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Ich liebe Mutter, dachte Ruth. Kein Mensch weiß, wie groß sie ist und stolz. Es ist schade, daß das niemand weiß. Aber ich kann es ja auch nicht vertragen, daß sie die Türen zuwirft und durch die Zimmer läuft. Daß sie mit dem Mädchen schreit.
Sie flüchtete in Gärten. In kleine, engbrüstige Vorstadtgärten mit zerrauften Büschen und wackligen Bänken. Mit großen Sandhaufen voll schmutziger Kinder.
Sie ging hin, weil sie dort noch niemals, niemals gewesen war. Und saß brutheiße Sommernachmittage durch und versuchte nur an Mutter zu denken und ihn zu vergessen.
Denn noch immer verfolgte sie sein Blick wie ein dunkles Band, das so weich war, wie das Innere seiner Hand, so daß man nichts wünscht, als sich hineinlegen zu können und nichts mehr weiß von Steinen und Bergen. Wie im Sand vor dem Meer.
Als sie einmal so saß, den Kopf in den Händen, mitten unter Proletarierfrauen und Ladenmädchen, setzte sich jemand ganz nahe neben sie. Sie fühlte nur immer den Blick, das Band, wie es sich um ihre Stirne legte und alle Nerven, den Rücken hinunter strich. Jemand sagte zu ihr: – Fräulein, gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze. Neben ihr war ein Commis voyageur mit aufgewirbelten Schnurrbartspitzchen und rot geblümter Krawatte. Noch empfand sie den weichen Abgrund, der zu tief war, um zu duften und sah sich doch hier unter kleinen Leuten, im kleinen täglichen Leben, rundherum der graue Spielsand. Sie lachte ihrem Nachbarn ins Gesicht, laut und plötzlich, daß er zurückfuhr. Dann ging sie. Hinter ihr schimpften die Proletarierfrauen.
Sie mußte immer von zuhause weggehen. Denn wenn sie zuhause war, liebte sie Mutter nicht, und das war doch schon ganz unmöglich.
Mutter sagte zu Richard: – Man sollte doch sehen, wo das Kind sich herumtreibt. Sonst dachte sie nicht weiter an Ruth. Nur in der Nacht wachte sie manchmal auf und wurde unruhig. Sie meinte, das käme von ihren angegriffenen Nerven, und nahm Schlafpulver.
Daß etwas ihr Fremdes in Ruth vorging, wußte sie. Soweit sie überhaupt wissen konnte, was sie nicht wissen wollte. Und sie wollte nichts wissen, was sie nicht seit ihrem zwölften Jahr kannte und besaß. Das beleidigte sie schon durch seine bloße Existenz.
Für sie war Ruth das Kind. Das etwas verträumte Kind, das sie unbedingt liebte, weil es ihr Kind war, das sie bemitleidete, weil es das Kind ihres Mannes war. Und das sie deshalb schützen zu müssen glaubte.
Solange Ruth klein war, sagte sie mit Stolz zu allen Verwandten: – Das Kind wird ganz wie ich. Und Ruth war fast ebenso angesehen im Hause wie Richard. Aber mit zehn Jahren enttäuschte sie ihre Mutter zum ersten Mal. Von da an immer wieder.
Sie ging mit Mutter an einem naßkalten Novembertag durch die Stadt, Einkäufe machen. Sie war traurig, weil alle Leute in den Geschäften unfreundlich waren, die Herren dicke Tröpfchen im Bart hatten und die Damen in zu kleinen Schuhen gingen, die sicher weh taten. Weil sie eine erfrorene Nase hatte und einen häßlichen Hut. Deshalb dachte sie an ein Schloß im Hochsommer und zerbrach sich den Kopf, wie sie dort Rosensträucher und Marmorbrunnen verteilen sollte. Da kam ein Bettler. Er war so wie alle anderen Bettler auf der Welt. Dieselbe verkrüppelte Demut, die Geschäfte macht und ihre Krücken schwingt. Schamloses Elend. Mutter sagte: – Gib ihm zwei Kreuzer. – Nein, erwiderte das Kind, ich mag nicht. – Was, rief die Mutter entsetzt, warum? Oh, du bist schlecht. – Ja, sagte sie, ich bin nicht gut, ich kann alle Bettler nicht leiden.
