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Es war für Ursula eine große Last, das älteste unter den Kindern zu sein. Zur Zeit als sie elf war, mußte sie Gudrun und Therese und Katharine mit zur Schule nehmen. William, der Junge, stets Billy genannt, um ihn nicht mit seinem Vater zu verwechseln, war ein liebenswürdiges, aber zartes Kind von drei Jahren und blieb einstweilen noch zu Hause. Dann war noch ein kleines Mädchen namens Kassandra da.
Eine Zeitlang gingen die Kinder in die kleine Kirchschule dicht bei der Marsch. Es war die einzige in Reichweite, und da sie sehr klein war, fühlte sich Mrs. Brangwen durchaus sicher, wenn sie ihre Kinder dorthin schickte, obgleich die Dorfjungens Ursula mit dem Spitznamen »Urtler«, Gudrun mit »Kluckhuhn« und Therese mit »Teepott« belegten.
Gudrun und Ursula waren enge Gefährtinnen. Das zweite Kind mit seinem langen, schläfrigen Körper und der endlosen Kette von Einbildungen wollte nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Für die war sie nicht, nur für ihre eigenen Vorstellungen. Für die Wirklichkeiten war Ursula da. So überließ Gudrun diese gänzlich ihrer älteren Schwester und vertraute ihr unbesehens, ohne jede Überlegung. Ursula war sehr zärtlich gegen ihre Gefährtin-Schwester.
Alle Versuche, Gudrun für irgend etwas verantwortlich machen zu wollen, waren völlig zwecklos. Sie schwamm einher wie der Fisch in der See, vollkommen in der Umgebung der ihr eigentümlichen Merkmale und ihrer Selbständigkeit. Das Dasein anderer beunruhigte sie nicht. Sie glaubte nur an Ursula und traute Ursula.
Das älteste Kind hatte viel unter seiner Verantwortlichkeit für die jüngeren zu leiden. Besonders Therese, ein pummeliges, keck aus den Augen sehendes Ding, besaß große Neigung zum Kriegführen.
»Unse Ursula, Billy Pillins hat mich in die Haare gerissen.«
»Was hast du denn zu ihm gesagt?«
»Gar nichts hab ich gesagt.«
Dann lagen die Brangwen-Mädels in Fehde mit den Pillins oder Phillips.
»Du wirst mich woll nich wieder in die Haare reißen, Billy Pillins«, sagte Therese, die mit ihren Schwestern zusammenging, und sah stolz zu dem rothaarigen, sommersprossigen Jungen hinüber.
»Warum woll nich?« rief Billy Pillins zurück.
»Weilste zu bange bist«, sagte Therese, der Unrast.
»Na, denn komm man her, Teepott, und sieh mal zu, ob ich bange bin.«
Los zog der Teepott, und sofort riß Billy Pillins sie an ihren schwarzen, schlangengleichen Locken. Wütend flog sie auf ihn los. Gleich fuhren nun auch Ursula und Gudrun dazwischen, und die kleine Käte, und die übrigen Phillips, Clem und Walter und Eddie Anton mengten sich auch mit hinein. Dann gabs die schönste Prügelei. Die Brangwen-Mädels waren gut gewachsen und stärker als mancher Junge. Es lag nur an ihren Schürzen und ihren langen Haaren, sonst hätten sie manchen leichten Sieg davongetragen. So aber zogen sie mit zerrissenen Schürzen und zerzausten Haaren heim. Den Phillips-Jungens war es ein Hauptvergnügen, den Brangwen-Mädels die Schürzen zu zerreißen.
Nun gabs ein lautes Geschrei. Mrs. Brangwen wollte so was nicht dulden, nein, unter keinen Umständen. All ihre angeborene Würde und Hochnäsigkeit kam zum Durchbruch. Und dann las ihnen der Pfarrer in der Schule die Leviten. Es wäre doch traurig, daß die Jungens von Coffethay sich nicht anständiger gegen die Mädchen benehmen könnten. Was für ein Junge müßte das wohl sein, der sich über ein Mädchen hermachte und sie trat und schlug und ihr die Schürze zerriß? So ein Junge verdiente die schwerste Züchtigung und den Namen eines Feiglings, denn nur ein Junge, der ein richtiger Feigling wäre – usw. usw.
