Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von Anfang an hatte das Kleine in dem jungen Vater ein tiefes starkes Gefühl erregt, über das er sich kaum Rechenschaft zu geben wagte, so stark quoll es aus dem Dunkel seines Innern hervor. Als er den ersten Schrei der Kleinen gehört hatte, war er von Schrecken ergriffen worden wegen des Widerhalles, den dieser in den unergründlichsten Tiefen seiner Seele fand. Mußte er solche Tiefen in sich zugeben, so gefährliche, so bedrohliche?
Er hielt das Kleine auf dem Arm und ging vorwärts und rückwärts mit ihm voller Unruhe über diesen Schrei seines eigenen Fleisches und Blutes. Seine Seele erhob sich gegen diese Stimme, die so plötzlich aus ihm hervorbrach, aus seiner innersten Tiefe.
Zuweilen des Nachts schrie und schrie das Kind, wenn die Nacht schwer war und der Schlaf auf ihm lastete. Halb im Schlaf streckte er dann die Hand aus, um sie auf das Gesicht des Kindes zu legen und sein Schreien zu verhindern. Aber etwas hielt seine Hand auf: das gänzlich Menschenunähnliche in diesem unerträglichen, fortwährenden Geschrei hielt ihn davon ab. Es war so ganz unpersönlich, hatte weder Grund noch Zweck. Und doch antwortete er sofort darauf, seine Seele war auf den darinliegenden Wahnsinn gestimmt. Es erfüllte ihn mit Schrecken, fast mit Wut.
Aber er lernte auch hiermit sich abfinden, sich den schrecklichen, verborgenen Quellen zu unterwerfen, die den Ursprung seines lebendigen Fleisches bildeten. Er war gar nicht das, als was er sich selbst vorkam. Dann war er eben was er war, unbekannt, voller Kraft, dunkel.
Er gewöhnte sich an das Kind, er lernte den kleinen Körper zu heben und zu tragen. Das Kleine hatte ein wunderschönes rundes Köpfchen, das ihn leidenschaftlich bewegte. Bis zum letzten Blutstropfen würde er gekämpft haben, um dies ausgesucht feine, runde Köpfchen zu schützen. Er lernte die kleinen Hände und Füße kennen, die seltsamen, nichts sehenden, goldbraunen Augen, den Mund, der sich nur zum Schreien oder um zu saugen öffnete, oder um ein merkwürdiges, zahnloses Lachen sehen zu lassen. Er konnte beinahe sogar die herunterbaumelnden Beine begreifen, die ihm zuerst solche Abneigung eingeflößt hatten. Sie konnten auf ihre eigene, besondere Weise strampeln und besaßen eine ihnen eigentümliche Weichheit.
Eines Abends sah er das winzige, lebendige Ding zum ersten Male nackt auf dem Schoße seiner Mutter sich umherwälzen und wurde ganz krank, so hilflos und leicht verwundbar und fremd kam es ihm vor; in einer Welt harter Körper und gewaltigster Höhenunterschiede lag es nackend und verwundbar an jeder Stelle da. Und doch war es ganz vergnügt. Aber lag nicht in seinem blinden, schrecklichen Geschrei der blinde, aus weiter Ferne stammende Schrecken über seine verwundbare Nacktheit, der Schreck darüber, so gänzlich ausgeliefert, hilflos nach jeder Richtung zu sein? Er konnte sein Geschrei nicht ertragen. Sein Herz straffte sich und stand gegen die ganze Welt auf Posten.
Aber er wartete nur darauf, daß der Schrecken dieser Tage vorübergehen möchte; er sah auch Freude herankommen. Er blickte auf das entzückende, rahmfarbige, kühle kleine Ohr des Säuglings, auf das bißchen dunkle Haar, das sich zu einem bronzenen Vlies zusammenzureiben pflegte, wie etwas Bronzestaub. Und er wartete darauf, daß das Kind sein eigen werden würde, auf ihn sehen, auf ihn eingehen würde.
Es war ein Wesen für sich, aber es war doch sein Kind. Sein Fleisch und Blut schlug ihm entgegen. Mit einem leidenschaftlichen, lauten Lachen preßte er das kleine Wesen an seine Brust. Und das Kind erkannte ihn.
Beim ersten Blick der neuerschlossenen Augen, in denen es zu dämmern begann, hoffte er, sie möchten ihn erkennen, ihn erfassen. Dann würde er anerkannt sein. Und das Kind erkannte ihn. Ein merkwürdig verzerrtes Lächeln trat seinetwegen auf das kleine Gesicht. Er preßte es an seine Brust, laut und sieghaft auflachend.
Allmählich entzündeten sich die goldbraunen Augen des Kindes und erweiterten sich beim Anblick des dunkelglühenden Gesichts des jungen Mannes. Es kannte seine Mutter besser, brauchte die Mutter mehr. Aber das hellste, schärfst ausgeprägte kleine Entzücken galt dem Vater.
Es begann kräftiger zu werden, sich heftiger und freier zu bewegen und Töne von sich zu geben, die wie Worte klangen. Nun wurde es ein kleines Mädchen. Es kannte bereits seine starken Hände, es freute sich über seinen festen Griff, es lachte und krähte, wenn er mit ihm spielte.
Und sein Herz wallte rotglühend auf vor leidenschaftlicher Liebe zu dem Kinde. Es war nicht viel über ein Jahr alt, als das zweite Kind geboren wurde. Von da an faßte er Ursula als sein Kind auf. Sie war sein erstes kleines Mädchen. Er schenkte ihr sein ganzes Herz.
Das zweite hatte dunkelblaue Augen und helle Haut: es war mehr ein Brangwen, sagten die Leute. Das Haar war ganz hell. Aber sie hatten Annas steifes, blondes Vlies aus ihren Kinderjahren vergessen. Sie nannten den Neuankömmling Gudrun.
Diesmal war Anna stärker gewesen und nicht so sehr gespannt. Es machte ihr nichts aus, daß das Kind kein Junge war. Es genügte ihr, daß sie Milch hatte und das Kind stillen konnte: O, o dies Entzücken, wenn das kleine Wesen die Milch ihres Körpers trank! O, o, o die Seligkeit, als das Kleine stärker wurde und blind und doch leidenschaftlich nach ihrer Brust griff, wenn der winzige Mund sie in blindem, sicherem, lebensvollem Wissen suchte, der plötzliche, vollkommene Frieden, wenn der kleine Körper sich beruhigte und der Mund sog, sog, sog, Leben aus ihr trank, um neues Leben zu schaffen, fast seufzend vor leidenschaftlicher Freude über den Empfang eines eigenen Daseins, wenn die winzigen Händchen lebhaft die Brust festzuhalten suchten, die ihnen entzogen werden sollte, und sich nicht dreinreden lassen wollten! Dies genügte Anna. Sie schien in eine Art verzückte Mutterschaft fortzutreiben; diese Verzückung der Mutterschaft bedeutete für sie alles.
Daher bekam der Vater nun das ältere Kind, das entwöhnte; die goldbraunen, lebhaft sich wundernden Augen der kleinen Ursula waren jetzt für ihn da, der hinter der Mutter darauf gewartet hatte, bis die Reihe an ihn käme. Die Mutter fühlte wohl gelegentlich einen scharfen Stich von Eifersucht. Aber sie war doch zu sehr durch das winzige Kleine in Anspruch genommen. Das gehörte vollständig ihr, es hatte sie unbedingt nötig.
So wurde Ursula ihres Vaters Herzenskind. Sie war die kleine Blüte, er die Sonne. Er wurde geduldig, tätig, erfinderisch ihretwegen. Er lehrte sie alle möglichen spaßhaften kleinen Sachen, er erfüllte sie und regte sie ihrem winzigen Maßstabe entsprechend aufs höchste an. Und sie ging mit ihrem überquellenden Kinderlachen und ihrem hellen Freudenruf auf ihn ein.
Nun zwei Kinder da waren, kam eine Frau für die Hausarbeit. Anna war gänzlich Amme. Zwei so kleine waren nicht zu viel für sie. Aber sie haßte jede Art von Arbeit, nun die Kinder da waren, außer deren Pflege.
Sobald Ursula umherzuwatscheln begann, wurde sie ein aufmerksames, geschäftiges Kind, das stets an allem Vergnügen fand und nicht viel Beaufsichtigung verlangte. Abends gegen sechs Uhr ging Anna sehr oft über den Weg ans Gatter und setzte Ursula mit einem: »Nun lauf und hol Vatting!« hinüber. Dann konnte Brangwen, den steilen Hügel hinaufkommend, vor sich auf der Biegung des Pfades ein winziges, vom Winde vorwärtsgepustetes Etwas mit einem dunklen Köpfchen heranstolpern sehen, das, sobald es ihn erblickte, wie eine wild gewordene kleine Windmühle auf ihn zugelaufen kam, die Arme auf und nieder schwenkend, den steilen Hügel hinunter. Sein Herz hüpfte empor, er lief, so rasch er konnte, um sie aufzufangen, denn er wußte, sie mußte fallen. Die kleinen Glieder fliegend kam sie wild auf ihn zugeschwankt. Und wie froh er war, wenn er sie dann in den Armen auffing. Einmal, als sie so auf ihn zuflog, fiel sie; er sah sie, wie sie mit hocherhobenen Händen ihm so entgegenlief, plötzlich vornüberstürzen, und als er sie aufhob, blutete ihr Mund. Nie konnte er den Gedanken daran ertragen, er hätte immer weinen können, selbst noch als er schon ein alter Mann und sie ihm fremd geworden war. Wie er die kleine Ursula liebte! – sein Herz war ihrethalben schwer versehrt worden, als er noch ein junger Mann war, in der ersten Zeit seiner Ehe.
Als sie etwas älter geworden war, sah er sie stets furchtlos über die Stäbe des Gatters klettern, in ihrer roten Schürze, in schwebender Gefahr und auch wohl einmal hinüberfallend, und dann wieder hochkrabbelnd und ihm entgegenlaufen. Sie ritt manchmal gern auf seiner Schulter, dann wieder ging sie lieber Hand in Hand mit ihm; mitunter konnte sie die Arme um seine Beine schlingen und dann plötzlich wieder frei dahinrasen, während er mit Schreien und Rufen hinter ihr her segelte, ein Kind wie sie. Er war mit seinen zwanzig Jahren immer noch ein reiner Junge, lang, dünn, unstet.
Er war es auch, der ihre kleine Wiege machte, ihren kleinen Stuhl, ihre kleine Fußbank, ihren hohen Stuhl. Er war es, der sie mit hohem Schwung an den Tisch setzte oder ihr aus einem alten Tischbein eine Puppe machte, während sie beobachtend dabei saß und sagte:
»Mach ihr Augen, Vatting, mach ihr Augen!«
Und dann machte er ihr Augen mit dem Messer.
Sehr gern machte sie sich fein; daher band er ihr wohl einmal einen Zwirnsfaden ums Ohr mit einer blauen Perle unten dran als Ohrring.