Damals war Mutter sehr böse. Und Ruth sagte zuhause: – Wenn ich alle Bettler wirklich gern hätte, müßten sie zu mir kommen, aber ganz. Und ich möchte ihnen nie Kreuzer schenken, aber ich mag sie gar nicht. – Da schlug Mutter sie, und Richard und Martha waren voll Verachtung.
Denn man mußte gut sein zuhause. Das war wie ein Dogma. Richard schenkte jedem Bettler etwas und Martha nähte Puppenkleider für Armeleutekinder.
Als Ruth zwölf Jahre alt war, sagte sie lächelnd zu ihren Freundinnen: – Natürlich sind wir Juden, aber schon lang getauft, doch das macht nichts aus.
Als sie vierzehn Jahre alt war, erklärte sie: – Unsere Möbel sind häßlich. – Ich lüge oft, nicht gern, aber doch oft. – Wenn ich ganz arm wäre, würde ich sicher einbrechen.
Da wußte man in der Familie: das Kind ist dumm. Man muß sie zum Schweigen bringen, sonst macht es nichts.
Und Ruth glaubte, daß sie dumm sei. Nur kränkte es sie gar nicht. Sie konnte einfach nie auf die Idee kommen, anders sein zu wollen, als sie war. Höchstens, daß sie sich wünschte, strähnenglatte blonde Haare zu haben und eine griechische Nase.
Hier aber war die erste große Spaltung zwischen ihr und Mutter. Denn Mutter fühlte zu genau, wie sehr Ruth ihr Kind war, um diese Aufrichtigkeit zu gestatten. Sie empfand es als eine Verletzung.
Ruth sagte einmal auf jemanden: Den liebe ich, den möchte ich auf der Stelle heiraten. Ich glaube wirklich, ich könnte mich wahnsinnig in ihn verlieben. – Aber schämst du dich nicht, rief die Mutter.
Mutter schämte sich immer. Weil sie einen so unmäßigen Stolz in sich trug. Was dieser Stolz wollte, wußte sie eigentlich selbst nicht, er hatte etwas Sinn- und Zweckloses. Er erinnerte an die hohen Zimmer, die man in den Achtzigerjahren baute, deren Größe etwas Leeres und Zugiges an sich hat. Und die nie auszufüllen sind, weil die Kostbarkeiten, nach denen sie verlangen, gar nicht aufgetrieben werden können.
Das, was Mutter wollte, existierte nicht. Und deshalb war sie arm geblieben in der Fülle ihrer zügellos reichen Empfindungen.
Wenn Ruth in der Nacht sich im Bett aufrichtete und sie war plötzlich ganz wer anderer als am Tage, so daß sie ihre eigenen Bewegungen mit süßem Mitleid und verborgener Zärtlichkeit beobachtete, dann war es genau so, wie wenn sie Mutter beim Schreibtisch sitzen sah, mit einer Unzahl Rechnungen, bei denen sie sich fortwährend irrte und die sie doch so genau nahm. Oder wie wenn sie einem nackten Säugling zuschaute, wie er sinnlos mit den winzigen Füßen in die Luft strampelt.
Mutters Reserve der Menschheit gegenüber war nur etwas rein Gedankliches, äußerlich war sie allen vollkommen ausgeliefert. Ihre Haare steckten immer schief. Der Mund war zu voll. Die Unterlippe hing herunter. Das war aber nicht notwendig. Es war nur, weil Mutter eben so gar nicht verstand, in den Spiegel zu schauen.
Ihre dunkelsehnigen Arme hätten Erdarbeit leisten sollen. Ihr kräftiger Körper brauchte Bergluft. So daß er fast hinfällig scheinen konnte in den Zimmern der Großstadt.
Mutter hatte sich nicht erziehen können und deshalb ihre eigenen Kinder nicht, weil die ihr zu ähnlich waren. Aber sie hatte einen jüngeren Bruder, der weich und bildsamer war als Lehm. Er war Musiker, er war Dichter, er war Maler. Und endigte als Zeichenlehrer in einer Mittelschule. Sie hatte ihm zu viel geholfen.
Ihre eigenen Talente hatte Mutter verschleudert. In ihrer Jugend war sie die wildeste Tänzerin der Stadt. Und trug doch immer abgetretene Schuhe.
Onkel Gustav wuchsen die Haare zu lang in den Nacken. Nur ein ganz klein wenig, so daß man es bei anderen Menschen gar nicht bemerkt hätte. Aber bei ihm schien es viel zu viel zu sein. Er wurde in der Familie verlacht und als Narr behandelt. Und lächelte dann demütig. Ruth ging an ihm vorbei. Sie konnte Bettler nicht leiden.
