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Elftes Kapitel.
Erste Liebe

Während Ursula sich allmählich vom Mädchen zur Frau entwickelte, sammelten sich allgemach die Wolken eigener Verantwortlichkeit über ihrem Haupte. Sie wurde ihrer selbst bewußt, sie bemerkte, daß sie ein Sonderwesen inmitten einer ungesonderten Dunkelheit darstelle, daß sie irgendwohin gehen müsse, irgend etwas werden müsse. Und sie wurde ängstlich, unruhig. Warum, o warum mußte man aufwachsen, warum mußte man diese schwere, betäubende Verantwortlichkeit ererben, ein unentdecktes Leben zu führen? Aus dem Nichts, der unterschiedslosen Masse sich zu etwas Bestimmtem herausbilden! Aber zu was? Durch diese Dunkelheit, diese Wegelosigkeit einen Weg finden! Aber wohin? Wie auch nur den ersten Schritt tun? Und doch, wie stille stehen? Das waren wirkliche Qualen, diese Übernahme der Verantwortung für ihr eigenes Leben.

Ihr Glaube an den Heiland war für sie eine andere Welt gewesen; wie in einer Art prächtiger Spielwelt hatte sichs in ihm gelebt, in der sie mit dem Manne von kleiner Gestalt in den Baum stieg, zitternd mit ihm über die See dahinschritt wie seine Jünger, ihr Brot in fünftausend Stücke brach wie der Herr selbst, als er die Fünftausend speiste; all dies brach nun aus der Wirklichkeit los und wurde zu einer Geschichte, einer Sage, einer Vorstellung; mochte man seine Wahrheit als geschichtliche Tatsache auch noch so kräftig verteidigen, man wußte doch, es war nicht wahr – wenigstens für unser heutiges Alltagsleben nicht. Innerhalb unserer Lebenserfahrungen konnte keine Speisung der Fünftausend Platz finden. Und das Mädchen war zu dem Punkte gelangt, wo sie empfand, daß, was sie nicht im täglichen Leben durchmachen könne, für sie selbst nicht wahr sei.

Die alte Zweiteilung des Lebens also, in der es eine Wochentagswelt gegeben hatte mit Menschen und Eisenbahnzügen und Pflichten und Berichten, und daneben eine Sonntagswelt voll unbedingter Wahrheit und lebendigen Geheimnissen, in der man über die Wasser dahinschritt und vom Angesichte des Herrn geblendet wurde, in der man der Staubsäule durch die Wüste folgte und den Busch prasseln hörte, obwohl er nicht verbrannte, diese alte, nie in Zweifel gezogene Zweiteiligkeit fand sich nun plötzlich auseinander gebrochen. Die Wochentagswelt hatte über die Sonntagswelt den Sieg davongetragen. Die Sonntagswelt war nicht wahr, oder wenigstens doch nicht tatsächlich. Und man lebte doch durch Taten.

Nur auf die Wochentagswelt kam es an. Sie selbst, Ursula Brangwen, mußte wissen, wie sie ihr Wochentagsleben durchführen könne. Ihr Körper mußte zu einem Wochentagskörper werden, der bei der Welt in Achtung stand. Ihre Seele mußte einen Wochentagswert bekommen, an den Begriffen der Welt gemessen.

Also gut, es gab ein Wochentagsleben, das man durch Tätigkeit, Betriebsamkeit beweisen konnte. Demnach mußte man sich seine Tätigkeit, seinen Betrieb suchen. Man war der Welt verantwortlich für seine Tätigkeit.

Ja, man war mehr als nur der Welt verantwortlich. Man war sich selbst verantwortlich. Es blieb aber noch ein rätselhafter, quälender Rest der Sonntagswelt in ihr hängen, ein hartnäckiges Sonntags-Ich, das auf seinen alten Beziehungen zu der nun fallen gelassenen Welt der Erscheinungen bestand. Wie konnte man aber noch Beziehungen zu etwas unterhalten, was man selbst verleugnete? Jetzt bestand ihre Aufgabe in der Erlernung des Wochentagslebens.

Wie das anfangen? das war die Frage. Wohin gehen, wie man selbst werden? Man war ja gar nicht man selbst, man war nur eine halb beantwortete Frage. Wie konnte man es zu einem eigenen Ich bringen, wie die Frage nach dem eigenen Ich und die Antwort darauf finden, wenn man nur so ein unbeständiges Irgendwas-und-Garnichts war, das wie die Winde des Himmels umherwehte, unbestimmt, unbeständig.

Sie wandte sich wieder den Erscheinungen zu, deren aus der Weite herübertönende Worte ihr wie Stöße eines unsichtbaren Windes durchs Blut geflogen waren, sie hörte diese Worte wieder, sie verleugnete die Erscheinungen, da sie doch ein Wochentagswesen sein mußte, für das Erscheinungen keine Wahrheit mehr besaßen, und verlangte lediglich nach der Wochentagsbedeutung der Sprüche.

Sie waren doch gesprochene Äußerungen der Erscheinungen: und als Worte mußten sie auch einen Wochentagssinn haben, da sie aus dem Wochentag stammten. Dann mochten sie nur zu ihr reden: mochten sie sich in Wochentagsausdrücken kundtun. Die Erscheinung sollte sich in Wochentagsausdrücke übersetzen.

»Verkaufe deine gesamte Habe und gibs den Armen!« hörte sie Sonntagmorgens. Das war an sich einfach genug, auch einfach genug für den Montagmorgen. Wie sie auf ihrem Schulwege zum Bahnhof hinunterging, nahm sie den Spruch mit sich.

»Verkaufe alle deine Habe und gibs den Armen!«

Beabsichtigte sie das etwa? Wollte sie ihren Perlmutterspiegel und Haarbürste, ihren silbernen Leuchter, ihren Anhänger, ihr reizendes kleines Halsband verkaufen und wie die Wherrys in Kattun gehen: die ekligen, ungekämmten Wherrys, die für sie »arm« waren? Nein!

So schritt sie den Montagmorgen in Jammer dahin. Denn sie wollte nicht tun, was recht war. Und sie wollte nicht tun, was die Schrift sagte. Sie wollte nicht arm sein – wirklich arm. Der Gedanke daran schon war ihr gräßlich: wie die Wherrys zu leben, so scheußlich, auf jedermanns Gnade angewiesen zu sein.

»Verkaufe deine gesamte Habe und gibs den Armen!«

Das konnte man doch nicht im wirklichen Leben. Wie traurig und hoffnungslos sie das machte!

Ebensowenig konnte man die andere Backe hinhalten. Therese gab Ursula eine Ohrfeige. Ursula hielt ihr in einer Anwandlung christlicher Demut schweigend auch die andere Backe hin. Und Therese, aufgebracht durch diese Herausforderung, haute die auch. Worauf Ursula kochenden Herzens von dannen ging.

Aber der Ärger und tiefe, wurmende Scham quälten sie so, daß sie nicht eher Ruhe fand, als bis sie einen neuen Streit mit Therese angefangen und ihrer Schwester fast den Kopf von den Schultern geschüttelt hatte.

»Das laß dir 'ne Lehre sein«, sagte sie grimmig.

Und dann ging sie weiter, unchristlich, aber gereinigt.

Diese demütige Seite des Christentums hatte etwas Unreines und Herabwürdigendes an sich. Ursula verfiel plötzlich in die entgegengesetzte Stimmung.

»Ich hasse die Wherrys und wollte, sie wären tot. Warum vernachlässigt Vater uns so und läßt uns in Armut und Unbedeutenheit stecken? Warum ist er nicht mehr? Hätten wir einen Vater wie er sein sollte, dann wäre er ein Earl William Brangwen, und ich wäre Lady Ursula. Mit welchem Rechte bin ich denn arm? Krieche wie ein Wurm die Straße entlang? Geschähe mir mein Recht, dann säße ich in einem grünen Reitkleid zu Pferde, und mein Reitknecht ritte hinter mir. Und dann würde ich an den Türen der Hütten anhalten und die Frau, die mit ihrem Kinde auf dem Arm herauskäme, fragen, wie es ihrem Manne ginge, der sich den Fuß verletzt hat. Und ich würde dem Kinde seinen Flachskopf streicheln, mich vom Pferde herabbeugend, und würde ihr aus meiner Börse einen Schilling geben und befehlen, daß ihr vom Schlosse nahrhaftes Essen in die Hütte geschickt würde.«

So ritt sie in ihrem Stolze umher. Und zuweilen stürzte sie sich auch mal in die Flammen, um ein vergessenes Kind zu retten; oder sie sprang in die Schleuse, um einen Jungen zu retten, den der Krampf befallen hatte; oder sie riß ein taumelndes Kind unter den Füßen eines durchgegangenen Pferdes hervor: immer nur in der Einbildung selbstverständlich.

Aber am Ende drang immer wieder das prickelnde Sehnen nach der Sonntagswelt durch. Wenn sie morgens von Coffethay herunterkam und Ilkeston in seinem zartblauen Rauchschleier auf dem Hügel liegen sah, dann schwoll ihr Herz mit den weltenfernen Worten empor:

»O Jerusalem – Jerusalem – wie oft habe ich deine Kinder versammelt wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel, und du wolltest nicht – –«

Ihre Leidenschaft für Christus stieg empor, für dies Sammeln unter die Flügel der Sicherheit und Wärme. Aber inwiefern ließ sich dies auf die Alltagswelt anwenden? Was anders konnte es bedeuten, als daß Christus sie an seine Brust ziehen wollte wie eine Mutter ihr Kind? Und o, Christus, er, der sie an seine Brust ziehen und dort ruhen lassen wollte! O, die Mannesbrust, an der sie Zuflucht und Seligkeit auf ewig finden könnte! Alle ihre Sinne erzitterten vor leidenschaftlicher Sehnsucht.

Sie empfand undeutlich, daß Christus hier etwas anderes gemeint habe, daß er nur in der Welt der Erscheinungen von Jerusalem sprach, von etwas, was es in der Alltagswelt nicht gab. Es waren keine Häuser und Werkstätten, die er an seine Brust schließen wollte, auch keine Haushälter oder Arbeiter oder arme Leute, sondern etwas, was in der Alltagswelt keine Stelle fand, sich mit Alltagshänden oder -augen auch nicht berühren oder sehen ließ.

Aber sie mußte es in Alltagsausdrücken haben – sie mußte!

Denn ihr ganzes Leben war jetzt ein Alltagsleben, das war das Ganze. So mußte er also ihren Leib an seine Brust ziehen, die ihre Stärke von den breiten Knochen empfing und von seinem Herzschlage widerhallte, die warm war von einem Leben, an dem auch sie teilhatte, dem Leben rinnenden Blutes.

So sehnte sie sich nach der Brust des Menschensohnes, um an ihr zu liegen. Und sie schämte sich in ihrer Seele. Denn während Christus eine Antwort aus der Erscheinungswelt verlangte, antwortete sie aus ihrem täglichen Leben heraus. Das war Verrat, diese Umdeutung des Sinnes aus der Welt der Erscheinungen in die des Alltags. Und so schämte sie sich ihrer frommen Verzückung und fürchtete, jemand möchte sie ihr ansehen.

Früh im Jahre, wenn die Lämmer kamen und Strohhütten gebaut wurden und die Männer auf ihres Ohmes Hof nachts mit einer Laterne und dem Hunde saßen, dann stürmte wieder diese leidenschaftliche Vermengung der Erscheinungswelt und der alltäglichen über sie hin. Wieder fühlte sie Jesus über Land gehen. Ach, er würde die Lämmer in seine Arme nehmen! Ach, und das Lamm war sie. Wieder hörte sie, wenn sie am Morgen den Weg hinunterschritt, die Mutterschafe blöken und sah die Lämmer herbeigelaufen kommen, zitternd und wankend in der Freude des Erschaffenseins. Und sie sah sie stillestehen, schnüffelnd nach dem Euter suchen, den Zitzen, während die Mutter ernst den Kopf wandte und ihr Neugeborenes beroch. Und dann saugten sie, zitternd vor Freude auf ihren hohen kleinen Beinen, die Kehle emporgestreckt, ihre jungen Körper bebend unter dem Strome blutwarmer, liebreicher Milch.

O diese Freude, diese Freude! Sie konnte sich kaum davon losreißen, um zur Schule zu gehen. Wie die kleinen Nasen nach dem Euter schnüffelten, die kleinen Körper so froh und sicher, die kleinen, schwarzen Beine gekrümmt, und die Mütter so still dastehend sich ganz ihrem bebenden Suchen hingaben – und dann ruhig davongingen.

Jesus – die Erscheinungswelt – die Alltagswelt – alles verschmolz zu einem unentwirrbaren Gemisch von Schmerz und Seligkeit. Es war fast Todesqual, dieses Gemisch, diese Unentwirrbarkeit. Jesus, die Erscheinung, zu ihr sprechend, die keine Erscheinung war! Und dann wollte sie seine Worte des Geistes nehmen und sie ihrer eigenen Fleischlichkeit verkuppeln.

Das erfüllte sie mit Scham. Die Verschmelzung der Geisteswelt mit der stofflichen in ihrer eigenen Seele würdigte sie herab. Sie antwortete auf den Ruf des Geistes in handgreiflichen Ausdrücken unmittelbarster alltäglicher Wünsche.

»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«

Es war eine zeitliche Antwort, die sie hierauf gab. In sinnlicher Sehnsucht sprang sie empor, um Christus zu antworten. Könnte sie doch nur wirklich zu ihm gehen und ihr Haupt an seine Brust legen, um Trost zu finden, um von ihm gehätschelt, geliebkost zu werden wie ein Kind!

Die ganze Zeit über schritt sie in verworrener, heißer Sehnsucht nach Gott einher. Sie wünschte, Jesus möchte sie voller Entzücken lieben, er möchte ihr sinnliches Opfer annehmen, ihr sinnlich darauf erwidern. Wochenlang ging sie in nachdenklicher Freude umher.

Und dabei war sie sich unter der Hand die ganze Zeit über durchaus bewußt, sie treibe ein falsches Spiel, sie brauche diese Leidenschaft für Jesus zu ihrer eigenen, körperlichen Befriedigung. Aber sie befand sich in einer solchen Betäubung, einem solchen Wirrsal. Wie konnte sie sich daraus befreien?

Sie haßte sich selber, sie hätte am liebsten auf sich selbst herumtrampeln, sich selbst vernichten mögen. Wie konnte man sich davon befreien? Sie haßte Frömmigkeit, weil die ihre Verwirrung nur noch vermehrte. Sie schalt auf alles. Sie wollte hart werden, gleichgültig, roh und abgestumpft gegen alles, mit Ausnahme des unmittelbar Notwendigen, der unmittelbarsten Befriedigung. Das Gefühl dieser Sehnsucht nach Jesus, nur um ihn ihren eigenen weichlichen Empfindungen verkuppeln zu können, ihn als Gegengift zu verwenden, das machte sie schließlich ganz wahnsinnig. Es gab also keinen Jesus, keine Empfindsamkeit. Empfindsamkeit haßte sie mit dem ganzen, bitteren Haß der Hilflosigkeit.

Um diese Zeit kam der junge Skrebensky. Sie war nahezu sechzehn Jahre alt, ein schmächtiges, glimmendes Mädchen, tief schweigsam, und doch hin und wieder in rückhaltlose Mitteilungssucht verfallend, in der sie dann ihre ganze Seele hinzugeben schien, während sie in Wirklichkeit doch nur einen neuen Versuch machte, ihre Seele äußerlich darzustellen. Sie war aufs höchste empfindlich, trug aber stets eine dickfellige Gleichgültigkeit als Schutzmittel zur Schau.

Sie war zu dieser Zeit ein wahrer Unnütz auf Erden mit ihren gelegentlichen Leidenschaftsausbrüchen und ihrer schlummernden Qual. Sie schien sich andern Menschen mit ihrer Seele auf der offenen Hand zu nähern, voller Sehnsucht. Und doch lag immerfort auf dem Grunde ihrer Seele ein kindisches, widerwilliges Mißtrauen. Sie glaubte, sie liebe jeden und traue auch jedem. Aber weil sie sich selbst nicht lieben und vertrauen konnte, mißtraute sie jedermann mit dem Mißtrauen einer Schlange oder eines gefangenen Vogels. Ausbrüche von Widerwillen und Haß waren für sie unvermeidlicher als der Trieb zu lieben.

So rang sie in der Dunkelheit ihrer Tage, seelenlos, unerschaffen, ungestaltet.

Eines Abends, als sie über ihren Arbeiten im Wohnzimmer saß, den Kopf tief in den Händen vergraben, hörte sie in der Küche das Geräusch ungewohnter Stimmen. Sofort fuhr ihr leicht erregbarer Geist aus seiner Teilnahmlosigkeit auf und lauschte angestrengt. Er schien sich niederzukauern, im Hinterhalt zu lauern, gespannt, ausspähend ohne selbst gesehen werden zu wollen.

Zwei unbekannte Männerstimmen waren es, die eine weich und offenherzig, aber bei aller weichen Offenherzigkeit verschleiert, die andere leicht beweglich, rasch dahinfließend. Sie lauschte die ganze Zeit auf den Klang dieser Stimmen, der Worte kaum achtend.

Der erste Sprecher war ihr Ohm Tom. Sie kannte die schlichte Offenherzigkeit, unter der sich Hohn und das wilde Elend seiner Seele verbargen. Wer war der andere? Wessen Stimme lief so leicht dahin, und doch in so flammendem Schwunge? Sie schien zu eilen und sie vorwärts zu drängen, diese andere Stimme.

»Ich erinnere mich Ihrer«, sagte die Stimme eines jungen Mannes. »Ich erinnere mich Ihrer vom ersten Male her, wo ich Sie sah, an Ihren dunklen Augen und Ihrem hellen Gesicht.«

Mrs. Brangwen lachte, scheu, aber wohlgefällig.

»Sie waren ein lockiger kleiner Bursche«, sagte sie.

»Ja? Jawohl, ich weiß noch. Sie waren alle sehr stolz auf meine Locken.«

Und ein allgemeines Lachen lief in Schweigen aus.

»Sie waren ein Junge mit sehr gutem Benehmen, entsinne ich mich«, sagte ihr Vater.

»O! Habe ich Sie vielleicht auch gebeten, doch die Nacht dazubleiben? Ich pflegte die Menschen immer zu bitten, sie möchten doch die Nacht über dableiben. Ich glaube fast, für meine Mutter war das manchmal etwas peinlich.«

Wieder allgemeines Gelächter. Ursula stand auf. Sie mußte hin.

