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Geld

Mutter war nicht zum Glück geboren. Aber sie hätte eine entthronte Königin werden müssen. Und in Schmerz und Größe schwelgen. So war sie kleinlich und mißtrauisch, zankte mit der Köchin um jeden Heller. Und wurde dann bestohlen, wie überhaupt von allen Leuten des unteren Standes. Weil ihre Stimme so befehlend schroff war, daß sie sie für mächtig, Ehrerbietung fordernd und hassenswert hielten.

Auch Ruth hielt Mutter für mächtig, für allmächtig. Sie stand himmelhoch über den Dienstboten und Bonnen. Sie besaß die Schlüssel zum Wäschekasten, zu jener blendenden Fülle weichen, weißen Leinens, die zu sehen allein schon schläfrig macht wie ein zu heißes Bad. Sie besaß jeden Silberlöffel, jede Schüssel, jedes Glas Milch so intensiv und eigentumsdurchsättigt wie fanatische Sammler ihre Kunstschätze. Und war daher reich in einer Dürftigkeit, die sie selber am schmerzlichsten empfand.

Ruth fuhr einmal als kleines Kind mit ihrer Schwester und einer Bonne in einem Eisenbahnkupee. Es war eine Sommerfrischenreise. Da sagte Martha mit ihrer überlegenen Stimme: – Nein, wissen Sie, in dieses Hotel können wir nicht gehen, da sind lauter reiche Leute. – Ein ungeheures Erstaunen hinderte Ruth damals am Fragen. So waren sie nicht reich? Aber wieso, sie hungerten doch nicht? Und Mutter trug schwarze Seidenkleider; was das nur heißen sollte? Sie glaubte, mißverstanden zu haben.

Auch als sie schon erwachsen war, liebte sie einen Radiergummi mehr als ihre goldene Uhr, konnte sie Festtagskleider nicht leiden und verlor immer ihr Taschengeld.

Geld war und blieb ihr etwas unbedingt Schmutziges. Etwas, das schon durch tausend häßliche Hände gegangen war, über Wirtshausfußböden rollte. Mutter besaß es in ungezählten Mengen. Es war nur ein Prinzip, daß sie damit knauserte. Aber Martha war geizig und das war viel schlimmer. Nur Richard war nobel. Er lächelte immer verächtlich, wenn man von Geld sprach.

Ruth hatte kein Gefühl für Zahlenverhältnisse. Den Unterschied zwischen hundert, tausend, hunderttausend begriff sie so wenig, wie ein Unmusikalischer die Differenzen in der Tonreihe. Das war ein Erbe von Mutter. Nur daß diese es sich niemals zugeben wollte und um wenige Heller trauerte, während sie Tausende verschleuderte.

Aber Ruth schenkte mit Leidenschaft. Nicht aus Güte oder um anderen eine Freude zu machen. Einen Gegenstand verschenken, heißt, ihn ganz von sich losreißen, sich auf ewig von ihm trennen, ihn ins Ungewisse schicken. Und das war herrlich, war Abenteuer, Tat und Befreiung. Sie gab ihre liebste Bluse plötzlich dem Stubenmädchen, und wenn eine Freundin auf Besuch kam, war nichts im Zimmer, auch das am liebsten gehegte, sicher vor plötzlichem Ausgestoßenwerden.

– Es ist schade, daß man in unserer Religion keine richtigen Opfer mehr bringt, sagte sie einmal.

Jedes Kleid, jedes Buch, jeder Sessel ihres Zimmers waren ihr persönlich eigen. Aber nicht im selben Sinn wie der Mutter, die alles an sich riß. Sie gab sich den Dingen hin und füllte sie so voll mit ihren dämmernden Gedanken, daß ihre Umgebung manchmal vernebelt wurde, übersättigt vom eigenen Selbst. Und sie mußte plötzlich auf die Straße laufen, stöhnend vor Sehnsucht nach dem ganz Fremden.

