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Ursula hatte noch zwei Klassen auf der Schule durchzumachen. Sie arbeitete jetzt auf ihre Reifeprüfung hin. Es war eine traurig-trockene Arbeit, denn mit ihrem Verstande war es nicht weit her, sowie sie sich in ihrer Umgebung nicht glücklich fühlte. Hartnäckigkeit und das Bewußtsein eines unentrinnbaren Geschickes hielten sie mit halbem Herzen daran festgenagelt. Sie wußte, bald würde sie ein Menschenkind mit eigener Verantwortlichkeit darstellen, und ihre ganze Furcht war, man möchte sie hieran hindern wollen. Ein alles umfassender Drang nach völliger Unabhängigkeit, vollkommener, gesellschaftlicher Unabhängigkeit, gänzlicher Unabhängigkeit von jeder persönlichen Bevormundung ließ sie zäh an ihren Arbeiten festhalten. Denn sie wußte, um welchen Preis sie sich schließlich immer loskaufen könne – um ihre Weiblichkeit. Sie blieb immer ein Weib, und was ihr unerreichbar blieb als menschlichem Wesen, als Mitglied der übrigen Menschheit, das würde sie erreichen können, weil sie ein Weib war, weil sie anders geartet war als der Mann. In ihrer Weiblichkeit fühlte sie geheime Reichtümer liegen, einen Rückhalt; sie besaß in ihr stets den Preis für ihre Freiheit.
Hinsichtlich der Verwendung dieses letzten Hilfsmittels hielt sie sich indessen genügend zurück. Alle anderen mußten erst versucht werden. Da lag die geheime Welt des Mannes vor ihr, sich darin zu versuchen, die Welt täglicher Arbeit, täglicher Pflicht, ein Dasein als Mitarbeiter am Gemeinwesen. Gegen dieses empfand sie geheime Abneigung. Sie wollte sich ihren Anteil an der Welt des Mannes erobern.
So plagte sie sich langsam weiter mit ihrer Arbeit und gab sie nicht auf. Einzelne Fächer hatte sie ganz gern. Ihre Hauptgegenstände waren Englisch, Latein, Französisch, Mathematik und Geschichte. Sobald sie lateinisch und französisch lesen konnte, wurde ihr die Satzlehre langweilig. Am langweiligsten wurde ihr bei genauerer Arbeit das englische Schrifttum. Wozu sich an alles erinnern, was man gelesen hatte? Eine Seite der Mathematik bezauberte sie, ihre kalte Unbedingtheit nämlich, aber ihre Anwendung auf das Leben war ihr langweilig. In der Geschichte gaben ihr ein paar Leute ordentliche Rätsel aus und verursachten ihr langes Nachdenken, aber die politische Seite machte sie ärgerlich, und alle Minister haßte sie. Nur bei ganz seltenen Gelegenheiten hatte sie das Gefühl einer wirklichen Errungenschaft oder einer Bereicherung, einer Erweiterung ihres Wissens; so an einem Nachmittag, als sie »Wie es euch gefällt« las; oder als sie einmal mit heißem Blute einen lateinischen Satz hörte und nun wußte, wie das Blut durch den Körper der alten Römer pulste; so daß ihr von da an stets so war, als kenne sie die Römer durch körperliche Fühlungnahme. Einzelne Seitensprünge der englischen Sprachlehre liebte sie, weil es ihr Vergnügen machte, die lebendigen Bewegungen von Worten oder Sätzen herauszufinden; und in der Mathematik hatte der bloße Anblick der Buchstaben in der Algebra schon etwas Anziehendes für sie.
Sie empfand um diese Zeit so viel und doch so verworren, daß ihr Gesicht einen sonderbar verwunderten, halb erschreckten Ausdruck annahm, als wäre sie sich nicht sicher, daß nicht im nächsten Augenblick irgend etwas aus dem Unbekannten hervor sie packen würde.
Ganz merkwürdige Kleinigkeiten, die sie lernte, rührten bodenlose Leidenschaften in ihr auf. Als sie erfuhr, daß in den kleinen braunen Herbstknospen bereits winzig und doch vollkommen die Blüten des noch neun Monate entfernten Sommers zusammengefaltet lägen, da überflog sie ein Gefühl siegreicher Liebe.
»Nie könnte ich sterben, solange es noch einen Baum gäbe«, sagte sie leidenschaftlich, gedankenvoll, während sie voller Verehrung vor einer gewaltigen Esche stand.
Die Menschen waren es, die für sie aus irgendeinem Grunde eine wandelnde Drohung bildeten. Ihr Leben um diese Zeit war unausgeglichen, zitternd, ihr Wesen schrak vor jeder Berührung zurück. Wohl gab sie andern etwas, aber sie war nie sie selbst, weil sie eben kein eigenes Ich besaß. Vor Bäumen und Vögeln und dem Himmel schämte sie sich nicht. Aber vor Menschen schrak sie heftig zurück, voller Scham anders zu sein als sie, nicht so bestimmt, so nachdrücklich, sondern nur eine schwankende, unbestimmte Empfindsamkeit ohne Gestalt oder Wesenheit.
Gudrun war zu dieser Zeit ihr größter Trost, ihr Schild. Das jüngere Mädchen war ein geschmeidiges, wildes Tierchen, das jedem Annäherungsversuch mißtraute und von den üblichen kleinen Geheimnissen und Eifersüchteleien ihrer Schulmädchenfreundschaften nichts wissen wollte. Sie wollte auch keinerlei Verkehr mit den Sittsamen unter ihren Schulgenossinnen, ob sie nett waren oder nicht; sie hielt sie doch nur für wilde Katzen mit einer häßlichen, nicht vertrauenswürdigen, nur angewöhnten Zahmheit.
Das war für Ursula ein starker Rückhalt, die Todesqualen bei dem Gedanken leiden konnte, jemand anders möchte sie nicht leiden, ganz einerlei wie tief sie auch diesen anderen verachtete. Wie konnte jemand sie, Ursula Brangwen, nicht leiden mögen? Diese Frage erschreckte sie, und sie fand keine Antwort darauf. So suchte sie Zuflucht in Gudruns natürlicher, stolzer Gleichgültigkeit.
Sie hatte herausgefunden, daß Gudrun Anlagen zum Zeichnen besaß. Das brachte nun auch die Frage der Gleichgültigkeit des Mädchens gegen alles Lernen zu einer Lösung. Es hieß von ihr, »sie zeichnet ganz wunderbar«.
Plötzlich fand Ursula das Vorhandensein einer merkwürdigen Übereinstimmung zwischen ihr und ihrer Klassenlehrerin Miß Inger heraus. Diese war ein wirklich schönes Mädchen von achtundzwanzig Jahren, allem Anschein nach das furchtlose, helle Urbild des neuzeitlichen Mädchens, dessen Unabhängigkeit indes allein schon ihre inneren Nöte genügend verrät. Sie war klug, sicher in allem, was sie tat, genau, rasch, befehlshaberisch.
Ursula hatte sie schon immer durch ihre klare, entschlossene und doch anmutige Erscheinung viel Vergnügen verursacht. Sie hielt den Kopf hoch, immer ein wenig in den Nacken geworfen, und Ursula fand in der Art, wie sie ihr schlichtes braunes Haar sich um den Kopf legte, etwas Adliges. Sie trug immer saubere, anziehende gutsitzende Blusen und gutgeschnittene Röcke. Alles an ihr war so hübsch in Ordnung, verriet so viel feinen, klaren Geist, daß es ein wahres Vergnügen war, in ihrer Klasse zu sitzen.