Zur Abwechslung bekamen die Ohrringe auch hin und wieder eine rote Perle, oder eine goldene, und eine richtige kleine Perle. Und wenn er sie dann abends beim Nachhausegehen ganz gesetzt und selbstbewußt auf sich zukommen sah, dann merkte er das sofort und fragte:
»Deine besten goldenen Perlenohrringe trägst du heute?«
»Ja.«
»Ich glaube beinahe, du bist wohl bei der Königin zu Besuch gewesen?«
»Ja, bin ich auch.«
»O, und was hat sie denn zu dir gesagt?«
»Sie hat gesagt – sie hat gesagt – nu mach man deinen hübschen weißen Kittel nich schmutzig.«
Er gab ihr die besten Bissen von seinem Teller und steckte sie ihr in den feuchten, roten Mund. Und dann machte er ihr mit Pflaumenmus einen Vogel auf ihrem Butterbrot: den aß sie dann mit ganz besonderer Wonne.
Sobald das Teezeug aufgewaschen war, ging die Aufwartefrau fort und ließ die Hausgenossen allein. Gewöhnlich half Brangwen beim Baden der Kinder. Das gab dann lange Unterredungen mit seinem Kinde, wenn sie auf seinem Knie saß und er ihr die Sachen aufknöpfte. Und er sprach dann anscheinend über wirklich ganz gewichtige Dinge mit ihr, über tiefe Sittenlehren. Mit einem Male hörte sie dann nicht mehr zu, wenn ihr Blick etwa auf eine in die Ecke gerollte Glasperle fiel. Sie rutschte ihm weg und hatte gar keine Eile mit dem Wiederkommen.
»Na, nun komm her«, sagte er dann wartend. Sie war ganz in Gedanken und beachtete ihn gar nicht.
»Nun zu«, wiederholte er mit etwas befehlendem Ton.
Ein vergnügtes kleines Gnickern kam von ihr her, aber sie tat so, als wäre sie tief in Gedanken.
»Hörst du nicht, mein Fräulein?«
Mit einem plötzlichen, frohen Lachen drehte sie sich um. Er stürzte auf sie zu und riß sie hoch.
»Wer will da nicht zu mir kommen!« sagte er und rollte sie zwischen seinen starken Händen und kitzelte sie. Und wie herzlich sie dann lachte, wie herzlich! Sie hatte ihn so lieb, weil er sie mit seiner Kraft, seinem Willen zwang. Er war allmächtig, ein Turm der Stärke, der sich weit über ihr Gesichtsvermögen erhob.
Wenn die Kinder im Bett waren, saß er manchmal mit Anna und sprach mit ihr ganz unzusammenhängendes Zeug, ohne daß sie beide etwas taten. Er las sehr wenig. Fühlte er sich zu etwas so hingezogen, daß er es las, dann wurde es für ihn brennende Wirklichkeit, ein Schauplatz neuer Vorgänge vor dem Fenster seiner Seele. Anna dagegen durchflog ein Buch nur um zu sehen, was geschähe, und hatte dann genug davon.
Daher saßen sie oft zusammen und sprachen ganz zusammenhangslos. Was wirklich zwischen ihnen vorging, darüber konnten sie nicht sprechen. Ihre Worte waren bloße zufällige Begebenheiten in ihrem wechselseitigen Schweigen. Wenn sie sprachen, plauderten sie. Sie hatte keine Lust zu nähen.
Es stand ihr wunderhübsch, wenn sie so nachdenklich, dankerfüllt dasaß, als wäre ihr Herz hell erleuchtet. Zuweilen wandte sie sich mit einem Lachen zu ihm, um ihm irgend etwas zu erzählen, was im Laufe des Tages vorgefallen war. Dann pflegte auch er zu lachen, und sie redeten ein Weilchen, ehe das lebendige körperliche Schweigen zwischen ihnen wieder eintrat.
Sie war mager, aber voller Farbe und Leben. Sie fühlte sich vollkommen glücklich bei diesem reinen Nichtstun, bei ihrem Dasitzen in neugieriger schläfriger Würde, sorglos als wäre sie eine Königin, so gänzlich gleichgültig, so sicher. Das Band zwischen ihnen ließ sich nicht bestimmen, aber es war sehr stark. Es hielt jeden andern von ihnen entfernt.
Sein Gesicht hatte sich in der Zeit, da sie ihn kannte, nicht verändert, nur gespannter war es geworden. Es war rötlich und dunkel in seiner Versonnenheit, zeigte eine starke Aufmerksamkeit. Mitunter, wenn seine Augen die ihren trafen, ließ ein gelber Blitz aus ihnen ohnmächtige Dunkelheit sich über ihr Bewußtsein breiten, und ein schwaches, seltsames Lächeln flog dann über sein Gesicht. Ihre Augen rollten schläfrig umher und schlossen sich wie unter einem Zauberbann. Und dann versank sie in die gleiche mächtige Dunkelheit. Er besaß die Eigenschaften einer jungen, schwarzen, aufmerksamen, sich gar nicht bemerkbar machenden Katze; seine Gegenwart aber machte sich ihr doch allmählich fühlbar, nahm sie verstohlen und machtvoll in Besitz. Sein Ruf galt nicht ihr selbst, sondern etwas in ihrem Innern, das sofort ganz fein darauf einging, aus ihrer dunklen Unbewußtheit heraus.
So saßen sie in Dunkelheit zusammen, leidenschaftlich, elektrisch geladen, stets auf der Nachtseite des Alltags, nie auf der Lichtseite weilend. Im Lichte schien er zu schlafen, ohne es zu wissen. Nur sie wußte, wie er war, wenn die Dunkelheit ihn in Freiheit setzte und er mit seinen goldglühenden Augen seine Absichten und Wünsche im Dunklen vor sich sah. Dann lag sie in seinem Bann, dann ging sie auf seinen rauhen, durchdringenden Ruf mit einem Aufschnellen ihrer Seele ein, die Dunkelheit erwachte, elektrisch, sprühend von unbekannten, überwältigenden Einflüsterungen.
Jetzt kannten sie allmählich einander; sie war der Tag, das Tageslicht, er der Schatten, abseits stehend, aber im Dunklen stark vor überwältigender Lust.
Sie lernte es, ihn nicht zu hassen oder zu fürchten, sondern sich an ihm zu erfüllen, sich seiner schwarzen, sinnlichen Kraft hinzugeben, die den ganzen Tag über verborgen lag. Und das merkwürdige Rollen der Augen, als verfiele sie aus ihrem gewohnten Bewußtsein in Zauberschlaf, wurde ihr zur Angewohnheit, sobald sie im Leben, in ihrem bewußten Leben etwas bedrohte oder angriff.
So blieben sie im Tageslicht getrennt und in dichter Finsternis verbunden. Er unterstützte ihre Tagesherrschaft, sie galt ihm hier wenigstens als unverletzlich. Und solange es dunkel war, gehörte sie ihm an, seiner engen, einschmeichelnden, einschläfernden Vertraulichkeit.
All seine Tätigkeit den Tag über, sein ganzes Leben in der Öffentlichkeit war nur eine Art Schlaf. Sie verlangte nach Freiheit, sie wollte dem Tage angehören. Und er versuchte, dem Tag durch seine Arbeit aus dem Wege zu gehen. Nach dem Tee ging er in seine Werkstätte hinüber, an seine Tischlerarbeit oder seine Holzschnitzerei. Er stellte die ausgeflickte, recht schäbig aussehende Kanzel in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder her.
Sehr gern hatte er dann das Kind bei sich, das zu seinen Füßen herumspielte. Sie war wie ein Licht, das ihm wirklich angehörte, das im Kreise seiner Dunkelheit spielen durfte. Er ließ die Werkstättentür nur angelehnt. Und sobald er mit seinem Doppelgefühl für die Gegenwart anderer merkte, sie käme, dann war er zufrieden, dann war er ruhig. War er mit ihr allein, dann mochte er nichts bemerken, nicht sprechen. Ohne nachzudenken, wollte er nur leben, ihre Gegenwart ihn umspielen lassen.
Er ging immer schweigsam umher. Das Kind pflegte dann die Schuppentür aufzustoßen und sah ihn bei Lampenlicht mit aufgerollten Ärmeln arbeiten. Sein Zeug hing unordentlich, wie eine Art Verpackung um ihn herum. Darunter aber war sein Körper gespannt in biegsamer, federnder Kraft, die nur ihm eigen war, ihm allein. Von der Zeit an, da sie ein winziges Kind war, konnte Ursula sich auf seinen Unterarm besinnen mit den feinen schwarzen Haaren und seiner elektrischen Biegsamkeit, wenn er an der Hobelbank mit raschen, unmerkbaren Bewegungen arbeitete, immer in einer Art verhaltenen Schweigens.
Einen Augenblick hing sie dann in der Tür des Schuppens und wartete darauf, daß er sie bemerken sollte. Er wandte sich, seine runden, schwarzen Augenbrauen zogen sich ein wenig in die Höhe.
»Hallo, Piepmäuschen!«
Und dann machte er die Tür hinter ihr zu. Glückselig fühlte sich dann das Kind in dem Schuppen, wo es nach süßem Holz roch und wo das Geräusch des Hobels oder des Hammers oder der Säge erklang, und der doch vom Schweigen des Arbeiters erfüllt war. Sie spielte dann aufmerksam und gänzlich hingerissen mit Hobelspänen und kleinen Holzstückchen. Nie rührte sie ihn an: seine Beine und Füße waren ihr ganz nahe, aber sie kam ihnen nie zu nahe.
Sehr gern schlüpfte sie hinter ihm her, wenn er abends noch mal in die Kirche ging. Wenn er wußte, daß er allein sein würde, schwenkte er sie über die Gartenmauer und ließ sie mitkommen.
Wenn die Tür dann hinter ihnen zuschlug, fühlte sie sich ganz entrückt, und die beiden nahmen dann den weiten, bleichen, leeren Raum in Besitz. Sie paßte auf, wie er die Kerzen an der Orgel anzündete, wartete, während er mit dem Üben seiner Gesänge begann, und lief dann neugierig überall umher, wie ein Kätzchen, das im Dunklen mit weit offenen Augen spielt. Die Glockenstricke hingen undeutlich über dem Boden baumelnd aus dem Turme herab, und Ursula hätte immer zu gern mit den plusterigen rotweißen oder blauweißen Griffen gespielt. Aber sie hingen ihr zu hoch.
Zuweilen kam ihre Mutter, um sie zu holen. Dann fühlte das Kind sich von Widerstreben gepackt. Sie ging leidenschaftlich gegen ihrer Mutter überlegene Oberherrschaft an. Sie wollte für sich allein dastehen.
Gelegentlich aber erschreckte auch er sie grausam. Er ließ sie in der Kirche herumspielen, sie suchte sich Fußbänkchen und Gesangbücher und Kissen zusammen, wie eine Biene unter Blumen, während die Orgeltöne verklangen. Das ging so ein paar Wochen lang. Da aber geriet eines Tages die Scheuerfrau in fürchterliche Wut; sie wagte sich schließlich sogar an Brangwen heran und stieß wie eine Harpyie auf ihn los. Er wurde schlapp und hätte doch dem alten Untier am liebsten den Hals umgedreht.