Mittlerweile viel dumpfe Wut in den Herzen der Pillins, der Galgenvögel, hohe Tugend in denen der Brangwen-Mädels, besonders Thereses. Und die Fehde lief weiter, von Zwischenspielen außergewöhnlicher Freundschaft unterbrochen, in denen Ursula Clem Phillips Schatz war, und Gudrun Walters, und Therese Billys, und sogar die winzige Käte mußte Eddie Antons Schätzchen spielen. Tiefste Einigkeit herrschte. Jeden nur erdenklichen Augenblick flogen die Brangwens und die Phillips zusammen. Und doch konnten weder Ursula noch Gudrun zu wirklicher Vertraulichkeit mit den Phillips-Jungens kommen. Sie hatte sich nur so da hineingedacht, in diese Einigkeit und dies Schätzchenspielen.
Wieder erhob sich Mrs. Brangwen.
»Ursula, ich will dies Herumbummeln mit den Jungens auf der Straße nicht länger haben, sage ich dir. Nun höre auf damit, dann hören die andern von selber auf.«
Wie Ursula dies stete Einstehen für die ganze kleine Brangwen-Sippe haßte! Nie durfte sie sie selbst sein, nein, sie war stets Ursula-Gudrun-Therese-Katharine –, und später kam Billy auch noch dazu. Außerdem wollte sie auch gar nichts mit den Phillips zu schaffen haben. Sie hatte den Geschmack an ihnen verloren.
Indessen ging das Brangwen-Pillins-Bündnis ganz von selbst in die Brüche, dank der vornehmen Überlegenheit der Brangwens. Die Brangwens waren reich. Sie durften immer auf die Marsch gehen. Die Lehrer benahmen sich fast achtungsvoll gegen die Mädchen, der Pfarrer sprach zu ihnen, als ständen sie mit ihm auf gleichem Fuße. Die Brangwen-Mädels waren hochnäsig, sie warfen die Köpfe zurück.
»Du bist auch man längst nich allen über, Urtler Brangwin, Übelschnut«, sagte Clem Phillips und kriegte einen dunkelroten Kopf.
»Besser als du bin ich doch woll noch«, gab Urtler zurück.
»Das meinst du – mit so 'ner Fratze – Übelschnut, – Urtler Brangwin«, begann er sie zu höhnen, und versuchte alle andern gegen sie aufzuhetzen. Dann brachen die Feindseligkeiten aufs neue aus. Wie sie ihr Gespött haßte. Sie wurde sehr kalt gegen die Phillips. Auf ihre Herkunft war Ursula sehr stolz. Die Brangwen-Mädels hatten alle eine merkwürdige blinde Würde, fast etwas Vornehmes in ihrem Benehmen. Vielleicht als Ergebnis ihrer Zucht oder ihrer Erziehung schienen sie ihr Eigenleben hastig ohne jede Rücksicht auf das Dasein anderer Leute dahinzuleben. Nie, von Anbeginn an nicht, wäre es Ursula eingefallen, andere Leute könnten gering von ihr denken. Sie dachte, wer sie kenne, wüßte auch, daß sie genüge, und nehme sie dementsprechend hin. Sie dachte, in der Welt gäbe es nur Leute wie sie selbst. Sie litt bitterlich, wenn sie gezwungen war, von andern Leuten schlecht zu denken, und nie vergab sie den Betreffenden.
Für manche kleine Leute war dies rein wahnsinnig. Ihr ganzes Leben lang kamen die Brangwens mit Leuten zusammen, die versuchten, sie herunterzureißen, um sie klein erscheinen zu lassen. Merkwürdig, die Mutter wußte immer vorher, wie es kommen würde, und gab ihren Kindern stets eine Möglichkeit, den andern zuvorzukommen.