Dieses Selbst in allen Dingen verschleuderte sie mit wollüstiger Freude und Grauen. Sie war immer unbeschreiblich reich dabei. Wenn etwas sie in Grenzen hielt, war es die Dankbarkeit der Beschenkten. Sie schämte sich darüber. Danken war sich erniedrigen. Und ein heißer Zorn wühlte in ihr, wenn alle anderen nicht größer waren als sie. Sie wollte das Kleinste sein, denn sie suchte das Oben. Wie sagte doch Onkel Gustav zu seinem Freunde: – sehr kindisch – und sehr unreif – eigentlich viel zu unreif für ihr Alter.

Ruth bewunderte alle Menschen, die stehlen konnten. Jemandem eine Münze aus der Geldbörse zu nehmen, war für sie ein Wagnis, ein Heldenstück, das ihr immer unmöglich sein würde. Ein Eingriff in fremdes Reich, ein Festnehmen von feindlichen Objekten – schwieriger, als einen nassen Salamander in der Hand zu halten.

Ruth verbrachte den ganzen Sommer in den engbrüstigen Vorstadtgärten, zwischen Ladenschwengeln, Proletarierfrauen und klebrigen Kindern. Man konnte dieses Jahr keine Sommerfrische aufsuchen. Mutter war im Winter krank gewesen und mußte im Frühling eine Reise machen. So war nicht genug Geld da, noch einmal fortzufahren.

Als Ruth zum ersten Mal davon reden hörte, daß sie heuer nicht wegfahren müsse, hatte sie laut aufgejubelt. Aber Mutter weinte eine halbe Woche.

Von Ruth war ein Alpdruck weggefallen. Wie eine drohende Gefahr, unaufhaltsam näher rückend, empfand sie den ganzen Winter durch: Es kommt ein Tag, da muß ich fort. Man zwingt mich dazu. Fort. Man reißt mich aus meinem Zimmer. Meine Gedanken stecken noch in den Stuhlbeinen, auf der Hauptstraße liegt etwas ganz Besonderes von mir, ich muß alle Tage vorübergehen, meine Adern sind verwoben mit dem Himmel über unserem Dach und dann soll ich fort. Und sie haben die Macht, mich zu zwingen. Nein, ich liebe mein Zimmer nicht, es ist mir zu eng, zu sehr mit mir verwachsen. Aber fortmüssen und drei Monate in einem ganz fremden Raum sein, wo vielleicht ein pensionierter General gewohnt hat oder eine schmutzige Frau. Und sie haben die Macht, mich zu zwingen.

Sie wußte nicht, daß jeder Mensch mit seiner täglichen Umgebung organisch verbunden ist. Daß ein Weiterrücken im Raum auch ein Weiterrücken im Leben sein muß. Und doch stöhnte sie unter dem Zwang.

Von dem Fenster seines Zimmers hatte sie einen weiten, hohen Himmel gesehen. Mit verschwommenen Kirchtürmen. Das war ihr Horizont, ihre Ferne, ihr Land gewesen.

 

Und nun saß sie in den staubgeschwängerten Vorstadtgärten. Ihre müden Blicke wuschen den Ruß von den welkenden Blättern. Sie dachte an einen Wald, eine grünsatte, schwelgende Fülle. Die schlank hinansteigt in abendhelles Blau. Und sie mußte hier sein.

Ihre Strümpfe waren grau vom Staub, ihre Schuhe alt und faltig. Neben ihr auf der Bank erzählte ein Dienstmädchen einem anderen, sie habe fünfzig Kronen Lohn monatlich. Wenn sie aber mehr bekäme – sie roch nach Schweiß.

Im Sand lag ein vertretener Kupferkreuzer. Zwischen Kinderschaufeln und Blechkübeln. Und es rollte ein ferner Donner.