Ebenso klar und durchdringend war ihre Stimme, und von nie schwankender, fein durchgearbeiteter Tonbildung. Sie hatte blaue Augen, klare, stolze, und gab einem überhaupt den Eindruck einer fein beanlagten, sorgfältig gepflegten Persönlichkeit und eines unnachgiebigen Geistes. Und doch lag etwas unendlich Herbes in ihrem Wesen, ein tiefes Leid um ihren einsamen, stolz verschlossenen Mund.
Es war nach Skrebenskys Fortgang, daß zwischen Lehrerin und Schülerin dies seltsame Einverständnis und dann jene wortlose Vertraulichkeit emporkeimte, die manchmal Leute miteinander verbindet, die sich nie auch nur oberflächlich kennen lernen. Sie waren schon früher gute Freunde gewesen, in der unterschiedlosen Art und Weise des Klassenzimmers und unter steter Beobachtung der berufsmäßigen Beziehung der Lehrerin zur Schülerin. Nun aber ereignete sich etwas anderes. Sobald sie gleichzeitig im Zimmer waren, fühlten sie die Gegenwart der anderen fast so stark, daß es jedes andere Gefühl ausschloß. Winifred Inger fühlte heißes Entzücken an ihrem Unterricht, wenn Ursula daran teilnahm, Ursula dagegen fühlte, nun erst beginne ihr Leben, wenn Miß Inger ins Zimmer trat. Dann, in Anwesenheit ihrer geliebten, mit ihren feinsten Gedanken vertrauten Lehrerin saß das Mädchen da wie unter den Strahlen einer bereichernden Sonne, deren berauschende Hitze sich ihr unmittelbar in die Adern ergoß.
Das Gefühl von Seligkeit, sobald Miß Inger anwesend war, war für das Mädchen das höchste, aber es war stets herbe, herb. Auf dem Nachhausewege träumte Ursula von ihrer Lehrerin, sie träumte sich unendliche Geschichten zusammen von Geschenken, die sie ihr geben möchte, und wie sie es dahin bringen könne, daß die so viel Ältere sie anbete.
Miß Inger hatte in Newnham studiert und dort die akademischen Grade erworben. Sie war die Tochter eines Geistlichen, von gutem Herkommen. Was aber Ursula besonders an ihr verehrte, war ihre feine, aufrechte, kraftvolle Haltung und ihr unbezähmbar stolzes Wesen. Sie war so stolz und frei wie nur irgendein Mann, und dabei doch durchaus Frau.
Das Herz brannte dem Mädchen in der Brust, wenn sie des Morgens zur Schule ging. So voller Eifer ihre Brust, so froh ihre Füße, der Geliebten entgegenzueilen! Ach, Miß Inger, wie grade und fein war ihr Rücken, wie kräftig ihre Hüften, wie ruhig und frei ihre Glieder!
Unaufhörlich versuchte Ursula herauszufinden, ob Miß Inger sie wohl gern habe. Irgendein entscheidendes Zeichen war bisher zwischen ihnen noch nicht gewechselt. Und doch liebte Miß Inger sie sicherlich auch, ganz gewiß, sie mußte sie gern haben, wenigstens lieber als die übrigen Schülerinnen ihrer Klasse. Und doch war sie sich dessen nie sicher. Es konnte doch auch sein, daß Miß Inger sich gar nichts aus ihr machte. Und doch, und doch fühlte Ursula mit brennendem Herzen, könnte sie nur zu ihr reden, sie nur einmal berühren, dann würde sie es sofort wissen.
Die Sommerzeit kam, und mit ihr der Schwimmunterricht. Miß Inger hatte ihn zu erteilen. Ursula zitterte und war ganz betäubt vor Leidenschaft. Nun mußten ihre Hoffnungen sich bald verwirklichen. Sie würde Miß Inger im Badeanzug sehen. Der Tag kam heran. Das Wasser in dem großen Becken schimmerte blaß-smaragdgrün, eine reizende, farbig-schimmernde Masse in einer marmorartigen, weißen Einfassung. Von oben fiel ein sanftes Licht herein, und die große, grüne Masse geriet unter ihm in Bewegung, sobald jemand von der Seite her hineintauchte.
Zitternd, kaum imstande an sich zu halten, riß Ursula sich die Kleider vom Leibe, zog ihren enganliegenden Badeanzug an und öffnete die Tür ihrer Zelle. Zwei Mädchen waren bereits im Wasser. Die Lehrerin war noch nicht da. Sie wartete. Eine Tür öffnete sich. Miß Inger trat heraus, gekleidet in einen rostroten Überwurf, wie ihn junge Griechinnen trugen, um die Hüften zugebunden, und ein rotseidenes Tuch um den Kopf geschlungen. Wie entzückend sie aussah! Ihre Knie waren so weiß und stark und stolz, und sie hatte einen Körper so fest wie Diana. Sie schritt einfach auf das Becken zu und warf sich mit einer nachlässigen Bewegung hinein. Einen Augenblick beobachtete Ursula ihre weißen, glatten, starken Schultern und die leichte Bewegung ihrer Arme beim Schwimmen. Dann tauchte auch sie ins Wasser.
Ach, und nun schwamm sie im selben Wasser mit ihrer geliebten Lehrerin. Wollüstig bewegte das Mädchen seine Glieder, als es allein umherschwamm, voller Entzücken, und doch fühlte sie beständig ein unbefriedigtes Sehnen. Sie hätte die andere zu gern berührt, sie angefaßt, sie gefühlt.
»Wir wollen mal Wettschwimmen, Ursula«, kam die fein abgetönte Stimme.
Heftig fuhr Ursula empor. Sie wandte sich, um das warme, offene Gesicht ihrer Lehrerin auf sich gerichtet zu finden, auf sie. Nun hatte sie sie erkannt. Mit einem reizenden, überraschten Lachen begann sie zu schwimmen. Die Lehrerin lag etwas vor ihr, mit leichten Stößen schwimmend. Ursula konnte sehen, wie sie den Kopf zurückwandte, wie das Wasser ihr über die weißen Schultern rieselte, wie die starken Beine schattengleich ausstießen. Und blind vor Leidenschaft schwamm sie drauflos. Ach, dies schöne, feste, weiße, kühle Fleisch! O, diese wundervollen festen Glieder. Könnte sie sie doch nur einmal an sich pressen, sie zwischen ihre kleinen Brüste pressen! Ach, wenn doch ihr eigener, schmächtiger, dunkelhäutiger Witz von Leib nicht gar so verächtlich wäre, wenn sie doch auch so furchtlos und fähig wäre. Rüstig schwamm sie drauflos, nicht um zu gewinnen, nur um ihrer Lehrerin nahe zu sein, mit ihr in die Wette zu schwimmen. Sie kamen ans Ende des Beckens, in das tiefere Wasser. Miß Inger berührte das Abflußrohr, schwang sich drum herum und faßte Ursula im Wasser um die Hüfte, so daß sie sie einen Augenblick an sich preßte. Die Körper beider Mädchen berührten sich und hoben sich atmend einen Augenblick gegeneinander, dann trennten sie sich wieder.