Mutters Kommode war das interessanteste Stück im ganzen Haus. Zweimal im Jahr wurde sie »groß« aufgeräumt. Kein Mensch durfte ins Zimmer kommen, nur Gustav und Ruth waren zur Hilfe kommandiert. Weil Gustav so schön die einzelnen Päckchen einwickeln und mit Spagat zusammenbinden konnte. Und weil Ruth es lieber tat, als ins Theater gehen. Der dumpfe Lavendelgeruch erweckte in ihr eine müde Erinnerung an Geheimnisse, die sie einmal gekannt hatte, aber nun nie und nimmermehr erfahren durfte.
An einem langweiligen Sonntagnachmittag mit Regentropfen rief die Mutter Gustav und Ruth zum großen Aufräumen. Ruth kam widerwillig, sie hatte sich stumpf geschlafen und eine fade Sattheit klebte in ihren Haaren, die heute gar nicht unternehmungslustig um die Stirne herumstanden, sondern schläfrig nach hinten lagen. Als Mutter die großen Schubladen aufzog, mit ihren zu hastigen, etwas blinden Bewegungen, bekam Ruth einen dumpfen Druck in den Kopf von starkem Lavendelgeruch und wie im Zorn sagte sie: – Alt. Gustav sah verwundert auf. Er hatte die Hemdsärmeln aufgestreift und seine kleine, gedrungene Gestalt, die gerne dick sein wollte, aber nie dazu kam, weil er ja immer hungerte, war auf dem Sprung, Mutters Wünsche zu erfüllen. Er knüpfte alle die braunen, grauen, gelben, weißen Päckchen auf und schichtete ihren Inhalt sorgfältig auf dem Boden hin. Ruth rührte sich nicht und sagte plötzlich zu Mutter: – Ich möchte Seidenpapier kaufen, weißes und einfarbige Bänder. Nicht so in irgend ein Papier und Spagat. – Was fällt dir ein, das wäre viel zu teuer. –
Ruth verstand das nicht. Sie legte sich auf einen Teppich und wühlte wie sonst in alten Photographien hochschöpfiger Damen und befrackter Herren mit Zylindern. In Wickelkindbildern, wo alle immer in der gleichen Weise auf dem Bauche liegen. Es langweilte sie.
Gustav pfiff. Er pfiff wunderschön.
Ruth durchstöberte Briefe, die wie gestochen aussahen auf vergilbtem Papier. Sie suchte etwas. Sie suchte etwas, um aus der gräßlichen Leere des Sonntagnachmittags herauszukommen. Und weil es doch ganz und gar unmöglich war, daß die geliebte, geheimnisvolle Kommode nichts anderes barg als dieses öde Zeug. Nein, bestimmt nicht. Nicht einmal die Schäferinnenspieluhr kam ihr sehenswert vor oder das Stammbuch der Urgroßmutter.
Mutter zeigte ihnen einen Liebesbrief, den sie bekommen hatte, als sie sechzehn Jahre alt war. Es war der Brief eines überspannten Gymnasiasten und schloß mit Selbstmordgedanken. Mutter war sehr stolz darauf. Aber Ruth fand ihn so überflüssig aufzuheben, wie Großvaters Brautbriefe an Großmutter. Sie wurde zornig. Und sie bekam Angst.
Denn da war noch mehr in dieser Kommode. Mutter log. Sie, Ruth, wußte es. Da drinnen lag ein zerbrochenes Schicksal, ein Ruin, ein Kampf gegen den Irrsinn. Mit dunklen Blicken sah Ruth auf den grauen Scheitel der Mutter, wie sie eben vor ihr kniete. Sie fühlte ein kaltes, entsetzliches Alter in ihren jungen Händen, das alles wußte, das man nicht mehr täuschen konnte. Und ihr Mund war greisenhaft erbittert.
Mutter staubte soeben eine graue Pappschachtel ab, die mit einem goldenen Bändchen zusammengebunden war, als das Dienstmädchen sie rief. – Das laß stehen, sagte sie zu Ruth und ging hinaus. Ruth warf sich auf die Schachtel. Gustav kehrte ihr den Rücken zu. Sie streifte das Band los, schob den Deckel weg, seine Schrift – und der große Schnörkel bei »Liebe«. Eine dunkle Tür tat sich auf. Sie bekam einen brennenden Schlag auf die Hand. Und da wurde es licht, schreiend licht, grell, schmerzhaft …
Mutter schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte. Und nahm die Briefe und ging hinaus, wutentstellt. –
Onkel Gustav, sagte Ruth ruhig und ernst und totenblaß. Von wem waren diese Briefe?