Ruth ekelte der Kreuzer. Sie dachte an eine durchlöcherte Hosentasche. Aber sie konnte nicht wegsehen. Sie starrte auf den Kreuzer, bis sie ihn doppelt sah und dann dreifach und dann vierfach und dann immer mehr, immer mehr …

Eine einzige ineinander rollende Masse. Schmutzig kupfergelb. Schmeckt wie geschmolzenes Metall.

Ruths Schuh hatte einen Riß, quer mitten durch. Er sah wohl aus wie eine Falte. Aber es war ein Riß. Quer mitten durch.

Sie stand auf und ging durch die Straßen, wo die größten, üppigsten Geschäfte waren. Schon wurden die Lichter angezündet. Gierig aufflackernde, rote kleine Scheinwerfer.

Ruth dachte: Über meinen Schuh geht ein Riß – keine Falte – über meine Hand geht ein Riß – ist das Schmutz – und über mein Gesicht – vielleicht ist das Blut.

Sie ging hinter einer üppigen, blonden Kokotte. Nachgezogen von ihren wunderbaren, geraden, feinen Absätzen, die nicht einen Millimeter zu hoch oder zu niedrig waren. Eine keuchende Lust überkam sie, das weiche, eng anliegende Leder zu fühlen, zu streicheln, an sich zu locken.

Das Parfüm roch betäubend nach unaufrichtigen Blumen. Ruth dachte: – Es ist abscheulich, aber teuer. Furchtbar teuer. Ungezählte schmierige Kupferkreuzer. Und die lichte Flasche, auf hellrosa Seide gelegt mit der durchsichtigen Flüssigkeit. Ich möchte sie nicht berühren. Aber teuer. Nicht auszudenken teuer. Und ihre Schminke – ich könnte sie niemals darauf küssen – ist auch so teuer, oder noch mehr. Wie ich sie verachte. Aber die gelben Schuhe möchte ich besitzen –

Ein paar große, schwere Regentropfen klatschten auf das schleimige Pflaster. In den Häusern flammten protzig die Lichter auf. Schmiegsame Vorhänge wurden zugezogen.

Die große Blonde ging in ein großes Haus. Über breite Stiegen mit dicken Teppichen. Vornehme Damen kamen ihnen entgegen mit großnetzigen Schleiern vor den Gesichtern.

Sie gingen durch eine große Glastür. Es roch betäubend nach Seife, dickem Parfüm, warmen Haaren. Ein Friseur. Ein schlankes junges Mädchen in vergilbter Seidenbluse, mit zu hellem, großgewelltem Schopf fragte Ruth, was sie wünsche. Ruth antwortete automatisch, was ihre Vorgängerin sagte. Und wie diese wurde sie in eine Zelle geführt, wo ein gelbmarmorner Waschtisch in die Wand eingelassen war.

Eine Welle mattweißen Schaums ging über ihr Gesicht, über ihren Kopf, über die Wurzeln der Haare. Sie empfand den Duft durch die Scheitelknochen dringen, sich in das Hirn einfressen. Ihre Nerven dehnten sich weich und ringförmig. Das junge Mädchen hatte schlanke Hände mit spitzen Fingern, die nicht mehr ganz ihr eigen waren. So sehr schmeckten sie nach tausenderlei weichen Wassern.

Ruth dachte: – Sie ist sicher arm. Aber sie darf den ganzen Tag hier sein und ihre Hände sind schön und unnahbar. Am Abend geht sie nicht nachhause. Wo sie da hingeht –

Die schmutzige Kupfermasse aus dem Sand war gelb geworden und lockte wie verwischtes Gold in der marmornen Waschschüssel.

Sie spricht nicht mit mir – wußte Ruth – weil ich ein verwaschenes altes Kleid trage. Es ist auch zu eng, das merkt sie sicher. Wenn sie erst den Riß über meinem Schuh sähe, oder ist es nur eine Falte? – Ruth schämte sich maßlos.