»Ich habe gewonnen«, sagte Miß Inger lachend.
Einen Augenblick hingen sie in der Schwebe. Ursulas Herz schlug so rasch, daß sie sich am Geländer festhalten mußte und sich nicht bewegen konnte. Ihr warmes, offenes Gesicht wandte sich der Lehrerin zu, als wäre sie die Sonne selbst.
»Auf Wiedersehen«, sagte Miß Inger und schwamm zu den anderen Schülerinnen hinüber, um die sie sich nun beruflich zu kümmern hatte.
Ursula war ganz betäubt. Sie konnte noch die Berührung von ihrer Lehrerin Leib an dem ihren spüren – nichts als nur dies, nichts als nur dies. Die ganze übrige Zeit des Schwimmens ging für sie wie in Bewußtlosigkeit vorüber. Als der Ruf zum Verlassen des Wassers kam, ging Miß Inger an dem Becken entlang auf Ursula zu. Ihr dünner rostroter Überwurf lag ihr eng an, der ganze Körper trat deutlich hervor, fest und prächtig, wie es dem Mädchen schien.
»Mir hat unser Wettschwimmen Spaß gemacht, Ursula; dir auch?« sagte sie.
Mit enthülltem, offenem, glühendem Gesicht konnte das Mädchen nur lachen.
Nun hatten sie sich ihre Liebe schweigend eingestanden. Aber es dauerte doch noch geraume Zeit, ehe sie etwas weiter kamen. Ursula blieb auch fernerhin noch in der Schwebe, in brennender Seligkeit.
Dann eines Tages, als sie ganz allein war, trat die Lehrerin auf sie zu und sagte mit einiger Schwierigkeit, indem sie ihr mit dem Finger auf die Backe tippte:
»Willst du Sonnabend wohl zum Tee zu mir kommen, Ursula?«
Das Mädchen wurde dunkelrot vor Dankgefühl.
»Dann wollen wir in eine reizende kleine Hütte am Soar gehen, nicht wahr? Ich bleibe dort zuweilen über Wochenschluß.« Ursula war ganz außer sich. Sie konnte es gar nicht aushalten, bis der Sonnabend endlich da war, ihre Gedanken brannten wie Feuer. Wenn es doch nur erst Sonnabend wäre, wenn es doch nur erst Sonnabend wäre.
Dann kam der Sonnabend, und sie zog los. Miß Inger traf sie in Sawley, und von da hatten sie etwa vier und einen halben Kilometer bis zur Hütte zu gehen. Es war ein warmer, feuchter, wolkiger Tag.
Die Hütte war ein winziges Holzhäuschen mit zwei getrennten Räumen, das am steilen Ufer stand. Alles drinnen war einfach, aber ausgesucht. In entzückender Heimlichkeit machten die beiden Mädchen sich Tee und fingen dann an zu plaudern. Ursula brauchte nicht vor zehn Uhr daheim zu sein.
Wie durch Zauberkraft kam ihre Unterhaltung auf die Liebe. Miß Inger erzählte Ursula von einer Freundin, die im Kindbett gestorben war, und was sie auszustehen gehabt hatte; dann erzählte sie ihr von einer Dirne und ein paar ihrer eigenen Erfahrungen mit Männern.
Während sie so auf der kleinen Brüstung vor der Hütte sitzend redeten, brach die Nacht herein, und es begann ganz warm und fein zu regnen.
»Es ist rein zum Ersticken«, sagte Miß Inger.
Sie sahen einen Zug, dessen Lichter in dem noch vorhandenen Zwielicht erblaßten, in die Ferne dahinsausen.
»Es gibt ein Gewitter«, sagte Ursula.
Die elektrische Spannung hielt an, Dunkelheit sank hernieder, sie waren ganz allein im Finstern.
»Ich glaube, ich nehme noch ein Bad«, sagte Miß Inger aus der tintenschwarzen Finsternis hervor.
»Jetzt, bei Nacht?« fragte Ursula.
»Nachts ist es doch am schönsten. Kommst du mit?«
»Ich möchte wohl.«
»Wir sind ganz sicher – das Land gehört einem Bekannten. Wir wollen uns lieber in der Hütte ausziehen, wegen des Regens, und dann laufen wir hinunter.«
Scheu, steif trat Ursula in die Hütte und begann ihre Kleider abzulegen. Die Lampe war ganz niedrig geschraubt, sie stand im Schatten. Neben einem andern Stuhl zog Winifred Inger sich aus.
Bald trat die nackte, schattenhafte Gestalt des älteren Mädchens zu dem jüngeren.
»Bist du fertig?« fragte sie.
Ursula konnte kaum sprechen.
»Einen Augenblick.«
Stumm stand das andere Mädchen nackt neben ihr. Ursula war fertig.
Vorsichtig traten sie hinaus und fühlten die weiche Nachtluft auf der bloßen Haut.
»Ich kann den Weg gar nicht sehen«, sagte Ursula.
»Hier ist er«, sagte die Stimme, und die schwankende, bleiche Gestalt war schon neben ihr, eine Hand faßte ihren Arm. Und die Ältere hielt die Jüngere dicht an sich, ganz dicht, beim Hinuntergehen, und als sie ans Wasser kamen, schlang sie die Arme um sie und küßte sie. Und dann hob sie sie in ihren Armen empor und sagte ganz leise:
»Nun trage ich dich ins Wasser.«
Ganz still lag Ursula in ihrer Lehrerin Armen, ihre Stirn an die geliebte, sie so wahnsinnig machende Brust gepreßt.
»Nun trage ich dich hinein«, sagte Winifred.
Aber Ursula schlang ihren Körper um den ihrer Lehrerin.
Nach einer Weile fiel der Regen auf ihre erhitzten, aufgeregten Glieder, überraschend, entzückend. Eiskalt brach der Schauer plötzlich mit voller Wucht über sie herein. Mit Entzücken blieben sie darin stehen. Ursula ließ sich den Strom auf Brüste und Glieder herniederprasseln. Er kühlte sie ab, und ein tiefes, bodenloses Schweigen schwoll in ihr empor, als komme bodenlose Dunkelheit über sie.
So wurde ihr die Hitze ausgetrieben, sie fühlte sich abgekühlt, wie beim Erwachen. Sie rannte in die Hütte, ein kühles, gar nicht anwesendes Ding, das fort wollte. Sie sehnte sich nach Licht, nach Gegenwart anderer, nach äußerlicher Fühlung mit den vielen. Vor allem aber sehnte sie sich danach, sich in einer natürlichen Umgebung zu verlieren.
Sie verabschiedete sich von ihrer Lehrerin und fuhr nach Hause. Sie freute sich am Bahnhof mit einem Haufen Sonnabend-abend-Menschen zusammenzutreffen, freute sich über das Sitzen in dem hellen, dichtgedrängten Eisenbahnwagen. Nur hoffte sie niemand Bekanntes zu treffen. Sie wollte nicht reden. Sie war allein, unempfänglich.
Das ganze Getobe und Gebrause von Licht und Menschen um sie her war nur der Rand, der Strand der großen Finsternis und Leere ihres Innern. Sie sehnte sich sehr nach einem kochenden, stellenweise hell erleuchteten Strande, denn in ihr war nur die leere Wirklichkeit dunklen Raumes.