Statt dessen ging er glühend vor Wut nach Hause und fuhr auf Ursula los.
»Du unnützer kleiner Affe, kannst du nicht mit in die Kirche gehen, ohne alles auf den Kopf zu stellen?«
Seine Stimme klang rauh und katzig, er war ganz blind gegen das Kind. In kindlicher Angst und Furcht wich sie vor ihm zurück. Was war denn das, was war das für eine schreckliche Geschichte?
Die Mutter wandte sich in ihrer ruhigen, beinahe stolzen Weise nach ihm um.
»Was hat sie denn getan?«
»Getan? Sie darf nie wieder mit in die Kirche, wenn sie alles zerreißt und kaputt macht und in Unordnung bringt.«
Langsam rollte die Frau ihre Augen und senkte die Lider.
»Was hat sie denn kaputt gemacht?«
Das wußte er nicht.
»Grade eben fiel Mrs. Wilkinson über mich her«, schrie er, »wegen einer Menge Geschichten, die sie angestellt hat.«
Ursula schreckte unter der Verachtung und dem Ärger zusammen, die in dem »sie« lagen, als er von ihr sprach.
»Schick mir Mrs. Wilkinson mal her mit der Menge Geschichten, die sie angestellt hat«, sagte Anna. »Ich bin diejenige, die so was anzuhören hat.«
»Es sind ja gar nicht die Geschichten, die das Kind angestellt hat,« fuhr die Mutter fort, »die dich so aufbringen, es ist ja nur, weil du es nicht vertragen kannst, daß das alte Weib so mit dir redet. Aber so viel Mut hast du nicht, daß du dich auch mal gegen sie wendest, wenn sie dich anprustet; du mußt deine Wut hier mit herbringen.«
Er verfiel wieder in Schweigen. Ursula begriff, daß er Unrecht hatte. In der äußerlichen, der Oberwelt war er im Unrecht. Allmählich kam über das Kind Verständnis für die kalte, unpersönliche Welt. Da, wußte sie, hatte ihre Mutter recht. Aber trotzdem schrie ihr Herz auf um ihren Vater, um sein Recht, er sollte in seiner dunklen Gefühlsunterwelt recht behalten. Aber er war ärgerlich und ging seinen Weg in Dunkelheit und Schweigen weiter.
Stets ganz darin aufgehend, lief das Kind durchs Leben, immer voll stillen Vergnügens. Sie nahm die Dinge gar nicht wahr, keinen Wechsel, keine Veränderung. Den einen Tag fand sie Marienblümchen im Grase, den nächsten Apfelblüten, die die Erde weiß übersprenkelten, und lief vor Vergnügen über ihr Dasein dazwischen herum. Und dann wieder fingen die Vögel an, an den Kirschen herum zu picken, und ihr Vater schüttelte einen Regen von Kirschen rund um sie her vom Baume auf den Boden. Dann waren alle Wiesen voll Heu.
Was gewesen war oder was kommen würde, daran konnte sie sich nicht erinnern, die Dinge da draußen waren eben alle Tage da. Sie war immer sie selbst, alles übrige reiner Zufall. Selbst ihre Mutter war für sie nur ein Zufall: aber einer, der Bestand hatte.
Nur ihr Vater nahm in ihrem Kinderbewußtsein eine dauernde Stellung ein. Kam er zurück, so erinnerte sie sich undeutlich an sein Weggehen, ging er weg, so wußte sie unbestimmt, sie müsse auf seine Rückkehr warten. Ihre Mutter dagegen war, wenn sie von einem Ausgang zurückkam, einfach wieder da, einen Grund, sie mit vorherigem Fortgehen zu verbinden, gab es für sie nicht.
Die Rückkehr oder das Weggehen des Vaters war für das Kind der einzige Vorgang, auf den sie sich besinnen konnte. Wenn er kam, erwachte etwas in ihr, eine gewisse Sehnsucht. Sie wußte, wenn etwas mit ihm nicht in Ordnung war, oder wenn er gereizt oder müde war: dann wurde auch sie unruhig, konnte auch sie keine Ruhe finden.
Sobald er im Hause war, fühlte das Kind sich voll, warm und reich, wie jedes lebende Geschöpf sich im Sonnenschein vorkommt. Sobald er fort war, wurde sie unklar, vergeßlich. Selbst wenn er sie schalt, war sie seiner deutlicher bewußt als ihrer selbst. Er war ihre Stärke, ihr größeres Ich.
Ursula war drei Jahre alt, als abermals ein kleines Mädchen geboren wurde. Von da an waren die beiden kleinen Schwestern, Ursula und Gudrun, viel zusammen. Gudrun war ein ruhiges Kind, das stundenlang mit sich selbst spielen konnte, ganz durch seine Träume in Anspruch genommen. Sie hatte braunes Haar, eine helle Haut, war merkwürdig ruhig, fast gleichgültig. Aber ihr Wille war unbezähmbar, sobald sie ihn einmal auf irgend etwas richtete. Sie folgte Ursulas Leitung von Anfang an. Und doch war sie durchaus selbständig, so daß es etwas ganz Merkwürdiges war, die beiden zusammen zu beobachten. Sie waren wie zwei junge miteinander spielende Tiere, die sich gegenseitig keinerlei Beachtung schenken. Gudrun war ihrer Mutter Verzug – ausgenommen, daß Anna immer ganz in ihrem letzten Säugling lebte.
Die Last so vieler von ihm abhängiger Leben beugte den jungen Mann nieder. Er hatte seine Arbeit im Geschäft, die er lediglich durch angestrengten Willen erledigen konnte; er hatte seine unfruchtbare Leidenschaft für die Kirche; er hatte drei kleine Kinder. Zudem war während dieser Zeit seine Gesundheit nicht besonders. So wurde er mager und reizbar, oft eine wahre Plage für sein Haus. Dann hieß es: geh an deine Holzschnitzerei oder in die Kirche.
Zwischen ihm und der kleinen Ursula trat ein seltsames Bündnis in Kraft. Sie hatten einander erkannt. Er wußte, das Kind war immer auf seiner Seite. Aber in seinem Bewußtsein zählte er das für nichts. Sie war ja stets für ihn. Das galt ihm als ausgemacht. Und doch beruhte sein Leben ja auf ihr, selbst als sie noch ein ganz kleines Kind war, auf ihrer Unterstützung, ihrer Zustimmung.
Anna verharrte in ihrer heftigen Verzückung der Mutterschaft, immer geschäftig, oft gereizt, aber sie befand sich stets in dieser Verzückung der Mutterschaft. Sie schien in ihrer eigenen maßlosen Fruchtbarkeit aufzugehen, und es war, als scheine über ihr die Sonne des Südens. Ihre Farben waren frisch, ihre Augen voll glühender Fruchtbarkeit, ihr braunes Haar fiel ihr lose über die Ohren herab. Sie machte den Eindruck, als sei sie sehr reich. Keine Verantwortlichkeit, kein Pflichtgefühl beunruhigten sie. Das Äußere, das öffentliche Leben bedeutete für sie weniger als nichts, in Wirklichkeit.
Er dagegen sah sich mit sechsundzwanzig Jahren Vater von vier Kindern und Gatten einer Frau, die gänzlich in sich wie die frischeste Lilie auf dem Felde lebte, und ließ sich von dem Gewicht seiner Verantwortlichkeit niederbeugen und -zerren. Da war es, daß sein Kind Ursula sich bemühte, ihm etwas zu sein. Sie war auch dann bei ihm, selbst in dem zarten Alter von vier Jahren, wenn er gereizt war und herumschrie und das ganze Haus elend machte. Sie litt unter seinem Gebrüll, aber das war gar nicht wirklich er selbst. Sie wünschte immer, es wäre vorbei, und sie könnten wieder wie gewöhnlich zusammen sein. Wenn er ungemütlich war, fand das Kind einen Widerhall auf seine schreiendsten Nöte und ging blindlings darauf ein. Ihr Herz folgte ihm, wie durch ein Band an ihn gefesselt, und durch eine Liebe, die es nur nicht so offenbaren konnte. Ihr Herz folgte ihm in seiner Liebe unausgesetzt.
Aber sie besaß schon ein undeutliches, wenn auch kindliches Gefühl für ihre eigene Winzigkeit und Unzulänglichkeit, ein verhängnisvolles Gefühl ihrer Wertlosigkeit. Nichts konnte sie tun, nie genügte sie. Sie konnte ihm nichts bedeuten. Diese Erkenntnis war für sie von Anbeginn tödlich.
Und doch wandte sie sich ihm zu wie die zitternde Kompaßnadel dem Nord. Ihr ganzes Leben fand seine Richtung durch die Wahrnehmung seines Wesens, ihr ganzes Wachen war auf ihn gerichtet. Und sie war gegen ihre Mutter.
Ihr Vater war die Dämmerung, in der ihr Bewußtsein erwachte. Wäre er nicht gewesen, so wäre sie wohl wie die anderen Kinder ausgewachsen, wie Gudrun und Therese und Katharine, eins mit den Blumen und Schmetterlingen und ihrem Spielzeug, ohne jedes Sonderdasein außerhalb der greifbaren Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Aber ihr Vater stand ihr zu nahe. Die Umklammerung seiner Hände und die Kraft seiner Brust erweckten sie fast schmerzlich aus der vorüberhuschenden Bewußtlosigkeit ihrer Kindheit. Mit ihren weit offenen, nichts sehenden Augen war sie schon wach gewesen, ehe sie noch recht sehen konnte. Sie war zu früh geweckt worden. Zu früh erging der Ruf an sie, als sie noch ein Säugling war und ihr Vater sie fest an seine Brust preßte, ihr Herz wurde aus seinem Schlafdasein durch das Klopfen seines größeren Herzens ins Wachen gerufen, durch die Art, wie er sie um Liebe und Erfüllung an sich drückte, sie erregend, wie ein Magnet immer erregen muß. Undeutlich, unbestimmt trat ihre Antwort ins Dasein.
Die Kinder waren sehr schlicht fürs Landleben angezogen. Solange sie klein war, klapperte Ursula in kleinen Holzschuhen umher, blaue Überhosen über ihrem dicken roten Kleide, ein rotes Tuch kreuzweis über der Brust zusammengebunden und hinten zugeknotet. So lief sie mit ihrem Vater in den Garten.
Das Haus war früh auf den Beinen. Um sechs war er schon draußen beim Umgraben, um halb acht ging er ins Geschäft. Und gewöhnlich war Ursula bei ihm im Garten, wenn auch nicht in seiner Nähe.