In der Zelle daneben aber plauderte die große Blonde lustig darauf los mit einem von den anderen jungen Mädchen. Sie schwatzten wie zwei Schulfreundinnen, von denen die eine ein besseres Zeugnis bekommen hat als die andere und sich daher etwas herausnehmen darf – aber sie tut es nicht viel. Die Blonde sprach immer von einem Er – Ruth spürte, daß er ein Monokel trug und manikürte Nägel hatte – und die Blonde kicherte fortwährend. Die kleine Friseurin daneben sagte immer strahlend und bewundernd: – Aber gnädige Frau, und dann sprach man von einem Armband. Ruth sah wieder in der marmorgelben Waschschüssel eine Fülle von Kristallen, in denen sich das Licht brach, so daß die Farbenmenge schwindeln machte. Sie wußte, das gibt es alles, zwei Häuser weit weg, bei dem großen Juwelier. Ich brauche nur hinzugehen. Aber nein, ich habe ja kein Geld – und ein entsetzlicher Schrecken durchfuhr sie, ob sie dem Friseur auch werde zahlen können. Sie dachte sich Unsummen aus, die es kosten müsse, ja müsse, und getraute sich nicht, ihr abgegriffenes Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen. Wie der Mörder auf das Todesurteil, wartete sie auf den Augenblick, in dem sie vor dem glattrasierten Herrn bei der Kassa stehen mußte.

Die Blonde daneben plapperte noch rascher und glückseliger. Ruth dachte in ihrer Herzensangst: Herrgott, ist sie dumm. Wenn ich nur einmal in meinem Leben so hirnverbrannt dumm sein dürfte. Ich könnte mich dann gar nicht so fürchten vor dem geschniegelten Kerl dorten. So dumm sein – das hieße ausruhen.

Sie zahlte den Preis fast weinend vor Aufregung. Drückte in die kühlen Hände des jungen Mädchens ein fürstliches Trinkgeld. Und stürzte davon wie ein ertappter Bettler.

Auf der Treppe griff sie sich unter den Hut. Da war etwas Fremdes. Waren es die kühlen, langen Nadeln, die ihr das Mädchen in den Knoten gesteckt hatte. Waren es ihre eigenen, weichen Haare, die noch warm dufteten. Und sie sehnte sich, das Haar lösen zu können und den Kopf hineinzuwühlen.

Nur nicht nach Hause gehen. Dort lagen Mutters Rechenbücher. Die Lampe über dem Speisezimmertisch hatte einen fahlgrünen Schirm. Nur um Gottes Willen nicht nach Hause. Die Gassen waren alle rot, die Schaufenster waren rot und die Frauen in den großen Straßen hatten rote Wangen. Hier grüßten sich alle, hier kannten sich alle und die Luft war rot und weich.

Zwischen den Pflastersteinen lockte es schmutzig kupfergelb. Aber in den ledernen Handtäschchen der Damen blinkte es silberhell. In den Geschäften lag dick geschichtet lichte Seide, wunderbares, braunrotes Holz, fremde Blütenkelche, zarte Porzellanteller, flaumig weiche Hüte, Diamantarmbänder …

Heute bemerkte Ruth, daß sie langsamer ging als alle andern Leute. Sie fühlte einen Taumel fremder Geschäftigkeit um sich, dem sie nicht gewachsen war. Sie suchte mitzukommen. Sie hatte doch ein Recht darauf. Sie empfand ihre duftenden Haare in einer wilden Glückseligkeit. Sie wollte mitkommen. Ihre Schultern schmerzten vor Müdigkeit. Quer über den einen Schuh lief ein Riß.

Blendend helle Buchstaben zogen sie an: Kino. Sie ging hinein, rasch, sehr rasch, flüchtend vor den zu roten Straßen und verbarg ihre Schuhe unter dem dunklen Sitz.

Neben ihr dampften verschwitzte Kleider, gewürztes Essen, unreine Haare. Das Orchester spielte Richards Lieblingswalzer.