Gustav zitterte am ganzen Leib: – Warum machst du solche Sachen, wenn Mutter es verbietet. Von wem die Briefe sind. Ich weiß es wirklich nicht, wirklich nicht.
– Onkel Gustav, wiederholte Ruth und trat ganz nahe zu ihm hin. Du weißt das alles. Aber wenn du es nicht sagen willst, wenn du dich nicht traust, so werde ich es sagen: in diesen Menschen war Mutter verliebt.
Ihre Stimme klang wie höhnende Beleidigung in dem dämmernden Zimmer. Die Worte fielen abgehackt in das Dunkle, und Mutters Rechenbücher lagen auf dem Schreibtisch im hintersten Winkel.
– Danach habe ich dich nicht fragen wollen. Aber eines mußt du mir sagen, wann war es, du? – und sie kniete neben ihm und krallte die Finger ein in seinen willenlosen Arm – wann? war ich damals schon groß, wie alt, ein kleines Kind? sag, du mußt!
– Du warst ganz klein, eben zur Welt gekommen.
Ruth sah vor sich einen Horizont, der in gerader Richtung in die Höhe steigt. Wo es nicht rechts gibt, nicht links, nur das Oben. Und das Oben, der Blick, das Band, das glatte, weiche Band.
– Weiter, sagte sie hart – und früher?
– Er sagte dein Schicksal voraus aus den Sternen, erzählte Gustav, der ins Schwätzen kam, – als Mutter dich erwartete. Deshalb ist er auch so viel zu euch gekommen.
Ruth empfand in sich eine graue, steinschwere Halle, die sich selbst erdrücken wollte und nur getragen wurde durch ihre entsetzliche, hohe Leere. Wo verschnörkelte Stühle an den Wänden standen, ganz vereinzelt und wo etwas von ihr war, ein Hauch, ehe sie selbst noch war, und wo er war, voll und ganz, nur daß man ihn nicht sehen konnte. Diese Halle, die sie aus den frühen, angstvollen Dämmerstunden kannte.
– Wann ging er weg, fragte sie kurz. – Bald darauf. Er nahm ein Teil von der Erfindung deines Vaters und verwendete sie für seine Zwecke. Er hat viel damit erreicht. Aber natürlich wollte ihn dein Vater nicht mehr sehen. Er ist übrigens von selbst nicht gekommen und –
– Schweig, unterbrach sie ihn. Sie fühlte sich umgeben von lauter schwarzen, weichen Bändern und Spagatschnüren, die alle ineinander übergingen. Fesseln, Fesseln.
Und aus ungeheurer Tiefe heraus quillt dunkel empor eine formlose Masse. Die sie nicht modeln darf.
Sie ist machtlos.
– Ruth, bat Gustav erschrocken, wenn Mutter davon erfährt. Nein, das tust du mir nicht an. Nicht wahr, gewiß nicht. Überdies, das was du von verliebt sagst, ist natürlich dummes Zeug. Mutter war sehr gekränkt. Er war doch ein Freund von ihr. Auch von deinem Vater. Und er war jünger als sie. Und überhaupt, deine Mutter war nie verliebt, überhaupt nicht. Wie du nur so etwas sagen kannst. Du bist wirklich ein Fratz –
– Und du ein Esel. – Glühende Zornestränen standen in ihren Augen.
Sie trat an das Fenster. Unten wurden die ersten Gaslaternen angezündet. Sie stöhnte: was kann ich Mutter geben, was kann ich ihr schenken, alles schenken, meiner lieben, armen Mutter, Mutter, Mutter –
Zum Abendessen kam Mutter mit verweinten Augen. Ruths Hände wurden eiskalt. Und eine harte Wut überkam sie. Sie haßte alle Weinenden. Nie konnte Mutter ihr das zeigen. Nein, pfui, das war eine Schande, nein.
– Was hast du Mutter wieder geärgert, zankte Richard über den Tisch hinüber.
– O nichts, erwiderte sie achselzuckend. Wenn Mama so empfindlich ist – ich kann nichts dafür.