Bei dem Knacken des Türschlosses sah sich alles um. Das Mädchen blieb in der Tür stehen, von augenblicklicher wilder Verwirrung ergriffen. Sie war auf dem Wege, ein hübsches Mädchen zu werden. Jetzt hatte sie etwas Anziehend-Linkisches, wie sie da so einen Augenblick zögerte und nicht wußte, wie sie die Schultern halten sollte. Ihr dunkles Haar war hinten zusammengebunden, ihre gelbbraunen Augen glänzten ziellos in die Runde. Hinter ihr im Wohnzimmer lag das sanfte Licht einer Lampe auf offenen Büchern.

Mit oberflächlicher Selbstverständlichkeit trat sie zuerst auf ihren Ohm zu, der sie küßte und mit Wärme begrüßte, indem er eine Art vertraulichen Besitzrechts über sie zur Schau trug und zugleich doch sein völliges Alleinstehen nur zu deutlich erkennen ließ.

Sie aber wünschte sich dem jüngeren Besucher zuzuwenden. Er stand wartend ein wenig im Hintergrunde. Er war ein junger Mann mit sehr hellgrauen Augen, die erst abwarteten, daß man sie anriefe, bevor sie Ausdruck annahmen.

Irgend etwas in seinem selbstbewußten Abwarten rührte sie, und sie brach in ein verwirrtes, wirklich ganz reizendes Lachen aus, als sie ihm die Hand reichte und den Atem anhielt wie ein aufgeregtes Kind. Seine Hand schloß sich über der ihren dicht, ganz dicht, er verbeugte sich, und seine Augen sahen voller Aufmerksamkeit in die ihren. Sie fühlte sich stolz – ihr Geist schwang sich ins Leben hinein.

»Du kennst Mr. Skrebensky noch nicht, Ursula«, kam ihres Ohms vertraute Stimme. Sie hob ihr Gesicht mit einem hastigen Aufblicken zu dem Fremden empor, wie um ihr Verstehen auszudrücken, mit ihrem zitternden, aufgeregten Lachen.

Seine Augen wurden verwirrt von einem emporquellenden Licht, seine abgesonderte Aufmerksamkeit veränderte sich zu Bereitschaft für sie. Er war ein junger Mensch von einundzwanzig Jahren, von schlanker Gestalt und weichem, braunem Haar, das er auf deutsche Weise straff aus der Stirn in die Höhe bürstete.

»Bleiben Sie lange?« fragte sie.

»Ich habe einen Monat Urlaub«, sagte er mit einem Seitenblick auf Tom Brangwen. »Aber ich muß noch verschiedene Besuche machen – wo ich so hin und wieder mal hereinsehen muß.«

Er verursachte ihr eine starke Empfindung der Außenwelt. Es war ihr, als sei sie oben auf einen Hügel versetzt und könnte undeutlich die ganze Welt zu ihren Füßen ausgebreitet sehen.

»Woher haben Sie einen Monat Urlaub?« fragte sie weiter.

»Ich stehe bei den Pionieren – im Heere.«

»O!« rief das Mädchen aus, fröhlich.

»Wir ziehen dich von deinen Arbeiten ab«, sagte ihr Ohm.

»O nein«, erwiderte sie rasch.

Skrebensky lachte, jung und leicht entzündbar.

»Die wartet nicht, bis man sie holt«, sagte ihr Vater. Aber das erschien grobschlächtig. Sie wünschte, er ließe sie ihre eigenen Angelegenheiten selbst vorbringen.

»Arbeiten Sie nicht gern?« fragte Skrebensky, sich zu ihr wendend und die Frage nach seinem eigenen Gefühl stellend.

»Manches mag ich wohl«, sagte Ursula. »Latein und Französisch – und Grammatik mag ich gern.«

Er beobachtete sie, sein ganzes Wesen schien Aufmerksamkeit gegen sie; dann schüttelte er den Kopf.

»Ich nicht«, sagte er. »Man sagt immer, das Gehirn des ganzen Heeres sitzt in den Pionieren. Ich vermute, deshalb bin ich wohl bei ihnen eingetreten – um anderer Leute Gehirn mir auf Rechnung setzen zu können.«

Er sagte dies etwas höhnisch und bekümmert. Und sie wurde neugierig auf ihn. Er fesselte sie. Ob er Verstand hatte oder nicht, er fesselte sie. Seine Offenheit zog sie an, sein unabhängiges Benehmen. Sie merkte, wie sein Leben sich auf das ihre zubewegte.

»Ich glaube, auf Verstand kommt es gar nicht an«, sagte sie.

»Worauf kommts denn an?« kam ihres Ohms vertrauliche, liebkosende, halb spöttische Stimme.

Sie wandte sich ihm zu.

»Es kommt darauf an, ob jemand Mut hat oder nicht«, sagte sie.

»Mut, wozu denn?« fragte ihr Ohm.

»Zu allem.«

Tom Brangwen ließ ein scharfes, kleines Lachen hören. Mutter und Vater saßen schweigend, mit aufmerksamen Gesichtern da. Skrebensky wartete. Sie sprach nur für ihn.

»Alles ist ebensogut wie gar nichts«, sagte ihr Ohm.

Er mißfiel ihr in diesem Augenblick.

»Sie selbst tut aber nicht, was sie andern predigt«, sagte ihr Vater, indem er seinen Stuhl etwas zurückschob und ein Bein über das andere schlug. »Sie hat nur zu höllisch wenig Mut.«

Aber darauf konnte sie nicht antworten. Skrebensky saß still, abwartend. Sein Gesicht war unregelmäßig, fast häßlich, platt, mit einer entschieden zu dicken Nase. Aber seine Augen waren durchsichtig, seltsam hell, sein braunes Haar dicht und seidenweich, er trug einen kleinen Schnurbart. Seine Haut war fein, sein Wuchs schlank, schön. Neben ihm erschien ihr Ohm aufgeblasen, ihr Vater grobschlächtig. Und doch erinnerte er sie an ihren Vater, nur daß er feiner war und glänzender erschien. Und sein Gesicht war beinahe häßlich. Über die Tatsache seines eigenen Daseins schien er ganz beruhigt, als stände er jenseits jeder Frage oder jedes Wechsels. Er war er selbst. Es lag etwas Schicksalsmäßiges über ihm, das sie bezauberte. Er machte keinerlei Anstrengung, sich andern Leuten gegenüber auszuweisen. Mochten die ihn hinnehmen wie er war, als ihn selbst. Sein Dasein erhob in seiner Abgeschiedenheit keinen Anspruch auf Entschuldigung, noch suchte es sich zu erklären.

So schien er vollkommen, fast schicksalsmäßig festzustehen, er bat um keine Aufklärung über sich, bevor er auftrat, bevor er zu jemand anders in Beziehung treten konnte.

Dies zog Ursula sehr an. Sie war so sehr an unsichere Menschen gewöhnt, die unter jedem neuen Einfluß ein neues Aussehen annahmen. Ihr Ohm war stets mehr oder weniger nur, was der andere aus ihm machen wollte. Infolgedessen kannte man den wirklichen Tom Brangwen gar nicht, nur ein flüssiges, unbefriedigendes Etwas unter einer mehr oder weniger greifbaren Außenhülle.

Skrebensky aber mochte tun, was er wollte, sogar sich vollständig verraten, er verriet sich stets nur auf seine eigene Verantwortung hin. Er ließ keine Frage über sich zu. Er war in seiner Vereinsamung unwiderruflich.

So fand Ursula ihn wundervoll, er war so fein gebaut und so entschieden, so selbstbewußt, so selbstgenügsam. Dies war ein wirklicher Herr, sagte sie sich, er besaß ein Wesen wie das Schicksal, das Wesen eines Vornehmen.

In ihren Träumen belegte sie ihn sogleich mit Beschlag. Hier war endlich jemand wie die Söhne des Herrn, die die Töchter der Menschen ansahen, daß sie schön waren. Er war kein Sohn Adams. Adam war ein Knecht gewesen. War Adam nicht zusammengekrümmt von der Stätte seiner Geburt vertrieben worden, waren die Menschen von da an nicht Bettler gewesen, die sich ihren Unterhalt selbst suchen mußten? Anton Skrebensky aber konnte nicht betteln. Er besaß sich selbst, das und nichts weiter. Kein anderer Mensch konnte ihm in Wirklichkeit etwas geben oder nehmen. Seine Seele stand allein.

Sie wußte, ihr Vater und ihre Mutter erkannten ihn an. Das Haus hatte sich geändert. Dem Hause war eine Heimsuchung widerfahren. Einst hatten drei Engel in Abrahams Tür gestanden und ihn begrüßt, sie waren geblieben, hatten mit ihm gegessen und seinen Haushalt bei ihrem Weggang reicher als zuvor zurückgelassen.

Am nächsten Tage ging sie einer Einladung folgend nach der Marsch hinunter. Die beiden Männer waren noch nicht nach Hause gekommen. Als sie jedoch aus dem Fenster blickte, sah sie gerade den kleinen Wagen vorfahren und Skrebensky herausspringen. Sie bemerkte, wie er sich zusammenzog, absprang, ihrem Ohm zulachte, der gefahren hatte, und dann auf das Haus zuschritt. Er war so ungekünstelt und klar in seinen Bewegungen. Er stand allein innerhalb seines eigenen, klaren, feinen Dunstkreises und so still, als sei er dem Schicksal verfallen.

Dies Beruhen auf seinem eigenen Schicksal gab ihm einen Anschein von Nachlässigkeit, beinahe von Schlaffheit: er machte keine übermäßige Bewegung. Wenn er sich hinsetzte, sah es wie Müdigkeit aus, als löse er sich auf.

»Wir kommen etwas spät«, sagte er.

»Wo sind Sie gewesen?«

»Wir sind nach Derby gefahren, um einen Freund meines Vaters zu besuchen.«

»Wen denn?«

Es war etwas wie ein Wagnis für sie, ihm diese Frage so unvermittelt vorzulegen und eine glatte Antwort darauf zu erhalten. Sie wußte aber, sie könne das bei diesem Manne tun.

»Wieso, er ist auch Geistlicher – er ist mein Vormund – einer von ihnen.«

Ursula wußte, daß Skrebensky Waise war.

»Wo ist jetzt eigentlich Ihre Heimat?« fragte sie.

»Meine Heimat? – Das möchte ich selber wissen. Meinen Oberst habe ich sehr gern – Oberst Hepburn; dann habe ich noch drei Tanten; aber meine eigentliche Heimat ist doch wohl das Heer, sollt ich meinen.«

»Sind Sie gern so ganz selbständig?«

Seine klaren, grüngrauen Augen ruhten einen Augenblick auf ihr und sahen sie nicht, während er überlegte.

»Ich denke doch«, sagte er. »Sehen Sie, mein Vater – na, der hat sich niemals richtig hier eingebürgert. Er wünschte – ich weiß nicht mal, was er eigentlich wünschte – aber es ging über seine Kräfte. Und meine Mutter – ich wußte immer, sie wäre viel zu gut gegen mich. Ich konnte fühlen, daß sie zu gut gegen mich war – meine Mutter. Und dann kam ich so früh zur Schule. Und ich muß sagen, ich fühlte mich in der Außenwelt immer mehr zu Hause als im Pfarrhaus – warum, weiß ich nicht.«

»Fühlten Sie sich wie ein aus seinen Breiten verschlagener Vogel?« fragte sie und benutzte eine Redensart, die sie irgendwo gelesen hatte.

»Nein, nein. Ich finde alles sehr nach meinem Geschmack.«

Er schien ihr mehr und mehr ein Gefühl für die weite Welt zu vermitteln, einen Sinn für Entfernungen und große Menschenmassen. Das zog sie an wie Blütenduft die Biene. Aber es tat ihr auch weh.

Es war Sommer, und sie trug baumwollene Kleider. Als er sie zum dritten Male sah, trug sie ein feines, blau und weiß gestreiftes Kleid mit weißem Kragen und einen großen weißen Hut. Er paßte gut zu ihrer goldigen, warmen Gesichtsfarbe.

»In dem Kleide mag ich Sie am liebsten«, sagte er, wie er mit zur Seite geneigtem Kopfe dastand und sie prüfend, in sich aufnehmend, ansah.

Zusammenschauernd erwachte sie zu einem neuen Leben. Zum ersten Male fühlte sie sich in ihr eigenes Bild verliebt: es kam ihr so vor, als sähe sie ein feines, kleines Bild ihrer selbst in seinen Augen. Und sie mußte demgemäß handeln: sie mußte schön sein. Rasch wandte sich ihr Sinn ihren Kleidern zu, es wurde ihre Leidenschaft, schön aufzutreten. Die Ihren sahen voller Verwunderung auf diese plötzliche Verwandlung Ursulas. Sie begann Geschmack, wirklichen Geschmack in geblümten Baumwollkleidern zu zeigen, die sie sich selbst machte, und Hüten, die sie sich nach eigener Erfindung zurechtmachte. Eine Eingebung war über sie gekommen.

Er saß in einer Art Abgespanntheit in ihrer Großmutter Schaukelstuhl, sich langsam wiegend, schläfrig, vor- und rückwärts, während Ursula zu ihm sprach.

»Sie sind nicht arm, nicht wahr?« sagte sie.

»Arm an Geld? Ich habe ungefähr hundertundfünfzig Pfund jährlich für mich – demnach bin ich also arm oder reich, wie Sie wollen. Jedenfalls bin ich arm genug.«

»Aber Sie werden doch Geld verdienen?«

»Ich werde mein Gehalt bekommen – habe es jetzt schon. Meine Anstellung habe ich in der Tasche. Das bedeutet nochmal hundertundfünfzig Pfund.«

»Aber Sie kriegen doch später mehr, nicht war?«

»In den nächsten zehn Jahren werde ich nicht über zweihundert Pfund bekommen. Ich werde immer arm bleiben, denn ich muß ja von meinem Gehalt leben.«

»Machen Sie sich da viel draus?«

»Aus dem Armsein? Jetzt nicht – nicht sehr viel. Später vielleicht. Die Menschen – die Offiziere, sind sehr gut gegen mich. Oberst Hepburn hat eine Art Zuneigung zu mir – er ist ein reicher Mann, glaube ich.«

Ein Schauder überflog Ursula. Wollte er sich irgendwie verkaufen?

»Ist Oberst Hepburn verheiratet?«

»Ja – er hat zwei Töchter.«

Aber sofort fühlte sie sich viel zu stolz, um sich darum zu bekümmern, ob Oberst Hepburns Töchter ihn heiraten wollten oder nicht.

Es entstand Stillschweigen. Gudrun kam herein, und Skrebensky schaukelte sich noch immer schläfrig in seinem Stuhle.

»Sie sehen recht faul aus«, meinte Gudrun.

»Ich bin auch faul«, sagte er.

»Sie sehen wirklich schlapsig aus«, sagte sie.

»Ich bin auch schlapsig«, erwiderte er.

»Können Sie gar nicht aufhören?« fragte Gudrun.

»Nein – ich bin ein Perpetuum mobile.«

»Sie sehen aus, als hätten Sie keinen Knochen im Leibe.«

»So fühle ich mich am liebsten.«

»Ihren Geschmack bewundere ich nicht.«

»Ist das ein Pech für mich!«

Und damit schaukelte er weiter.

Gudrun setzte sich hinter ihn, und als er zurückschaukelte, faßte sie sein Haar zwischen Daumen und Zeigefinger, so daß es ihn riß, als er wieder vorwärtsschaukelte. Er tat, als merkte er es nicht. Nur das Geräusch der Wiegehölzer auf dem Fußboden war hörbar. Schweigend, wie eine Krabbe, faßte Gudrun jedesmal, wenn er zurückfuhr, eine Strähne seines Haares. Ursula wurde rot und saß in Schmerzen dabei. Sie sah, wie die Erregung sich auf seiner Stirn sammelte.

Schließlich sprang er auf, plötzlich, wie eine Stahlfeder, und stand auf der Herdmatte.

»Verdammt nochmal, warum kann ich denn nicht ruhig weiterschaukeln?« fragte er ärgerlich, wild.

Ursula liebte ihn wegen dieses plötzlichen, stahlartigen Auffahrens aus seiner Abgespanntheit. Wütend stand er auf der Herdmatte da, seine Augen glühten vor Ärger.

Gudrun lachte auf ihre tiefe, weiche Weise.

»Männer schaukeln sich doch nicht«, sagte sie.

»Und Mädels reißen Männer nicht in den Haaren«, sagte er.

Wieder lachte Gudrun.

Ursula saß vergnügt wartend dabei. Und er wußte, Ursula wartete auf ihn. Das erregte sein Blut. Er mußte zu ihr gehen, ihrem Rufe folgen.

Einmal fuhr er sie in dem kleinen Wagen nach Derby.

Wenn auch Pionier, machte er sich doch etwas aus Pferden. Sie frühstückten in einem Gasthause und gingen dann zum Markt, wo ihnen alles viel Spaß machte. In einer Bücherauslage kaufte er ihr einen Abdruck der »Wetterhöhen«. Dann fanden sie eine Art Jahrmarkt, und sie sagte:

»Mein Vater setzte mich immer in die Schaukel.«

»Mochten Sie das gern?« fragte er.

»O, das war fein«, sagte sie.

»Möchten Sie jetzt auch mal schaukeln?«

»Liebend gern«, erwiderte sie, wenn auch etwas ängstlich. Aber die Aussicht auf etwas Ungewöhnliches, Erregendes war ihr zu verlockend.

Er ging schnurstracks auf den Stand zu, zahlte sein Geld und half ihr beim Einsteigen. Er schien nichts außer dem zu bemerken, was er grade tat. Die anderen waren ihm völlig gleichgültig. Sie wäre gern zurückgeblieben, schämte sich aber mehr davor, sich von ihm zurückzuziehen als vor dem Schauspiel, das sie der Menge bot oder vor ihrer Angst vor der Schaukel. Seine Augen lachten, und mit seinem scharfen, raschen Wuchs vor ihr stehend, setzte er die Schaukel in Schwingung. Sie war nicht mehr ängstlich, sie schauerte nur zusammen. Seine Farben erhöhten sich, seine Augen leuchteten in einem emporsteigenden Licht, und sie sah zu ihm empor, ihr Gesicht wie eine Blume im Sonnenschein, so leuchtend und anziehend. So sausten sie durch die helle Luft bis in den Himmel, als wären sie aus einer Schleuder geschossen, und fielen dann schrecklich wieder zurück. Das liebte sie. Die Bewegung schien ihr Blut zu Feuer anzufachen, sie lachten und kamen sich wie ein paar Flammen vor.