Der Graf kam. Er fuhr in einem Auto, fast erstickt von der Blütenfülle, die er im Arm trug. Er hatte fabelhaft gerade, lange Beine. Und ein glattes Gesicht, zu sehr rasiert. Der Rauch aus seiner Zigarette mußte kostbar sein.

Die Tochter des amerikanischen Milliardärs trug lange Korkzieherlocken und strahlte mit blendend weißen Zähnen. Ihr Körper war schlank und frei wie nach einem lauen, spielenden Bad. Sie kochte den Tee für sich und den Grafen in einem bauchigen Samowar. Dieser Tee war sicher bernsteinklar und duftete durch das Zimmer, das dumpf gemacht war mit weißen Fellen und samtenen Vorhängen.

Ruth liebte die Milliardärstochter. Liebte den Grafen. Schielte mit dumpfer Wut auf das verkrümmte Ladenfräulein neben sich, das an den Nägeln kaute und schnalzte.

Der Freund des Grafen, ebenso glatt, ebenso wohlgebaut. Nur trug er einen Schlapphut. War also ein Künstler.

Das Atelier. Köstliche, großgeblümte Teppiche. Glatter weißer Marmor. Hinter den Riesenfenstern Aussicht bis an das Meer. Sonnenaufgang.

Der Park des Milliardärs in Rom. Eine zitternde, flimmernde, prickelnde Blätterfülle. Kleine, schlanke Zypressen. Sonnenflecken auf der Erde, verstreut wie flache Goldgulden. Puccini. Die Milliardärstochter reitet auf einem Schimmel. Lange Korkzieherlocken, rechts der Graf, links sein Freund. Hinten ein Diener. Der riecht auch nach Parfüm, wie die Blonde heute auf der Gasse.

In der Pause sagte Ruths Nachbarin zu jemand in der hinteren Reihe: – Ja, jetzt hat er halt eine Lungenentzündung. Ich komme gerade aus dem Spital. Was soll man machen? Aber schön ist es, das Stück.

Und Ruth dachte: – Der Mann im Spital hat sicher sein ganzes Leben in einer Kellerwohnung gelebt. Moder und Schweiß. Vielleicht hat er Schuhriemen gemacht für den Grafen. Oder Zaumzeug für seine Pferde. Aber die Milliardärstochter geht nicht in das Kino, wenn der Graf krank ist. Obwohl sie ihn mit seinem Freund betrügt.

Ihr schwindelte. Sie empfand einen Abgrund zwischen sich und der Nachbarin. Zwischen sich und dem Boy, der grinsend Perolin versprengte. Zwischen sich und dem Grafen, der eigentlich genau so aussah, wie der Friseur an der Kasse, nur daß er so gut angezogen war. Und einen Abgrund vor der Milliardärstochter, die genauso strahlende Zähne hatte, wie die große Blonde.

Nichts als Abgründe, Löcher, Klüfte, Leersein und Alleinsein. Es gibt irgendwo ein dunkles Zimmer. Schillernde Phiolen.

Die Musik setzte wieder ein mit jenem Auftakt, der so lange und proletarisch vielversprechend auf den zweiten warten lässt. Nein, nicht mehr.

Sie ging langsam nachhause. Die Gassen waren dunkler geworden, das Licht bleicher. Und zwischen den Pflastersteinen war nicht ein Kupferkreuzer. Nur Schmutz.

Über Ruths linken Schuh lief ein Riß. Es war bestimmt keine Falte, es war ein Riß.

Sie wünschte sich den ganzen Abend: ich möchte Seidenstrümpfe haben, wie die Milliardärstochter und die Blonde. Und weiche, lederne Schuhe. Aber ein anderes Gesicht. Vielleicht mein Gesicht. Oder noch ein anderes.

Zuhause behandelte man sie mit stummer Verachtung. Sie kam nie mehr zurecht zu den Mahlzeiten. Sie ergab sich einem sträflichen Müßiggang, den Richard nicht vergaß, wenigstens einmal des Tages um die Ecke herum zu erwähnen.

