eine Straße. Den einen Weg.
Wann war es das erste Mal, daß sie so gelaufen war? Daß ihre selig gläubigen Füße sie über Tiefen springen ließen, die zwischen den Pflastersteinen lauerten. Wann war es – gestern – heute – morgen wird es sein –
Die Erde ist schwanger von blühendem Leben. Und das Geborene ist tot. Und die Luft ist schwer zu atmen vor erstickten Keimen.
Braungrün schwimmen die Pfützen im letzten Tageslicht. Die Laternen flimmern bloß.
Ruth läuft den einen Weg. Die eine Straße. Es ist ja immer dieselbe eine. Mit jedem Schritt fällt ein Stück Last von ihren schmalen Schultern. In die tauende Erde. Aber sie kehrt nicht um, damit sie dieses Stück in den Boden hinein zertritt. Recht fest. Nein, sie läuft ja immer weiter.
Ein Kutscher knallt mit der Peitsche. Ein altes Weib keift – oder vielleicht erzählt sie nur. Aber immer weiter, immer weiter, den einen Weg. Die Straße ist ja furchtbar schrill, die Häuser haben so empörend scharfe Kanten, die die Luft zerschneiden, wie aufgestellte Messer.
Aus den offenen Fenstern fällt eine grauweiße Masse heraus. Sind das schmutzige Leintücher – Die wollen sie hindern am Weiterkommen auf dem einen Weg.
Nein, diese vielen, empörend fremden, gleichgültigen Menschen. Da schmeißen sie die ganze Winterausdünstung auf die Straße herunter. Ihr entgegen. Diese vielen. Und sie sucht nur den einen.
Wer sind die alle, die sie nicht lieben darf – Diese Holzpuppen, die es wagen, ihr Schuhe zu machen und Gesetze zu geben. Die nach Schweiß stinken und Bier. Sie sucht den einen.
Sie will die alle ja gar nicht kennen, die da gierig an ihr vorbeilaufen. Sie weiß so schmerzhaft gut, was sie suchen, was sie niemals finden. Warum weiß sie es so gut. Sie will es gar nicht wissen. Will zu dem einen.
Unverständige Kinder dulden stumm die Schmerzen der Eltern mit. Und heben, aufgewachsen, die Hand gegen ihre Erzeuger. Spitze Tiermäuler saugen die Menschenliebe von den Mittagtischen. Und Krieg liegt in den nahen Grenzen.
Warum weiß sie das. Sie geht nur zu dem einen. Der weiß es auch.
Die grauen Leintücher werden immer dichter. Man sollte die kantigen Häuser untergraben, sprengen, daß alles Geschirr aus den Fenstern stäubt, die blumigen Suppenschüsseln, die blauen Kochtöpfe. O, wie sie lachen wird. Mutter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Aber Thomas hätte auch gelacht. Die Grundmauern der Häusermassen sind lange nicht so fest wie die beschmutzten Ecksteine. Aber was braucht sie das zu wissen. Sie geht zu dem einen. Er soll es wissen.
Man darf nicht warten, bis die Häuser einfallen. Die große Fackel muß man nehmen, Thomas' Fackel. Die liegt bereit, nicht weit weg. Lichtzüngelnde Flammen sollen die grauen Leintücher zerfetzen. Hoch hinauf, das muß geschehen. Sie weiß es. Nein, sie wird es nicht lange mehr wissen. Sie läuft hin zu dem einen. Er soll es wissen.
Da steht sie vor seinem Haus. Seine Fenster sind dunkel. Viel dunkler als die verschwommene Straße. Und ganz leer.
Er ist also auch heraußen. Vielleicht geht er sogar hinter ihr, neben ihr. Sie kann nur den Kopf nicht wenden. Weil sie immer weiter gehen muß, geradeaus.
Ihre Hände sind heute schwer und voll und weich und weiß. Die Schultern legen sich nach rückwärts, künstlich steif. Eine lichtbraune Locke, die gerne zigeunerhaft sein möchte, hängt in die Stirne.
Wie jung der Winterfrühling ist. Und wie alt die Einsamkeit. Wohin gehen, wenn das Zimmer nur voll ist von einem selber. In den gelben Phiolen brodelt man selbst, verdickt, kondensiert.
Es gibt Kaffeehäuser mit rauchigen Tischen und zahllosen Zeitungen. Dort sich niedersetzen. Die Kellnerinnen sind liebenswürdig, bedienen gerne.