Sie ging in den nächsten Tagen, in den nächsten Monaten an ihrer Mutter vorbei, ohne sie zu sehen. Aber in den Nächten erlebte sie alle ihre Schmerzen hundertfach wieder. Sie vergaß die eigene Sehnsucht vor der Sehnsucht, an der Mutter litt, die eigenen Qualen vor Mutters Qualen und ihren großen Zorn vor Mutters unsäglichem Schmerz, der ja so nicht zum Ausdenken furchtbar sein mußte, weil er nicht wagte sich zu erkennen, sich einzugestehen, weil Mutter täglich über den Rechenbüchern saß und die Liebe zu ihren Kindern für ihren einzig würdigen Lebenstrieb erklärte. Und der doch so an der Oberfläche war, daß Mutter es sie sehen ließ, als sie weinte. Nein, deshalb mußte sie Mutter bei Tag ausweichen. Und wieder in die kleinen Vorstadtgärten fliehen.
Zuhause aber wurde sie unerträglich.
Als Mutter einmal einem Gast bei Tisch eine glänzende Schilderung Großvaters gab, der ein Kavalier war vom Scheitel bis zur Sohle, nur von Geld habe er freilich wenig verstanden, warf Ruth ein: – er muß ein roher, betrunkener Mensch gewesen sein. Daß er seine Bedienten geprügelt hat, finde ich ekelhaft und ich ärgere mich noch heute darüber, daß er das ganze Vermögen verspielt hat. Es ist doch gräßlich unintelligent, wenn einem fremde Pferde mehr wert sind als die eigenen Kinder.
Und Ruth sagte, wenn Mutter Hexenglauben und Wahrsagerwesen als Schwindel und Unsinn verdammte: – Ich glaube bestimmt an alles Übernatürliche – obwohl sie überhaupt nichts glaubte und ihr Leben nahm, wie der Tag es hinstreute, mit einem Grauen, das zu tief war, um über sich selber nachzudenken.
Und Ruth sagte: – Ich gehe in die Kirche, nicht weil ich muß, sondern damit die Leute sehen, daß wir auch Christen sind. – Dabei ging sie überhaupt nie zur Kirche.
In diesen Tagen konnte sie nichts essen als altes Brot und harte, unzerbeißbare Dinge, an denen sie sich die Kiefer wund riß. Ein fortwährendes Übelsein drückte ihr den Magen leer. Und die große Bosheit, die in ihr war, würgte die Kehle, zerfraß die Haut und zehrte an den braunen Kinderhänden.
Sie wußte nicht, ob diese Bosheit etwas ihr eigenes war. Oder ob sie sie mitgebracht hatte aus dem Zimmer mit der braunen Holztür. Oder ob es die Bosheit des Schicksals war, das sie zwang, Sprachrohr zu sein für ein unterdrücktes Leben, unterdrückte Sehnsucht und unterdrückte Kraft. Nur Sprachrohr, oder war noch etwas in ihr, das ihr die Augen offen hielt mit großen, weichen, weißen Händen. Daß sie nicht einmal blinzeln konnte und nur die heißen Tränen brennen fühlte.
Sie ließ von dem müden Druck der Spätsommernächte den Kopf in ihr kleines Kissen pressen. Und sie bohrte das Gesicht hinein, um nicht denken zu müssen. Sie sehnte sich maßlos nach einer Bonne, die sie als dreijähriges Kind gepflegt hatte und täglich vor dem Einschlafen an ihrem Bett gesessen war. Wenn die wieder hier sein könnte, wäre alles besser. Sie wußte nicht mehr, wie das Mädchen ausgesehen hatte, aber sie erinnerte sich an eine kühle, behutsame Hand und weiße Mullgardinen vor dem Fenster.
Wenn sie aber Mutters Stimme aus dem Nebenzimmer hörte, sagte sie halblaut in das heißgehauchte Kissen hinein: er ist ein Schuft – ich liebe ihn – er hat Vater bestohlen – ich liebe ihn – er hat uns gemordet – ich liebe ihn – er hat unsere Zimmer trüb und drückend gemacht und unser Leben mißtrauisch und eng – ich liebe ihn – er sucht das Böse, weil das Licht ihn verlassen hat – ich liebe ihn – ich habe ihn immer geliebt – ich liebe –
So das Sprachrohr. Und unter dem Bett lag, staubdick geschichtet, wehrlose Wut.