Um Ostern in einem Jahre half sie ihm beim Kartoffelstecken. Das war das erste Mal, daß sie ihm half. Der Vorgang setzte sich in ihr fest wie ein Bild, eine ihrer frühesten Erinnerungen. Bald nach Hellwerden waren sie hinausgegangen. Ein kalter Wind blies. Er hatte seine alten Hosen in die Stiefel gesteckt, hatte weder Rock noch Weste an, seine Hemdärmel flatterten im Winde, sein Gesicht war rötlich und gespannt, in einer Art Schlaf. Wenn er bei der Arbeit war, hörte und sah er nicht. Ein langer, dünner Mensch, noch jung aussehend, mit einem Strich von schwarzem Schnurbart über seinem dicken Munde, und das feine Haar ihm um die Stirn wehend, so arbeitete er allein im ersten Tagesgrauen auf seinem Lande. Seine Einsamkeit hatte für das Kind etwas Anziehendes, wie ein Zauberbann.
Kalt sauste der Wind über die dunkelgrünen Felder daher. Ursula lief zu ihm und sah, wie er auf einer Seite des umgegrabenen Beetes den Setzpflock einstieß, hinüberging und ihn auf der andern Seite ebenso einstieß, und dann die Leine straff und klar über die dazwischenliegenden Erdklumpen zog. Dann näherte der Spaten sich ihr mit einem scharfen, schneidenden Geräusch und schnitt eine tiefe Furche in die frische, weiche Erde.
Er stieß seinen Spaten fest und richtete sich auf.
»Willst du mir nicht helfen?« sagte er.
Sie sah ihn unter ihrer kleinen Wollmütze hervor an.
»Ja,« fuhr er fort, »du könntest mir wohl 'n paar Tüffeln einsetzen. Sieh – so – daß diese kleinen Augen nach oben stehen – so weit auseinander, siehst du.«
Und indem er sich niederbeugte, setzte er die schon ansetzenden Kartoffeln rasch und sicher in die Furche, wo sie einzeln und feierlich auf der kalten, schweren Erde liegen blieben.
Er gab ihr einen kleinen Korb voll Kartoffeln und ging selber nach dem andern Ende der Reihe hinüber. Sie sah, wie er sich bückte und auf sie zu arbeitete. Sie regte sich über das Ungewohnte auf. Sie legte eine Kartoffel ein, legte sie wieder um, damit sie auch hübsch grade säße. Ein paar Augen waren abgebrochen, und sie bekam Angst. Ihre Verantwortung erregte sie wie ein sie fesselndes Band. Sie mußte immer wieder voller Angst auf die unter dem aufgehäuften schwarzen Boden begrabene Leine sehen. Ihr Vater arbeitete sich näher und näher heran, vornübergebeugt. Sie war von ihrer Verantwortung ganz überwältigt. Rasch legte sie die Kartoffeln in die kalte Erde.
Er kam näher.
»Nicht so dicht«, sagte er und beugte sich über ihre Kartoffeln, nahm ein paar wieder heraus und brachte die übrigen in Ordnung. Sie stand in dem schmerzlich hilflosen Erschrecken der Kindheit dabei. Er sah so gar nichts und war doch so sicher, und sie wollte es auch so gerne recht ordentlich machen und konnte es doch nicht. Sie blieb stehen und sah zu, ihre kleinen Überhosen flatterten im Winde, und die Enden ihres roten Wolltuches sausten stoßweise umher. Dann ging er wieder die Reihe entlang und wandte die Kartoffeln unbarmherzig mit scharfen Spatenhieben um. Sie beachtete er gar nicht, sondern arbeitete ruhig weiter. Er war in einer andern Welt als sie. Sie stand da, hilflos an der seinen gestrandet. Er fuhr in seiner Arbeit fort. Sie wußte, sie konnte ihm nicht helfen. Etwas verloren wandte sie sich schließlich ab und lief den Garten hinunter, weg von ihm, so rasch sie konnte weg von ihm, um ihn und seine Arbeit zu vergessen.
Er vermißte ihre Anwesenheit, ihr Gesicht in der kleinen roten Mütze, ihre flatternden blauen Überhosen. Sie lief zu einem kleinen Wasser, das durch Gras und Steine sickerte. Das liebte sie.
Als er dort vorbeikam, sagte er:
»Da hast du mir aber nicht viel geholfen.«
Stumm sah das Kind zu ihm auf. Das Herz war ihr schon so schwer vor Enttäuschung. Ihr Mund war stumm, rührend. Aber er bemerkte nichts, er ging ruhig seines Weges.
Und sie spielte weiter, denn beim Spielen fühlte sie ihre Enttäuschung fast noch deutlicher. Vor der Arbeit fürchtete sie sich, weil sie sie doch nicht so ausführen konnte wie er. Sie war sich der tiefen Kluft zwischen ihnen beiden wohl bewußt. Sie wußte, sie besaß noch keine Fähigkeiten. Daß Erwachsene imstande waren, mit Überlegung zu arbeiten, war ihr noch etwas Geheimnisvolles.
Und dann brach er auch wohl mit einem Male zerstörend über ihre gemütvolle Kinderwelt herein. Ihre Mutter war sehr nachsichtig, unachtsam. Die Kinder spielten den ganzen Tag über umher, wie es ihnen paßte. Ursula war gedankenlos – weshalb sollte sie sich auch an etwas erinnern? Wenn sie im Garten die Hecken voller Knospen sah, und sie brauchte die rosig-grünlichen Dinger für ihren Puppentee als Brot und Käse, dann lief sie eben hin und holte sie sich.
Dann mit einem Male, vielleicht schon am nächsten Tage, flog ihr vor Schreck fast die Seele aus dem Leibe, wenn ihr Vater sich zu ihr umdrehte und schrie:
»Was für ein Trampeltier ist denn hier wieder über meine Beete getanzt, wo ich grade frisch gesät habe? Ich weiß wohl, du bist es, du Nichtsnutz! Kannst du nicht anderswo herumlaufen, als grade über meine Beete? Aber so bist du immer, du – bloß nicht aufpassen, immer bloß hinter deinem Leckermaul her!«
Bei seinem gespannten Innenleben verletzte ihn der Anblick der tiefen kleinen Fußspuren, die im Zickzack über sein Werk liefen. Das Kind aber war unendlich viel tiefer verletzt. Seine leicht verwundbare kleine Seele fühlte sich geschunden, zertrampelt. Warum waren denn auch die Fußspuren da? Sie hatte sie doch gar nicht machen wollen. Betäubt vor Scham und Schmerz und Unwirklichkeitsgefühl stand sie da.
Ihre Seele, ihr Bewußtsein schien hinzusterben. Sie wurde verschlossen und empfindungslos, ein bewegungsloses kleines Wesen mit harter, unzugänglicher Seele. Das Gefühl ihrer eigenen Unwirklichkeit härtete sie wie ein Frost. Sie wurde gefühllos.
Und der Anblick ihres Gesichts in seiner Verschlossenheit und Überlegenheit, ihre anmaßliche Gleichgültigkeit ließen eine flammende Wut über ihn hinlaufen. Er hätte sie am liebsten zerbrochen.
»Ich breche deine widerspenstige kleine Fratze schon noch«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, die Hand erhoben.
Das Kind änderte sich nicht im geringsten. Der Ausdruck von Gleichgültigkeit, vollkommener, hochnäsigster Gleichgültigkeit, als wäre außer ihr kein Mensch anwesend, blieb an ihr haften.
Und doch zerriß tief in ihrem Innern ein Schluchzen ihre Seele. Und sobald er fort war, konnte sie gehen und sich unter dem Sofa im Wohnzimmer verstecken und dort mit geballten Fäusten in schweigendem, verborgenem Kinderelend liegen bleiben.
Kroch sie dann nach einer Stunde oder so wieder hervor, dann ging sie recht steif an ihr Spiel. Sie hatte den festen Willen zu vergessen. Sie trennte ihre Kinderseele von ihrem Gedächtnis los, um den Schmerz, die Beleidigung unwirklich zu machen. Sie stand ganz für sich. Außer ihr gabs nun niemand mehr auf der Welt. Auf diese Weise kam sie früh zu dem Glauben an eine äußere Bosheit, die ihr entgegenstände. Und sehr früh lernte sie erkennen, daß selbst ihr angebeteter Vater teil an dieser Bosheit hatte. Und sehr früh lernte sie auch ihre Seele in Widerstand und Verleugnung alles dessen, was außerhalb ihrer stand, sich an ihrem eigenen Wesen erhärten.
Nie tat es ihr leid, daß sie etwas begangen hatte, nie vergab sie denen, die sie hatten schuldig werden lassen. Hätte er zu ihr gesagt: »Warum bist du denn über meine so mühsam umgegrabenen Beete getrampelt, Ursula?«, dann hätte ihr das furchtbar weh getan und sie würde alles für ihn getan haben. Aber sie wurde stets durch die Unwirklichkeit der Außenwelt gequält. Die Erde war doch dazu da, daß man auf ihr herumlief. Warum mußte sie denn nun grade einen bestimmten kleinen Fleck vermeiden, bloß weil er »Beet« genannt wurde? Er war doch auch Erde, auf der man herumlaufen konnte. So war ihre gefühlsmäßige Schlußfolgerung. Und wenn er sie dann anbrüllte, wurde sie hart, schnitt sich von jeder Verbindung ab und lebte in der abgeschlossenen kleinen Welt ihres eigenen, heftigen Willens.
Je älter sie wurde, fünf, sechs, sieben Jahre, um so stärker wurde das Band zwischen ihr und ihrem Vater. Und doch blieb es immer bis zum Zerreißen gespannt. Immer wieder verfiel sie in ihren heftigen Eigenwillen, in dies Leben in ihrer abgeschlossenen kleinen Welt. Das ließ ihn vor Bitterkeit mit den Zähnen knirschen, denn er verlangte doch immer wieder nach ihr. Sie aber verhärtete sich so in ihrer eigenen Welt, daß sie uneinnehmbar wurde.
Er schwamm sehr gern und pflegte sie bei schönem Wetter mit an eine ruhige Stelle am Wasserweg zu nehmen, oder zu einem großen Teich oder dem Staubecken, um dort zu baden. Er nahm sie beim Schwimmen auf den Rücken, und dort hing sie ganz fest und fühlte seine starken Bewegungen unter sich, so stark, als könnten sie die Welt tragen. Dann lehrte er sie auch schwimmen.
Sie war ein furchtloses kleines Ding, wenn er sie anstachelte. Und er fand ein sonderbares Vergnügen daran, sie bange zu machen, zu sehen, wie weit sie wohl mit ihm gehen würde. So sagte er einmal, ob sie wohl auf seinen Schultern sitzen bleiben möchte, wenn er von der Brücke ins Wasser hinunterspränge. Sie sagte ja. Er fühlte mit Vergnügen das nackte Kind auf seinen Schultern hängen. Es war ein merkwürdiger Kampf zwischen ihrer beider Willen. Er stieg auf das Brückengeländer. Das Wasser lag tief unter ihnen da. Aber das Kind hatte seinen Willen fest darangesetzt. Sie klammerte sich an ihm fest.