Mutter schüttelte trostlos den Kopf und sagte zu Martha: – Es nützt alles nichts. Sie wird ganz wie Gustav, er ist nicht umsonst ihr Onkel. Und Vater war auch so. Wie das alles zu mir kommt?

Ruth wusch sich von nun an zehnmal des Tages die Hände mit fast zu heißem Wasser. Sie trug es heimlich in ihr Zimmer, kannenweise. Niemand durfte davon wissen, o Gott nein, es war etwas Unrechtes, das sie damit tat, etwas wie stehlen. Denn wenn sie die Hände ganz tief in die Waschschüssel steckte und das heiße Wasser durch alle Poren in sich hineinströmen ließ, schlossen sich ihre Augen und sie fühlte sich über Marmorstufen in ein tiefes, warmes Bad hinuntersteigen.

Sie mißhandelte ihr Zimmer. Es war häßlich. Alte, verschnörkelte Möbel. Ein Teppich, der nicht mehr rein zu bekommen war. Der Lampenschirm aus zerschlissener Seide. Sie stülpte ihn verkehrt auf den Boden, rückte den Tisch schief in eine Ecke. – Schämst du dich nicht, wie dein Zimmer aussieht, sagte Mutter.

Sie stand vom Tisch auf, weil Agnes mit einem verbundenen Finger servierte.

Sie wollte nicht mit Mutter auf die Straße gehen, weil Mutters Mantel schon sechs Jahre alt war.

Sie warf Marthas mit farbiger Seide gestopfte Handschuhe in den Herd.

Und sie schenkte Agnes ihre neuesten Schuhe.

Es war alles gleichgültig, alles eins. Je mehr zugrunde ging, desto besser. Wozu die Heller sparen, wenn man Tausende braucht. Dann war man armselig und fast lächerlich, wie Mutter. Aber sie, Ruth, wollte lieber ganz elend sein, betteln gehen.

Die Welt lag hinter der harteckigen Wohnung. Auf den langen, gierigen Schienen rollten die Lokomotiven. Schleppten hinten in den Waggons glückliche Menschen in dunklen, einfachen Kleidern, deren Schnitt allein ein Vermögen kostete. Die legten ihre wunderbaren Schuhe auf samtene Kissen. Und dann saßen sie in hochwandigen Speisesälen und sahen hinaus über ungemessene Entfernungen.

Geld haben heißt weiterkommen. Weiterrücken im Raum. Und das heißt, weiterrücken im Leben. Und sie steckte in ihrer Wohnung, eingekeilt zwischen Mutter, Martha, Richard und jetzt auch Norbert. Denn Norbert war sehr viel da. Mutter liebte ihn.

Einmal ging sie Martha ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Norbert erbot sich, sie zu begleiten. Sie war unordentlich angezogen, in alten Kleidern, die ihr schlecht saßen. Sie ging durch die elegantesten Straßen. Vielleicht eben deshalb. Und weil Norbert dabei war.

Sie traten in eine der ersten Parfümerien. – Hier wollen Sie etwas kaufen? fragte Norbert ganz erschrocken. – Ja, warum nicht?

Sie wählte ein halbes Dutzend der kostbarsten Seifen. Es überstieg weit den schmächtigen Inhalt ihres Portemonnaies. – Ich habe mein Geld vergessen, können Sie für mich zahlen? Norbert zahlte aus seiner biederen Geldbörse.

Auf der Straße sagte sie, totenbleich vor Erregung, heiser: – Wissen Sie, was ich da in meiner Tasche habe? Noch eine Seife, hellviolett, ich habe sie aus dem Korb gestohlen.

– Um Gottes Willen, aber das ist doch nicht Ihr Ernst.