Als Ursula zwölf war und die Volksschule sowie der Umgang mit den Dorfkindern bei ihrer Knickerigkeit und Mißgunst einen üblen Einfluß auf sie auszuüben begann, schickte Anna sie mit Gudrun nach Nottingham auf die Lateinschule. Das war für Ursula eine große Erlösung. Sie hatte eine leidenschaftliche Sehnsucht, den verkleinernden Anhängseln des Lebens zu entfliehen, seinen kleinen Eifersüchteleien, seinen kleinen Meinungsverschiedenheiten, alle den kleinen Gemeinheiten. Für sie war es eine Qual, daß die Phillips ärmer waren als sie und gewöhnlicher, daß sie gemeine kleine Hinterhältigkeiten anwandten und niedrige kleine Vorteile wahrnahmen. Sie wollte mit Ebenbürtigen zusammen sein: aber nicht dadurch, daß sie selbst sich vergemeinerte. Sie hätte es gern gesehen, daß Clem Phillips ihr ebenbürtig gewesen wäre. Aber durch ein rätselhaftes, schmerzhaftes Geschick oder so brachte er stets, sowie er mit ihr zusammen war, bei ihr ein Gefühl hervor, als werde ihr der Kopf zusammengeschnürt. Sie hätte sich vor den Kopf schlagen mögen, um dem zu entgehen.
Dann aber fand sie, der Weg zur Flucht sei ganz einfach. Man ging der ganzen Geschichte eben aus dem Wege. Man ging zur Lateinschule und verließ die Vorschule mit ihren mageren Lehrern und den Phillips, die sie zu lieben versucht hatte und denen sie nun diese Enttäuschung verdankte, die sie ihnen nie verzeihen konnte. Sie hatte eine gefühlsmäßige Furcht vor kleinen Leuten, etwa wie ein Reh vor Hunden. Infolge ihrer Blindheit konnte sie die Leute nicht berechnen oder auch nur richtig einschätzen. Sie mußte immer glauben, alle Menschen wären genau so wie sie selbst.
Sie legte allen den Maßstab ihrer eigenen Angehörigen an: ihres Vaters, ihrer Mutter, ihrer Großmutter, ihrer Ohme. Ihr geliebter Vater mit seinem so schlichten Benehmen und seiner starken dunklen Seele, wie eine Wurzel in unaussprechliche Tiefen hinabreichend, bezauberte und erschreckte sie: ihre Mutter, so seltsam frei von allem Sinn für Geld oder Herkömmlichkeit oder Furcht, so gänzlich gleichgültig gegen die Welt, stand völlig für sich, ohne jede Verbindung: ihre Großmutter, die von so weit herkam und im Mittelpunkte eines so regen Gesichtskreises saß: diesen Maßen hatten sich die Leute anzupassen, ehe sie für Ursula Geltung bekamen.
So war sie also als zwölfjähriges Mädchen bereits froh, die engen Grenzen Cossethays sprengen zu können, in denen nur beschränkte Leute lebten. Außerhalb war alles Weite und ein Gedränge wirklicher stolzer Leute, die sie lieben konnte.
Da sie den Zug für ihren Schulweg benutzen mußte, ging sie morgens um ein Viertel vor acht von Hause fort und kam erst um halb sechs abends wieder. Hierüber war sie sehr froh, denn das Haus war klein und übervoll. Ein Sturm von Bewegung herrschte in seinem Innern, aus dem es kein Entrinnen gab. Ihre vielen Pflichten waren ihr verhaßt.
Das ganze Haus war ein Sturm von Bewegung. Die Kinder waren gesund und quecksilberig, die Mutter kümmerte sich nur um ihr leibliches Wohlergehen. Für Ursula wurde dies, als sie ein wenig älter wurde, ein reiner Nachtmar. Als sie später einmal ein Bild von Rubens mit Rudeln nackter, kleiner Kinder sah und fand, daß er dies Bild »Fruchtbarkeit« genannt habe, da schauderte sie zusammen, und dies Wort wurde ihr ein Greuel. Als Kind wußte sie bereits, was es bedeute, unter einem Sturm Kleinerer in der Hitze und dem Schweiße der Fruchtbarkeit zu leben. Und schon als Kind war sie gegen ihre Mutter eingenommen, leidenschaftlich sogar, und sehnte sich nach Geistigkeit und Vornehmheit.