Für eine Zeitlang verschwand nun Miß Inger, ihre Lehrerin; sie war nur dunkle Leere, und Ursula wanderte frei wie ein Schatten durch eine Unterwelt von Vernichtung, Vergessenheit. Ursula war froh, daß ihre Lehrerin ausgelöscht, aus ihr verschwunden war, in einer Art regungslosen, leblosen Freude.
Am Morgen war jedoch die Liebe wieder da, brennend, brennend. Sie dachte an gestern und wünschte mehr, immer mehr. Sie wünschte mit ihrer Lehrerin zusammen zu sein. Jede Trennung von ihr war eine Unterbindung ihres Lebens. Warum könnte sie nicht heute noch zu ihr gehen, nicht heute noch? Warum mußte sie, als hätte sie ihr abgeschworen, hier in Cossethay allein umherlaufen, während ihre Lehrerin anderswo war? Sie setzte sich hin und schrieb ihr einen brennenden, leidenschaftlichen Liebesbrief: sie konnte sich nicht helfen.
Die beiden Mädchen wurden sehr vertraut miteinander. Ihre Leben schienen sich mit einem Male völlig zu verschmelzen, unzertrennbar. Ursula ging in Winifreds Wohnung, dort verbrachte sie ihre einzigen lebendigen Stunden. Winifred liebte das Wasser sehr – schwimmen, rudern. Sie gehörte verschiedenen Vereinen für Körperpflege an. Manch köstlichen Nachmittag verbrachten die beiden Mädchen in einem leichten Boot auf dem Flusse, wobei Winifred immer ruderte. Tatsächlich schien Winifred ganz entzückt darüber, die ganze Verantwortung für Ursula zu übernehmen, ihr Geschenke zu machen, ihr Leben zu erfüllen und zu bereichern.
Daher entwickelte Ursula sich auch außerordentlich rasch während der paar Monate dieses vertrauten Zusammenseins mit ihrer Lehrerin. Winifred hatte eine wissenschaftliche Erziehung genossen. Sie war mit vielen sehr klugen Menschen bekannt geworden. Sie wünschte Ursula zur gleichen Höhe ihres Gedankenfluges zu erheben.
Sie nahm die Glaubenslehre vor und entkleidete sie ihrer toten Lehrsätze, ihrer Falschheiten. Winifred vermenschlichte ihr alles. Allmählich dämmerte es Ursula auf, daß alles, was sie bisher an Gottesglauben kennen gelernt habe, nur eine besondere Umkleidung menschlicher Wünsche darstelle. Die Wünsche waren das Wirkliche, – die Umkleidung lediglich Sache völkischen Geschmacks oder Bedürfnisses. Die Griechen besaßen einen nackten Apollo, die Christen einen weißgekleideten Christus, die Buddhisten einen königlichen Prinzen, die Ägypter ihren Osiris. Die Glaubenslehren waren etwas Örtliches und der Gottesglaube das Allgemeine. Das Christentum war auch nur eine örtliche Abart. Bisher war es noch zu keiner Verschmelzung örtlicher Glaubenslehren zu einer Gesamtlehre gekommen.
In der Glaubenslehre waren die zwei Haupttriebfedern Furcht und Liebe. Der Trieb zur Furcht war ebenso groß wie der zur Liebe. Das Christentum hatte die Kreuzigung als ein Entkommen aus der Furcht in sich aufgenommen: »Tut mir euer Äußerstes an, auf daß ich keine Furcht vor dem Äußersten mehr habe.« Was man aber fürchtete, brauchte deswegen noch nicht durchaus schlecht zu sein, und was man liebte ebensowenig durchweg gut. Furcht muß zu Ehrfurcht werden, und Ehrfurcht ist Unterwerfung gleichbedeutend; Liebe soll zu Siegesgefühl werden, und Siegesgefühl ist gleichbedeutend mit Entzücken.
So weit etwa sprach sie mit ihr über die Glaubenslehre, unter Ausnutzung der Hauptergebnisse mancher Schriften. In der Weltweisheit wurde das Mädchen zu dem Schlusse geführt, die Wünsche des Menschen seien das Entscheidende, ob alles wahr und gut sei. Wahrheit liegt nicht außerhalb des Menschen, sie ist vielmehr ein Ergebnis des Menschengeistes und seiner Empfindungen. Man braucht wirklich vor nichts Furcht zu empfinden. Der Trieb zur Furcht in der Glaubenslehre ist wahrhaft niedrig und sollte den alten Anbetern der Macht, des Molochs, überlassen bleiben. Wir beten die Macht nicht länger an, in der Erleuchtung unserer Seelen. Macht ist zum Gelde hinabgesunken und zu napoleonischer Dummheit.
Ursula konnte es nicht helfen, sie mußte vom Moloch träumen. Ihr Gott war nicht milde und sanft, weder Lamm noch Taube. Er war der Adler und der Löwe. Nicht weil Löwe und Adler Macht besaßen, sondern weil sie stolz waren und stark; sie waren sie selbst, sie waren nicht die geduldigen Untertanen irgendeines Schäfers, oder Lieblinge eines verliebten Frauenzimmers, oder Opfer irgendwelchen Priesters. Sanfte, geduldige Lämmer und eintönige Tauben hatte sie bis zum Tode satt. Wenn das Lamm sich bei dem Löwen hinlegte, dann war das eine große Ehre für das Lamm, aber des Löwen mächtiges Herz wurde dadurch nicht herabgesetzt. Sie liebte die Würde und Selbstbeherrschung des Löwen.
Sie konnte nicht verstehen, wie ein Lamm lieben könne. Lämmer konnten nur sich lieben lassen. Sie konnten nur bange werden und sich voller Furcht unterwerfen und opfern lassen; oder sie konnten sich lieben lassen und geliebt werden. In beiden Fällen waren sie der duldende Teil. Wütende, zerstörungssüchtige Liebhaber, die auf den Augenblick warteten, wo die Furcht am größten war und ihr Siegesgefühl am höchsten, die Furcht nicht höher als das Siegesgefühl, das Siegesgefühl nicht stärker als die Furcht, die waren weder Lämmer noch Tauben. Sie dehnte ihre Glieder wie ein Löwe oder ein wildes Pferd, ihr Herz ward unbarmherzig in seinen Wünschen. Tausend Tode wollte es erleiden, aber eines Löwen Herz wollte es bleiben, wenn es vom Tode wieder auferstand, ein noch stolzerer Löwe wollte sie dann sein, ein seiner selbst noch gewisserer, der wußte, wie verschieden, wie fern er der großen, feindlichen Allgemeinheit gegenüberstand, die nicht er selbst war.
Winifred Inger nahm auch großen Anteil an der Frauenbewegung.