Nach der Schaukel gingen sie zu einem Ringelstechen, um sich zu beruhigen; rittlings auf seinem bockigen, hölzernen Renner sitzend, bog er sich zu ihr hinüber und schien sich dabei völlig zu Hause zu fühlen, höchst vergnügt. Das Gefühl des Angehens gegen alles Herkommen brachte ihn erst zu seinem wahren Ich. Wie sie da so auf dem herumwirbelnden Ding saßen und die Orgel ihnen vordudelte, wurde sie alle die umherstehenden Menschen gewahr, und es schien ihr, als ritten er und sie unbekümmert über die Gesichter der Menge hinweg, immer weiter, selig, stolz, immer tapfer über die emporgestreckten Gesichter der Menge hin, in einer höheren Ebene, die gemeine Masse unter sich verachtend.

Als sie absteigen mußten und weggingen, war sie ganz unglücklich, sie kam sich wie ein Riese vor, der plötzlich auf die gewöhnliche Menschengröße zurückgeschnitten und der Gnade der Menge überliefert wird.

Sie verließen den Jahrmarkt, um ihren Wagen wieder zu suchen. Da sie auf dem Wege an der großen Kirche vorbei mußten, wünschte Ursula einen Blick hineinzuwerfen. Aber das ganze Innere war voll von Gerüsten, herabgefallene Steine und Schutt lagen haufenweise auf dem Boden herum, Mörtel zerbröckelte ihnen unter den Füßen, und der ganze Ort hallte wider von weltlichen Stimmen und Hammerschlägen.

Sie hatte einen Augenblick in der Sehnsucht ihres Herzens in tiefste Dämmerung und Frieden hinabtauchen wollen, die unbezwinglich nach dem leichtsinnigen Ritt über die Gesichter der Menge auf dem Jahrmarkt über sie gekommen war. Nach ihrer stolzen Überhebung wünschte sie Trost, Zuspruch, denn Stolz und Verachtung schienen ihr am wehsten zu tun.

Und nun fand sie die uralte Dämmerung voll herabfallender Mörtelbrocken und schwebenden Mörtelstaubes, der nach altem Kalk roch, voll unendlichen Gerüsten und herumliegendem Schutt und Staublaken über dem Altar.

»Lassen Sie uns einen Augenblick hinsetzen«, sagte sie.

Unbeachtet saßen sie in der Dämmerung der letzten Gestühlreihen, und sie sah der schmutzigen, unordentlichen Arbeit der Maurer und Putzarbeiter zu. Arbeiter in schweren Stiefeln kamen den Mittelgang hinunter und riefen sich in ihrer gewöhnlichen Mundart zu:

»He, Kammerad, sünd de Ecksteene kamen?«

Aus dem Dachstuhl wurde eine grobe Antwort heruntergebrüllt. Der Widerhall war so trostlos.

Skrebensky saß dicht neben ihr. Alles kam ihr wundervoll vor, wenn auch schrecklich, wie die Welt hier in Trümmer ging und sie und er unverletzt, durch kein Gesetz gebunden, darüber hinkletterten. Er saß dicht, sie berührend, neben ihr, und sie fühlte seinen Einfluß. Aber sie war froh darüber. Es erregte sie, seinen Druck auf sich zu verspüren, als dränge sein Wesen sie zu irgendwas.

Auf der Heimfahrt saß er wieder neben ihr. Und bei jeder Schwankung des Wagens schwankte er in einer wollüstigen, zögernden Weise gegen sie an und zögerte wieder, wenn er wieder nach der andern Seite zurückschwankte. Ohne ein Wort zog er ihre Hand unter dem Schurz zu sich herüber, und mit gespannter Seele, sein nichtssehendes Gesicht der Straße zugewandt, fing er an, mit einer Hand die Knöpfe ihres Handschuhs aufzumachen, den Handschuh von ihrer Hand zurückzustreifen und ihre Hand sorgfältig zu entblößen. Die enge Berührung, die feine Emsigkeit seiner Finger auf ihrer Hand machten das junge Mädchen fast verrückt vor wollüstiger Freude. Seine Hand war so wundervoll, so gespannt, wie sie geschickt wie ein lebendes Wesen in der dunklen Unterwelt herumarbeitete und schob, ihr den Handschuh abstreifte und die Handfläche, die Finger bloßlegte. Dann schloß sie sich über der ihrigen so dicht, so fest, als verschmölze sein Fleisch ihre und seine Hand in eins. Währenddessen beobachteten seine Augen den Weg und die Ohren ihres Pferdes, mit vollster Aufmerksamkeit fuhr er durch jedes Dorf, und sie saß glühend, verzückt neben ihm, geblendet durch ein neues Licht. Keins sprach ein Wort. In ihrer äußeren Aufmerksamkeit waren sie ganz getrennt. Aber zwischen ihnen lag die Berührung seines Fleisches mit dem ihren in ihren verschlungenen Händen.

Mit einer seltsamen Stimme, die Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit vortäuschen sollte, sagte er dann:

»Dies Sitzen da in der Kirche erinnerte mich an Ingram.«

»Wer ist Ingram?« fragte sie.

Sie täuschte ebenfalls eine ruhige Gleichgültigkeit vor. Aber sie wußte, jetzt käme etwas Verbotenes.

»Einer von uns da unten in Chatham – ein Leutnant – aber ein Jahr älter als ich.«

»Und warum erinnerte die Kirche Sie an ihn?«

»Ach, der hatte da ein Mädchen in Rochester, und mit der saß er bei seinen Liebeleien immer in einer bestimmten Ecke im Dom.«

»Wie reizend!« rief sie lebhaft.

Sie verstanden einander nicht.

»Ja, es hatte aber auch seine Nachteile. Der Küster machte schließlich einen mächtigen Krach.«

»Wie gemein! Warum sollten sie denn nicht im Dom sitzen?«

»Ich glaube, man hält das ziemlich allgemein für etwas Entweihendes. – Sie und Ingram und das Mädchen ausgenommen.«

»Ich sehe darin keine Entweihung – ich finde es ganz in der Ordnung, sich verliebt zu fühlen, wenn man in einem Dom sitzt.«

Sie sagte das fast herausfordernd, ihrer Seele zum Trotz.

Er blieb stumm.

»Und war sie niedlich?«

»Wer? Emilie? Ja, sie war sehr nett. Sie war Putzmacherin und wollte sich nicht mit Ingram auf der Straße sehen lassen. Es war wirklich recht traurig, denn der Küster lauerte ihnen auf und fand ihre Namen heraus und machte dann einen furchtbaren Krach. Nachher war es der reine Stadtklatsch.«

»Was fing sie denn da an?«

»Sie ging nach London, in ein großes Geschäft. Ingram besuchte sie noch zuweilen.«

»Liebt er sie denn?«

»Er ist jetzt anderthalb Jahr mit ihr zusammen.«

»Wie war sie ungefähr?«

»Emilie? So'n kleines Veilchen im verborgenen mit niedlichen Augenbrauen.«

Ursula dachte nach. Das war ja eine richtige Liebesgeschichte aus der Außenwelt.

»Haben denn alle Männer Geliebte?« fragte sie, selbst ganz erstaunt über ihre Waghalsigkeit. Aber ihre Hand lag noch von seiner umschlossen, und sein Gesicht zeigte noch den gleichen unveränderlichen Ausdruck von Festigkeit und äußerlicher Ruhe.

»Sie reden immer über irgendein ganz wunderschönes Frauenzimmer und betrinken sich dann, um über sie schwatzen zu können. Die meisten sausen im Augenblick, wo sie frei sind, nach London hinein.«

»Wozu denn?«

»Wegen irgendeiner wunderbar schönen Frau.«

»Was für 'ner Art Frau?«

»Das ist verschieden. In der Regel wechselt ihr Name ziemlich häufig. Einer von den Kerls ist völlig verrückt. Er hat immer seine Handtasche fertig, und sowie er frei ist, flitzt er nach dem Bahnhof und zieht sich im Zuge um. Wer im Wagen ist, ist ihm ganz einerlei, runter mit dem Rock, und so macht er sich wenigstens obenherum fertig.«

Ursula zitterte vor Verwunderung.

»Warum hat er denn so 'ne Eile?« fragte sie.

Ihre Kehle wurde hart und schwierig.

»Vermutlich hat er 'ne Frau im Kopfe.«

Sie war kalt, hart geworden. Und doch bezauberte sie diese Welt der Leidenschaften, der Gesetzlosigkeit. Diese Achtlosigkeit kam ihr großartig vor. Das Abenteuer ihres Lebens begann. Es kam ihr großartig vor.

Sie blieb diesen Abend bis nach Dunkelwerden auf der Marsch, und Skrebensky brachte sie nach Hause. Denn sie konnte sich nicht von ihm losmachen. Und sie wartete auch, wartete auf mehr.

In der Wärme der frühen Nacht, mit dem jungen Schatten um sie her kam sie zum Gefühl einer andern, härteren, schöneren, weniger persönlichen Welt. Jetzt würde etwas Neues ins Leben treten.

Er schritt dicht neben ihr hin und legte ihr mit derselben schweigsamen, gespannten Art von Annäherung seinen Arm um die Hüfte und zog sie sanft, ganz sanft an sich, bis sein Arm hart wurde und sie drückte; sie kam sich wie getragen, wie schwebend vor, ihre Füße berührten kaum den Boden, sie fühlte sich getragen auf der festen, beweglichen Oberfläche seines Körpers, auf dessen Seite sie in einem schwindelnden Entzücken lag. Und wie es sie so schwindelte, beugte sein Gesicht sich dichter zu dem ihren, und ihr Haupt lehnte sich gegen seine Schulter; sie fühlte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. Dann berührten seine Lippen ihre Wange so sanft, o so sanft, so sanft, daß sie ohnmächtig zu werden glaubte und sich über ein heißes, dunkles Sandmeer dahingetrieben fühlte.

Und immer noch wartete sie, schwindelnd und dahintreibend, wartete wie das Dornröschen im Märchen. Sie wartete, und wieder beugte sich sein Gesicht über das ihre, drückten seine Lippen sich ihr warm auf, ihre Schritte wurden langsamer und hielten inne; sie blieben unter den Bäumen stehen, während seine Lippen auf ihrem Gesicht haften blieben, warteten, wie ein Schmetterling auf einer Blume regungslos rastet. Sie drängte ihm ihre Brust ein wenig näher, er bewegte sich, schlang beide Arme um sie und zog sie an sich.

Und dann in der Dunkelheit beugte er sich über ihren Mund, sanft, und berührte ihn mit dem seinen. Sie begann sich zu fürchten und lag still in seinem Arm, während sie seine Lippen auf den ihren fühlte. Sie blieb ganz still in ihrer Hilflosigkeit. Dann begann sein Mund zu drängen, sich dem ihren aufzupressen, und heiß, überwältigend stieg es in ihr hoch, sie öffnete ihm ihre Lippen und zog ihn in schmerzhaften, stechenden Wirbeln an sich; sie ließ ihn immer näher kommen, und wie die anschwellende Brandung, sanft, o so sanft und doch unwiderstehlich wie die Brandung kamen seine Lippen, bis sie mit einem blinden, leisen Aufschrei sich von ihm losmachte.

Sie hörte, wie er neben ihr schwer, seltsam atmete. Ein wunderbar schrecklicher Schauer vor der Seltsamkeit seines Wesens ergriff sie. Aber nun hielt sie in ihrem Innern etwas zurück. Zögernd schritten sie weiter, zitternd wie die Schatten unter den Eschenbäumen auf dem Hügel, wo ihr Großvater mit seinen Narzissen entlang geschritten war, um seinen Antrag zu überbringen, wo ihre Mutter mit ihrem jungen Gatten gegangen war, dicht an ihn geschmiegt, wie Ursula nun mit Skrebensky ging.

Ursula bemerkte das dunkle Gezweig der Bäume über ihren Häuptern, dicht mit Laub umkleidet, mit dem Geflecht feiner Eschenblätter in der Sommernacht.

Dicht aneinander gedrängt, ihre Körper sich in völligem Einklang bewegend, schritten sie dahin. Er hielt ihre Hand, und sie machten den großen Umweg über die Landstraße, damit es länger dauerte. Sie fühlte sich immer, als würde sie von den Füßen gehoben, und als bewegten sich ihre Füße wie eine leichte Brise.

Er wünschte sie noch einmal zu küssen, – aber nicht so tief wie vorhin. Sie wußte nun Bescheid, wußte nun, was ein Kuß bedeuten könne. Und so war es schwieriger, ihn wieder herankommen zu lassen.

Sie ging zu Bett ganz warm von einer elektrischen Wärme, als ströme die Dämmerung in ihr empor und halte sie. Und sie schlief fest, süß, o so süß! Am Morgen fühlte sie sich gesund wie eine Kornähre, duftend und fest und voll.

In der ersten Verwunderung über ihre Unwirklichkeit setzten sie ihre Liebschaft fort. Ursula sagte niemand etwas; sie ging ganz in ihrer eigenen Welt verloren.

Und doch ließ eine gewisse Prahlsucht sie nach einem wenn auch nur unechten Vertrauen suchen. Sie hatte in der Schule eine Freundin, ein ruhiges, nachdenkliches, ernstes Mädchen namens Ethel, und dieser Ethel mußte Ursula ihre Geschichte anvertrauen. Ethel hörte sie ganz hingenommen an, mit gesenktem Kopf, der nichts verriet, während Ursula ihr Geheimnis erzählte. Ach, es war ja so entzückend, die sanfte, zarte Art, in der er ihr seine Liebe bewies. Ursula redete wie eine erfahrene Liebhaberin.

»Glaubst du,« fragte Ursula sie, »daß es schlecht ist, sich von einem Manne küssen zu lassen – richtig küssen, nicht bloß so verliebt tun?«

»Ich dächte doch,« sagte Ethel, »das kommt drauf an.«

»Er küßte mich unter den Eschen auf dem Cossethayer Berg – meinst du, daß das böse war?«

»Wann denn?«

»Donnerstagabend, als er mich nach Hause brachte – aber richtig – ernstlich ... Er ist Offizier.«

»Wie spät war es denn?« fragte Ethel nachdenklich.

»Ich weiß nicht mehr – ungefähr halb zehn.«

Sie schwiegen.

»Ich meine doch, es war unrecht«, sagte Ethel und hob ungeduldig den Kopf. »Du kennst ihn doch gar nicht.«

Sie sprach voller Verachtung.

»Doch, kennen tue ich ihn. Er ist ein halber Pole, und sogar ein Baron. In England ist er ebensogut wie ein Lord. Meine Großmutter war mit seinem Vater befreundet.«

Aber nun waren die beiden Freundinnen Feinde. Es war, als hätte Ursula sich von ihren Bekannten durch die Betonung ihrer Verbindung mit Anton, wie sie ihn jetzt nannte, absichtlich absondern wollen.

Er kam recht häufig nach Cossethay, weil ihre Mutter ihn gern hatte. Vor Skrebensky wurde Anna Brangwen so etwas wie eine » grande dame«, sehr ruhig, und nahm alles als ausgemacht hin.

»Sind die Kinder noch nicht zu Bett?« rief Ursula verdrießlich, als sie mit dem jungen Manne ins Zimmer trat.

»In 'ner halben Stunde gehen sie zu Bett«, sagte die Mutter.

»Nie hat man Ruh und Frieden!« rief Ursula.

»Die Kinder wollen doch auch leben, Ursula«, sagte ihre Mutter.

Und hierin war Skrebensky gegen Ursula. Warum war sie so merkwürdig hierin?

Aber er war, wie Ursula wußte, nicht an die dauernde Quälerei gewöhnt, die die Umgebung kleiner Kinder mit sich bringt. Er behandelte Mrs. Brangwen mit großer Höflichkeit, die ihre Mutter durch eine leichte, freundliche Gastfreiheit erwiderte. Das Mädchen fand Gefallen an der Art, wie ihre Mutter sich so ruhig als vornehme Dame zu geben wußte. Es schien ganz unmöglich, Mrs. Brangwens Stellung anzufechten. Hinsichtlich der Öffentlichkeit stand sie niemandem nach. Zwischen Brangwen und Skrebensky bestand unüberbrückbares Schweigen. Zuweilen unterhielten sich die beiden Männer leichthin, aber sie hatten sich nichts zu sagen. Ursula freute sich, wenn sie sah, wie ihr Vater sich vor dem jungen Manne in sich selbst zurückzog.

Im Hause war sie sehr stolz auf Skrebensky. Seine nachlässige, schläfrige Gleichgültigkeit reizte sie und warf doch einen Zauberbann über sie. Sie wußte, sie war das Ergebnis eines gewissen Hanges zum » laisser-aller«, gepaart mit tiefgehender jugendlicher Lebhaftigkeit. Und doch reizte sie sie schwer.

Dessenungeachtet war sie stolz auf ihn, wenn er in seiner flüchtigen, oberflächlichen Art durchs Haus bummelte; er war dabei die ganze Zeit über sehr aufmerksam gegen ihre Mutter und sie selbst. Es war wundervoll, seine Aufmerksamkeit im Zimmer um sich zu haben. Sie fühlte sich durch sie bereichert und gehoben, wenngleich sie der anziehende Pol und er der ihr zugeleitete Strom war. Mochten all seine Höflichkeiten und Liebenswürdigkeiten ihrer Mutter gelten, das flammende Auflodern seines Körpers war nur auf sie gerichtet. Das hielt sie für sich.

Sie mußte immer wieder ihre Macht beweisen.

»Ich wollte Ihnen eigentlich meine kleine Holzschnitzerei zeigen«, sagte sie.

»Da ist doch sicher nicht viel dran zu zeigen«, sagte ihr Vater.

»Möchten Sie sie mal sehen«, fragte sie und wandte sich zur Tür.

Und sein Körper war schon von seinem Stuhle aufgestanden, wenn sein Gesicht sich auch in Übereinstimmung mit ihren Eltern zu setzen suchte.

»Sie ist im Schuppen«, sagte sie.

Und er ging hinter ihr her aus der Tür, mochten seine Gefühle sein wie sie wollten.