Bei schlechtem Wetter wurde ihr Heim zum Tollhaus. Kinder sausten im Regen aus und ein, in die Pfützen unter den unheimlichen Eibenbäumen, über die feuchten Fliesen in der Küche, während die Reinmachefrau brummte und schalt; Kinder schwärmten auf dem Sofa herum, Kinder traten gegen das Klavier an, damit es summte wie ein Bienenstock, Kinder trudelten sich auf der Herdmatte herum, die Beine in der Luft, und rissen gemeinschaftlich ein Buch entzwei, Kinder, kleine Teufel, überall gegenwärtig, stahlen sich vorsichtig nach oben, um herauszufinden, wo Ursula steckte, flüsterten an den Kammertüren, hängten sich an die Klinken, riefen geheimnisvoll »Ursula! Ursula!« zu dem Mädchen hinein, das sich eingeschlossen hatte, um zu lesen. Es war einfach hoffnungslos. Die verschlossene Tür regte ihren Sinn für das Geheimnisvolle nur noch mehr an, sie mußte aufmachen, um ihnen diesen Reiz zu zerstören. Mit runden Augen und aufgeregten Fragen hängten sich die Kinder an sie.
Die Mutter gedieh üppig inmitten alles dieses.
»Besser daß sie Lärm machen, als daß sie krank sind«, sagte sie. Die heranwachsenden Mädchen aber litten nacheinander furchtbar darunter. Ursula erreichte grade die Stufe, auf der Andersen und Grimm um die »Idyllen vom König« und abenteuerliche Liebesgeschichten vergessen werden.
»Elaine die schöne, die gute,
Die Lilienmaid von Astolat,
Hoch auf des Turmes Söller
Lancelots Heilgen Schild bewacht'.«
Wie sie das liebte! Wie sie sich mit den schwarzen, ungekämmten Haaren, ihr auf die Schultern fallend, ihr warmes Gesicht ganz verzückt, aus ihrem Kammerfenster lehnte und über den kleinen Kirchhof zu dem Kirchturme hinübersah, der ein Schloß mit Türmen war, aus dem Lancelot grade hervorritt und ihr im Vorbeireiten mit der Hand zuwinkte, während sein Scharlachrock hinter den Eibenbäumen entlang und über das freie Feld fuhr: während sie, ja, sie als einsame Maid hier oben sitzen bleiben mußte, allein auf ihrem Turme, um den schrecklichen Schild zu putzen und einen Überzug für ihn mit einem richtigen Wahlspruch zu weben, und warten, immer warten mußte, in ihrer einsamen Höhe.
Bei diesem Punkte entstand aus der Treppe ein leichtes Geschubse, leises, aufgeregtes Flüstern an ihrer Tür und das Quietschen der Klinke: dann flüsterte Billy voller Aufregung:
»Se is zugeschlossen – se is zugeschlossen.«
Dann ein Klopfen, ein Treten kleiner Knie gegen die Tür und das Drängen der Kinder:
»Ursula, unse Ursula? – Ursula? – och, unse Ursula!«
Keine Antwort.
»Ursula! Och, Ursula?« Jetzt wurde der Name schon lauter gerufen. Immer noch keine Antwort.
»Mutter, sie will uns nich antworten«, tönte dann ein Schrei; »sie ist tot.«
»Geht weg! – Ich bin nicht tot. Was wollt ihr denn?« kam die ärgerliche Stimme des Mädchens zurück.
»Mach die Tür auf, unse Ursula«, erwiderten die klagenden Stimmen. Dann war alles vorbei. Sie mußte ihre Tür aufmachen. Sie hörte das Scharren des Eimers auf den Fliesen unten, wo die Reinmachefrau beim Scheuern des Küchenfußbodens war. Und dann drängten sich die Kinder in ihre Kammer und fragten:
»Was machst du denn? Weshalb hast du denn deine Tür abgeschlossen?« Dann entdeckte sie den Schlüssel zur Pfarrhalle und verzog sich dorthin und saß mit ihren Büchern auf ein paar Säcken. Hier begann ein neuer Traum.