»Die Männer bringen es nicht weiter – sie haben jede Fähigkeit dazu verloren«, sagte das ältere Mädchen. »Sie schwatzen und reden, aber in Wirklichkeit sind sie Hohlköpfe. Sie wollen alles irgendwelchen alten, unbrauchbar gewordenen Gedanken anpassen. Liebe ist für sie nur ein toter Gedanke. Sie kommen gar nicht zu uns und lieben uns, sie gehen zu einem Gedanken und sagen: ›Du bist mein Gedanke‹, so daß sie sich selbst umarmen. Als ob ich irgendeines Mannes Gedanke wäre! Als ob ich bloß deswegen da wäre, weil ein Mann sich eine Vorstellung von mir machen kann! Als ob ich mich von ihm verraten lassen möchte, als wollte ich ihm meinen Körper als Werkzeug für seine Gedanken leihen, lediglich als Hilfsmittel für seine toten Lehrsätze. Aber sie sind viel zu wirrköpfig, um wirklich noch handeln zu können; sie sind alle zeugungsunfähig, sie können eine Frau gar nicht mehr hinnehmen. Jedesmal gehen sie nur auf ihren eigenen Gedanken los und nehmen den. Sie sind wie Schlangen, die versuchen, sich selbst zu verschlingen, weil sie Hunger haben.«
Ursula wurde durch ihre Freundin verschiedenen Frauen und Männern vorgestellt, gebildeten, unbefriedigten Menschen, die sich in der eitlen Landgesellschaft immer noch umherbewegten, als wären sie eigentlich so zahm, wie ihre äußere Erscheinung anzeigte; im Innern aber rasten und wüteten sie.
Es war eine sonderbare Welt, in die sich das Mädchen da hineingerissen fand, eine ziemlich ungeordnete, wie das Ende aller Welt. Sie war noch zu jung, um das alles verstehen zu können. Aber durch die Liebe zu ihrer Lehrerin ging der Impfstoff doch in sie über.
Ihre Prüfung kam, und dann war die Schulzeit aus. Es war in der großen Sommerfreizeit. Winifred Inger ging nach London. Ursula blieb in Cossethay sich selbst überlassen. Eine schreckliche, beinahe giftige Verzweiflung kam über sie, als wäre sie geächtet. Es nützte nichts, daß sie sich beschäftigte, daß sie etwas zu sein versuchte. Sie hatte ja mit den andern keine Verbindung mehr. Ihr Schicksal war einsam und tödlich. Für sie gab es nirgends mehr etwas anderes als schwarze Auflösung. Und doch blieb sie trotz all der mächtigen Angriffe der Auflösung auf sie immer sie selbst. Das war der schreckliche Kern all ihrer Leiden, daß sie stets sie selbst blieb. Da gabs kein Entrinnen: sie konnte ihr eigenes Wesen nicht abstreifen.
Sie hing immer noch sehr an Winifred Inger. Aber doch kam so etwas wie Ekel über sie. Sie liebte ihre Lehrerin. Aber ein schweres, zähes Gefühl von etwas Tödlichem begann sich nach der Berührung durch das andere Mädchen in ihr anzusammeln. Und zuweilen fand sie sogar, Winifred sei häßlich, lehmig. Ihre weiblichen Hüften kamen ihr zu dick und erdig vor, ihre Schenkel und Arme waren zu dick. Sie hätte lieber etwas Feines, Gespanntes gehabt an Stelle dieses schweren, zähanhaftenden feuchten Lehmes, der nur anhaftet, weil er kein Eigenleben mehr in sich hat.
Winifred liebte Ursula noch sehr. Sie hatte eine wahre Leidenschaft für das feine, flammende Mädchen, sie diente ihr ohne Unterlaß, sie hätte alles für sie tun können.
»Komm mit mir nach London«, drang sie in das Mädchen. »Ich will dir da alles so schön machen – du sollst so viel erleben, was dir Freude machen wird.«
»Nein«, sagte Ursula hartnäckig und trübe. »Nein, nach London mag ich nicht, ich will allein bleiben.«
Winifred verstand, was dies zu bedeuten habe. Sie merkte, Ursula beginne sie von sich zu stoßen. Die feine, nicht zu unterdrückende Flamme des jüngeren Mädchens wollte sich nicht länger zur Vermischung mit dem widernatürlichen Leben der älteren Frau hergeben. Winifred wußte, es müsse so kommen. Aber sie war zu stolz. Tief in ihrem Innern lag schwarze Verzweiflung. Sie wußte ganz genau, Ursula werde sie verstoßen.
Und das schien ihr das Ende ihres Lebens zu bedeuten. Aber sie war zu hoffnungslos, als daß sie getobt hätte. Weise, sparsam mit dem Rest von Ursulas Liebe umgehend, ging sie nach London und ließ das geliebte Mädchen allein.
Und nach vierzehn Tagen wurden Ursulas Briefe wieder liebevoll, zärtlich. Ihr Ohm Tom hatte sie eingeladen, ihn zu besuchen und bei ihm zu bleiben. Er war Leiter eines neuen, großen Bergwerks in Yorkshire. Ob Winifred nicht auch hinkommen wollte?
Denn nun dachte Ursula daran, Winifred zu verheiraten. Sie wollte sie mit ihrem Ohm Tom verheiraten. Winifred merkte das. Sie sagte, sie wolle nach Wiggiston kommen. Nun wollte sie das Geschick mit sich vornehmen lassen, was ihm gutdünkte, da es ja doch nichts weiter mehr für sie gab. Auch Tom Brangwen durchschaute Ursulas Absichten. Auch er stand am Ende seiner Wünsche. Er hatte alles durchgesetzt, was er sich gewünscht hatte. Alles hatte sein Ende gefunden in der Auflösung seiner Seele zu Leblosigkeit, die er unter gutgelaunter Duldsamkeit verbarg. Er machte sich aus nichts mehr etwas, weder aus Mann noch aus Weib, weder aus Gott noch der Menschheit. Er war zu unbedingter Nichtigkeit gelangt. Alles war ihm gleichgültig, sein Leib sowohl wie seine Seele. Nur wünschte er sein Leben unversehrt zu erhalten. Nur die reine, oberflächliche Tatsache des Lebens blieb noch bestehen. Er war immer noch sehr gesund. Er lebte. Daher wollte er jeden Augenblick ausnutzen. Das war immer sein Glaubenssatz gewesen. Es war das keine gefühlsmäßige Leichtherzigkeit: es war das unvermeidliche Ergebnis seiner Beanlagung. In der unbedingten Vertraulichkeit seines Lebens konnte er tun, was ihm gefiel, gewissenlos, unbedenklich, ohne jeden weiteren Gedanken. Er glaubte weder an Gut noch an Böse. Jeder Augenblick wurde ihm zu einer gesonderten kleinen Insel, losgelöst von aller Zeit, und frei, keiner Abhängigkeit von Zeit unterworfen.
Er lebte in einem großen, neuen Hause aus rotem Backstein, das außerhalb einer Masse ganz gleichförmiger roter Backsteinhäuser stand, die sich Wiggiston nannte. Wiggiston war erst sieben Jahre alt. Es war ein Dörfchen von elf Häusern am Rande eines halbbebauten Heidestriches gewesen. Dann war ein großes Kohlenflöz entdeckt worden. Innerhalb eines Jahres war Wiggiston erschienen, eine große Menge rosaroter magerer, ganz unwirklicher Wohnstellen mit je fünf Zimmern. Die Straßen waren reine Geistererscheinungen an Häßlichkeit; eine grauschwarze, beschotterte Straße, asphaltierte Fußwege zwischen einem flachen Band von Mauern, Fenstern und Türen gehalten, ein neues Backsteinrinnsal, das aus dem Nichts kam und im Nichts endete. Alles war formlos, und doch wiederholte es sich endlos. Nur hin und wieder lagen in einem der Fenster Gemüse oder kleine Waren zum Verkauf aus.