Er sprang, und hinab flogen sie. Das Klatschen des Wassers beim Untertauchen durchschlug den kleinen Körper des Kindes mit einer Art Besinnungslosigkeit. Aber sie hielt fest. Und als er wieder hochkam und sie ans Ufer schwammen und sich nebeneinander ins Gras setzten, da lachte er und sagte, das wäre doch fein. Und die aufgerissenen schwarzen Augen des Kindes sahen ihn in Verwunderung an, dunkel, sich über den Schreck wundernd, und doch zurückhaltend und unergründlich, so daß in sein Lachen fast ein Schluchzen hineinklang.
Im Augenblick hing sie ihm wieder fest am Halse, und er schwamm mit ihr ins tiefe Wasser. Sie war seit ihrer Geburt an seine und ihrer Mutter Nacktheit gewöhnt. Sie hingen aneinander und machten sich gegenseitig den seltsamen Schlag wieder gut, der auf sie herniedergefahren war. Und doch konnte er gelegentlich wieder mit ihr von der Brücke herunterspringen, beinahe hämisch. Schließlich aber rutschte sie ihm einmal beim Springen so auf den Kopf, daß er fast den Hals gebrochen hätte und sie wie ein Klumpen ins Wasser fielen und für ein paar Augenblicke mit dem Tode zu ringen hatten. Er rettete sie und saß dann zitternd am Ufer. Aber in seinen Augen stand die Schwärze des Todes, es war, als sei der Tod zwischen ihnen hindurchgefahren und habe sie getrennt.
Und doch waren sie nicht getrennt. Die sonderbare, spöttische Vertraulichkeit zwischen ihnen blieb bestehen. Als der Jahrmarkt kam, wollte sie gern mal in eine Bootsschaukel. Er nahm sie mit, und hoch aufrecht im Boote stehend und sich an den Eisenstangen festhaltend, fing er an zu schaukeln, höher, ganz gefährlich hoch. Das Kind klammerte sich am Sitz fest.
»Möchtest du noch höher?« sagte er zu ihr, und ihr Mund lächelte ihm zu, ihre Augen weit aufgerissen. Sie sausten nur so durch die Luft.
»Ja«, sagte sie und dachte, sie müßte sich in Dampf auflösen, sie würde jeden Halt verlieren und hinwegschmelzen. Hoch empor flog das Boot, und dann wieder herunter wie ein Stein, nur um in geradezu krankmachender Weise wieder aufgefangen zu werden.
»Noch höher?« rief er und sah über die Schulter auf sie nieder, und sein Gesicht schien ihr böse und schön zugleich.
Sie lachte mit weißen Lippen.
Sausend ließ er das Boot in einem großen Halbkreis durch die Luft fahren, bis es in der ebenen Lage an zu stoßen und zu schlagen fing. Das Kind hielt sich fest, bleich, die Augen fest auf ihn gerichtet. Die Leute unten fingen an zu rufen. Der Ruck dort oben hatte sie beinahe beide herausgeschleudert. Er hatte getan, was er konnte – und zog sich die Vorwürfe der Leute zu. Er setzte sich und ließ das Boot ausschwingen.
Einzelne aus der Menge riefen ihm zu, er solle sich schämen, als er aus dem Boot trat. Er lachte. Das Kind hing bleich und stumm an seiner Hand. Nach einer kleinen Weile wurde sie heftig seekrank. Er gab ihr Zitronenwasser zu trinken, und sie schluckte ein wenig davon.
»Sag aber Mutter nicht, daß du seekrank gewesen bist«, sagte er. Er hätte sie gar nicht darum zu bitten brauchen. Sobald sie zu Hause waren, kroch das Kind wie ein krankes Tierchen unter das Wohnzimmersofa, und es dauerte lange, ehe sie wieder hervorkam.
Aber Anna erfuhr von diesem dummen Streich doch und wurde leidenschaftlich böse auf ihn; sie verachtete ihn. Seine goldbraunen Augen glitzerten, er zeigte ein seltsames, grausames kleines Lächeln. Und während das Kind ihn noch beobachtete, kam zum erstenmal in ihrem Leben so etwas wie eine Enttäuschung über sie, etwas Kaltes, Trennendes. Sie ging zu ihrer Mutter über. Ihre Seele war für ihn tot. Es machte sie krank.
Immerhin vergaß sie es aber doch wieder und fuhr fort ihn zu lieben, nur immer kälter. Um diese Zeit, er war damals achtundzwanzig Jahre alt, war er merkwürdig und heftig in seinem Benehmen, sehr sinnlich. Er gewann über Anna eine gewisse Macht, wie über jeden, der mit ihm in Berührung kam.
Nach einer langen Spanne von Feindseligkeiten kam Anna schließlich mit ihm leidlich aus. Sie hatte nun vier Kinder, alles Mädchen. Sieben Jahre hatte ihr Frauenleben, ihre Mutterschaft sie in Anspruch genommen. Jahrelang war er neben ihr her gegangen, ohne sich je einen wirklichen Übergriff zuschulden kommen zu lassen. Dann allmählich aber schien sich ein neues Ich in ihm durchzusetzen. Noch war er still und abgesondert. Sie konnte aber doch die ganze Zeit über fühlen, wie er ihr näher kam, als drohe ihr seine Brust, sein Leib, und er kam immer näher. Allmählich wurde er gleichgültig gegen jede Verantwortlichkeit. Er tat, was ihm gefiel, mehr nicht.
Er fing an, aus dem Hause zu gehen. Er fuhr Sonnabends nach Nottingham, stets allein, zu Fußballkämpfen oder in Musikhallen, und die ganze Zeit über beobachtete er scharf. Trinken machte ihm kein Vergnügen. Aber aus seinen harten, goldbraunen Augen, deren winzige Sehlöcher so scharf sahen, beobachtete er alle Leute, alles, was um ihn her vorging, und wartete.
Eines Abends saß er in den Reichshallen neben zwei Mädchen. Die neben ihm nahm er genau wahr. Sie war ziemlich klein, gewöhnlich, mit frischen Farben und sich von den Zähnen abhebender Oberlippe, so daß, wenn sie nicht darauf achtete, ihr Mund stets etwas offen stand und ihre Lippen sich wie in einem stummen Flehen nach außen drängten. Sie war sich des Mannes neben ihr deutlich bewußt, weswegen ihr Körper sich still verhielt, sehr still. Ihr Gesicht beobachtete die Bühne. Die Arme fielen ihr in den Schoß nieder, sehr selbstbewußt und still.
Ein Funke leuchtete in ihm auf: sollte er mit der mal anbändeln? Sollte er mit der mal jenes andere Leben anfangen, das unzulässige Leben seiner Wünsche? Warum nicht? Er war ja immer so gut gewesen. Mit Ausnahme seiner Frau war er noch Jungfer. Und warum denn, wo doch alle Frauen verschieden waren? Warum, wo er doch nur einmal lebte? Er sehnte sich nach jenem anderen Leben. Sein eigenes Leben war kahl, ungenügend. Er sehnte sich nach dem andern.
Ihr offener Mund, der kleine, weiße unregelmäßige Zähne sehen ließ, flehte ihn förmlich an. Er war offen und bereit. Er war so leicht verletzlich. Warum sollte er nicht vortreten und sich an dem vergnügen, was sich ihm darbot? Der dünne Arm, der so regungslos und still in ihren Schoß herniederfiel, war recht hübsch. Sie mußte sehr klein sein, er müßte sie fast in seine beiden Hände nehmen können. Sie müßte klein sein, fast wie ein Kind, und niedlich. Ihre Kindlichkeit schärfte seine Lust aufs höchste. Sie müßte zwischen seinen Händen ganz hilflos sein.
»Das war die beste Nummer so weit«, sagte er zu ihr, während er sich vorbeugte, um zu klatschen. Er fühlte sich stark und unerschütterlich, in Gegensatz zur ganzen Welt. Seine Seele war scharf und wachsam und glitzerte in einer Art Freude. Er hatte sich vollkommen in der Gewalt. Er war er selbst, der Unbedingte, die übrige Welt war nur etwas, was zu seinem Dasein beizusteuern hatte.
Das Mädchen fuhr auf, wandte sich ihm zu, und in ihren Augen leuchtete ein fast schmerzliches Lächeln auf, das Blut strömte ihr dunkel in die Wangen.
»Ja, das wars«, sagte sie, ohne sich irgend etwas dabei zu denken, und bedeckte ihre etwas vorstehenden Zähne mit der Lippe. Dann saß sie wieder und sah stier vor sich hin, nichts bemerkend, nur der brennenden Farbe auf ihren Backen bewußt.
Ein angenehmes Gefühl durchrieselte ihn. Seine Adern und Nerven gaben auf sie acht; sie war so jung und zitternd.
»'s sind keine so gute Nummern wie vorige Woche«, sagte er.
Wieder drehte sie ihm ihr Gesicht halb zu, und ihre hellen, klaren Augen, hell wie ein flaches Wasser, füllten sich mit Licht, erschreckt; unwillkürlich leuchteten sie auf und antworteten zitternd.
»So? Vorige Woche konnte ich nicht her.«
Er bemerkte ihre gewöhnliche Aussprache. Sie gefiel ihm. Er wußte, aus welchem Stande sie herkäme. Vermutlich war sie ein Warenhausmädchen. Er freute sich, daß sie ein gewöhnliches Mädchen war.
Er fuhr fort, ihr von den Vorträgen der letzten Woche zu erzählen. Sie antwortete so obenhin, ganz verwirrt. Die Farbe brannte ihr auf den Wangen. Und doch antwortete sie ihm stets. Das Mädchen auf ihrer andern Seite saß ganz stumm, ganz selbstvergessen. Er bemerkte sie gar nicht. Sein Rede wandte sich lediglich an sein Mädchen, mit den hellen, flachen Augen und dem so verletzlichen, offenen Munde.
Die Unterhaltung lief weiter, sinnlos und obenhin geführt von ihrer Seite, wohl überlegt und zielbewußt von seiner. Es war ihm ein Vergnügen, diese Unterhaltung zu führen, eine angenehme Tätigkeit, wie ein schönes, Geschicklichkeit und Zufallsgunst erforderndes Spiel. Er war ganz ruhig und vergnügt aufgelegt, aber voller Kraft. Sie flatterte neben seinem ständigen warmen Druck und seiner Sicherheit unruhig einher.
Er bemerkte, daß die Vorstellung sich ihrem Schlusse näherte. Seine Sinne waren angespannt und hartnäckig. Er wollte seinen Vorteil wahrnehmen. Er folgte ihr und ihrer reizlosen Freundin die Treppen hinunter bis auf die Straße. Es regnete.
»'n häßlicher Abend ist das«, sagte er. »Wollen Sie nicht mitkommen und irgendwas trinken – eine Tasse Kaffee – es ist ja noch so früh.«
»Oh, ich weiß doch nicht«, sagte sie und sah in die Nacht hinaus.
»Och, zu doch«, sagte er und tat so, als ließe er es ganz von ihr abhängen. Einen Augenblick herrschte Stillschweigen.