Sie war die einzige Tochter des alten Lords und besaß Zauberkraft. Tag für Tag lief in verzücktem Schweigen hin, während sie wie ein Geist durch die stillen, alten Räume huschte oder über die schlafenden Söller glitt.
Hier hatte sie nun einen schweren Kummer durchzumachen: daß nämlich ihr Haar schwarz war. Sie mußte doch helles Haar und weiße Haut haben. Ihre schwarze Mähne verbitterte sie gradezu.
Na, denn nicht, denn würde sie es einfach färben, wenn sie erwachsen wäre, oder es in der Sonne bleichen lassen, bis es ganz hell wäre. Einstweilen wollte sie einen schönen weißen Kopfputz aus reinster Venezianerspitze tragen.
Schweigend glitt sie über die Söller, wo juwelenglänzende Eidechsen sich auf den Steinen sonnten und sich nicht rührten, wenn ihr Schatten auf sie fiel. In der äußersten Stille hier hörte sie das Plätschern des Springbrunnens und roch an den reich und bewegungslos herabhängenden Rosenblüten. So trieb sie dahin, trieb sie dahin auf sinnenden Füßen der Schönheit, an Gewässern mit Schwänen vorüber bis in den edlen Park, wo unter einer alten Eiche eine gefleckte Hindin lag, die vier Füße dicht zusammen, ihr sonnenfarbiges Kitz sich an sie schmiegend.
Ach, und wie vertraut ihr diese Hindin war. Sie sprach mit ihr, weil sie ja zaubern konnte, und erzählte ihr Geschichten, als redete der Sonnenschein selbst.
Dann aber ließ sie eines Tages die Tür unverschlossen, sorglos und unaufmerksam wie sie ja stets war; die Kinder fanden den Weg zu ihr herein, Käte schnitt sich in die Finger und heulte, Billy hackte Scharten in die feinen Werkzeuge und richtete viel andern Unfug an. Das gab einen großen Aufruhr.
Der Ärger der Mutter war bald vorüber. Ursula verschloß die Halle wieder und dachte, damit wäre alles vorbei. Dann kam ihr Vater mit den schartigen Werkzeugen, die Stirne gerunzelt.
»Wer zum Deubel hat die Tür aufgemacht?« schrie er wütend.
»Ursula hats getan«, antwortete die Mutter.
Er hatte ein Staubtuch in der Hand. Er drehte sich um und schlug dem Kind hart damit durchs Gesicht. Das Tuch tat weh, einen Augenblick war das Mädchen wie betäubt. Dann blieb sie bewegungslos stehen, mit verschlossenem, verbissenem Gesicht. Aber ihr Herz brannte. Gegen ihren Willen stiegen ihr die Tränen höher und höher, gegen ihren Willen immer höher.
Gegen ihren Willen zerbrach die Starre ihres Gesichtes, sie machte eine sonderbare, würgende Fratze, und dann stürzten die Tränen herab. So zog sie trostlos von dannen. Aber ihr Herz brannte vor Stolz und Unnachgiebigkeit. Er sah ihr im Fortgehen nach, und ein mit Vergnügen gemischter Schmerz erfüllte ihn, ein Gefühl leichten Sieges und großer Machtvollkommenheit, dem aber sofort ein scharfes Mitleid folgte.
»Das war doch auch ganz unnötig – das Mädchen durchs Gesicht zu schlagen«, sagte die Mutter kalt.
»So 'n Klaps mit dem Staubtuch wird ihr auch wohl nicht viel schaden«, sagte er.
Tage-, wochenlang brannte Ursulas Herz unter dieser wegwerfenden Behandlung. Sie fühlte sich so grausam leicht verwundbar. Wußte er denn gar nicht, wie leicht sie zu verwunden war, wie angreifbar, wie leicht sie zusammenfuhr? Er sollte das doch vor allen andern wissen. Und grade er hatte sie so behandeln können. Grade wo sie am allerempfindlichsten war, da wollte er ihr wehtun, er wollte sie beschämen, sie mit seinen Beleidigungen martern.