In der Mitte der Stadt lag ein weiter, offener, formloser Raum oder Marktplatz, aus schwarzer, festgestampfter Erde, umgeben von demselben flachen Bande von Wohnstellen, den neuen, allmählich schmutzig werdenden Backsteinhäusern, mit kleinen, schmalen Fenstern, schmalen Türen in endloser Wiederholung, und genau an einer Ecke einem großen, aufdringlich angestrichenen Wirtshause, und irgendwo an einer der Seiten ganz verloren einem breiten, undurchsichtigen, dunkelgrünen Fenster, das das Postamt anzeigte.
Der Platz besaß die sonderbare Trostlosigkeit einer Trümmerstätte. In großen oder kleinen Gruppen standen Bergleute drauf herum oder gingen die Asphaltfußwege hinunter schwerfällig an die Arbeit, anscheinend gar keine lebenden Wesen, sondern Gespenster. Einen allgemeinen Treffpunkt gab es nicht, keinen Mittelpunkt, keine Hauptverkehrsader, kein allmählich herangewachsenes Gebilde. Da lag es, diese neuangelegte Gründung eines roten Backsteinwirrsals, sich rasch ausbreitend wie eine Hautkrankheit.
Gerade etwas außerhalb, auf einem kleinen Hügel, lag Tom Brangwens großes, rotes Backsteinhaus. Von vorn blickte es auf eine Seite des Ortes, einen bedeutungslosen Schmutzhaufen von Aschengruben und Abtritten und eine unregelmäßige Reihe von Häuserrückseiten, von denen jede einzelne ihre kleine Betriebsamkeit durch den fruchtlosen Zusammenhang mit allen den übrigen kleinen Betriebsamkeiten beschmutzte. Weiterhin lag der große Schacht, der Tag und Nacht in Betrieb war. Und rundherum lag die Landschaft, grün mit ihren beiden sich windenden Flüssen, übersät mit Ginsterbüschen und Heide, dunklere Wälder in der Ferne.
Der ganze Ort war einfach unwirklich, vollkommen unwirklich. Selbst jetzt, wo er doch zwei Jahre schon dort gelebt hatte, konnte Tom Brangwen nicht an sein wirkliches Bestehen glauben. Er kam ihm wie ein grausiger Traum vor, eine häßliche, tote, formlose Laune, die greifbare Gestalt angenommen hatte.
An dem unfertigen, kleinen Bahnhof wurden Ursula und Winifred von dem Kraftwagen erwartet und fuhren nun durch etwas, was ihnen wie der schreckliche, allererste Anfang zu irgend etwas erschien. Der Ort war ein Augenblick fortwährender, hartnäckigster Unrast, zäh und starr gewordener Urschlamm. Ursula war ganz verblüfft über die Menge Männer, die sie trafen – Gruppen von Männern, die auf der Straße herumstanden, vier oder fünf Männer, die zusammen herumgingen, mit ihren Hunden vor und hinter ihnen. Sie waren alle ganz anständig angezogen, nur waren die meisten recht mager. Die schreckliche, magere Ruhe in ihrem Benehmen bezauberte sie. Wie Geschöpfe ohne jede Hoffnung, die aber doch noch leben wollen und sogar leidenschaftlich am Leben hängen, in einer äußerlich toten Hülle, so zogen sie, ohne ihr etwas zu bedeuten, an ihr vorüber, in seltsamer, einsamer Würde. Es war, als umschließe sie alle eine harte Hornhaut.
Entsetzt und beunruhigt fuhr Ursula zu ihres Ohms Hause. Er war noch nicht da. Sein Haus war einfach, aber gut eingerichtet. Er hatte eine Trennungswand herausgenommen und so den ganzen Vorderraum des Hauses zu einer großen Bücherei gemacht, deren eines Ende seiner Wissenschaft gewidmet war. Es war ein hübscher Raum, als Arbeits- und Lesezimmer eingerichtet, aber in beiden Hälften das gleiche Gefühl harter, gedankenloser Tätigkeit verursachend, einer Betriebsamkeit ohne inneren Gedanken, in den Anfängen steckengeblieben; er blickte auf die greifbare Scheußlichkeit der Stadt dort draußen hinaus, und die grünen Wiesen und das rauhe Land jenseits, sowie die große, mathematisch genau angeordneten Grubenbauten auf der anderen Seite.
Sie sahen Tom Brangwen die geschwungene Zufahrt heraufkommen. Er wurde etwas dicker, aber mit seinem steifen, auf die Brauen niedergezogenen Hut sah er so männlich und hübsch aus wie nur irgendein Mann von Beruf. Seine Farben waren so frisch, seine Gesundheit so vollkommen wie nur je, er ging dagegen etwas zerstreut.
Winifred Inger fühlte sich gepackt, als er in die Bücherei trat, den Rock ganz förmlich vorn zugeknöpft, den Kopf kahl bis oben hin, aber nicht glänzend, eher wie etwas Nacktes erscheinend, das man bedeckt zu sehen gewöhnt ist, und seine dunklen Augen flüssig und formlos. Er schien im Schatten zu stehen, wie jemand, der sich schämt. Und der Griff seiner Hand war so weich und doch so stark, daß er einem das Herz erkältete. Sie wurde bange vor ihm, abgestoßen von ihm und doch wieder angezogen.
Er blickte das kräftige, anscheinend furchtlose Mädchen an und entdeckte sofort in ihm eine Art Verwandtschaft mit seiner eigenen, dunklen Verderbtheit. Er wußte sofort, sie wären wesensverwandt.
Sein Benehmen war höflich, beinahe kalt. Er lachte in seiner sonderbaren, tierischen Art, wobei er plötzlich die Nase hoch zusammenzog und seine weißen Zähne zeigte. Die feine Schönheit seiner Haut und deren Farbe, die etwas von Wachs an sich hatte, verbargen seine befremdende, abstoßende Grobschlächtigkeit, einen schwachen Fäulnisgeruch, seine Gewöhnlichkeit, die sich in seinen viel zu starken Schenkeln und Hüften ausdrückte.
Winifred bemerkte sofort die untertänige, etwas knechtische, aber auch schlaue Rücksicht, die er auf Ursula nahm, die das Mädchen gleichzeitig so stolz und so verwirrt machten.
»Aber ist es hier wirklich so gräßlich, wie es aussieht?« sagte das junge Mädchen mit angestrengtem Blick.
»Genau so wie es aussieht«, sagte er. »Hier verbirgt sich nichts.«
»Warum sind die Männer alle so traurig?«
»Sind sie denn traurig?« fragte er.
»Unaussprechlich, ganz unaussprechlich traurig sehen sie aus«, sagte Ursula mit tiefer Leidenschaft in der Kehle.
»Das sind sie, glaube ich, gar nicht. Sie sehen alles als gegeben an.«
»Was sehen sie als gegeben an?«
»Dies hier – die Gruben und den Ort als Ganzes.«
»Warum ändern sie denn nichts dran?« erwiderte sie leidenschaftlich.
»Sie glauben, sie müßten sich ändern, um sich den Gruben und dem Orte anzupassen, eher als daß sie die Gruben und den Ort sich anpassen möchten. Das ist leichter«, sagte er.