»Wollen wir zu Rollins gehen?« sagte er.
»Ne, da nich hin.«
»Denn zu Carsons?«
Wieder Schweigen. Das andere Mädchen blieb bei ihnen. Der Mann war der Mittelpunkt der treibenden Kraft.
»Kommt Ihre Freundin nicht mit?«
Wieder einen Augenblick Stillschweigen, währenddessen das andere Mädchen überlegte.
»Nein, danke«, sagte sie. »Ich hab einer Freundin versprochen, sie zu treffen.«
»Denn ein andermal?« sagte er.
»Och, danke«, sagte sie sehr verlegen.
»Gute Nacht«, sagte er.
»Wiedersehen«, sagte sein Mädchen zu ihrer Freundin.
»Wo?« fragte die.
»Weißt ja doch, Gertie«, erwiderte sein Mädchen.
»Schön, Jennie.«
Die Freundin war in der Dunkelheit verschwunden. Er wandte sich mit seinem Mädchen einer Teestube zu. Sie redeten die ganze Zeit. Er drechselte seine Sätze in reiner, fast körperlicher Freude an dem Unternehmen mit ihr. Die ganze Zeit über sah er sie an, nahm sie in sich auf, wog sie ab, versuchte sie ausfindig zu machen, und fand viel Vergnügen an ihr. Er konnte ganz entschieden allerlei Anziehendes an ihr bemerken; ihre Augenbrauen mit der eigenartigen Schweifung verursachten ihm eine eindringliche, künstlerische Wonne. Späterhin nahm er sich vor, dann ihre durchsichtigen, hellen Augen zu erkennen, die flachen Wassern glichen, und sie ebenfalls in sich aufzunehmen. Und dann blieb immer noch ihr geöffneter, so angreifbarer Mund, so rot und verwundbar. Den stellte er einstweilen noch zurück. Und während der ganzen Zeit ruhten seine Augen auf dem Mädchen und schätzten und wogen mit Vergnügen ihre junge Weichheit ab. Um das Mädchen selbst, wer oder was sie wäre, kümmerte er sich gar nicht, er bemerkte überhaupt nicht, daß sie jemand wäre. Sie war nichts weiter als der sinnliche Gegenstand seiner Aufmerksamkeit.
»Wollen wir denn gehen?« sagte er.
Schweigend stand sie auf, als handle sie ohne jedes Nachdenken, rein körperlich. Er schien sie ganz unter seinem Willen zu halten. Draußen regnete es noch.
»Laß uns etwas spazieren gehen«, sagte er. »Ich mache mir nichts aus dem Regen; du auch nicht?«
»Nein, ich kümmer mich auch nicht drum«, antwortete sie.
All seine Sinne und Fibern waren aufs höchste gespannt und dabei doch ganz ruhig, ganz sicher und hell erleuchtet, wie unter fremdem Einfluß. Er hatte eine freie Empfindung, als schritte er in seiner eigenen Dunkelheit einher, nicht in jemandes anderen Welt. Er war eine ganze Welt für sich, mit dem allgemeinen Bewußtsein hatte er nichts mehr zu tun. Grade seine eigenen Sinne standen auf der Höhe. Alles übrige war nur äußerlich, unbedeutend, ließ ihn mit diesem Mädchen, das er hinnehmen wollte, ganz allein, mit diesem Mädchen, dessen Eigenart er ganz in sich aufzunehmen beabsichtigte. Er machte sich aus ihr gar nichts, außer daß er ihren Widerstand überwinden wollte, um sie ganz in seiner Gewalt zu haben, um sich gänzlich, erschöpfend an ihr zu ergötzen.
Sie wandten sich dunkleren Straßen zu. Er hielt ihren Regenschirm über sie und schlang den andern Arm um sie. Sie schritt einher, als würde sie nichts gewahr. Aber allmählich zog er sie beim Weitergehen immer enger an sich, in die Bewegung seiner Seite und Hüfte hinein. Sie schmiegte sich dem sehr gut an. Sie paßte wirklich vorzüglich dazu, so mit ihm einherzugehen. Es brachte ihm seine eigene Muskeltätigkeit ganz besonders klar zum Bewußtsein. Und seine Hand, die ihre Seite umschlossen hielt, fühlte eine ihrer Rundungen, und dies kam ihm wie eine neue Schöpfung vor, eine Wirklichkeit, ein Unbedingtes, eine wirklich vorhandene, greifbare Schönheit des Unbedingten. Es war wie ein Stern. Alles in ihm war ganz von der sinnlichen Freude an dieser einen kleinen festen Rundung ihres Körpers hingenommen, auf die seine Hand, sein ganzes Wesen hier stieß.
Er führte sie in den Park, wo es fast ganz dunkel war. Er bemerkte einen Winkel zwischen zwei Mauern, unter einem mächtigen, überhängenden Efeubusch.
»Hier laß uns mal eine Minute bleiben«, sagte er.
Er machte den Schirm zu und folgte ihr in die Ecke, sich aus dem Regen zurückziehend. Er brauchte gar keine Augen, um sie zu sehen. Alles, was er wollte, war, sie durch das Gefühl kennen zu lernen. Sie war wie ein Stückchen greifbarer Finsternis. Er fand sie in der Dunkelheit, schlang seine Arme um sie und legte ihr seine Hände auf. Sie war stumm und unerforschlich. Aber er wollte gar nichts über sie wissen, er wollte sie nur erforschen. Und durch ihr Zeug, was für unbedingte Schönheit berührte er da!
»Nimm doch mal deinen Hut ab«, sagte er.
Stumm, gehorsam nahm sie ihren Hut ab und schmiegte sich wieder in seine Arme. Er hatte sie gern, er hatte ihre Berührung gern – er wollte mehr von ihr wissen. Zart ließ er seine Finger über ihre Backen und ihren Hals gleiten. Was für wunderbare Schönheit, welches Vergnügen, hier im Dunklen! Oft hatten seine Finger Anna derart im Gesicht und am Nacken berührt. Was lag daran! Es war ein Mann, der Anna betastete, und ein anderer, der nun dies Mädchen anfaßte. Sein neues Ich hatte er lieber. Er gehörte gänzlich dem sinnlichen Wissen von diesem Frauenzimmer an, alle Augenblicke schien er vollkommenste Schönheit zu berühren, irgend etwas jenseits jeder Erfahrung.
Ganz fest, voller Verwunderung und in äußerster Freude über ihre Entdeckungen preßten seine Hände sich ihr auf, so suchend, so fein und sehnsuchtsvoll sie aufspürend, daß auch sie unter der Unbedingtheit dieses sinnlichen Wissens beinahe schwindlig wurde. In höchstem sinnlichen Entzücken klemmte sie ihre Knie zusammen, ihre Schenkel, ihre Hüften! Das erhöhte ihre Schönheit noch für ihn.
Aber geduldig arbeitete er auf ihre Entspannung hin, ganz geduldig, sein ganzes Wesen gebunden in dem Lächeln heimlicher Belohnung, sein ganzer Körper gespannt von einer auf sie gerichteten, feinen, mächtigen, zwingenden Kraft. So schritt er endlich dazu sie zu küssen, und sie ließ sich beinahe von diesem hinterlistigen Kusse täuschen. Ihr offener Mund war zu hilflos, zu unachtsam. Das wußte er, und sein erster Kuß war sehr sanft, und so weich und beruhigend, so beruhigend. So sehr, daß ihr offener, unverteidigter Mund sich auch beruhigte und nun selbst kühn den seinen suchte. Und er ging allmählich mehr auf sie ein, ganz allmählich, sein Kuß sank sanft immer tiefer, tiefer, wurde aber auch immer schwerer und schwerer, bis er zuletzt zu schwer für sie wurde, als daß sie ihn noch länger hätte ertragen können, und sie begann unter ihm dahinzusinken. Sie sank und sank, sein Lächeln heimlicher Belohnung wurde gespannter, er war ihrer sicher. Aber nun ließ er die ganze Kraft seines Willens auf sie hereinsinken, um sie hinwegzufegen. Jedoch der Schreck war zu groß für sie. Mit einer plötzlichen, schrecklichen Bewegung brach sie den Zauber, der sie beide umfangen hielt.
»Nicht doch – nicht doch!«
Ein gradezu gräßlicher Schrei war es, der anscheinend aus ihr hervorbrach, aber nicht ihr angehörte. Ein grausiger Todeskampf schrie aus diesen Worten hervor. Es lag etwas Zitterndes in dem Laut, als wäre sie außer sich. Seine Nerven rissen wie Seide.
»Was ist denn?« sagte er, als wäre er ganz ruhig. »Was ist denn?«
Sie kam wieder zu ihm, aber diesmal zitternd, zurückhaltend.
Ihr Schrei hatte ihm große Befriedigung gewährt. Aber er wußte nun, er war zu rasch auf sie eingedrungen. Jetzt wurde er vorsichtiger. Eine ganze Weile beschützte er sie bloß. Sein vollkommener Wille hatte auch einen Sprung gekriegt. Er wünschte fortzufahren, vorn wieder anzufangen, wieder zu dem Punkte zu gelangen, wo er sich zu sehr hatte gehen lassen, und diesmal viel vorsichtiger zu verfahren, erfolgversprechender. Bis jetzt hatte sie gewonnen. Und der Kampf war noch nicht vorüber. Aber eine neue Stimme erwachte in ihm und hieß ihn, sie laufen zu lassen – sie voller Verachtung laufen zu lassen.
Er bot ihr Schutz und beruhigte sie, er liebkoste sie und küßte sie und begann ihr wieder näher zu kommen, immer näher. Er sammelte sich völlig. Selbst wenn er sie nicht hinnähme, wollte er sie doch zum Nachgeben bringen, wollte er ihren Widerstand wegschmelzen. Sehr sanft also küßte er sie, mit unendlicher Liebkosung, und sein ganzes Wesen schien sie zu umschmeicheln. Dann aber wieder, am Ende, im Schwindel des Bruchpunktes, da ertönte aus ihr wieder der zerschlagene, wortlos schluchzende Schrei: »Nicht doch – o nicht doch!«
Seine Adern zerschmolzen in äußerster Wollust. Für einen Augenblick verlor er fast jede Herrschaft über sich und ging nur noch ganz triebmäßig vor. Dann aber trat ein Augenblick der Untätigkeit, der Schwebe ein. Er wollte sie nicht nehmen. Er zog sie an sich und beruhigte sie, liebkoste sie. Aber die reine Lust war fort. Sie kämpfte, bis sie wieder zu sich kam und sicher war, daß er sie nicht nehmen wolle. Und dann grade im allerletzten Augenblick, als seine Liebkosungen sich ihr wieder genähert hatten und sein heißer, lebendiger Wille sie im Gegensatz zu seinen kalten sinnlichen Wünschen zu verachten begann, da brach sie heftig von ihm los.