Einsam brannte ihr Herz, wie ein einsames Wachtfeuer. Das vergaß sie nicht, das vergaß sie nicht, das würde sie niemals vergessen. Auch als sie die alte Liebe zu ihrem Vater wiederfand, brannte doch die Saat des Mißtrauens und des Trotzes unlöschbar weiter, wenn auch äußerer Sicht verborgen. Sie war nicht länger so unbedingt die Seine. Langsam, langsam brannte das Feuer des Mißtrauens und des Trotzes in ihr weiter, brannte jede Verbindung mit ihm hinweg.
Sie lief ein gut Teil allein umher, da sie eine Leidenschaft für jede Bewegung, jedes Treiben besaß. Sie liebte kleine Bäche. Wo sie ein kleines Wässerchen laufen sah, da fühlte sie sich glücklich. Es schien ihr, als mache es sie im Geiste mit ihm laufen und singen. Stundenlang konnte sie an einem Bache oder Flusse sitzen, auf den Wurzeln der Ellernbüsche und zusehen, wie das Wasser in Hast über die Steine tanzte oder durch das Gezweig eines abgebrochenen Astes. Zuweilen verschwanden kleine Fische vor ihren Blicken, ehe sie noch einmal wirklich geworden waren, wie Spukgestalten, zuweilen liefen Bachstelzen am Rande des Wassers entlang, zuweilen kamen andere kleine Vögel zu einem Trunke. Sie sah einen Eisvogel blauschimmernd vorbeiblitzen – und dann war sie sehr glücklich. Der Eisvogel war für sie der Schlüssel zu einer Zauberwelt: er wußte genau Bescheid in der Reihenfolge aller Beschwörungen.
Aber sie mußte alle diese fein gewobenen Vortäuschungen ihres Lebens hinter sich lassen: die Vorstellung eines Vaters, dessen Leben eine wahre Irrfahrt durch die ihn umgebende Welt war; die Vorstellungen von ihrer Großmutter, von Wirklichkeiten, so schattenhaft und entlegen, daß sie ihr wie geheimnisvolle Wahrzeichen erschienen: – Bauernmädchen mit Kränzen aus blauen Blumen im Haar, Schlitten und tiefster Winter; der dunkelbärtige, junge Großvater, Ehe und Tod und Krieg; dann die vielerlei Vortäuschungen, die sie selbst betrafen, wie sie in Wirklichkeit eine polnische Prinzessin war, wie sie hier in England unter einem Zauberbann lebte, wie sie in Wirklichkeit gar nicht Ursula Brangwen war; dann das Zauberbild aus ihren Lesebüchern: aus all diesen vielfarbigen Vorstellungen mußte sie heraus und in die Lateinschule zu Nottingham hinein.
Sie war scheu und leidend. Um nur eins zu nennen, sie kaute sich die Nägel ab und litt grausam unter dem Bewußtsein ihrer Fingerspitzen, vor Scham, wegen dieser Bloßstellung. Diese Scham plagte sie über jedes Maß. Stunden der Qual verbrachte sie im Nachdenken, wie sie wohl ihre Handschuhe anbehalten könnte: ob sie nicht sagen könnte, ihre Hände wären verbrüht, oder ob sie nicht einfach vergessen könnte, sie auszuziehen. Denn mit dem Eintritt in die Lateinschule kam sie nun zu ihrem Erbe. Hier waren alle Mädchen junge Damen. Hier würde sie sich unter lauter freien Seelen umherbewegen, unter Gefährtinnen, alle ihr ebenbürtig, und alles Kleinliche würde wegfallen. Ach, wenn sie sich doch bloß nicht die Nägel abkaute! Wenn ihr doch nur dies Gebrechen nicht anhaftete! Sie wäre so gern vollkommen gewesen – ohne Flecken oder Gebrechen, ein hohes, edles Leben führend.
Kummer machte es ihr, wie armselig ihr Vater sie einführte. Er war so kurz angebunden wie nur je, brachte wie ein Junge seine Botschaft hervor, und sein Anzug saß so schlecht, sah so verunglückt aus. Ursula dagegen wären Festkleider und eine feierliche Einführung in diesen ihren neuen Stand grade recht gewesen.