»Und du bist einer Meinung mit ihnen«, brach seine Nichte los, unfähig länger an sich zu halten. »Du denkst genau so wie sie, daß man menschliche Wesen einfach nur so nehmen und sie allen möglichen Greueln anpassen kann. Wir könnten doch leicht genug ohne die Gruben fertig werden.«
Er lächelte, unbehaglich, spöttisch. Wieder fühlte Ursula ein haßerfülltes Widerstreben gegen ihn.
»Ich denke, ihre Lebensführung ist gar nicht so übel«, sagte Winifred Inger, die sich erhaben über dieses Zolasche Verhängnis vorkam.
Mit seiner höflichen, abseitsstehenden Aufmerksamkeit wandte er sich zu ihr.
»Doch, sie sind recht übel dran. Die Gruben sind sehr tief und heiß und an manchen Stellen naß. Die Leute sterben ziemlich häufig an der Schwindsucht. Aber sie beziehen gute Löhne.«
»Wie greulich!« rief Winifred Inger.
»Ja«, sagte er ernsthaft. Es war grade seine ernste, stetige, an sich haltende Art und Weise, die ihm als Bergwerksleiter so viel Achtung verschafft hatte.
Die Haushälterin kam herein, um zu fragen, wo sie Tee trinken wollten.
»Bringen Sie ihn in das Sommerhaus, Mrs. Smith«, sagte er.
Die hellhaarige, gut aussehende junge Frau ging hinaus.
»Ist sie verheiratet und hat doch einen Dienst angenommen?« fragte Ursula.
»Sie ist Witwe. Ihr Mann starb vor kurzem an der Schwindsucht.« Brangwen ließ ein häßliches, leichtes Lachen ertönen.
»Er lag da im Hause bei ihrer Mutter herum, und sie waren fünf oder sechs Leute im Hause, und er starb ganz allmählich. Ich fragte sie, ob sein Tod ihr nicht viel Mühe mache. ›Ja,‹ sagte sie, ›er war bis zum Ende immer unzufrieden, nie fand er etwas richtig, nie war er zufrieden, fand nie Erleichterung, hatte immer etwas auszusetzen, und wußte doch nie, was ihm denn wohl Spaß machen würde. So war es auf eine Weise eine Erleichterung, als er starb – für ihn so gut wie für alle andern.‹ Sie waren nur zwei Jahre verheiratet gewesen, und sie hat einen kleinen Jungen. Ich fragte sie, ob sie nicht sehr glücklich gewesen wäre. ›O ja, Herr, zuerst hatten wir es sehr bequem, bis er krank wurde, – o, wir hatten es sehr bequem – o ja – aber, sehen Sie, man gewöhnt sich da ja an. Ich hab meinen Vater und zwei Brüder genau so abgehen sehen. Da gewöhnt man sich an.‹«
»Gräßlich, daß man sich an so etwas gewöhnen kann«, sagte Winifred Inger zusammenschauernd.
»Ja,« sagte er, immer noch lächelnd. »Aber so sind sie nun mal. Sie heiratet sicher bald wieder. Der eine oder der andere – das macht so viel nicht aus. Bergleute sind sie alle.«
»Was meinst du damit?« fragte Ursula: »Bergleute sind sie alle.«
»Mit den Frauen ist es genau so wie mit uns«, erwiderte er. »Ihr Mann war John Smith, Steiger. Wir betrachteten ihn als Steiger, er selbst betrachtete sich als Steiger, und so wußte sie, er verstände sich auf seinen Kram. Heirat und Heim sind nur so kleine Nebensachen. Das wissen die Frauen gut genug und fassen es auch ihrem Werte entsprechend auf. Der eine oder der andere, darauf kommt es so sehr nicht an. Auf die Grube kommt es an. Rund um die Grube herum wird es immer so kleine Nebenvorstellungen geben, massenhaft.«
Er blickte hinaus auf den roten Wirrwarr, die starre, formlose Verwirrung Wiggistons.
»Jedermann hat seine eigene kleine Nebenvorstellung, sein Heim, aber der Grube gehören doch alle. Die Frauen kriegen nur, was übrigbleibt. Was von diesem oder jenem überbleibt – darauf kommt es wirklich nicht so sehr an. Worauf es wirklich ankommt, das ist einzig und allein die Grube.«
»So ist es überall«, brach Winifred los. »Die Schreibstube oder der Laden oder das Geschäft bekommt den Mann, die Frau kriegt, was der Laden nicht verdauen kann. Was ist er denn zu Hause, so ein Mann? Er ist ein bedeutungsloses Häuflein Unglück – ein stehendes Triebwerk, ein Triebwerk, das in Unordnung geraten ist.«
»Sie wissen, daß sie verkauft sind«, sagte Tom Brangwen. »Das ist nun mal so. Sie wissen, sie sind an ihren Betrieb verkauft. Und ob die Frau sich die Kehle ausschreit, was macht das für 'nen Unterschied? Der Mann ist nun mal an seinen Betrieb verkauft. So kümmern sich die Frauen nicht weiter drum. Sie nehmen, soviel sie kriegen können – und – vogue la galère.«
»Nehmen sie es hierherum sehr genau?« fragte Miß Inger.
»O nein. Mrs. Smith hat zwei Schwestern, die grade ihre Männer ausgetauscht haben. Sie nehmen es nicht sehr genau – sie machen sich aber auch nicht viel draus. Sie schleppen die Überbleibsel der Grube so mit sich herum. Sie machen sich nicht genug draus, um sehr unsittlich zu sein – sittlich oder unsittlich kommt alles auf dasselbe hinaus – es ist lediglich eine Frage des Grubenlohnes. Der allersittlichste Herzog in England bezieht zweihunderttausend Pfund jährlich aus diesen Gruben. Er hält ihre Sittlichkeit hoch.«
Mit schwarzer, tief verbitterter Seele saß Ursula dabei, während sie die beiden so reden hörte. Selbst in ihren Klagen über diesen Zustand der Dinge schien ihr etwas von einer Teufelsfratze zu liegen. Sie schienen ihr eine teuflische Befriedigung daraus zu ziehen. Die Grube war die große Herrin. Ursula sah aus dem Fenster und sah die stolze, geistergleiche Grube mit ihren am Himmel funkelnden Rädern und der formlosen, schmutzigen Masse der Stadt zur Seite. Das war der Dreckhaufen der Nebenvorstellungen. Die Grube war die Hauptvorstellung, die raison d'être des Ganzen.
Wie gräßlich das war. Etwas gräßlich Bezauberndes lag darin – Menschenleiber und -leben in Sklaverei diesem so gleichförmig gebildeten Ungetüm von Grube untertan. Eine schwindelnde, widernatürliche Befriedigung lag darin. Einen Augenblick fühlte sie sich ganz schwindlig.
Dann erholte sie sich, sie fühlte sich in einer großen Einsamkeit, in der sie sehr traurig war, aber doch frei. Sie hatte sich losgelöst. Sie wollte nicht länger an das große Bergwerk glauben, an die große Maschine, die uns alle gefangengenommen hat. Sie war in ihrer Seele dagegen, sie verneinte ihre Macht. Man brauchte sie nur als leer, als bedeutungslos abzutun. Und sie wußte, sie war bedeutungslos. Aber es bedurfte einer gewaltigen Willensanstrengung von ihrer Seite, ihre Erkenntnis von der Bedeutungslosigkeit der Grube aufrecht zu erhalten, sobald sie den Blick auf sie hinlenkte.