»Nicht doch«, sagte sie, nun rauh vor Haß, und schleuderte ihre Hand zu einem heftigen Stoße vor. »Hände weg!«
Sein Blut stand für einen Augenblick still. Dann kam das Lächeln wieder in ihm hoch, stetig, grausam.
»Wieso denn, was ist denn los?« sagte er mit sanftem Spott; »es tut dir doch niemand was.«
»Ich weiß wohl, was du willst«, sagte sie.
»Ich weiß auch, was ich will,« sagte er; »was liegt denn daran?«
»Ja, aber mich sollste so weit nich kriegen.«
»Nicht? Na schön, denn nicht. Darüber braucht man doch nicht zu heulen, nicht wahr?«
»Ne, das wohl nich«, sagte das Mädchen, durch seinen Spott etwas aus der Fassung gebracht.
»Und streiten brauchen wir uns deswegen doch auch nicht. Deshalb können wir uns doch ruhig einen Gutenachtkuß geben, nicht wahr?«
Sie blieb stumm in der Dunkelheit.
»Oder willst du gleich deinen Hut und Schirm und weggehen?«
Sie war immer noch still. Er beobachtete ihre dunkle Gestalt, wie sie da so am Rande der schwachen Dämmerung stand und wartete.
»Komm und sag mir nett Gute Nacht, wenn wir uns überhaupt Gute Nacht sagen wollten.«
Sie rührte sich immer noch nicht. Er streckte seine Hand aus und zog sie wieder ins Dunkle.
»Hier ist es wärmer,« sagte er, »mächtig viel behaglicher.«
Sein Wille ließ sie noch nicht fahren. Der Ausbruch ihres Hasses erheiterte ihn nur.
»Ich gehe jetzt«, murmelte sie, als er seine Hand wieder über ihr schloß.
»Sieh mal, wie hübsch du da hineinpaßt«, sagte er, als er sie in ihre vorige Lage zog, dicht an sich. »Wozu willst du da denn weglaufen?«
Und allmählich kam der Rausch wieder über ihn, seine Lust kam zurück. Warum sollte er sie schließlich auch nicht nehmen?
Aber sie gab sich ihm nicht völlig hin.
»Bist du verheiratet?« fragte sie schließlich.
»Na, und wenn ichs wäre?« sagte er.
Sie antwortete nicht.
»Ich frag dich doch auch nicht, ob du verheiratet bist oder nicht«, sagte er.
»Du weißt gefälligst ganz gut, daß ich nich verheiratet bin«, erwiderte sie hitzig. O, könnte sie sich doch nur von ihm losmachen, brauchte sie sich ihm doch bloß nicht hinzugeben!
Zuletzt erkaltete ihr Wille gegen ihn. Sie wurde frei. Aber gerade deswegen haßte sie ihn nun mehr als wegen der früheren Gefahr. War er denn voll so kalter Verachtung für sie? Und sie hing doch noch voller Qual an ihm.
»Sehe ich dich nächste Woche wieder – nächsten Sonnabend?« fragte er, als sie zur Stadt zurückgingen. Sie antwortete nicht.
»Komm mit mir in die Reichshallen – du und Gertie«, sagte er.
»Das würde sich ja fein machen, mit 'nem verheirateten Mann«, sagte sie.
»Deswegen bin ich doch wohl immer noch ein Mann, wenn ich auch verheiratet bin, nicht?« sagte er.
»O, mit einem verheirateten Manne ist das 'ne ganz andere Geschichte«, sagte sie, mit einer abgebrauchten Redensart, die ihren Kummer verriet.
»Wieso?« fragte er sie.
Aber sie wollte ihn nicht aufklären. Trotzdem versprach sie ihm ohne feste Zusage, am nächsten Sonnabend an ihrem Treffpunkt zu sein.
So ließ er sie stehen. Er wußte nicht mal ihren Namen. Er nahm einen Zug und fuhr nach Hause.
Es war der letzte Zug, und er kam sehr spät nach Hause. Er war erst nach Mitternacht daheim. Aber das war ihm ganz gleichgültig. Zu seinem Hause besaß er gar keine Beziehung mehr, nicht als der Mann, der er jetzt war. Anna saß und wartete auf ihn. Sie sah den sonderbaren, geistesabwesenden Blick auf seinem Gesicht, eine Art verborgenen, drohenden Lächelns, als sei er aller seiner »guten« Bande ledig.
»Wo bist du gewesen?« fragte sie, gefesselt, wie vor einem Rätsel.
»In den Reichshallen.«
»Mit wem denn?«
»Allein. Ich bin mit Tom Cooper nach Hause gekommen.«
Sie sah ihn an und wunderte sich, was er wohl angefangen hätte. Ob er ihr was vorlog oder nicht, war ihr ganz gleichgültig.
»Du kommst ja so merkwürdig nach Hause«, sagte sie. Und in ihren Worten lag etwas Billigendes, Anschmiegendes.
Es berührte ihn nicht. Von seinem demütigen, guten Ich war er jetzt befreit. Er setzte sich hin und aß gründlich. Er war nicht müde. Sie schien er gar nicht zu bemerken.
Für Anna war der Augenblick entscheidend. Sie hielt sich zurück und beobachtete ihn. Er sprach mit ihr, aber stets mit einer gewissen Gleichgültigkeit, da er sie ja kaum wahrnahm. Dann berührte sie ihn also überhaupt nicht? Das gab der Sache eine ganz neue Wendung! Er wurde trotz alledem geradezu anziehend für sie. Sie mochte ihn so lieber als den gewöhnlichen, stummen, nur halbanwesenden Mann, den kleinlauten, als den sie ihn in der Regel kannte. So brach sein eigentliches Wesen also endlich in Blüte aus! Das reizte sie. Na schön, laß ihn nur blühen! Sie hatte diese neue Wendung der Dinge gern. Es war ein ganz anderer Mann, der jetzt zu ihr nach Hause kam. Mit einem Blick auf ihn merkte sie, sie würde ihn nie zu seinem alten Zustand zurückbringen können. Augenblicklich gab sie das auf. Aber doch nicht ohne einen wütenden Schmerz, der sich an ihrer alten, geliebten Liebe, ihrer altgewohnten Vertraulichkeit, ihrer alten festgegründeten Oberherrschaft anklammerte. Fast hätte sie sich hinreißen lassen, um sie zu kämpfen. Und als sie ihn ansah und dabei an seinen Vater denken mußte, wurde sie behutsam. Dies war also die neue Wendung der Dinge!
Na schön, konnte sie ihn also auf dem alten Wege nicht länger beeinflussen, so wollte sie auf dem neuen doch schon mit ihm fertig werden. Ihre alte, trotzige Feindseligkeit kam wieder über sie. Schön, schön, dann ging sie jetzt auch auf Abenteuer aus. Ihre Stimme, ihr Benehmen änderten sich, das Spiel konnte beginnen. Etwas in ihrem Innern wurde frei. Sie mochte ihn wohl so. Sie hatte diesen anderen Mann, als der er nach Hause gekommen war, ganz gern. Er war ihr tatsächlich sogar sehr willkommen! Sie war ganz froh darüber, einen Fremden willkommen zu heißen. Ihr früherer Gatte war ihr längst langweilig geworden. Sie beantwortete sein heimliches, grausames Lächeln mit einer glänzenden Herausforderung. Er erwartete, sie würde sich hinter den guten Sitten verschanzen. Nein, sie nicht! Das war ihr eine viel zu langweilige Rolle. Sie forderte ihn ihrerseits mit einer strahlenden, helleuchtenden, freien Art heraus, im Gegensatz zu ihm. Er sah sie an, und seine Augen glitzerten. Also sie zog auch zu Felde.
Seine Sinne strafften sich und beobachteten sie scharf. Sie lachte völlig ebenso gleichgültig und frei wie er. Er kam ihr wieder näher. Sie stieß ihn weder zurück noch ging sie auf ihn ein. Unerforschlich lachte sie ihm in einer strahlenden, stolzen Art entgegen. Auch sie war imstande, alles über Bord zu werfen, Liebe, Vertraulichkeit, Verantwortlichkeit. Was waren ihr nun noch ihre vier Kinder? Was lag daran, ob dieser Mann der Vater ihrer vier Kinder war?
Er war das Männchen auf der Suche nach wollüstigen Vergnügungen, sie das Weibchen, bereit, sich ihrerseits zu ergötzen: aber auf ihre besondere Art und Weise. Der Mann konnte zum Freibeuter werden: dann konnte die Frau das auch. Sie gehörte der sittlichen Welt ebensowenig an wie er. Was vorher zwischen ihnen vorgegangen war, bedeutete nun nichts mehr für sie. Unter dem Einfluß dieses fremden Mannes wurde sie eine andere. Er war für sie ein Fremder, der eigene Ziele verfolgte. Schön. Nun wollte sie mal sehen, was dieser Fremde jetzt anfangen würde, wer er wäre.
Sie lachte und hielt ihn auf Armeslänge von sich, während sie ihn anscheinend gar nicht erkannte. Sie sah ihm beim Ausziehen zu, als wäre er ein Fremder. Er war ihr tatsächlich auch ein Fremder.
Und so regte sie ihn tief, heftig auf, ehe er sie auch nur berühren konnte. Das hatte das kleine Geschöpf in Nottingham fertig gebracht. In gemeinsamer Regung gaben sie ihre sittliche Stellung preis, jeder nur noch auf Befriedigung schlechthin bedacht.
Seine Frau kam ihm seltsam vor. Es war, als wäre er ihr ein vollkommen Fremder, als wäre sie ihm innerlich unendlich, durchaus fremd, die andere Hälfte der Welt, die dunkle Hälfte des Mondes. Sie wartete auf seine Berührung, als wäre er ein Räuber, ihr unendlich unbekannt und ebenso erwünscht. Und dann begann er sie zu erforschen. Er witterte die ungeheure Ausdehnung noch unbekannter wollüstiger Freuden, die sie ihm zu bieten hatte. Mit leidenschaftlicher Wollust, bei jeder noch so kleinen Schönheit ihres Leibes verweilend, in einer Art froher Raserei fuhr er auf sie los: auf ihre Schönheit, auf alle die schönen Stellen, die einzelnen, mannigfaltigsten Schönheiten ihres Körpers.
Er fühlte sich vollständig überwältigt, sinnlich entrückt durch das, was er nun an ihr entdeckte. Er wurde zu einem ganz anderen Manne, wie er so in ihr schwelgte. Zärtlichkeit, Liebe gab es zwischen ihnen nicht länger, nur noch wahnsinnig erregende, sinnliche Lust zu Entdeckungen und unersättliche, grenzenlose Befriedigung durch die sinnlichen Schönheiten ihres Leibes. Und sie war ein Vorrat, ein wahrer Schatz an unbedingten Schönheiten, deren Betrachtung ihn dem Wahnsinn entgegentrieb. Was für ein Fest bot sich ihm da, und er besaß nur eine Manneskraft, um es zu genießen.