Über die Schule baute sie sich sofort neue Einbildungen auf. Miß Grey, die Vorsteherin, hatte eine gewisse silberige, schulmeisterliche Schönheit in ihrem Benehmen. Die Schule selbst war früher das Wohnhaus eines wohlhabenden Herrn gewesen. Dunkle, ernste Rasenflächen trennten es von der dunklen, vornehmen Straße. Aber seine Zimmer waren groß und hübsch, und von der Rückseite sah man über Rasenflächen und niedriges Gebüsch, über die Bäume und die grasigen Abhänge einer Baumschule bis zur Stadt, die mit ihren Häusern und Kuppeln und Schattenmassen das Tal ausfüllte.
So saß denn Ursula auf dem Hügel der Gelehrsamkeit und sah hernieder auf den Rauch, die Verwirrung und die Werkstätten, die drängende Tätigkeit der Stadt. Sie war glücklich. Hier, in der Lateinschule, bildete sie sich ein, war die Luft feiner, außerhalb des Bereichs des Rauches der Werkstätten. Sie wollte Latein und Griechisch und Französisch und Mathematik lernen. Wie ein Bittsteller zitterte sie, als sie zum erstenmal das griechische Alphabet niederschrieb.
Sie saß am Abhang eines andern Hügels, dessen Gipfel sie noch nicht erklommen hatte. In ihrem Herzen lag immer noch jene wunderbare Sehnsucht zum Emporklimmen und Ausschauhalten. Ein lateinisches Tätigkeitswort war jungfräulicher Boden für sie: sie sog mit ihm einen neuen Geruch ein; es hatte eine Bedeutung, wenn sie auch nicht wußte, welche; aber sie nahm es in sich auf: es bedeutete etwas. Sobald sie wußte, daß x<sup>2</sup> - y<sup>2</sup> = (x y) (x - y) war, da fühlte sie, nun hätte sie etwas erfaßt, nun sei sie frei in berauschende Lüfte hinausgeflogen, seltene, bedingungslose. Und sie war seelenfroh, als sie ihre französische Übung schrieb: »J'ai donné le pain à mon petit frère.«
Aus allen diesen Dingen scholl ihr Hörnerklang ins Herz, erheiternder, der sie zu den Stätten der Vollkommenheit forderte. Nie vergaß sie ihre braune »Longman's Erste Französische Grammatik«, nie ihre »Via Latina« mit den roten Ecken oder ihr kleines graues Algebrabuch. In allem lag ein bleibender Zauber.
Sie war rasch im Lernen, klug, hatte gutes Gefühl, aber war nicht »gründlich«. Wenn irgend etwas ihr nicht gefühlsmäßig einging, dann konnte sie es nicht lernen. Und dann ihre wahnsinnige Wut, mit der sie alle Unterrichtsstunden haßte, die bittere Verachtung gegen sämtliche Lehrer und Lehrerinnen, ihr Zurückschrecken zu wilder, tierischer Anmaßlichkeit machten sie allen zuwider.
Sie war ein freies, nicht zu unterdrückendes Tier, sie erklärte in ihren Aufwallungen: es gäbe für sie kein Gesetz, keine Regel. Sie war nur für sich selbst da. Ein langwieriger Kampf gegen alle folgte, in dem sie schließlich niederbrach, nachdem sie ihren Widerstand gänzlich erschöpft und sich vor Trostlosigkeit das Herz aus dem Leibe geschluchzt hatte; und nachher, in einem gereinigten, ausgewaschenen, körperlosen Zustand kam sie zu der Einsicht, die ihr vorher nicht hatte kommen wollen, und ging ihren Weg trauriger und klüger.
Ursula und Gudrun gingen zusammen zur Schule. Gudrun war ein scheues, stilles, wildes Geschöpf, ein dünnes, spuchtiges Ding, das sich jeder Beobachtung entzog und hintenherum immer wieder in ihre eigene Welt zu verschwinden verstand. Sie schien gefühlsmäßig jede Berührung zu vermeiden und nur ihrem eigenen, spannenden Weg zu folgen, hinter halb ausgebildeten Vorstellungen her, die zu niemand in irgendwelcher Beziehung standen.