Im Schuppen spielten sie dann Küssen, spielten richtig Küssen. Es war ein entzückend aufregendes Spiel. Sie wandte sich ihm zu, ihr ganzes Gesicht ein Lachen, wie eine Herausforderung. Und er nahm ihre Herausforderung sofort an. Er wand sich ihr Haar um eine Hand und brachte mit dieser Handvoll Haar hinter ihrem Kopf ihr Gesicht dem seinen ganz sanft immer näher, während sie ihn in ihrer Herausforderung atemlos anlachte, und seine Augen vor Vergnügen über dies Spiel ihr Antwort zuleuchteten. Und er küßte sie, um seinen Willen über sie zu bekräftigen, und sie küßte ihn wieder, um ihrer wohlüberlegten Freude Ausdruck zu verleihen. Sie wußten, es war ein übermütiges, gefährliches Wagnis, dies Spiel, und sie beide spielten mit dem Feuer, nicht mit der Liebe. Sie wurde dabei von einer Art Trotz gegen alle Welt ergriffen – sie mußte ihn küssen, grade nur weil sie es wünschte. Das Gegengewicht in ihm bildete eine gewisse Waghalsigkeit, mehr Schamlosigkeit, etwas was ihn von allem loslöste, dem er zu dienen vorgab.

Sie war damals wunderschön, so weit geöffnet, so strahlend, so zitternd, ausgesucht leicht verletzlich und herb in ihrem Unrecht, wie sie sich so selbst wegwarf. Das erregte in ihm eine Art Wahnsinn. Sie versuchte ihn wie eine vollgeöffnete, im Sonnenschein schwankende Blume, sie forderte ihn heraus, und er nahm ihre Herausforderung an; es versteifte sich etwas in seinem Innern. Und unter all ihrem Lachen und ihrer übermütigen Laune lag das Zittern von Tränen. Das machte ihn fast wahnsinnig, verrückt vor Sehnsucht, vor Schmerz, der sich nur durch den Besitz ihres Körpers lösen konnte.

So gingen sie dann erschüttert, verängstigt wieder zu ihren Eltern in die Küche und verstellten sich. Aber es war nun etwas in ihnen beiden lebendig geworden, das sich nicht mehr beschwichtigen ließ. Es verschärfte und erhöhte ihre Sinne, sie wurden lebendiger, mächtiger in ihrer Wesenheit. Aber unter dem allem lag das bittere Gefühl der Vergänglichkeit. Für sie beide war es eine wundervolle Selbstbestätigung: er bestätigte sich ihr gegenüber, er fühlte sich unendlich männlich, unendlich unwiderstehlich; sie bestätigte sich ihm gegenüber im Bewußtsein ihrer unendlichen Anziehungskraft und einer daraus hergeleiteten Stärke. Und schließlich, was anders konnte denn jeder von ihnen aus einer solchen Leidenschaft gewinnen als das Hochgefühl des eigenen Ich im Gegensatz zu allem übrigen Leben? Und darin lag wieder etwas Endgültiges und Trauriges, denn die Menschenseele sehnt sich als Höchstes doch nach einem Gefühl der Unendlichkeit.

Immerhin, diese Leidenschaft war nun einmal entstanden und mußte ihren weiteren Fortgang nehmen, Ursulas Leidenschaft nämlich nach dem Erkennen ihres eigenen Höchstwertes mit seinen Begrenzungen und Unterschieden gegen ihn. Sie vermochte sich gegen ihn abzugrenzen und sich von ihm, dem Manne, zu unterscheiden, sie konnte als weibliches Wesen ihren Höchstwert ausleben, um als Weib, siegreich sich einen Augenblick lang in wundervoller Bestätigung gegen den Mann, im höchsten Gegensatz zum Manne aufrechtzuerhalten.

Als er am nächsten Nachmittag umherspähend zu ihnen kam, zog sie ihn mit hinüber in die Kirche. In ihrem Vater sammelte sich allmählich Ärger gegen ihn an, ihre Mutter wurde hart gegen sie. Dabei waren beide Eltern von Haus aus duldsam.

Sie schritten zusammen über den Kirchhof, Ursula und Skrebensky, und liefen dann in die Kirche, um sich dort zu verstecken. Dort drinnen war es dämmeriger als draußen in der Nachmittagssonne, aber das Licht unter den steinernen Wölbungen war wundervoll sanft. Die Fenster brannten in Rubinrot und Blau, sie wirkten wundervolle Teppiche für ihr verborgenes, steinernes Nest.

»Was für ein großartiger Platz für ein Stelldichein«, sagte er mit unterdrückter Stimme, als er sich umsah.

Auch sie sah sich in dem vertrauten Innenraume um. Die dämmernde Stille ließ sie erschauern. Aber in ihren Augen leuchtete es tollkühn empor. Hier, hier wollte sie ihre unbezähmbare, schimmernde Weiblichkeit bestätigen. Hier wollte sie ihre blütenhafte Weiblichkeit flammengleich erschließen, in dieser Dämmerung, die mehr Leidenschaft in sich barg als das Licht.

Einen Augenblick standen sie noch jeder für sich, dann aber wandten sie sich entschlossen der ersehnten Berührung zu. Sie schlang ihre Arme um ihn, sie klammerte sich mit ihrem Körper an den seinen, und ihre Hände auf seine Schultern, auf seinen Rücken pressend, schien sie seinen straffen jungen Leib durch und durch kennen zu lernen. Und er war so fein, so hart, und doch so ausgesucht nachgiebig und ihrem Willen unterworfen. Sie reichte ihm ihren Mund dar und trank voll seinen Kuß, trank ihn voller und immer voller.

Und das war so gut, so sehr, sehr gut. Es schien ihr, als erfülle sie sein Kuß, erfülle sie, als habe sie starken, glühenden Sonnenschein getrunken. Ihr ganzes Innere glühte, der Sonnenschein schien ihr ans Herz zu klopfen, der Trank war so wundervoll gewesen.

Sie entzog sich ihm und sah ihn strahlend an, voll ausgesuchter, glühender Schönheit und Befriedigung, aber strahlend wie ein glühendes Wölkchen.

Daß sie vor Befriedigung strahlen konnte, war ihm sehr bitter. Sie lachte ihn an, ganz blind gegen ihn, so voll von ihrer eigenen Seligkeit, als zweifle sie gar nicht daran, daß ihm genau so zumute sein müsse. Und strahlend wie ein Engel trat sie an seiner Seite wieder aus der Kirche, als seien ihre Füße Lichtstrahlen und hinterließen Blumen als ihre Spuren.

Er schritt neben ihr her, seine Seele zusammengeballt, sein Körper unbefriedigt. Sollte sie so leicht über ihn siegen? Für ihn gab es jetzt keine Seligkeit, nur Schmerz und ärgerliche Verwirrung.

Es war im Hochsommer und die Heuernte beinahe vorüber. Sonnabend sollte sie zu Ende gehen. Am Sonnabend aber mußte Skrebensky abreisen. Er konnte nicht länger bleiben.

Da er seine Abreise fest beschlossen hatte, war er sehr zärtlich und liebevoll gegen sie, seine Küsse wurden sehr sanft und so süß drängend, so hinterhältig-gewaltsam, daß sie sich beide an ihnen berauschten.

Am letzten Freitag seines Aufenthalts traf er sie, wie sie aus der Schule kam, und nahm sie zum Tee mit in die Stadt. Dann nahm er einen Kraftwagen, um sie nach Hause zu bringen.

Ihre Aufregung über diese Fahrt im Kraftwagen war die Höhe. Er war übrigens auch sehr stolz auf diesen seinen letzten Einfall. Er sah, wie Ursula sich an dem Abenteuerlichen ihrer Lage entflammte. Sie hob den Kopf wie ein junges Pferd, schnaubend vor lauter Freude.

Der Wagen sauste um eine Ecke, und Ursula wurde gegen Skrebensky geschleudert. Diese Berührung ließ sie ihn gewahr werden. Mit einer raschen, suchenden Bewegung griff sie nach seiner Hand und preßte sie in der ihren, so fest, so eng sich ihm verbindend, als wären sie zwei Kinder.

Der Wind fuhr Ursula ins Gesicht, der Schmutz flog in weichen, wilden Strahlen von den Rädern, das Land lag schwärzlichgrün da, mit den Silberspuren frischen Heues hier und da und Baumgruppen unter dem silberglänzenden Himmel.

Ihre Hand umschloß die seine in einem neuen, unruhevollen Bewußtsein. Eine ganze Zeitlang sprachen sie nicht, sondern saßen mit verschlungenen Händen und abgewandten, glänzenden Gesichtern da.

Und hin und wieder schleuderte der Wagen sie gegen ihn an. Und sie warteten darauf, daß diese Bewegung sie zusammenbringe. Aber sie starrten weiter stumm aus den Fenstern.

Sie sah das ihr so wohlbekannte Land vorbeifliegen. Aber nun war es ihr nicht länger wohlbekannt, es wurde zum Wunderland. Da stand der Schierling-Stein auf seinem grasigen Hügel. Seltsam sah er aus an diesem feuchten Frühsommerabend, fern, wie in einem Zauberland. Ein paar Krähen flogen aus den Bäumen auf.

Ach, könnten sie und Skrebensky doch nur aussteigen und in dies Zauberland hinausschreiten, das noch niemandes Fuß je zuvor betreten hatte! Dann wären sie auch verzaubert, dann könnten sie ihr langweiliges Alltags-Ich abstreifen. Könnten sie doch dort hinüber wandern, über jene Hügelseite unter dem silberig schillernden Himmel, in dem all die vielen Krähen wie Schauer eilender Pünktchen verschwanden. Könnten sie doch an jenen feuchten Heuwiesen vorbeiwandern und den frühen Abend einatmen, und in den Wald hinüberziehen, wo der Duft des Jelängerjelieber süß in der kühlen Nachtluft lag und Tropfen auf einen herniederschauerten, wenn man einen Zweig streifte, entzückend kühl aufs Gesicht hernieder!

Aber hier saß sie neben ihm im Wagen, ganz dicht, und der Wind fuhr ihr in das emporgehobene, gespannte Gesicht und zauste ihr Haar nach rückwärts. Er drehte sich zu ihr herum und sah ihr Gesicht, scharf wie gemeißelt, ihr vom Winde zurückgezaustes Haar, ihre Nase so scharf und fein.

Es bereitete ihm Todesqualen, wie er sie so rasch und feingeschnitten und jungfräulich dasitzen sah. Er hätte sich am liebsten umgebracht und ihr seinen verabscheuungswürdigen Leichnam vor die Füße geworfen. Die Sucht, sich gegen sich selbst zu wenden und sich zu zerreißen, wurde gradezu tödlich.

Plötzlich sah sie ihn an. Er schien ihr auf sie zuzukriechen, nach ihr zu greifen, es schien sich etwas zwischen seinen Brauen zusammen zu krümmen. Aber sowie er ihre leuchtenden Augen und ihr strahlendes Gesicht sah, veränderte sich sein Ausdruck, und sein altes, übermütiges Lachen leuchtete ihr wieder entgegen. In höchster Freude preßte sie seine Hand, und er ließ sie gewähren. Und plötzlich beugte sie sich vor und küßte seine Hand, beugte ihren Kopf vor und preßte sie in edelster Verehrung an ihren Mund. Und sein Blut brannte. Aber doch blieb er still und regte sich nicht.

Sie fuhr auf. Der Wagen schwankte nach Cossethay hinein. Skrebensky mußte sie nun verlassen. Aber alles war ja so zauberhaft, ihr Becher so voll leuchtenden Weines, ihre Augen vermochten nur zu strahlen.

Er klopfte gegen die Scheibe und sprach mit dem Führer. Der Wagen hielt mit einem Ruck bei den Eibenbäumen. Sie gab ihm die Hand und sagte ihm Lebewohl, kurz und unbefangen wie ein Schulmädchen. Und dann blieb sie mit strahlendem Gesicht stehen, um ihn abfahren zu sehen. Die Tatsache seiner Abfahrt bedeutete ihr nichts, sie war zu voll ihrer eigenen, leuchtenden Verzückung. Sie sah ihn gar nicht davonfahren, sie war zu voller Licht, das von ihm herrührte. Erfüllt von diesem wundervollen Licht, wie hätte sie ihn vermissen können?

In ihrer Kammer warf sie die Arme empor in die Luft vor lauter, schmerzhafter Freude. O, das war Verklärung; sie war ganz außer sich. Sie wünschte sich in die helle Luft emporschwingen zu können. Da war sie, da war sie, wenn sie sie nur erlangen könnte.

Am nächsten Tage aber begriff sie, daß er fort war. Ihre Verklärung erstarb nun teilweise – aber niemals in ihrem Gedächtnis. Dort war sie zu wirklich. Und doch war sie vorüber und ließ nur Gedanken zurück. Ein tieferes Sehnen zog in ihre Seele ein, eine neue Zurückhaltung.

Sie wich allen Fragen und Berührungen aus. Sie war sehr stolz, aber auch sehr neu, und so empfindsam. O, niemand sollte Hand an sie legen dürfen!

Sie fühlte sich glücklicher, wenn sie allein umherlief. O, welche Freude ihr das machte, die Straßen auf und ab zu laufen und nichts zu sehen, aber doch sich umgeben zu wissen. Es war eine solche Riesenfreude, so allein mit all seinen Reichtümern zu sein.

Die Freizeit kam, und sie war frei. Sie verbrachte ihre Zeit größtenteils mit Herumlaufen, für sich, oder sich in einem Eichhörnchennest im Garten zusammenzukauern, oder irgendwo im Dickicht in der Hängematte zu liegen, während ihr die Vögel so nahe kamen – ganz nahe – so nahe! Oder bei Regenwetter flitzte sie nach der Marsch hinunter und lag mit ihrem Buch in einem Versteck auf dem Heuboden.

Die ganze Zeit über träumte sie von ihm, ein paar mal sehr deutlich; wenn sie aber ganz glücklich war, nur undeutlich. Er verlieh ihren Träumen die warme Färbung, er war das heiße Blut, das sie durchpulste.

Fühlte sie sich weniger glücklich, mißmutig, dann dachte sie über sein Aussehen nach, seine Anzüge, die Knöpfe mit seinem Regimentsabzeichen, die er ihr gegeben hatte. Oder sie versuchte sich sein Leben in der Kaserne vorzustellen. Oder sie malte sich aus, wie sie ihm wohl vor Augen stünde.

Im August war sein Geburtstag, und mit einiger Schwierigkeit backte sie ihm einen Kuchen. Sie fühlte, es würde keinen guten Geschmack bezeigen, wenn sie ihm ein Geschenk machte.

Ihr Briefwechsel war kurz, beschränkte sich mehr auf Postkarten; er war durchaus nicht lebhaft. Aber mit ihrem Kuchen mußte sie ihm doch einen Brief schicken.

 

»Lieber Anton. Ausgerechnet zu Deinem Geburtstag ist die Sonne wieder durchgekommen, glaube ich.

Den Kuchen habe ich selbst gebacken, und wünsche Dir, Dein Geburtstag möge noch oft wiederkehren. Iß ihn nicht, wenn er nicht gut ist. Mutter hofft, Du würdest uns doch wieder besuchen, wenn Du in der Nähe bist.

Ich bin Deine aufrichtige Freundin
Ursula Brangwen.«

 

Selbst dieser Brief an ihn war ihr höchst langweilig. Schließlich hatten doch die Worte, die sie da aufs Papier niederschrieb, nichts mit ihm oder ihr zu tun.

Nun kam schönes Wetter, die Mähmaschinen liefen vom frühen Morgen bis Sonnenuntergang klappernd um die Felder. Sie hörte von Skrebensky; er hatte Dienst auf dem Lande, auf dem Salisbury-Felde. Er war jetzt Unterleutnant bei den Feldtruppen. Binnen kurzem würde er ein paar Tage Urlaub haben und würde zur Hochzeit auf die Marsch kommen.

Fred Brangwen wollte nämlich eine Lehrerin aus Ilkeston heiraten, sobald die Getreideernte vorüber wäre.

Das matte Blau-und-Gold eines heißen, süßen Herbstes sah den Beschluß der Getreideernte. Ursula war es, als habe sich die Welt zu ihrer reinsten, süßesten Blüte erschlossen, zu ihrer Zichorie, ihrem Wiesensafran. Der Himmel war blau und süß, die gelben Blätter auf der Straße kamen ihr wie lose wandernde Blüten vor, wenn sie ihr um die Füße raschelten, ein scharfer, aufreizender, fast unerträglicher Klang für ihr Herz. Und der Duft des Herbstes kam ihr wie Sommerwahnsinn vor. Wie eine erschreckte Baumelfe floh sie vor den kleinen, purpurroten Astern, die leuchtend-gelben dufteten so stark, ihre Füße schienen in trunkenem Taumel dahinzutanzen.

Dann erschien ihr Ohm Tom, immer dem spottenden Bacchus auf dem Bilde gleichend. Er wünschte eine vergnügte Hochzeit, Erntefest und Hochzeitsfeier zugleich: ein Zelt im Hausgarten, und eine Musikbande zum Tanzen, und ein großes Fest im Freien.

Fred erhob Einwendungen, aber Tom mußte wohl zufriedengestellt werden. Auch Laura, die Braut, ein hübsches, kluges Mädchen, wollte gern ein großes, vergnügtes Fest. Ihr gebildeter Geschmack verlangte danach. Sie war auf der Salisbury-Schule ausgebildet und verstand sich auf Volkslieder und alte Tänze.

So begannen die Vorbereitungen unter Leitung Tom Brangwens. Im Hausgarten wurde ein Zelt aufgeschlagen und zwei große Freudenfeuer aufgestapelt. Spielleute wurden gemietet, das Fest war fertig.

Skrebensky sollte auch kommen, und zwar morgens. Ursula hatte ein neues Kleid aus weißem, weichem Flor und einen weißen Hut. Sie trug Weiß sehr gern. Mit ihrem schwarzen Haar und ihrer goldig schimmernden Haut sah sie wie eine Südländerin aus, oder eher wie ein Wesen aus den Tropen, wie eine Kreolin.

Sie zitierte den Tag, als sie sich anzog, um zur Hochzeit hinunterzugehen. Sie war eine der Brautjungfern. Skrebensky konnte nicht vor nachmittags da sein. Die Hochzeit war um zwei.