– Doch, sehen Sie, hier. Ist sie nicht wunderbar. Und so weich. Die behalte ich mir, die gehört mir, mir ganz allein. – Fräulein Ruth, nein, das ist nicht möglich, nein, kommen Sie, gehen wir zurück, gehen wir. – Gewiß nicht, ich glaube gar, Sie fürchten sich, mit mir zu gehen? Bitte. – Nein, aber Ruth, so etwas dürfen Sie doch nicht tun, Herrgott, das ist ja furchtbar. – Ach, lachte Ruth, das mache ich immer – und fast schämte sie sich, so zu lügen. Sie hielt die Seife krampfhaft fest mit der Hand umschlossen, daß die Schulter schmerzte. Und war stolz darauf. Ein gieriges Habenmüssen preßte ihr die Zähne zusammen.

Sie gingen durch trübe, nachmittagsstille Gassen, die sonnenlos waren und arbeitsgewohnt. Norbert sah die ganze Zeit zu Boden und war dunkelrot. Dann stotterte er: – Wenn Sie die Seife haben wollen und haben müssen, Ruth, und Sie haben vielleicht kein Geld mehr – Sie lachte grell und höhnisch: – Nein, wie Sie um meine Seele besorgt sind.

Und dachte: Du kleinseliger Krämer du, du ahnungsloser. – Lassen Sie das, Norbert, – fuhr sie fort, – es steht nicht dafür. Es nützt doch nichts. Ich habe es vom Großvater. Der hat auch alle seine Pferde verspielt. Mutter sagt immer, mit mir nimmt es ein schlechtes Ende. Wenn ich dann ganz heruntergekommen bin und so bettelarm, daß ich einen grauen Lappen um den Kopf binden muß, wenn es schneit, wenn ich dann so ganz richtig elend bin, komm' ich zu Ihnen. Sie geben mir dann etwas aus Ihrer Börse, nicht wahr? – Ich werde Ihnen immer alles geben, Fräulein Ruth, aber Sie sollen nicht so sprechen. – Vielleicht komme ich auch ins Kriminal, wer kann es wissen. Aber Norbert, eines, können Sie sich vorstellen, daß man etwas haben muß, so unbedingt haben muß, daß man einem andern auch Böses tut, ihn umbringt, für Geld umbringt? Können Sie sich das vorstellen, o, so sagen Sie doch. – Ruth, Sie sind krank. – Warum denn? Sowas steht doch alle Tage in der Zeitung und die Leute sind gar nicht alle krank.

Nach einer Weile sagte er noch einmal bestimmt und ohne sie anzusehen: – Wir tragen die Seife jetzt zurück. Wenn Sie das Geld nicht nehmen wollen. Es war ein Irrtum.

Ruth warf die Seife einem verkrüppelten Bettler, der an der Mauer lehnte, in den Hut und sprach im Vorübergehen: – Er soll sich auch einmal mit etwas Gutem waschen können. Und sie sah Norbert nicht mehr an und gab ihm nicht die Hand zum Abschied.

In den nächsten Tagen aber trauerte sie um das Stück Seife, wie um ein Stück verlorene Seligkeit. Sie haßte Norbert. Einmal hatte sie es gewagt und er hatte alles verdorben. Und warum – weil er dumm war, grenzenlos dumm. Sie holte lauter Detektivromane aus der Leihbibliothek und verschlang sie.

Sie versuchte Geld zu nehmen aus der Lade der Köchin. Aber es war wieder ganz unmöglich.

Sie fühlte sich umgeben von einer erstickenden Masse schmutzig gelben Metalls. Das nach Schweiß stank und den Duft exotischer Blüten in sich trug und ein Rauschen von seidenen Röcken.

Marthas Kasten war immer doppelt versperrt. Sie trug die Schlüssel mit sich in einem uralten Handtäschchen. Ruth verachtete sie deshalb. Denn was war schon in dem Kasten, wenn man ihn aufbrechen wollte? Wäsche mit gehäkelten Spitzen und ein paar ziemlich abgelegene Liebesbriefe. Eine Nagelschere und ein Nähkästchen und vielleicht noch eine Photographie. Nein, davon hätte Ruth nichts haben wollen.