Eine dicke Brille schützt den scharfen Blick gut. Sie ist aus solidem Fensterglas. Besser in das hohe Weinglas schauen als um sich herum. Die Luft ist dick von grauen Leintüchern. In denen die kampfunfähigen Glieder schon oft sich vergraben haben.
Zwei Commis spielen Billard. Die Glücklichen. Und jeder weiß, wohin er dann gehen wird. Die Glücklichen.
Die Indianerhäuptlinge in den Knabenbüchern wußten auch immer, wohin sie gingen, nach den furchtbaren Schlachten. Diese Leute langweilten sich nie. Dachten auch nie. Das hatten sie nicht notwendig. Sie lebten auf wilden Pferden in unabsehbaren Prärien. Wehendes Gras unter licht schwimmendem Himmel. Wo sind diese Füße – Sechs Häuser weit weg von der Gasse. Aber die Füße sind steif. Und der Kopf arbeitet an einem mathematischen Problem.
In den schmierigen Marmor des Kaffeehaustisches zeichnen schwere, bleiche Hände tote Formeln.
Die weiche Luft, die zugig durch den Rauch schlägt, ärgert diese Formeln. Diese Formeln bekommen blühende Rundungen. Leberblümchen, Primeln – o, nein, grinsend verzerrte Buchstaben.
Die Knochen sind sehr schwer. Aber sie sind einander wohlerzogen angegliedert. Und bleich. Nicht roh durcheinander gebeutelt wie bei Thomas. Zum Glück – oder Unglück.
Sie gehören einem Menschen an, der im Parkett des Theaters sitzt und den Vorgängen auf der Bühne zusieht, sehr interessiert und sehr fremd. Aber zuhause wartet kein verschlossenes Zimmer auf ihn, vor dem er Angst hat, weil er nicht alle seine Geheimnisse kennt.
Deshalb sehen die erlebnislosen Zuschauerblicke alles so genau, viel zu genau und verstehen alles genau, viel zu genau, wissen alles.
An einem Sommerabend kniete einmal ein kleines Mädchen vor dem Tisch und biß in die Kante, daß das Holz zersplitterte. Ihre Seele lag nackt und zitternd einsam auf einem dunklen Seziertisch vor fremden, prüfenden Augen. Zerschnitten. Aber die Zähne zerbissen den alten Tisch. Kräftige Zähne. Ein fremdes kleines Mädchen.
Durch die Kaffeehaustür geht eine üppige Frauensperson. Selbstgeschlossen in ihrer Reife. Rotblondes Haar und Lippen, die Geld fressen wollen. Der Hut wippt zu hoch, über einer häßlichen Stirne. Ihr nach.
Ihr nach durch schlüpfrige Gassen und winkelige Höfe. Wie stolz sie geht, sie ist eine Königin der Erde. Karminrot geschminkt. Alle Königinnen sind karminrot geschminkt.
Nicht die volle Hand berühren. Aber hinter ihr hergehen. Langsam, kostend.
Sie geht auf ein Haus zu mit verschlossenen Läden. Im Parterre sind weiße Spitzenvorhänge und über dem Tor glüht brünstig die rote Laterne –
– Wohin will das Fräulein – ein junger Kellner mit schwarzen Zähnen im grünbleichen Gesicht tritt ihr entgegen. Die Zähne des Leutnants. In der kleinen Halle stehen rote Korbsessel.
– Entschuldigen Sie, sagte Ruth aufmerksam und langsam, ich glaube, ich bin in ein falsches Haus geraten.
Lief dort nicht jemand über die Treppen mit zurückgelegten Schultern? –
Ruth fuhr mit der Straßenbahn nachhause. Im roten, lärmenden Tabaksdunst. Ihre schmalen, braunen Hände spielten auf den Knien. Da waren noch die Narben von dem Hundebiß. Ihre Hände. Braun. Vielleicht auch etwas gelb von den Phiolen.
Auf seinem Schreibtisch war einmal ein scharf geschliffenes Messer gelegen. Das schneidet gut. Es riecht nach Blut und Chemikalien.
Soll sie sich das Messer holen? Die zarten Adern aufschneiden? Was kann das nützen. Von den feinsten Poren des Hirns aus durch den ganzen Körper strömen die müden Säfte eines verbrauchten Lebens. Gift.
Das findet kein Messer. Er hat gut experimentiert. Die Phiole brodelt.
Ruth sieht um sich. Aber in ihren entkleidenden Blicken leuchtet eine junge Kraft.