Als die Hochzeitsgesellschaft wieder nach Hause kam, stand Skrebensky im Wohnzimmer der Marsch. Durchs Fenster bemerkte er Tom Brangwen, der Bestmann gewesen war, in einem ausgezeichnet sitzenden Rock mit weißer Halsbinde und weißen Gamaschen den Gartenweg heraufkommen und Ursula lachend an seinem Arm. Tom Brangwen war hübsch mit seinen frauenhaften Farben und den dunklen Augen, dem kurzgeschnittenen schwarzen Schnurrbart. Aber trotz all seiner Schönheit lag etwas entschieden Gemeines und Verräterisches in ihm; seine seltsamen, tierischen Nasenlöcher öffneten sich so weit und hart, und sein wohlgeformter Kopf war in seiner Nacktheit gradezu beunruhigend, kahl von der Stirn an, und seine ganze weiche Fülle hatte etwas Verräterisches.

Skrebensky bemerkte mehr den Mann als das Mädchen. Sie strahlte in einer wortlosen, seltsamen, zerstreuten Erregung, die sie in der verwirrenden Nähe ihres Ohms immer fühlte.

Sobald sie aber Skrebensky bemerkte, verschwand das alles. Sie sah nur noch den schlanken, unwandelbaren Jüngling dastehen, der undurchforschlich, ihrem Schicksal gleich, auf sie wartete. Er stand hoch über ihr mit seinem ungezwungenen, etwas reitknechtmäßigen Benehmen, das ihm jedoch ein sehr männliches und fremdartiges Aussehen verlieh. Und doch war sein Gesicht glatt und sanft und eindrucksvoll. Sie schüttelte ihm die Hand, und ihre Stimme klang wie die eines von der Dämmerung aufgestörten Vogels.

»Ist das nicht reizend,« rief sie, »so 'ne Hochzeit zu haben?«

In ihrem dunklen Haar hingen ein paar bunte Papierschnitzel.

Wieder kam die Verwirrung über ihn, als verlöre er sich selbst und würde zu etwas ganz Unbestimmtem, Undeutlichem, Unreifem. Und doch wollte er gern hart, männlich, reitknechtmäßig erscheinen. Und er ging hinter ihr her.

Nun gab es leichten Tee, und die Gäste zerstreuten sich. Das eigentliche Fest fand erst abends statt. Ursula ging mit Skrebensky durch die Höfe nach den Feldern und dann die Dammböschung hinauf.

Die frischen Kornmieten standen mächtig und golden da, als sie an ihnen vorüberschritten, ein Trupp weißer Gänse watschelte unter lautem Widerspruch zur Seite. Ursula war so leicht wie ein weißer Daunenball. Skrebensky schwamm neben ihr her, unbestimmt, seine frühere Gestalt ganz aufgelöst und ein neues Ich grau, unbestimmt daraus emporsprossend. Sie redeten leichthin, über nichts.

Der blaue Wasserweg wand sich sanft zwischen den herbstlichen Hecken dahin, der Grüne eines kleinen Hügels entgegen. Zur Linken lag das schwarze Gewirr der Bergwerke mit der Bahn und der Stadt, die sich auf ihrem Hügel darüber hinaushob, mit dem Kirchturm als Spitze des Ganzen. Das runde, weiße Zifferblatt am Turme schien ganz klar durch das Abendlicht.

Dieser Weg, durch die grimmige, so anziehende Siedehitze der Stadt hindurch, war der Weg nach London, empfand Ursula.

Zur andern Seite lag der Abend sanft über den grünen Wasserwiesen und den biegsamen Ellerbüschen am Flusse, und weiterhin über den bleichen Stoppelfeldern. Dort lag die sanfte Glut des Abends, und sogar ein Kiebitz flog schwerfällig durch die friedliche Einsamkeit.

Ursula und Anton Skrebensky schritten an dem Wasserweg entlang. Die Beeren in den Hecken leuchteten scharlach- und hellrot aus den Blättern hervor. Die Glut des Abends, die Kreise des einsamen Kiebitz und schwacher Vogelschrei verschmolzen mit den puffenden Geräuschen aus den Gruben, der dunklen, dampfenden Geschäftigkeit der Stadt dort drüben, und sie beide schritten hier an dem blauen Wasserstreifen einher, dem himmelblauen Trennungsstreifen.

Er sah nach Ursulas Meinung ganz wundervoll aus mit dem Anflug von Sonnenbrand auf Gesicht und Händen. Er erzählte ihr, wie er gelernt habe, Pferde zu beschlagen und Schlachtvieh auszusuchen.

»Bist du gern Soldat?« fragte sie ihn.

»Ich bin eigentlich kein Soldat«, sagte er.

»Aber du beschäftigst dich doch mit so Kriegsgeschichten?« sagte sie.

»Ja.«

»Möchtest du wohl in den Krieg?«

»Ich? Na, das wäre doch wenigstens mal etwas Aufregendes. Wenn wir Krieg hätten, möchte ich jedenfalls mit.«

Ein sonderbares Gefühl von Zerstreutheit kam über sie, ein Gefühl mächtiger Unwirklichkeiten.

»Warum möchtest du in den Krieg?«

»Da könnte ich doch was tun, das würde noch etwas Ordentliches sein. Dies jetzt ist doch nur Spielerei.«

»Aber was hättest du denn zu tun, wenn du in den Krieg gingest?«

»Dann würde ich Brücken bauen oder Eisenbahnen, wie ein Nigger müßte ich schuften.«

»Aber du bautest sie doch bloß, damit sie wieder eingerissen werden, wenn die Truppen sie nicht mehr brauchen. Das kommt mir doch auch wie Spielerei vor.«

»Wenn du Krieg Spielerei nennen willst, ja.«

»Was ist es denn?«

»Es ist doch wohl die ernsthafteste Beschäftigung, die man sich denken kann, kämpfen.«

Ein Gefühl harten Abgetrenntseins kam über sie.

»Warum ist Kämpfen etwas Ernsthafteres als alles andere?« fragte sie.

»Entweder bringst du selbst um oder du wirst umgebracht – und einander umbringen ist doch wohl ernsthaft genug, sollte ich denken.«

»Aber wenn du tot bist, ist es doch ganz einerlei«, sagte sie.

Das machte ihn einen Augenblick still.

»Aber was dabei herauskommt, doch wohl nicht«, sagte er. »Es ist doch nicht einerlei, ob wir mit dem Mahdi fertig werden oder nicht.«

»Für dich wohl – und für mich auch – wir machen uns doch nichts aus Khartum.«

»Du mußt doch Platz haben zum Leben; und jemand anders muß eben Platz machen!«

»Ich will aber gar nicht in der Wüste Sahara leben – du denn vielleicht?« erwiderte sie in lachendem Widerspruch.

»Ich auch nicht – aber wir müssen doch hinter denen stehen, die es möchten.«

»Warum müssen wir?«

»Wo bleibt denn unser Volk, wenn wir das nicht tun?«

»Aber wir sind doch nicht das Volk. Der Haufen anderer Leute da mögen wohl das Volk sein.«

»Sie könnten ebensogut sagen, sie wären es auch nicht.«

»Na schön, wenn eben jeder es sagte, dann gäbe es kein Volk. Deswegen bliebe ich doch ich selber«, bekräftigte sie mit Schwung.

»Du wärest nicht du selbst, wenn wir kein Volk hätten.«

»Warum nicht?«

»Weil du einfach jedermann zur Beute fallen würdest.«

»Wieso zur Beute?«

»Sie würden einfach kommen und dir alles wegholen, was du besitzest.«

»Na ja, dann hätten sie auch noch nicht viel zu holen. Mir ists einerlei, was sie sich holten. Ein Räuber, der mich wegschleppt, ist mir lieber als ein Millionär, der mir alles schenkt, was man nur kaufen kann.«

»Das kommt, weil du eine Märchenprinzeß bist.«

»Bin ich auch! Ich will auch in einem Märchen leben. Ich hasse Häuser, die nie verschwinden, und Leute, die grade in diesen Häusern leben. Das ist alles so steif und dumm. Ich hasse alle Soldaten, sie sind so steif und hölzern. Wozu kämpfst du denn nun eigentlich in Wirklichkeit?«

»Ich würde für unser Volk kämpfen.«

»Ja, aber du bist doch nicht das Volk. Ich meine, nur für dich?«

»Ich gehöre doch aber zum Volk und muß doch meine Pflicht gegen das Volk tun.«

»Wenn es aber doch nun deine Mitwirkung eigentlich gar nicht braucht – wenn gar nicht gekämpft wird? Was würdest du dann tun?«

Er wurde gereizt.

»Ich würde tun, was jeder andere auch tut.«

»Was denn?«

»Gar nichts. Ich würde mich bereithalten, wenn ich gebraucht würde.«

Die Antwort kam in gelinder Verzweiflung heraus.

»Mir kommt es so vor,« antwortete sie, »als wärest du eigentlich gar niemand, als wäre da überhaupt niemand, wo du bist. Bist du eigentlich überhaupt jemand? Mir kommst du wie gar nichts vor.«

Sie waren gegangen, bis sie an eine Anlegestelle kamen, grade oberhalb einer Schleuse. Hier lag ein leerer Schleppkahn vertaut, mit einer rot und gelb gestrichenen Hütte und langem, schwarzen Raum. Ein magerer, schmutziger Mann saß auf einer Kiste neben der Hütte dicht an der Tür, er rauchte und schaukelte ein kleines, in ein graues Tuch gewickeltes Kind und sah in das Abendrot hinaus. Eine Frau fuhr aus der Hütte heraus, ließ einen Eimer mit Schwung ins Wasser fallen, holte ihn voll wieder auf und fuhr in die Küche zurück. Kinderstimmen wurden hörbar. Ein dünner Rauch stieg aus dem Hüttenschornstein empor, es roch nach Kocherei.

Ursula, weiß wie eine Motte, blieb stehen, um sich das anzusehen. Skrebensky blieb neben ihr stehen. Der Mann sah auf. »Guten Abend«, rief er, halb unverschämt, halb ungezogen. Er hatte blaue Augen, die unverschämt aus seinem schmutzigen Gesicht hervorschauten.

»Guten Abend«, erwiderte Ursula entzückt. »Ist es jetzt nicht fein?«

»Jo«, sagte der Mann, »sehr fein.«

Er hatte einen roten Mund unter seinem zottigen, sandfarbigen Schnurrbart. Seine Zähne waren sehr weiß beim Lachen. »O, aber –« fing Ursula an zu stottern, »wirklich! Warum sagen Sie das so, als wäre es gar nicht fein?«

»Wenn man so Kinder buddeln muß, ist es auch nicht zu rosenrot.«

»Darf ich mir mal den Kahn ansehen?« fragte Ursula.

»Das wird Ihnen wohl niemand verwehren; kommen Se man, wenn Se Lust haben.«

Der Kahn lag auf der andern Seite der Anlegestelle. Es war die Annabel, und gehörte I. Ruth aus Loughborough. Der Mann beobachtete Ursula genau aus seinen scharfen, zwinkernden Augen. Sein Haar lag spärlich über seiner schmutzigen Stirn. Zwei schmutzige Kinder erschienen, um zu sehen, wer da spräche.

Ursula blickte auf die großen Schleusentore. Sie waren geschlossen, und das Wasser spritzte und tröpfelte plätschernd durch sie in die Tiefe auf der andern Seite nieder. Auf dieser Seite reichte ihnen das helle Wasser fast bis an die Oberkante. Sie ging kühn hinüber und nach der Anlegestelle herum.

Sich von der Böschung aus vorbeugend, sah sie in die Hütte hinein, in der roter Feuerschein und die schattenhafte Gestalt einer Frau sichtbar waren. Sie wollte so gern hinüber.

»Sie machen sich aber Ihr Kleid dreckig«, sagte der Mann warnend.

»Ich werde mich schon in acht nehmen«, antwortete sie. »Darf ich?«

»Man zu, kommen Se man, wenn Se Lust haben.«

Sie zog ihre Röcke zusammen, setzte den Fuß auf die Bordkante und sprang lachend hinunter. Kohlenstaub flog auf.

Die Frau trat in die Tür. Sie war pullig, mit sandigem Haar, jung, mit einer merkwürdigen Stubsnase.

»Och, Sie machen sich ja so dreckig«, rief sie überrascht und vor Verwunderung ein wenig lachend.

»Ich wollte es mir doch so gern mal ansehen. Ist es nicht entzückend, so auf einem Kahne zu leben?« fragte Ursula.

»Ich lebe ja nicht immerzu drauf«, sagte die Frau vergnügt.

»Sie hat ihr Wohnzimmer und ihre Plüschsachen in Loughborough«, sagte der Mann mit gerechtem Stolz.

Ursula spähte in die Hütte hinunter, in der allerlei Pfannen brodelten und Schüsseln auf dem Tische standen. Es war sehr heiß drin. Dann kam sie wieder nach draußen. Der Mann sprach zu seinem Kinde. Es war ein blauäugiges, frisches kleines Ding mit einem Vlies rotgoldenen Haares.

»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« fragte sie.

»Ein Mädchen – bist du nicht ein Mädchen, he?« rief er der Kleinen zu und schüttelte den Kopf. Das kleine Gesichtchen verzog sich zu einem höchst merkwürdigen, spaßhaften Lächeln.

»O!« rief Ursula. »O, wie lieb! wie reizend ist das, wenn sie so lacht!«

»Sie wird nicht viel zu lachen haben«, sagte ihr Vater.

»Wie heißt sie?« fragte Ursula.

»Sie hat noch keinen Namen, sie ist noch keinen wert«, sagte der Mann. »Nich, du kleiner Strick du?« rief er der Kleinen zu. Sie lachte wieder.

»Ne, wir hatten so viel zu tun, wir sind noch nich mit ihr zum Standesamt gewesen«, kam die Stimme der Frau. »Sie ist hier an Bord geboren.«

»Aber Sie wissen doch schon, wie sie heißen soll?« fragte Ursula.

»Wir dachten Gladys 'milie«, sagte die Mutter.

»Haben wir gar nich«, sagte der Vater.

»Da! Hören Sie wohl! Wie willst du sie denn nennen?« rief die Mutter verzweifelt.

»Se soll Annabel heißen nach dem Kahn, wo sie auf geboren is.«

»Ne, das soll se nich, also!« sagte die Mutter mit bösartigem Trotz.

Der Vater saß in spaßhafter Wut da und grinste.

»Na, wir werden ja sehen«, sagte er.

Und Ursula konnte aus der zitternden Verzweiflung der Frau entnehmen, daß er nie nachgeben würde.

»Das sind ja alles ganz hübsche Namen«, sagte sie. »Nennen Sie sie doch Gladys Annabel Emilie.«

»Ne, das is überlastet, wenn Se nichs dagegen haben«, erwiderte er.

»Sehen Sie wohl!« rief die Frau. »So 'n Dickkopp is er!«

»Und sie ist so niedlich, und lacht, und sie hat noch nicht mal 'nen Namen«, sang Ursula dem Kinde vor. »Lassen Sie sie mich mal halten«, setzte sie hinzu.

Er gab ihr das Kind hin, das sehr nach kleinen Kindern roch. Aber es hatte so blaue, weite Porzellanaugen, und lachte so sonderbar, mit einer so gewinnenden kleinen Fratze, daß Ursula es lieb gewann. Sie sang und redete auf das Kleine ein. Es war ja so ein sonderbares, aufregendes Kind.

»Wie heißen Sie denn?« fragte der Mann sie mit einem Male.

»Ich heiße Ursula – Ursula Brangwen«, erwiderte sie.

»Ursula!« rief er ganz verdonnert.

»Da war mal 'ne heilige Ursula. Es ist ein sehr alter Name«, fügte sie hastig zu seiner Rechtfertigung hinzu.

»He, Mutter!« rief er.

Keine Antwort.

»Pem!« rief er. »Kannst? nich hören?«

»Was denn?« kam die kurze Antwort.

»Was meinste zu Ursula?« grinste er.

»Was ich zu was meine?« kam die Antwort, und die Frau erschien in der Türöffnung, klar zum Gefecht.

»Ursula – so heißt die Deern da«, sagte er ganz sanft.

Die Frau sah das junge Mädchen von oben bis unten an. Augenscheinlich wurde sie von ihrer schlanken, anmutigen jungen Schönheit angezogen, von der Wirkung ihres weißen Kleides und der Zärtlichkeit, mit der sie das Kind hielt.

»Ja, aber wie schreiben Sie das denn?« fragte die Mutter verlegen, nun sie sich gerührt fühlte. Ursula buchstabierte ihr den Namen vor. Der Mann sah seine Frau an. Ein helles, verwirrtes Licht flog über der Mutter Gesicht, eine Art scheuen Leuchtens.

»Das is keinen gewöhnlichen Namen, Ursula!« rief sie, ganz erregt über dies Abenteuer.

»Willst? ihn denn nehmen?« fragte er.

»Jedenfalls lieber als Annabel«, sagte sie.

»Und ich auch lieber als Gladys 'milie«, fügte er hinzu.

Nach kurzem Schweigen sah Ursula auf.

»Wollen Sie sie wirklich Ursula nennen?« fragte sie.

»Ursula Ruth«, sagte der Mann mit eitlem Lachen, so erfreut, als hätte er etwas gefunden.

Nun geriet Ursula in Verwirrung.

»Das klingt wirklich schrecklich niedlich«, sagte sie. »Ich muß ihr doch was schenken. Und ich habe gar nichts.«

Verwundert stand sie in ihrem weißen Kleide da unten auf dem Kahn. Der magere Mann, der dicht neben ihr saß, beobachtete sie, als wäre sie ein Fabelwesen, als erleuchte sie sein Gesicht. Seine Augen lachten ihr kühn zu, und doch lag ausnehmende Bewunderung in ihrer Tiefe.

»Soll ich ihr mein Halsband schenken?« fragte sie.

Es war das kleine Halsband aus Amethysten und Topasen und Perlen und Kristallen, in Abständen auf eine dünne Goldkette gereiht, das Ohm Tom ihr geschenkt hatte. Sie hatte es sehr gern. Sie sah es mit Liebe an, als sie es abgenommen hatte.

»Is es sehr wertvoll?« fragte der Mann neugierig.

»Ich glaube wohl«, sagte sie.

»Die Perlen und die Steine sind echt; es ist ungefähr drei oder vier Pfund wert«, sagte Skrebensky oben von der Anlegestelle herunter. Ursula merkte, daß er ihr Verhalten mißbilligte.

»Das muß ich Ihrer Kleinen schenken – darf ich?« fragte sie den Kahnschiffer.

Er errötete und sah in den Abend hinaus.