Eine Zeitlang lebte er nun mit ihr in leidenschaftlichen sinnlichen Entdeckungen – es wurde ein wahrer Zweikampf: keine Liebe, keine Worte, selbst nicht einmal Küsse, nur ein irrsinnig machendes Einsaugen vollkommenster, unbedingter Schönheit durch den Tastsinn. Er sehnte sich danach, sie zu betasten, sie zu erforschen, bis zum Wahnsinn wünschte er sie kennen zu lernen. Aber er durfte nichts überstürzen, sonst gab er alles preis. Jede ihrer Schönheiten mußte er zu ihrer Zeit genießen. Und die mannigfaltigen Schönheiten ihres Leibes, die vielen entzückenden kleinen Stellen machten ihn rein wahnsinnig vor Lust und Sehnsucht, imstande zu sein, mehr kennen zu lernen, die Kraft zu besitzen, mehr von ihnen zu erfahren. Denn es war alles da.
Er konnte im Laufe des Tages sagen:
»Heute nacht will ich die kleine Höhlung unter ihrem Knöchel kennen lernen, wo die blauen Adern sich kreuzen.« Und der Gedanke hieran, die Sehnsucht danach hüllten ihn in dicke Dunkelheit aus Vorfreude ein.
Den ganzen Tag lief er dann herum und wartete nur auf das Hereinbrechen der Nacht, in der er sich dem Genuß irgendeiner unbedingten, üppigen Schönheit ihres Leibes hingeben konnte. Der Gedanke an ihre verborgenen Schätze, ihre noch unentdeckten Schönheiten und alle die entzückenden Freudenorte ihres Leibes, die darauf warteten, nur darauf warteten, daß er sie entdeckte, machten ihn gelinde irrsinnig. Er war verrückt. Wenn er diese Schönheiten nicht entdeckte und sich zu eigen machte, dann konnten sie ja auf ewig verloren gehen. Er wünschte sich die Kraft von hundert Männern, um sie zu genießen. Er wollte, er wäre ein Kater, um sie mit seiner rauhen, kratzenden, wollüstigen Zunge belecken zu können. Er sehnte sich danach, in ihr zu schwelgen, sich in ihrem Fleische zu begraben, sich mit ihrem Fleische zu umhüllen.
Und sie nahm, losgelöst, gefährlich, mit einem seltsamen, glitzernden Blick all sein Tun entgegen, als hätte sie nur darauf gewartet, sie reizte ihn zu mehr, wenn er nachgeben wollte, bis er zuweilen vor reiner Unfähigkeit, an ihr Genüge zu finden, umkommen zu müssen glaubte, vor Unfähigkeit, sich an ihr zu befriedigen.
Ihre Kinder wurden für sie nun lediglich Nachkommenschaft, sie lebten vollkommen in der tödlichen Dunkelheit ihrer wollüstigen Triebe dahin. Zuweilen kam es ihm so vor, als werde er wahnsinnig in der Empfindung des Unbedingt-Schönen, das er an ihr durch die Sinne wahrnahm. Es war zu viel für ihn. Und in alledem lag diese beinahe unheildrohende, erschreckende Schönheit. Aber in der Offenbarung ihres Leibes durch die Berührung mit dem seinen lag die höchste Schönheit, die zu erkennen fast dem Tode selbst gleichkam, und um deren Erkenntnis er sich doch gern endlosen Folterqualen unterzogen hätte. Alles wollte er verloren geben, alles eher als sein Recht, und sei es nur auf den Spann ihres Fußes, aufgeben, oder die Stelle, von der die Zehen sich strahlenförmig ausbreiteten, diese wundersame kleine weiße Fläche, von der die kleinen Erhöhungen ihrer Zehen und die grübchenartigen Falten zwischen ihnen ausgingen. Er wäre lieber gestorben, als daß er diese aufgegeben hätte.
Soweit war ihre Liebe also gediehen, zu einer Wollust, so heftig und einen Abschluß darstellend wie der Tod. Sie kannten keine bewußten Vertraulichkeiten mehr, keine verliebten Zärtlichkeiten. Alles war zu Lust geworden, zu einem unendlichen, irrsinnig machenden Sinnenrausch, zu tödlicher Leidenschaft.
Stets, sein ganzes Leben lang, hatte er eine geheime Furcht vor dem Unbedingt-Schönen besessen. Es war ihm immer wie ein Götzenbild vorgekommen, etwas, was er in Wahrheit zu fürchten habe. Denn es war unsittlich und gegen die Menschheit gerichtet. Daher hatte er sich den Formen der Gotik zugewendet, die mit ihren Spitzbogen alle gebrochenen Wünsche der Menschheit verfocht und sich der rollenden, unbedingten Schönheit des Rundbogens durch die Flucht entzog.
Nun aber ließ er sich gehen und überließ sich mit unendlich heftiger Wollust der Verwirklichung dieser höchsten, unsittlichen, unbedingten Schönheit durch den Leib des Weibes. Es schien ihm, als entstehe es im Körper des Weibes erst unter seiner Berührung. Unter seiner Berührung, selbst unter seinem Blick lag es da. Sobald er aber diese Vollkommenheiten weder berührte noch sah, dann waren sie nicht vorhanden. Und er mußte ihnen doch zum Dasein verhelfen.
Trotzdem erschreckte ihn das Ding an sich. Schrecklich und drohend war es, gefährlich im höchsten Grade, selbst während er sich ihm hingab. Es war auch reinste Finsternis. Alles, was der Leib schamvoll verbarg, enthüllte sich ihm nun mit einer unheilverkündenden, südlichen Schönheit. All die schamlosen natürlichen und unnatürlichen Ausflüsse ihrer wollüstigen Sinne, die das Weib und er gemeinsam genossen, gemeinsam sich ausdachten, besaßen ihre eigene schwere Schönheit und Freude. Scham, was war sie denn? Doch nur ein Bestandteil höchsten Entzückens. Sie war ein Teil jenes Entzückens, vor dem der Mensch sich gewöhnlich fürchtet. Und warum fürchtet? Geheime Schamlosigkeiten besitzen ihre ganz besonders schreckliche Schönheit.
So nahmen sie die Schamlosigkeit hin und waren eins in ihr bei ihren unerlaubtesten Vergnügungen. Sie verkörperten sie in sich. Sie war eine Knospe, die sich zu Schönheit und schwerster, grundlegendster Befriedigung entfaltete.
Ihr Leben verlief äußerlich fast genau wie früher, ihr Innenleben aber wurde vollkommen umgestaltet. Die Kinder wurden weniger wichtig, die Eltern waren zu sehr durch ihr eigenes Leben in Anspruch genommen.
Und allmählich fand Brangwen in sich die Freiheit, sich seinem äußerlichen Leben ebensogut zu widmen. Sein Gemütsleben war in so heftiger Tätigkeit, daß es einen andern in ihm selbst freimachte. Und dieser andere wandte sich voller Aufmerksamkeit dem öffentlichen Leben zu, um zu sehen, welchen Anteil er daran nehmen könne. Das gab ihm ein neues Tätigkeitsfeld, für eine Betätigung, für die er jetzt erst erschaffen und freigemacht war. Er wünschte sich im Einvernehmen mit der gesamten zielbewußten Menschheit zu befinden.
Um diese Zeit stand die Erziehung als Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit ganz in erster Reihe. Es wurde viel von neuen, schwedischen Arbeitsweisen geredet, von Handfertigkeitsunterricht und so weiter. Brangwen nahm den Gedanken an Handfertigkeitsunterricht in der Schule ehrlich in sich auf. Zum ersten Male fühlte er sich durch eine Frage der Öffentlichkeit wirklich gefesselt. Er hatte sich endlich aus einem tiefen, sinnlichen Arbeiter zu einem wirklich zielbewußten Menschen entwickelt.
Es wurde viel von Abendschulen und Handfertigkeitsschulen geredet. Er wünschte in Cossethay eine Klasse für Holzarbeiten einzurichten, in der er die Dorfjungens Zimmerei und Tischlerei und Holzschnitzen lehren wollte, an zwei Abenden in der Woche. Dies Unternehmen schien ihm eine äußerst wünschenswerte Tätigkeit. Die Bezahlung würde zwar nur sehr gering sein – und sobald er das Geld hatte, gab er es alles für besondere Holzarten und Werkzeuge aus. Aber er war sehr glücklich und eifrig in seinem neuen Sinn für die Öffentlichkeit.
Als er seinen Abendunterricht in Holzarbeiten anfing, war er dreißig Jahre alt. Um diese Zeit hatte er fünf Kinder, das letzte ein Junge. Aber Jungens oder Mädchen machten ihm nun wenig aus. Er besaß eine natürliche Zuneigung des Blutes zu seinen Kindern und hatte sie auch recht gern, wie sie nun kamen: Jungens oder Mädchen. Nur hatte er Ursula immer am liebsten. Jedenfalls schien sie sein neues Abendschulunternehmen zu unterstützen.
Endlich stand das Haus unter den Eibenbäumen in Verbindung mit dem allgemeinen Streben der Menschheit. Das verlieh ihm neue Kraft.
Für Ursula, ein Kind von acht Jahren, wuchs sein Zauber ganz beträchtlich. Sie hörte alle die Reden, sie sah zu, wie die Pfarrhalle zur Werkstätte eingerichtet wurde. Die Pfarrhalle war ein hohes, steinernes, scheunenartiges geistliches Gebäude, das für sich allein in Brangwens zweitem Garten stand, jenseits des Weges. Sie hatte sich zu ihr immer wegen ihres Alters und ihres Gestrandetseins, ihres Vergessenseins hingezogen gefühlt. Nun sah sie zu, wie alle möglichen Vorbereitungen getroffen wurden, sie saß auf der Steintreppe, die von ihr in den Garten hinunterführte, und hörte ihren Vater und den Pfarrer reden und planen und arbeiten. Dann kam ein Aufseher, ein ganz merkwürdiger Mann; er blieb einen ganzen Abend bei ihnen und redete immerfort mit ihrem Vater. Nun war alles in Ordnung, und zwölf Jungens schrieben sich ein. Das war höchst aufregend.
Aber für Ursula war alles, was ihr Vater tat, zauberhaft. Ob er nun aus Ilkeston kam und Nachrichten aus der Stadt mitbrachte, ob er an einem sonnigen Abend mit seinen Noten oder seinen Werkzeugen in die Kirche hinüberging oder Sonntags in seiner weißen Stola vor der Orgel saß und mit seinem starken Tenor den Gesang leitete, oder ob er nun mit den Jungens in der Werkstätte war, immer war er für sie der Mittelpunkt alles Zauberhaften und Reizvollen, seine Stimme, so klangvoll wenn er etwas befahl, so fröhlich in ihrer Kürze, hatte für sie immer eine Schwebung, die ihr einen Schauder durch die Adern jagte und sie einschläferte. Sie schien im Schatten eines dunklen, mächtigen Geheimnisses umherzulaufen, dessen sie nicht gewahr werden wollte, über dessen Vorhandensein sie sich nicht klar zu werden wagte, einen derartigen Zauber warf es über sie, so sehr umdunkelte es ihre Sinne.