Und von Richards Sachen erst recht nicht. Die waren alle abgebürstet und ordnungsgemäß aufgestellt. Numeriert. Vom ersten Schulzeugnis an bis zur letzten Tagebuchseite. Denn Richard führte ein Tagebuch. Das war sehr genau. Es standen alle Einnahmen und Ausgaben darinnen.

Mutters Besitztümer aber steckten in vierfach verbundenen Papiersäckchen und rochen nach Lavendel.

Ruth wollte und mußte etwas haben. Etwas Außergewöhnliches, etwas unsagbar Schönes, etwas Wunderbares, etwas noch nie Dagewesenes, wenigstens noch nicht in ihren düsteren Zimmern.

Als sie ihr nächstes Taschengeld bekam, ging sie durch die ganze Stadt, es zu suchen. Als es schon Abend war, fand sie in einer Auslage einen Korb voll tiefroter Rosen. Festgeschlossen hingen sie schwer in den schlanken, wiegenden Stengeln. Und die wenigen Blätter, die schon offen waren, waren weich und dunkel in ihrem Innern, daß sie Ruths Kopf zur Seite senken ließen und die Augen schließen.

Sie kaufte sechs von den schönsten, strich mit den Händen über die heißen, großen Stacheln und ging mit federnden Schritten nach Hause.

Im Speisezimmer stand Richard unter der fahlgrünen Lampe und hielt eine Rechnung in den Händen. Mutter lief erregt um den Tisch, und Martha stellte verdrossen die Gläser auf.

– Was ist das, Ruth, fragte Richard – eine Rechnung für vier paar Lederhandschuhe? Er war ganz ruhig, zog nur die Augenbrauen ungeheuer verwundert in die Höhe. Aber seine Stimme war häßlich vor Zorn.

Mutter rang die Hände.

– Ich weiß nicht, sagte Ruth atemlos. – Du weißt nicht und was hast Du da? Was sind das für Rosen, Ruth? Du bist wohl verrückt. Du weißt nicht, was du tust. Wie treibst du dich denn herum?

– Laß die Rosen, sie gehören mir.

– Dir, dir gehören sie? Ja, was gehört denn überhaupt Dir? Du stiehlst. Du stiehlst Mutter das Geld aus der Tasche. Sollen die Handschuhe vielleicht Dir gehören? Und diese Rosen? –

Ruth dachte: Er nimmt mir alles. Alles. Aber er hat eine wohlgefüllte Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, silberweiß, blaue Scheine. Nur die Rosen soll er nicht nehmen, die Rosen nicht. Wenn er wirklich danach greift –

Sie war umgeben von einer schwarzen, kochenden Masse. Und erstickt griff sie nach dem Brotmesser auf dem Tisch und schleuderte es –

Ein Kreischen, ein Stoßen –

Sie war allein in ihrem Zimmer.

Von der Straßenlaterne strömte weißgelbes Licht herein. Aber der Zorn tanzte noch in kochend schwarzen Klumpen um sie herum, würgte die Kehle, machte ihre Hände gierig.

Sie fuhr hinein in die blassen Fensterscheiben. Mitten durch.

Aus ihrer Handfläche quoll es langsam heraus, dunkelrot. Sie war ganz ruhig.

Aus immer mehr Stellen heraus, immer mehr. Das Blut fiel zu Boden, langsam, in dicken Tropfen.

Und ihre Augen wurden satt.

Da waren irgendwo heiße, durstende Glieder, die sich zur Ruhe strecken konnten. Und ausgekühlte Marmorbäder. Und verlöschte, grellrote Lichter.

Zu ihren Füßen lagen viele Münzen. Kupferne, silberne, goldene. Die rollten nicht mehr durcheinander. Die lagen ganz kalt, eine über der anderen.

Und das Blut fiel zu Boden, langsam, in dicken Tropfen. Und das Geld fraß das Blut.


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