»Ne,« sagte er, »da kann ich nichs zu sagen.«

»Was werden denn Ihr Vater und Mutter sagen?« rief die Frau neugierig von der Tür her.

»Es gehört mir ja«, sagte Ursula und ließ die glitzernde kleine Kette vor der Kleinen tanzen. Die spreizte die kleinen Finger aus. Aber greifen konnte sie noch nicht. Ursula schloß die winzige Hand über dem Schmuckstück. Das Kleine schwenkte die glänzenden Enden der Kette. So hatte Ursula ihr Halsband weggegeben. Sie war traurig. Aber wiederhaben wollte sie es nicht.

Der Schmuck flog aus der Hand der Kleinen und fiel zu einem kleinen Häufchen zusammengeballt in den Kohlenstaub auf dem Deck. Der Mann hob ihn sofort mit einer Art sorgsamer Verehrung wieder auf. Ursula beobachtete die groben, stumpfen Finger, als sie nach dem kleinen Juwelenhäufchen grabbelten. Die Haut des Handrückens war rot, die hellen Haare glänzten steif. Aber es war doch eine dünne, sehnige, fähige Hand, und sie gefiel Ursula. Er nahm das Halsband wieder auf, sehr sorgsam, und blies ihm den Kohlenstaub ab, wie es in seiner Hand lag. Er schien still und aufmerksam. Er streckte die Hand aus, in deren harter, schwarzer Höhlung das Halsband klein und glänzend dalag.

»Da, nehmen Se 's wieder mit«, sagte er.

Ursula wurde hart und strahlend.

»Nein«, sagte sie. »Das gehört jetzt der kleinen Ursula.«

Und sie ging auf das Kind zu und machte das Halsband an seinem warmen, weichen kleinen Halse zu.

Einen Augenblick herrschte Verwirrung, dann beugte der Vater sich über das Kleine und sagte:

»Was meinst de denn dazu? Sagst du auch ›danke schön‹? Sagst du wohl ›danke schön, Ursula‹?«

»Nu heißt sie Ursula«, sagte die Mutter, die etwas einschmeichelnd von der Tür her lachte. Und sie kam heraus, um sich den Schmuck anzusehen.

»Dann heißt sie nun also Ursula?« sagte Ursula Brangwen.

Der Vater sah mit einem vertraulichen, halb kühnen, halb unverschämten, aber nachdenklichen Blick zu ihr auf. Seine gefesselte Seele liebte sie; aber seine Seele blieb gefesselt, auf immerdar, das wußte er»

Nun wollte sie gehen. Er setzte eine kleine Leiter an, auf der sie ans Ufer hinaufklettern konnte. Sie küßte das Kind, das in seiner Mutter Arm lag, und dann wandte sie sich zum Gehen.

Die Mutter war überdankbar. Der Mann stand schweigend neben der Leiter.

Ursula trat wieder zu Skrebensky. Die beiden jungen Gestalten gingen wieder über die Schleuse, über das leuchtend gelbe Wasser. Der Kahnschiffer sah ihnen nach.

»Ich liebe sie«, sagte sie. »Er war so sanft – o, so sanft! Und das Kleine war so lieb!«

»War er so sanft?« sagte Skrebensky. »Die Frau war mal Dienstmädchen, ganz sicher.«

Ursula krümmte sich.

»Aber ich mochte seine Unverschämtheit so gern – es lag etwas so Sanftes darunter.«

Eilig schritt sie voran, froh über ihr Zusammentreffen mit dem mageren Manne mit seinem zottigen Schnurrbart. Er gab ihr so ein angenehmes, warmes Gefühl. Er ließ sie den Reichtum ihres eigenen Lebens empfinden. Skrebensky hatte auf irgendeine Weise etwas Totes um sie erschaffen, eine Unfruchtbarkeit, als bestände die ganze Welt nur aus Asche.

Sie sprachen nur sehr wenig, während sie zu dem großen Abendessen nach Hause eilten. Er beneidete den mageren Vater der drei Kinder wegen seiner graben Unverschämtheit und seiner Verehrung der Frau in Ursula, einer Verehrung des Leibes und der Seele zugleich, des Mannes Leib und Seele nachdenklich gespannt und Leib und Seele des Mädchens verehrend mit einer Sehnsucht, die die Unerreichbarkeit ihres Zieles wohl kannte und doch froh war, zu wissen, daß es etwas so Vollkommenes gab, froh über diesen einen gemeinschaftlichen Augenblick war.

Warum konnte nicht auch er sich so nach einem Weibe sehnen? Warum sehnte er sich niemals wirklich nach einem Weibe, nicht mit seinem ganzen Ich: nie liebte er, nie verehrte er sie, nur körperlich besitzen wollte er sie.

Aber körperlich wollte er sie besitzen, mochte seine Seele anfangen, was sie wollte. Eine Art Flamme körperlicher Wünsche loderte allmählich auf der Marsch empor, von Tom Brangwen entzündet und durch die Tatsache der Heirat Freds, des scheuen, hellen, steifnackigen Bauern mit dem hübschen, halberzogenen Mädchen genährt. Tom Brangwen schien die auflodernde Flamme mit all seinen geheimen Kräften anzufachen. Die Braut fühlte sich stark von ihm angezogen, und er übte seinen Einfluß auch noch über ein anderes Mädchen aus, ein schönes, hellhaariges, kühl und brennend wie die See, sie machte witzige Bemerkungen, die ihm so sehr zusagten, daß er sie veranlaßte, noch mehr zu glänzen, wie Meerleuchten. Und ihre grünlichen Augen schienen ein Geheimnis zu wiegen, ihre perlmutterfarbigen Hände erschienen leuchtend, durchsichtig, als brenne das Geheimnis sichtbarlich in ihnen.

Am Ende des Essens, beim Nachtisch, begann die Musik zu spielen, Geigen und Flöten. Alle Gesichter entzündeten sich. Eine aufregende Glut herrschte. Als die kleinen Reden vorbei waren und niemand mehr nach dem Portwein langte, wurden alle, die noch Kaffee wünschten, ins Freie gebeten. Die Nacht war warm.

Hell leuchteten die Sterne, der Mond war noch nicht aufgegangen. Und unter den Sternen brannten zwei mächtige, rote, flammenlose Feuer, um sie herum aber hingen Lichter und Laternen, das Zelt stand geöffnet vor einem der Feuer und war im Innern erleuchtet.

Das Jungvolk zog gruppenweise in die geheimnisvolle Nacht hinaus. Geräusch von Lachen und Stimmen erklang, und man konnte Kaffee riechen. Die Hofgebäude erhoben sich dunkel im Hintergrunde. Blasse und dunkle Gestalten flitzten durcheinander gemischt umher. Das rote Feuer leuchtete plötzlich auf einem weißen oder einem Seidenkleide auf, die Laternen glühten auf die vorüberziehenden Köpfe der Hochzeitsgäste herab.

Ursula war alles wundervoll. Sie fühlte, sie war eine andere. Die Dunkelheit schien wie die Brust eines großen Tieres zu atmen, die Heuschober stiegen halb erkennbar in großer Menge empor, ein dunkles, fruchtbringendes Lager grade hinter ihnen. Wogen entzückter Dunkelheit zogen durch ihre Seele. Sie wünschte sich gehen zu lassen. Sie wünschte nach den Sternen zu greifen und unter ihren Blitzen zu weilen, sie wünschte eilenden Fußes bis jenseits der Grenzen dieser Erde dahinzufliegen. Sie war verrückt darauf, wegzukommen. Es war, als suche ein Hund von der Leine loszubrechen, um sich hinter einer namenlosen Beute her in die Dunkelheit hinein zu stürzen. Und die Beute war sie, aber sie war auch der Hund. Die Dunkelheit war voller Leidenschaft und atmete in mächtigen, nicht wahrnehmbaren Zügen. Sie wartete darauf, sie, die Fliehende, aufzunehmen. Aber wie konnte sie denn loskommen – wie sich gehen lassen? Sie mußte den Sprung vom Bekannten ins Unbekannte wagen. Hände und Füße zitterten ihr wie im Wahnsinn, ihre Brust schnürte sich zusammen wie gefesselt.

Die Musik begann und die Bande lösten sich. Tom Brangwen tanzte mit der Braut, rasch und fließend und wie einer anderen Welt angehörend, unerreichbar wie die Geschöpfe des Wassers. Fred Brangwen trat mit einer anderen an. Wellenartig hob sich die Weise. Paar auf Paar wurde in das tiefe Unterwasser des Tanzes hineingerissen und von ihm verschlungen.

»Komm«, sagte Ursula zu Skrebensky und legte ihm die Hand auf den Arm.

Bei der Berührung ihrer Hand mit seinem Arm schmolz sein Bewußtsein hinweg. Er nahm sie in den Arm, als umschlösse er sie mit der sicheren, feinen Kraft seines Willens, und dann wurden sie eine Bewegung, tanzten als ein sich bewegendes Doppelwesen über das schlüpfrige Gras. Kein Ende würde diese Bewegung nehmen, es mußte so fortgehen bis in Ewigkeit. Sein Wille und ihrer verschmolzen zu einer einzigen, verzückten Bewegung, zwei Bewegungen in eine zusammengeschweißt, und doch nie ineinander aufgehend, nie die eine der anderen nachgebend. Ein seegrünes, sich verflechtendes, entzückendes Fließen war es, ein Kampf im Fließen.

Sie ließen sich beide in tiefes Schweigen versinken, in einen tiefen, starkfließenden Unterstrom, der ihnen unbegrenzte Kräfte verlieh. Alle Tänzer wogten verschlungen nach dem Flusse der Tanzweisen dahin. Schattenhaft gingen und kamen die Paare vor dem Feuer vorüber, schweigend bewegten sich die tanzenden Füße in die Dunkelheit hinaus. Es war wie eine Erscheinung aus den Tiefen der Unterwelt, unter der großen Flut.

Wundervoll war das Wiegen der Dunkelheit, langsam, ein mächtiges, langsames Schwingen der ganzen Nacht; auf seiner Oberfläche spielten leise Weisen herum und riefen dies seltsame, verzückte Kräuseln auf der Oberfläche des Tanzes hervor, darunter aber wogte eine einzige, mächtige Flutwelle langsam dem Rande der Vergessenheit zu, und dann ebenso langsam wieder zu dem andern Rande zurück, jedesmal die Herzen mit sich reißend und vor Angst zusammenpressend, wenn die Grenze erreicht war und die Bewegung sich wieder umkehrte und zurückwogte.

Während der Tanz so schwer hin und her wogte, wurde Ursula gewahr, daß ein Blick sie beeinflusse. Es sah sie etwas an. Ein mächtiger, glühender Blick sah ihr grade ins Innere, nicht auf sie, sondern in sie hinein. Aus gewaltiger Entfernung und doch sehr nahe überwachte er sie, mächtig, überwältigend. Weiter und weiter tanzte sie mit Skrebensky, während dies große, weiße Wachen anhielt, alles mit seiner Enthüllung in der Schwebe haltend.

»Der Mond ist aufgegangen«, sagte Anton, als die Weise zu Ende war und sie sich plötzlich gestrandet sahen, wie ein paar Stückchen Wrackholz am Meeresufer. Sie wandte sich und sah, wie der Mond sie groß über den Hügel her ansah. Und ihre Brust erschloß sich ihm, wie ein durchsichtiger Edelstein erschloß sie sich seinem Lichte. Erfüllt vom Vollmond stand sie da, sich ihm darbietend. Ihre beiden Brüste öffneten sich, ihm Raum zu geben, zitternd wie eine Blume erschloß sich ihm ihr Leib, ein weiches, zögerndes Begehren, das der Mond hervorgerufen. Sie wünschte, der Mond möchte sie ganz erfüllen, sie sehnte sich nach mehr, nach Gemeinschaft mit dem Monde, nach Vollendung durch ihn. Aber Skrebensky schlang den Arm um sie und zog sie fort. Er legte ihr einen großen, dunklen Umhang um und saß, ihre Hand haltend, während das Mondenlicht über die glühenden Feuer daherströmte.

Sie war gar nicht anwesend. Geduldig saß sie da und ließ Skrebensky ihre Hand halten. Ihr nacktes Ich aber war fort, tanzte auf den Mondstrahlen, flog mit Brüsten und Knien dahin durch das Mondenlicht, ihrer Vereinigung, ihrer Vollendung entgegen. Halb fuhr sie empor, um wirklich loszubrechen, ihre Kleider abzuschleudern und fortzurasen, fort aus diesem dunklen Gewühl, diesem Menschengewirr zu dem Hügel, zum Monde empor. Aber die Menschen standen wie Steinbilder umher, wie magnetische Steinbilder, und sie konnte nicht wirklich davongehen. Wie ein Magnet lag Skrebensky auf ihr, das Gewicht seiner Gegenwart hielt sie zurück. Seine Last wurde ihr fühlbar, seine blinde, drängende, träge Last. Er war untätig und belastete sie. Sie seufzte vor Schmerzen. Ach, die Kühle, die gänzliche Freiheit, die Strahlenhelle des Mondes! Ach, die kühle Freiheit, ganz sie selbst sein zu dürfen, nur zu tun, was sie selbst wollte. Sie sehnte sich sofort fern hinweg. Sie fühlte, wie ihr helles Erz von dunklen, unsauberen Kräften herabgezogen wurde. Er war diese Unsauberkeit, die Leute waren es. Könnte sie doch hinaus in das klare, freie Mondenlicht!

»Hast du mich heute abend gar nicht lieb?« fragte seine leise Stimme, die Stimme des Schattens auf ihrer Schulter. Sie ballte die Hände im tauigen Glanz des Mondes, als würde sie verrückt. »Hast du mich heute abend gar nicht lieb?« wiederholte die weiche Stimme.

Und sie wußte, wendete sie sich, dann müßte sie sterben. Eine seltsame Wut erfüllte sie, eine Wut danach, alles in Stücke zu reißen. Sie fühlte die Zerstörungslust in ihren Händen, als wären sie Schwerter der Zerstörung.

»Laß mich«, sagte sie.

Etwas Dunkles, Hartnäckiges kam nun auch über ihn, eine Art Beharrung. Untätig saß er neben ihr. Sie warf ihren Umhang ab und ging auf den Mond zu, sie selbst silberweiß. Er schritt dicht hinter ihr her.

Die Weisen begannen aufs neue und der Tanz gleichfalls. Nun nahm er sie in Besitz. Wilde, weiße, kalte Leidenschaft erfüllte ihr Herz. Aber er hielt sie dicht an sich gepreßt und tanzte mit ihr. Immer gegenwärtig, wie ein weiches, niederziehendes Gewicht, lag sein Körper gegen den ihren an, während sie tanzten. Er preßte sie sehr dicht an sich, so daß sie seinen Körper fühlen mußte, sein lastendes Gewicht, das sich über sie ausbreitete, das ihr Leben und ihre Tatkraft übermannte, das auch sie zur Untätigkeit verdammte; so fühlte sie den Druck seiner Hand auf ihrem Rücken, auf ihrem Körper. Aber auch in ihrem Körper war noch unterdrückte, kalte, unbezähmbare Leidenschaft vorhanden. Sie liebte den Tanz: er erleichterte sie, versetzte sie in eine Art Besinnungslosigkeit. Und doch war es ja nur ein Warten, ein Hinschleppen der Zeit, die sich noch zwischen ihm und ihrem reineren Dasein hindehnte. So lehnte sie sich an ihn, ließ ihn all seine Macht ausüben, als möge er nun Macht über sie gewinnen, sie zu sich niederziehen. Sie nahm alle Kraft seiner Stärke in sich auf. Sie wünschte sogar, er möchte sie überwinden. Sie war kalt und unbeweglich wie eine Salzsäule.

Sein ganzer Wille setzte sich mit voller Kraft das eine Ziel, sie zu gewinnen, zu bezwingen. Könnte er sie doch nur bezwingen! Er kam sich wie vernichtet vor. Sie war kalt und hart und strahlend wie der Mond selbst, und stand ihm so fern wie das Mondenlicht, ungreifbar und unfaßbar. Könnte er ihr doch nur seine Bande überwerfen und sie zwingen!

So tanzten sie vier oder fünf Tänze immer zusammen, sein Wille wurde immer gespannter, sein Körper spielte immer feiner mit ihr. Aber immer hatte er sie noch nicht gewonnen, immer noch blieb sie hart und leuchtend wie nur je, völlig unberührt. Aber er mußte sich um sie schlingen, sie einwickeln, einwickeln in ein Netz von Schatten, von Dunkelheit, so daß sie wie ein gefangenes leuchtendes Etwas aus seinem Schattennetze hervorschimmerte. Dann würde er sie besitzen, dann wollte er sich ihrer erfreuen. Wie wollte er sich ihrer erfreuen, sobald er sie gefangen hätte!

Als der Tanz endlich vorüber war, wollte sie sich nicht hinsetzen, sie ging fort. Er ging mit ihr, den Arm um sie geschlungen, sie auf der Bewegung seines Körpers wiegend. Und sie schien sich dem hinzugeben. Sie war hell wie ein Mondenstrahl, leuchtend wie eine stählerne Klinge; in eine schneidende Klinge schien er gegriffen zu haben. Aber packen wollte er sie, und wenn sie ihn tötete.

Sie gingen zu den Kornmieten hinüber. Hier sah er mit einer Anwandlung von Schrecken die riesigen, frischen Mieten glitzernd und schimmernd dastehen, als wären sie verzaubert, wie silberige Gespenster unter dem nachtblauen Himmel, mit tiefen, körperhaften Schatten, sie selbst aber herrschergleich und doch gespenstisch wesenhaft. Ursula schien wie ein schimmerndes Fädchen von Altweibersommer zu brennen wie jene, die sich wie kalte Feuer in die silberblaue Luft hinaufhoben. Alles war nicht greifbar, eine Brunst kalten, schimmernden, stahlweißen Feuers. Er fürchtete sich vor dieser Mondesfeuersbrunst auf den himmelhoch ragenden Kornmieten. Sein Herz schrumpfte zusammen, es begann dahin zu schmelzen wie eine Perle. Er wußte, er müsse sterben.