Ihr Ohm aber und ihre Lehrerin blieben zurück unter der Horde, sie rissen voller Spott wohl den ungeheuerlichen Zustand der Dinge herunter, aber sie blieben doch daran kleben, wie ein Mann, der seine Geliebte schlecht macht und sie dennoch liebt. Sie wußte, ihr Ohm merke wohl, was da vor sich ging. Aber sie wußte auch, daß er trotz seines scharfen Urteils und obwohl er seinen Zustand selbst verdammte, das große Triebwerk doch bestehen zu lassen wünschte. Seine einzig glücklichen Augenblicke, seine einzigen Augenblicke wirklicher Freiheit waren die, wo er dem großen Triebwerk diente. Dann und nur dann, wenn das Triebwerk ihn erfaßt hatte, war er frei von dem Hasse gegen sich selbst, konnte er vollkommen handeln, ohne Spottsucht und Unwirklichkeit.
Seine eigentliche Herrin war das Triebwerk, und Winifreds eigentliche Herrin gleichfalls. Auch sie, Winifred, betete diesen unreinen, unfaßbaren Begriff an, dies völlig Triebwerkmäßige des Ganzen. Dort, dort im Dienste dieses Triebwerkes war sie frei von dem Klotz der Erniedrigung menschlichen Empfindens. Dort, in dem ungeheuren Getriebe, das sich alles, Leben oder Tod, dienstbar gemacht hatte, brachte sie es zu ihrer Vollendung, ihrer vollkommenen Einheitlichkeit, ihrer Unsterblichkeit.
Haß sprang in Ursulas Herzen empor. Hätte sie es vermocht, sie hätte das Triebwerk zerbrochen. Ihrer Seele einzige Handlung sollte die Zertrümmerung des großen Triebwerkes sein. Könnte sie das Bergwerk zerstören und alle Männer von Wiggiston zu Arbeitslosen machen, sie würde es tun. Laß sie darben und nach Wurzeln in der Erde graben, lieber als einem solchen Moloch dienen.
Sie haßte ihren Ohm, und sie haßte Winifred Inger. Sie gingen nach dem Sommerhaus zum Tee hinunter. Es war ein reizender Platz unter ein paar Bäumen, am Ende eines winzigen, am Rande eines Feldes gelegenen Gartens. Ihr Ohm und Winifred schienen sie zu verspotten, sie herunter zu reißen. Sie fühlte sich elend und einsam. Aber nachgeben wollte sie nicht.
Ihre Kälte gegen Winifred sollte sich nicht mehr ändern. Sie wußte, alles zwischen ihnen war aus. Sie bemerkte grobe, häßliche Bewegungen an ihrer Lehrerin, sie sah ihr lehmiges, träges, nicht zu belebendes Fleisch, das sie immer an die großen, vorgeschichtlichen Eidechsen erinnerte. Eines Tages kam ihr Ohm ganz erhitzt bei dem kochenden Sonnenschein von einem Ausgange zurück. Der Schweiß stand ihm auf Stirn und Brauen, seine Hand war heiß und feucht und erstickend bei der Berührung. Auch er hatte etwas Schlüpfriges an sich – die saugende Feuchtigkeit, das Schwammige, und den brackigen, Übelkeit erregenden Geruch der Marschen, wo Leben und Verwesung eins sind.
Er war ihr abstoßend, bei ihrer Trockenheit und der Feinheit ihres inneren Feuers. Bis in die Knochen hinein schien sie ihn von sich halten zu müssen.
In diesen Wochen war es, wo Ursula zur Erwachsenen wurde.
Sie blieb zwei Wochen in Wiggiston und haßte es. Alles war grau, trockene Asche, kalt und tot und häßlich. Aber sie blieb doch. Sie blieb schon, um von Winifred loszukommen. Des Mädchens Haß und ihre Empfindung für das Abstoßende in ihrem Ohm und ihrer Lehrerin schien die beiden zusammen zu bringen. Sie vereinigten sich gegen sie.
In der Härte und Bitterkeit ihrer Seele merkte Ursula doch, daß Winifred sich in ihren Ohm zu verlieben begann. Sie war froh. Sie hatte sie beide lieb gehabt. Ihre marschige, bittersüße Verderbnis war für ihre Nase krankhaft und ungesund. Alles, um nur aus dieser fauligen Luft heraus zu kommen! Sie wollte sie beide für immer verlassen, für immer ihr weiches, seltsames, halb verderbtes Wesen hinter sich lassen. Alles, wenn sie nur loskommen konnte!
Eines Nachts kam Winifred ganz brennend in Ursulas Bett und schlang ihre Arme um das Mädchen, so daß sie sie gegen ihren Willen an sich pressen konnte, und sagte:
»Liebstes, mein Liebstes, – soll ich Brangwen heiraten – ja?«
Die klebende, schwere, schlammige Frage lastete unerträglich auf Ursula.
»Hat er dich gefragt?« sagte sie und widerstand so gut sie konnte.
»Ja, er hat mich gefragt«, sagte Winifred. »Soll ich ihn heiraten, Ursula?«
»Ja«, sagte Ursula.
Die Arme schlossen sich enger um sie.
»Ich wußte, du wünschtest es, mein Süßes, – und ich will ihn heiraten. – Du hast ihn lieb, nicht wahr?«
»Ich habe ihn schrecklich lieb gehabt – von Kindheit an.«
»Ich weiß – ich weiß. Ich kann mir wohl denken, was du an ihm lieb hattest. Er ist ein ganz eigener Mann, er hat so etwas ganz anderes als alle übrigen.«
»Ja«, sagte Ursula.
»Aber er ist nicht wie du, mein Liebling – ach, er ist nicht so gut wie du. Er hat sogar was Abstoßendes an sich – seine dicken Beine –«
Ursula schwieg.
»Aber ich will ihn heiraten, mein Liebling – das ist das beste. Nun sag, daß du mich lieb hast.«
Eine Art Geständnis wurde dem Mädchen nun damit abgerungen. Trotzdem ging ihre Lehrerin schluchzend fort, um sich in ihrer Kammer auszuweinen.
Nach zwei Tagen verließ Ursula Wiggiston. Miß Inger ging nach Nottingham. Sie und Tom Brangwen waren verlobt, und diese Tatsache schien der Ohm wie eine Bestätigung seiner Manneskraft herumzuzeigen.
Brangwen und Winifred Inger blieben noch ein paar Monate verlobt. Dann heirateten sie. Brangwen hatte das Alter erreicht, wo er sich Kinder wünschte. Er sehnte sich nach Kindern. Weder die Ehe noch häusliches Behagen bedeuteten ihm viel. Er wünschte nur sich fortzupflanzen. Er wußte, was er tat. Er hatte das Gefühl zunehmender Trägheit, von etwas, das sich einen Ruheplatz aussucht, wo es in Stumpfsinn, vollkommene, tiefste Gleichgültigkeit verfallen kann. Nun mochte das Triebwerk ihn tragen: Gatte, Vater, Betriebsleiter, warmer Klai, der nur durch die Tag für Tag wiederkehrende Tätigkeit der großen Maschine selbst Bewegung empfing. Und Winifred, die war eine gebildete Frau und von gleicher Wesensart wie er. Sie würde ihm eine gute Gefährtin sein. Sie war seine Genossin.