Ein paar Augenblicke blieb sie in dem überwältigenden Glanz des Mondenlichtes ruhig stehen. Sie sah aus wie der Strahl einer leuchtenden Nacht. Sie begann sich vor ihrem eigenen Wesen zu fürchten. Als sie ihn in seinem schattenhaften, unwirklichen, schwankenden Wesen dastehen sah, packte sie eine jähe Lust, Hand an ihn zu legen und ihn zu zerreißen, in nichts aufzulösen, über alle Maßen hart und stark fühlten sich ihre Hände und Handgelenke an, wie Stahlklingen. Wie ein Schatten stand er neben ihr da und wartete, sie aber wünschte ihn zu vernichten, aufzulösen, wie das Mondlicht die Dunkelheit vernichtet, zerstört, sie wünschte ein für allemal mit ihm fertig zu werden. Sie sah ihn an, und ihr Antlitz leuchtete hell und begeistert. Sie versuchte ihn.

Und eine innere Hartnäckigkeit ließ ihn den Arm um sie schlingen und in den Schatten ziehen. Sie ließ es geschehen: mochte er versuchen, wieviel er vermochte. Sich gegen die Miete anlehnend, hielt er sie. Das Korn stach ihn mit tausend kalten, scharfen Flammen. Aber er hielt sie hartnäckig fest.

Und waghalsig lief seine Hand über sie hin, über den salzigen, festgefügten Glanz ihres Leibes. Könnte er sie doch nur nehmen, wie wollte er sich ihrer erfreuen. Könnte er doch nur ihren salzigbrennenden, kaltglänzenden Leib in das weiche Eisennetz seiner Hände schließen, sie ins Netz treiben, fangen, niederhalten, wie wahnsinnig wollte er sich ihrer erfreuen! Fein, aber mit aller Macht mühte er sich ab, sie zu umschließen, zu nehmen. Und stets brannte sie weiter und leuchtete wie hartes Salz, tödlich. Aber hartnäckig setzte er seine Bemühungen fort, sein ganzes Fleisch brennend und ätzend, als habe ihn ein verzehrendes, brennendes Gift ergriffen, stets nur daran denkend, er könne sie vielleicht doch noch überwinden. In seinem Eifer suchte er sogar ihren Mund mit dem seinen, obgleich es ihm war, als jage er sein Gesicht in einen schrecklichen Tod. Sie gab ihm nach, und er bedrängte sie aufs äußerste, seine Seele unausgesetzt aufstöhnend:

»Laß mich zu dir, laß mich zu dir.«

Mit dem Kuß nahm sie von ihm Besitz, hart packte ihr Kuß ihn, hart und wild und in ätzendem Brand wie Mondenlicht. Sie schien ihn zu vernichten. Er taumelte, sammelte seine ganze Kraft, um seinen Kuß auf ihr ruhen zu lassen, um sich in dem Kusse aufrechtzuerhalten.

Aber hart und kalt hatte sie Halt auf ihm gewonnen, kalt wie der Mond und brennend wie ein tödliches, wildes Salz. Bis allmählich sein warmes, weiches Eisen nachgab, nachgab, und sie stolz, ätzend, schäumend über seiner Vernichtung dastand, schäumend wie ein grausames, ätzendes Salz über dem letzten Rest seines Daseins, ihn vernichtend, vernichtend in ihrem Kusse. Und während ihre Seele sich in Siegesgefühl verhärtete, löste die seine sich auf in Todesqualen und Vernichtung. So hielt sie ihn fest als Opfer, verbraucht, vernichtet. Sie hatte gesiegt: er war nicht mehr.

Allmählich begann sie zu sich zu kommen. Allmählich kam so etwas wie Tagesbewußtsein über sie. Ganz plötzlich war die Nacht zu ihrer altgewohnten, milden Wirklichkeit zurückgeführt. Allmählich wurde sie die Gewöhnlichkeit, die Gemeinheit der Nacht gewahr, das Gar-nicht-Vorhandensein der großen, schillernden, leuchtenden Nacht. Langsam kam Abscheu über sie. Wo war sie denn? Was war das für ein Nichtigkeitsgefühl, das sie empfand? Die Nichtigkeit war Skrebensky. War er denn wirklich da? – wer war er? Er war stumm, er war gar nicht da. Was war geschehen? War sie denn verrückt gewesen? Welcher Greuel hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie wurde von überwältigender Furcht vor sich selbst erfüllt, von übergewaltiger Sehnsucht, es möchte nicht sein, dies andere, brennende, ätzende Ich. Sie wurde von wahnsinniger Sehnsucht ergriffen, sich nie des Vorgegangenen zu erinnern, nie wieder daran zu denken, es nie auch nur einen Augenblick lang für möglich zu halten. Sie leugnete es mit aller Macht ab. Mit aller Macht wandte sie sich von ihm ab. Sie war gut, sie liebte. Ihr Herz war warm, ihr Blut dunkel und warm und weich. Liebkosend legte sie die Hand auf Antons Schulter.

»Ist es nicht wunderbar?« sagte sie weich, drängend, liebkosend. Und sie begann, ihn durch ihre Liebkosungen wieder ins Leben zurückzurufen. Denn er war gestorben. Und sie hatte den festen Willen, es ihn nie wissen zu lassen, ihn nie gewahr werden zu lassen, was geschehen war. Sie wollte ihn dem Tode entreißen, ohne ihm auch nur die Spur einer Tatsache zu lassen, die ihn an seine Vernichtung hätte erinnern können.

So machte sie ihr ganzes warmes Ich geltend, sie rührte ihn, sie huldigte ihm in liebevoller Anerkennung. Und allmählich kam er wieder zurück zu ihr, ein anderer Mann. Sie war sanft und gewinnend und liebreich. Sie war seine Dienerin, seine anbetende Sklavin. Und sie brachte ihm sein ganzes früheres Äußere wieder zurück. Sie stellte seine ganze Gestalt, sein ganzes Aussehen wieder her. Aber sein Herz war fort. Sein Stolz war aufgefrischt, sein Blut rann aufs neue stolz dahin. Aber ein Herz hatte er nicht mehr: als für sich dastehender Mann besaß er länger kein Herz. Das siegreiche, flammende, anmaßende Herz seiner innerlichen Männlichkeit würde nie wieder schlagen. Nun würde er ihr untertan werden, einen Wechselwert darstellen, nie wieder das unbezähmbare Wesen mit dem Herzen aus anmaßendem, nie nachlassendem Feuer werden. Sie hatte sein Feuer gelöscht, sie hatte ihn bezähmt.

Aber sie liebkoste ihn. Er sollte sich nicht des Gewesenen erinnern.

Auch sie wollte sich nicht daran erinnern.

»Küsse mich, Anton, küsse mich«, bat sie.

Er küßte sie, aber sie wußte, er könne sie nicht berühren. Seine Arme hielten sie umschlungen, aber sie hatten sie nicht genommen. Sie konnte seinen Mund auf dem ihren verspüren, aber sie unterlag keineswegs länger seinem Zwange.

»Küsse mich,« flüsterte sie in wehem Kummer, »küsse mich.«

Und er küßte sie, wie sie ihn geheißen, aber sein Herz war leer. Sie nahm seine Küsse hin, äußerlich. Ihre Seele aber war leer, war am Ende.

Von ihm wegsehend, bemerkte sie das zarte Glitzern der Haferähren, die von der Seite des Schobers im Mondenlicht herabhingen, stolz, königlich und gänzlich unpersönlich. Auch sie war stolz gewesen mit ihnen, wo sie waren, war auch sie gewesen. Aber in dieser zeitlichen, warmen Welt der Gemeinplätze blieb sie ein gutes, liebes Mädchen. Voller Sehnsucht nach Güte und Liebe griff sie nach ihnen. Sie wollte auch gut und lieb sein.

Sie gingen heim durch die bleiche, glühende Nacht, die sie mit ihren Schatten, mit ihrem Schimmer und ihren Gespenstern umgab. Ganz deutlich sah sie die Blüten unten an den Hecken, sah sie die dünnen, zusammengeharkten Garben, die gegen die Dornenhecken geworfen waren, weiß daliegen.

Wie schön, wie schön das war! Mit Angst gedachte sie ihrer wilden Freude heute nacht, als er sie geküßt hatte. Aber wie er so mit dem Arm um ihre Hüfte neben ihr herschritt, wandte sie sich der furchtbar um sie her leuchtenden Nacht zu und bot sich ihr als Opfer dar, der Nacht mit dem prächtig-weißen Monde, göttlich schimmernd und glitzernd wie ein Bräutigam, mit den Silberblumen, die alle Schatten füllten.

Unter den Eiben am Hause küßte er sie abermals, und dann ließ sie ihn allein. Sie entzog sich zu Hause eilends der Nähe ihrer Eltern und lief in ihre Kammer, wo sie mit einem Blick auf die mondscheinerhellte Landschaft die Arme ausstreckte, hart, hart, in Seligkeit, in Todesqualen sich dem blassen, gütigen Geiste der Nacht darbietend.

Aber sie empfand eine schmerzende Wunde, sie hatte sich selbst verletzt, sich selbst verstümmelt, als sie ihn vernichtete. Sie bedeckte ihre jungen Brüste mit beiden Händen, bedeckte sie vor sich selbst; und so sich mit dem eigenen Ich bedeckend, kroch sie in ihr Bett, um zu schlafen. Als am Morgen die Sonne schien, erhob sie sich stark und tanzend. Skrebensky war noch auf der Marsch. Er kam zur Kirche. Wie reizend, wie wundervoll war doch das Leben! An diesem frischen Sonntagmorgen lief sie in den Garten hinaus in das Gelb und das tief erzitternde Rot des Herbstes, sie sog den Duft der Erde ein und fühlte den Altweibersommer; die Kornfelder drüben waren bleich und unwirklich, überall lag das gespannte Schweigen des Sonntagmorgens, erfüllt von ungewohnten Geräuschen. Sie sog den Geruch des Erdleibes ein, der seine mächtige Brust unter ihr zu dehnen schien, während sie so dastand. In die blaue Luft stiegen seine mächtigen Dünste empor, sein Friede war der Friede starken, erschöpfenden Atmens, das Rot und Gelb und das Weiß der Stoppeln waren die zitternde Bewegung letzter, bereits nachlassender Begeisterung und hellster, seligster Verklärung.

Die Kirchenglocken läuteten, als er kam. In scharfer Vorahnung seines Kommens sah sie auf. Aber er war unruhig, sein Stolz war verletzt. Er war übersorgfältig angezogen, sie bemerkte den teuren Schneider in seinem Anzug.

»War es gestern abend nicht entzückend?« flüsterte sie.

»Ja«, antwortete er, aber sein Gesicht wurde nicht offener oder freier.

Der Gottesdienst und der Gesang gingen diesen Morgen in der Kirche vorüber, ohne daß sie sie bemerkt hätte. Sie sah den farbigen Glanz der Fenster, die Gestalten der Andächtigen. Sie überflog das Buch der Genesis, das ihr Lieblingsbuch in der Bibel war.

»Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: ›Gehet hin und seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde‹.«

»Euer Furcht und Schrecken sei über alle Tiere auf Erden, über alle Vögel unter dem Himmel und über alles, was auf dem Erdboden kreucht, und alle Fische im Meer seien in eure Hände gegeben.«

»Alles was sich reget und lebet, das sei eure Speise, wie das grüne Kraut habe ich es euch alles gegeben.«

Aber Ursula fühlte sich diesen Morgen nicht von der Geschichte berührt. Vermehrung und Erfüllung der Erde waren ihr langweilig geworden. Sie kamen ihr gemein und wie eine Art geschäftsmäßiger Viehzucht vor. Sie wurde vollständig kalt gelassen von der Oberherrschaft des Menschen über die Tiere der Erde und Fische als ihr Züchter.

»Seid fruchtbar und mehret euch, und reget euch auf Erden, daß euer viel drauf werden.«

In ihrer Seele lachte sie über dies sich Vermehren, aus jeder Kuh wurden zwei, aus jeder Rübe zehn neue.

»Und Gott sagte: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich gemacht habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Tier bei euch hinfort ewiglich.«

»Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.«

»Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.«

»Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch, und allem lebenden Tier in allerlei Fleisch, daß nicht mehr hinfort eine Sündflut komme, die alles Fleisch verderbe.«

»Die alles Fleisch verderbe«, wieso nur »Fleisch« ganz besonders? Wer war dieser Herr des Fleisches? Und am Ende, wie hoch war wohl die Flut gestiegen? Vielleicht waren doch ein paar Nymphen und Faune in die Hügel und die höhergelegenen Täler und Wälder davongelaufen, von Furcht ergriffen, aber die meisten lebten ahnungslos ruhig weiter und hatten nichts von irgendwelcher Flut verspürt, wenn nicht etwa ein paar Nymphen ihnen davon erzählt hatten. Ursula fand Vergnügen in der Vorstellung, wie die Najaden Kleinasiens die Nereustöchter an den Strommündungen getroffen hätten, wo die See gegen die frische, süße Strömung anläuft und ihnen die Nachricht von Noahs großer Flut erzählt hätten. Sehr spaßhaft mußten ihre Berichte über Noah in seiner Arche gewesen sein. Ein paar hätten wohl erzählt, wie sie sich an die Seiten der Arche gehängt hätten, um hineinzuspähen, und wie sie Noah und Sem und Ham und Japhet, jeden auf seinem Platz unter dem Regen sitzend, hätten sagen hören, wie sie nun die einzigen vier Männer auf Erden seien, weil der Herr doch alle übrigen ertränkt habe, so daß sie vier nun alles für sich besitzen würden, und Herren über alles sein würden, als Unterpächter unter dem großen Eigentümer.

Liebend gern wäre Ursula eine Nymphe gewesen. Wie hätte sie durch die Fenster in die Arche hineinlachen und Noah mit Tropfen der Flut bespritzen wollen, ehe sie sich wieder zu Leuten treiben ließ, die es weniger ernsthaft mit ihrem Eigentümer und ihrer Flut nahmen.

Wer war Gott denn am Ende? Wenn die Maden in einem toten Hunde nichts weiter waren als Gott, der das Aas küßte, was war dann nicht Gott? Sie hatte genug von dieser Art Gott. Sie war die Ursula Brangwen müde, die sich immer über Gott beunruhigte. Mochte Gott sein, was er wollte. Er war da, und sie brauchte sich nicht um ihn zu bekümmern. Sie fühlte, sie sei jetzt völlig ungebunden.

Skrebensky saß neben ihr und hörte der Predigt zu, der Stimme des Gesetzes, der Ordnung. »Alle Haare auf deinem Haupte sind gezählet.« Das glaubte er nicht. Er glaubte, alles zu ihm Gehörige stehe vollkommen zu seiner Verfügung. Mit dem, was dir gehört, kannst du anfangen, was du willst, solange du dir keine Übergriffe auf das Eigentum anderer zuschulden kommen läßt.

Ursula liebkoste ihn und bezeigte ihm ihre Liebe. Trotzdem aber fühlte er, sie wünsche auf ihn einzuwirken und ihn zu vernichten. Sie war nicht mit ihm, sie war gegen ihn. Aber daß sie ihm ihre Liebe bezeigte, ihre vollkommene Bewunderung seines Ich hier in der Öffentlichkeit, das tat ihm wohl.

Sie lockte ihn aus sich heraus, und nun wurden sie Liebhaber in jugendlicher, abenteuerlicher, fast übertriebener Weise. Er schenkte ihr einen kleinen Ring. Sie warfen ihn in ihr Glas mit Rheinwein, und dann trank erst sie, dann er. Sie tranken, bis der Ring bloßgelegt auf dem Grunde des Glases erschien. Dann nahm sie das schlichte Schmuckstück und band es sich mit einem Faden um den Hals, wo sie es trug.

Er bat sie um ein Bild, wenn er wegginge. Sie ging in großer Aufregung zu einem Lichtbildner, mit fünf Schillingen. Das Ergebnis war ein scheußliches kleines Bild mit dem Mund ganz auf einer Seite. Sie betrachtete es in staunender Bewunderung. Er sah nur das lebendige Gesicht des Mädchens. Das Bild tat ihm weh. Er behielt es, er dachte stets daran, aber er konnte seinen Anblick kaum ertragen. In dem klaren, furchtlosen Gesicht, das einen Anflug von Zerstreutheit trug, lag für ihn etwas, das seine Seele verletzte. Die Zerstreutheit bedeutete, daß sie nicht an ihn gedacht hatte.

Dann kam die Kriegserklärung an die Buren in Südafrika, und überall herrschte fieberhafte Aufregung. Er schrieb ihr, er werde auch wohl ausrücken müssen. Und zugleich schickte er ihr ein Kästchen Süßigkeiten.

Sie fühlte sich leicht betäubt bei dem Gedanken, daß er in den Krieg gehen werde, und wußte nicht recht, was sie empfinden solle. Hier kam sie in eine Art sagenhafter Lage, die sie aus Dichtungen her so gut kannte, daß sie sie als rauhe Tatsache nun kaum begriff. Unter der ersten Erhebung lag eine solche Traurigkeit, eine so tiefe, graue Enttäuschung.

Die Süßigkeiten indessen versteckte sie unter ihrem Bett und verzehrte sie alle allein, beim Zubettgehen und wenn sie morgens aufwachte. Die ganze Zeit über fühlte sie sich sehr schuldig und beschämt, aber sie wollte sie einfach nicht mit den andern teilen.

Dies Kästchen Süßigkeiten blieb ihr nachher fest im Gedächtnis haften. Warum hatte sie sie versteckt und sie alle allein gegessen? Warum? Sie fühlte sich nicht schuldig – sie wußte nur, sie müßte sich eigentlich schuldig fühlen. Aber dazu konnte sie sich nicht entschließen. Merkwürdig ernst ragte jetzt in ihren Gedanken dies kleine Kästchen empor, nun es leer war. Es wurde eine harte Nuß für sie. Was sollte sie davon denken? Der Gedanke an Krieg machte sie unruhig, sehr unruhig. Wenn die Menschen erst anfingen, sich regelrecht abzuschlachten, dann kam ihr das so vor, als bräche die Achse des Weltalls zusammen und alles müsse in den bodenlosen Abgrund hinabstürzen. Ein schreckliches Gefühl von Bodenlosigkeit überkam sie. Selbstverständlich galten auch jetzt für diesen Krieg wieder die alten, gutgemünzten Überschriften von Abenteuer und Ehre und selbst Gottesglauben. Sie war in großer Verwirrung.

Skrebensky war sehr beschäftigt, er konnte nicht kommen, um sie noch einmal zu sehen. Sie bat ihn um keine Versicherung, keinerlei Sicherheit. Was zwischen ihnen bestand, war durch keinen Schwur bestätigt und konnte auch durch keinen geändert werden. Das sagte ihr ihr Gefühl, und sie vertraute stets ihrem inneren Wirklichkeitsgefühl.

Aber sie fühlte sich so tödlich hilflos. Sie konnte nichts tun. Undeutlich empfand sie den Zusammenstoß riesiger Weltmächte, ein dunkles, klotziges, dummes und doch so mächtiges Zusammenprallen, bei dem der Einzelne wie Staub hinweggefegt wurde. Hilflos, hilflos wie wirbelnder Staub. Und doch wünschte sie so sehr dagegen anzugehen, zu wüten, zu kämpfen. Aber womit?

Konnte sie mit diesen ihren Händen das Angesicht der Erde bekämpfen, mit ihnen dort unten die Hügel überwinden? Und ihre Brust sehnte sich so nach Kampf, nach Kampf gegen die ganze Welt. Und diese beiden kleinen Hände waren alles, was sie für diesen Kampf an Waffen besaß.

Die Monde vergingen, und es wurde Weihnachten – die Schneeglöckchen kamen. Im Walde bei Cossethay gab es einen kleinen Grund, wo Schneeglöckchen wild wuchsen. Sie schickte ihm welche in einem Kästchen, und er schrieb ihr einen kurzen Dankesbrief – sehr dankerfüllt und nachdenklich kam er ihr vor. Ihre Augen wurden kindlich und suchend. Von Tag zu Tag ging sie suchend umher, hilflos, mitgerissen von allem, das da kommen mußte.

Er ging seinem Dienst nach und ging ganz in ihm auf. Auf dem Grunde seines Herzens lag sein eigenes Ich, die sehnende Seele, die auf Durchsetzung seines Ich hoffende, wie tot, wie totgeboren, wie ein totes Gewicht in seinem Schoße. Wer war er denn, um seinen persönlichen Beziehungen irgendwelche Bedeutung beimessen zu dürfen? Was kam es denn auf die Person eines einzelnen Menschen an? Er war doch nur ein einziger Ziegelstein in dem großen Gebäude der Gesellschaft, im Volke, in der heutigen Menschheit. Sein persönliches Tun war so unbedeutend, so gänzlich nebensächlich. Das Ganze mußte sichergestellt werden, das durfte keinen Riß bekommen irgendwelchen persönlichen Rücksichten zuliebe, da persönliche Rücksichten einen solchen Riß nicht rechtfertigen konnten. Was bedeutete jetzt noch persönliche Vertraulichkeit? Man hatte seine Stelle im Ganzen auszufüllen, in dem großen Plane menschlicher Höhenarbeit, das war alles. Auf das Ganze kam es an – aber die Einheit, die Person besaß keinerlei Bedeutung, ausgenommen da, wo sie das Ganze vertrat.

So ließ Skrebensky das Mädchen links liegen und ging seines Weges, tat den von ihm verlangten Dienst und machte ohne Widerrede durch, was er durchzumachen hatte. Was sein Innenleben anbetraf, so war er tot. Und er konnte nicht von den Toten auferstehen. Seine Seele lag im Grabe. Sein Leben lag in der festgesetzten Ordnung der Dinge. Auch er hatte seine fünf Sinne. Sie wollten befriedigt werden. Davon abgesehen stellte er nur den großen, ein für allemal festgesetzten, stets gegenwärtigen Gedanken des Lebens dar, und darin lag seine Bedeutung und seine Fraglosigkeit.

Das Wohl der Mehrheit war alles, worauf es ankam. Das, was für sie als Sammelbegriff das Beste war, war es auch für das Einzelwesen. Und so mußte sich jedermann der Unterstützung des Staates widmen, um dadurch am besten Aller mitzuarbeiten. Das Staatswesen war vielleicht noch zu verbessern, jedoch immer nur von dem Gesichtspunkte aus, es dabei unversehrt zu erhalten.

Aber kein noch so hohes Gut des Gemeinwesens konnte ihm zur lebendigen Vollendung seiner Seele verhelfen. Das wußte er. Aber er maß der Einzelseele nicht genügende Bedeutung bei. Er glaubte an die Bedeutung des Einzelmenschen nur insofern, als er die Menschheit darstellte.

Er konnte nicht erkennen, die Erkenntnis war ihm nicht eingeboren, daß das höchste Gut des Gemeinwesens, wie es nun mal ist, nicht länger zugleich das höchste Gut auch nur des Durchschnittsmenschen zu sein braucht. Er glaubte, weil das Gemeinwesen für Millionen Einzelwesen stände, müsse es auch millionenfache Bedeutung gegenüber dem Einzelwesen besitzen, wo er vergaß, daß das Gemeinwesen doch nur gedanklich von den Vielen hergeleitet wird, nicht aber die Vielen selbst darstellt. Wenn nun aber feststeht, daß die Ableitung des Gutes für das Gemeinwesen zu einer Formel ohne jeden Gedankeninhalt oder irgendwelchen Wert für den Durchschnittsverstand geworden ist, dann wird das »allgemeine Beste« doch zu einer wahren Landplage, einem Ausdruck gewöhnlichster überlieferungstreuer stofflicher Weltanschauung auf ihrer niedrigsten Stufe.

Und mit dem höchsten Gut der Mehrzahl ist doch hauptsächlich die rein körperliche Wohlfahrt aller Gesellschaftsschichten gemeint. Skrebensky machte sich tatsächlich gar nicht so sehr viel aus seiner körperlichen Wohlfahrt. Hätte er keinen Pfennig besessen – na gut, dann hätte er jede Möglichkeit gelten lassen. Wie konnte er daher sein höchstes Gut darin finden, sein Leben für die körperliche Wohlfahrt anderer hinzugeben. Was er für wertlos ansah, soweit es ihn selbst anging, das konnte er doch nicht für des höchsten Opfers würdig halten, sobald es jemand anders betraf. Und was er für sich als Einzelwesen als höchstbedeutend ansah – o, sagte er, von dem Gesichtspunkte aus darf man das Gemeinwesen nicht betrachten. Nein – nein – was das Gemeinwesen will, wissen wir; es wünscht Stetigkeit, es wünscht gute Löhne, gleiche Möglichkeiten für alle, gute Lebensbedingungen, – das sind die Wünsche des Gemeinwesens. Irgend etwas Feines oder Schwieriges wünscht es sich gar nicht. Pflicht ist etwas sehr Einfaches – man denke immer nur an das körperliche, unmittelbare Wohlergehen jedes Einzelnen, das ist alles.

So kam über Skrebensky eine Art Nichtigkeitsgefühl, das Ursula mehr und mehr erschreckte. Sie fühlte, hier war etwas Hoffnungsloses, dem sie sich zu unterwerfen hatte. Sie hatte die Empfindung, als schwebe ein furchtbares Unheil über ihnen. Sie wurde krankhaft empfindlich, niedergeschlagen, ängstlich. Es verursachte ihr schon Angst, wenn sie nur eine Krähe langsam über den Himmel dahinfliegen sah. Das war ein Zeichen von übler Vorbedeutung. Und diese Vorbedeutungen wurden in ihr so schwarz und so mächtig, daß sie sie fast vernichteten.

Und doch, was war denn los? Schlimmstenfalls ging er eben fort. Warum bekümmerte sie das, was befürchtete sie denn? Das wußte sie gar nicht. Nur hatte schwarze Furcht Besitz von ihr ergriffen. Ging sie des Abends aus und sah die großen Sterne funkeln und blitzen, dann erschienen sie ihr schrecklich; tagsüber erwartete sie beständig, es werde irgend etwas auf sie eindringen.

Im März schrieb er, er ginge binnen kurzem nach Südafrika, aber vorher würde er noch einen Tag für die Marsch herauszuschinden wissen.

Wie in einem schmerzlichen Traume schwebend wartete sie, voller Unentschlossenheit. Sie begriff nicht, sie konnte nichts verstehen. Nur fühlte sie, alle Fäden ihres Schicksals würden in straffer Spannung gehalten. Sie weinte nur manchmal beim Ausgehen und sagte dann blind vor sich hin:

»Ich habe ihn ja so lieb – ich habe ihn ja so lieb.«

Er kam. Aber warum? Sie sah ihn an um ein Zeichen. Er gab ihr keins. Er küßte sie nicht einmal. Er benahm sich wie jeder andere gute Bekannte. Das mochte vielleicht nur die Oberfläche sein, aber was lag unter ihr? Sie wartete auf ihn, sie wünschte so sehr, er möchte ihr ein Zeichen geben.

So schwankten sie den ganzen Tag und vermieden jede Berührung bis zum Abend. Dann schüttelte er ihrer Mutter lachend die Hand und meinte, er wäre ja doch in sechs Monaten wieder da und wolle ihnen dann alles erzählen; und dann verabschiedete er sich.

Ursula begleitete ihn auf die Straße hinaus. Die Nacht war windig, die Eibenbäume kochten und zischten und bebten. Der Wind schien sich grade zwischen ihren Schornsteinen und dem Kirchturm austoben zu wollen. Es war sehr dunkel.

Der Wind fuhr Ursula ins Gesicht, ihre Kleider wurden ihr fest an die Glieder gepreßt. Es war ein schwellender, wogender Wind, voll starker Lebenskräfte. Und es schien ihr, als habe sie Skrebensky verloren. Hier draußen in der starken, drängenden Nacht konnte sie ihn nicht finden.

»Wo bist du?« fragte sie.

»Hier«, kam seine körperlose Stimme.

Sie tastete umher und faßte ihn. Ein Brennen wie ein Blitzstrahl überflutete sie.

»Anton?« sagte sie fragend.

»Was?« erwiderte er.

Mit beiden Händen hielt sie ihn in der Finsternis, sie fühlte seinen Körper durch den ihren.

»Verlaß mich nicht – komm wieder zu mir«, sagte sie.

»Ja«, sagte er, sie in seinen Armen haltend.

Aber der Mann in ihm war durch das Bewußtsein verwundet, sie stehe nicht länger unter seinem Bann oder auch nur unter seinem Einfluß. Er wollte von ihr fort. Die Gewißheit, daß er morgen auszöge, verlieh ihm Ruhe, sein Leben war bereits anderswo. Sein Leben war anderswo – sein Leben war anderswo – der Mittelpunkt seines Lebens war anders, als sie ihn haben wollte. Sie war anders – es lag eine Kluft zwischen ihnen. Sie waren feindliche Welten.

»Du kommst wieder zu mir?« wiederholte sie fragend.

»Ja«, sagte er und beabsichtigte es auch. Aber nur wie man eine Verabredung innehält, nicht um seiner Vollendung entgegenzugehen.

So küßte sie ihn und ging wieder ins Haus, ganz verloren. Er ging zerstreut nach der Marsch hinunter. Die Berührung mit ihr hatte ihm weh getan und ihn bedroht. Er fuhr zurück, er wollte sich von ihrem Geiste frei machen. Denn sie wollte sich vor ihn stellen, wie der Engel vor Bileam, und ihn mit dem Schwerte von dem eingeschlagenen Wege abtreiben, hinein in die Wildnis.

Am nächsten Tage ging sie zum Bahnhof, um ihn abfahren zu sehen. Sie sah ihn an, sie wandte sich zu ihm, aber er war immerfort so seltsam und so gar nichts – so gar nichts. Er war so gefaßt. Sie glaubte, vielleicht mache ihn das so zu gar nichts. Merkwürdig nichtig war er.

Mit blassem, stummem Gesicht stand Ursula neben ihm, so daß er nicht gern hinsah. Irgendwie schien die Scham bis zu den Wurzeln des Lebens hinunter zu greifen, kalte, tote Scham um ihrer selbst willen.

Die drei bildeten eine auffallende Gruppe auf dem Bahnhof: das Mädchen in seiner Pelzmütze und Kragen, in ihrem olivengrünen Kleide, blaß, ihre Jugend ganz Spannung, Einsamkeit, Unnachgiebigkeit; der soldatische junge Mann mit dem weichen Hut und dem dicken Überzieher, das Gesicht recht ernst und zurückhaltend über seinem pupurroten Schal, sein ganzes Aussehen gleichgültig; dann der ältere Mann, den gutsitzenden steifen Hut tief über die dunklen Brauen hinabgezogen, das Gesicht warm gefärbt und ruhig, sein ganzes Aussehen merkwürdig dem Beschauer den Eindruck vollblütiger Gleichgültigkeit aufzwingend: er war die ewige Zuhörerschaft, der Chor, der Zuschauer bei diesem Schauspiel; in seinem eigenen Leben duldete er so etwas nicht.

Der Zug sauste heran. Ursulas Herz schwoll empor, aber das Eis über ihm war zu dick geworden.

»Leben Sie wohl«, sagte sie, die Hand erhebend, auf ihrem Gesicht das ihr eigentümliche, blinde, beinahe blendende Lachen. Sie wunderte sich, was er nur anfinge, als er sich niederbeugte und sie küßte. Er hatte ihr doch nur die Hand zu geben und abzufahren.

»Leben Sie wohl«, sagte sie noch einmal.

Er nahm seine kleine Handtasche auf und kehrte ihr den Rücken. Alles lief am Zuge entlang. Ah, hier war sein Wagen. Er fand einen Platz. Tom Brangwen machte die Tür zu, und die beiden Männer schüttelten sich die Hände, während die Pfeife ertönte.

»Auf Wiedersehen – und viel Glück«, sagte Brangwen.

»Danke vielmals – auf Wiedersehen.«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Skrebensky stand am Wagenfenster und winkte, aber in Wirklichkeit sah er gar nicht nach den beiden Gestalten, dem Mädchen und dem warm aussehenden, fast weibisch angezogenen Manne. Ursula schwenkte ihr Taschentuch. Die Geschwindigkeit des Zuges nahm zu, er wurde kleiner und kleiner. Immer gradeaus lief er weiter. Dann verschwand der weiße Fleck. Der Schluß des Zuges war winzig klein geworden in der Entfernung. Aber sie stand immer noch auf dem Bahnsteig, eine große Leere um sie her. Gegen ihren Willen bebte ihr Mund: sie wollte nicht weinen; ihr Herz war totenkalt.

Ihr Ohm war zu einem Verkaufsständer gegangen, um sich Streichhölzer zu holen.

»Möchtest du etwas Süßes?« sagte er, sich umwendend.

Ihr Gesicht war tränenüberströmt, sie machte sonderbare, niederziehende Bewegungen mit dem Munde, um ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Aber ihr Herz weinte nicht – es war kalt und erdig.

»Was für 'ne Art möchtest du haben – ganz einerlei?« fuhr er hartnäckig fort.

»Ein paar Pfefferminzplättchen möchte ich wohl«, sagte sie mit einer bei ihrem verzerrten Gesicht wie fremden, aber ruhigen Stimme. Aber nach ein paar Augenblicken hatte sie ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen und war nun ganz still, losgelöst.

»Wollen mal in die Stadt gehen«, sagte er und brachte sie rasch in einen Zug, der grade in die Stadt fuhr. Sie gingen hier in ein Kaffeehaus und tranken eine Tasse; sie saß da und sah sich die Leute auf der Straße an, und eine große Wunde machte sich in ihrem Herzen fühlbar, eine kalte Unerschütterlichkeit in ihrer Seele.

Diese kalte, unerschütterliche Seelenruhe blieb ihr nun treu. Es war, als habe eine große Enttäuschung sie gefrieren machen, ein hartes Nichtglaubenkönnen. Ein Teil ihres Ich war kalt geworden, gefühllos. Sie war noch zu jung, zu verwirrt, um das verstehen zu können, oder auch nur um begreifen zu können, wie sehr sie gelitten habe. Und sie war zu tief verletzt, um nachzugeben.

Sie hatte Anfälle blinder Qual, in denen sie ihn wiederhaben wollte, nur ihn wiederhaben wollte. Aber vom Augenblicke seiner Abfahrt an war er für sie zu einem Teil ihrer Erscheinungswelt geworden. Zu ihm brachte sie alle ihre Qualen und Leiden und Sehnsüchte.

Sie führte ein Tagebuch, in das sie alle ihre plötzlichen Einfälle niederschrieb. Als sie einmal mit übervollem Herzen den Mond am Himmel stehen sah, ging sie hin und schrieb:

»Wäre ich der Mond, ich wüßte, wo ich niederfiele.«

So ein Satz bedeutete für sie so viel – die ganze Angst ihrer jungen Seele legte sie hinein und ihre junge Leidenschaft und Sehnsucht. Aus tiefstem Herzen rief sie nach ihm, wo sie ging und stand, ihre Gliedmaßen zitterten aus Angst um ihn, wo sie auch war, die strahlende Kraft ihrer Seele schien zu ihm zu reisen, endlos, endlos, und in der Schöpfung ihrer Seele fand sie ihn auch.

Aber wer war er, wo lebte er? Nur in ihrer Sehnsucht.

Sie bekam eine Postkarte von ihm und barg sie an ihrem Herzen. Tatsächlich bedeutete sie ihr nicht viel. Schon am zweiten Tage verlor sie sie und merkte erst ein paar Tage später, daß sie sie überhaupt gehabt habe.

Lang zogen die Wochen sich hin. Dann kamen die ewigen schlechten Nachrichten aus dem Kriege. Und die empfand sie, als wäre da draußen in der Welt alles nur ein Vergehen, ein großes Vergehen gegen sie. Und irgend etwas in ihrer Seele blieb kalt, unempfindlich, unverändert.

Ihr Leben bestand jetzt nur aus einem Teil seiner selbst, sie lebte gar nicht vollständig. Ein Teil von ihr war kalt, leblos. Und doch war sie wahnsinnig empfindlich. Sie konnte sich selbst nicht ertragen. Begegnete ihr ein schmutziges, rotäugiges altes Weib auf der Straße und bettelte sie an, so fuhr sie zurück wie vor etwas Unreinem. Und wenn das alte Weib ihr bittere Schmähungen nachrief, krümmte sie sich innerlich, die Glieder zitterten ihr vor unsinniger Qual, sie konnte sich selbst nicht länger ertragen. Bei jedem Gedanken an das rotäugige alte Weib überlief sie eine Art Wahnsinn, als entzünde sich ihr ganzes Fleisch und Hirn; sie hätte sich am liebsten gemordet.

Bei diesem Gemütszustand brach ihr Geschlechtsleben in eine Art innerer Krankheit aus. Sie war so zerarbeitet und überempfindlich, daß schon die Berührung rauher Wolle ihre Nerven zum Zerreißen brachte.


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