Klug war sie durchaus nicht. Sie meinte, Ursula hätte genug Verstand für sie beide. Ursula begriff das ja, warum sollte sie, Gudrun, sich also auch noch damit abquälen? Wie in einem Stellvertreter durchlebte das jüngere Mädchen ihr gottgläubiges, verantwortliches Leben in ihrer Schwester. Sie für sich war gleichgültig und gespannt wie ein wildes Tier, und auch so verantwortungslos.
Fand sie sich ganz untenan in der Klasse, so lachte sie nur faul und war ganz zufrieden und meinte, nun wäre sie ja sicher. Um ihres Vaters Kummer oder ihrer Mutter Anflug von Gekränktheit kümmerte sie sich kein wenig.
»Wozu bezahle ich denn das viele Geld, damit du nach Nottingham gehst?« fragte ihr Vater verzweifelt.
»Ja, Vatting, du weißt doch, für mich brauchtest du eigentlich nichts auszugeben«, erwiderte sie ganz unverfroren. »Ich will gerne zu Hause bleiben.«
Sie fühlte sich glücklich zu Hause, Ursula nicht. Außerhalb spuchtig und unwillig, bewegte sich Gudrun zu Hause wie ein wildes Tier in seinem Bau, so leicht. Ursula dagegen, die draußen aufmerksam und scharfsinnig war, wurde zu Hause bockig, unruhig, unwillig, sich selbst vorzustellen, oder auch unfähig.
Trotzdem blieb der Sonntag doch für beide der höchste Tag in der Woche. Ursula wandte sich ihm mit Leidenschaft zu, zu dem Gefühl ewiger Sicherheit, das er ihr verlieh. Während der Wochentage fühlte sie Angstschauer vor den starken Mächten, die sie nicht anerkennen wollten. Stets lag auf ihr die Furcht vor höherer Gewalt, die Abneigung gegen sie. Sie fühlte, sie könne immer alles tun, was sie wollte, solange sie nur den Kampf mit der höheren Gewalt vermiede, mit der anerkannten Gewalt. Aber verriet sie sich selbst, war sie verloren, vernichtet. Fortwährend lag diese Drohung auf ihr.
Dies merkwürdige Gefühl von Grausamkeit und Häßlichkeit war ihr eingeboren, es konnte sie jeden Augenblick überkommen; dies Gefühl, daß der Neid der Masse nur im Hinterhalt gegen sie läge, die ja eine Ausnahme darstellte, bildete einen der tiefstwirkenden Einflüsse in ihrem Leben. Wo sie auch war, in der Schule, unter Freundinnen, auf der Straße, im Zuge: sie kauerte sich gefühlsmäßig zusammen, machte sich kleiner, gab sich den Anschein weniger zu sein, als sie war, aus Furcht, ihr enthülltes Ich könne gesehen und angegriffen werden, angegriffen durch die rohe Gewalt des Gemeinen, durch das Durchschnittsdasein.
In der Schule war sie jetzt leidlich sicher. Sie hatte verstanden, sich dort eine Stellung zu erringen, und wußte, wie weit sie sich zurückzuhalten habe. Aber nur Sonntags war sie wirklich frei. Als sie ein Mädchen von kaum vierzehn Jahren war, fühlte sie im Hause eine gewisse Abneigung gegen sich entstehen. Sie wußte, sie wirkte störend. Aber Sonntags war sie wie immer noch frei, wirklich frei für sich, ohne Furcht oder böse Ahnungen.
Der Sonntag war ein gesegneter Tag, und wenn er auch noch so stürmisch verlief. Mit einem Gefühl unendlicher Erlösung pflegte Ursula an ihm zu erwachen. Sie wunderte sich, wie leicht ihr zu Sinne war. Dann fiel es ihr ein, es war ja Sonntag. Fröhlichkeit schien allerorten um sie her hervorzubrechen, ein Gefühl großer Freiheit. Die ganze Welt wurde für vierundzwanzig Stunden aufgehalten, zurückgestellt. Nur die Sonntagswelt war da.
Nun liebte sie grade die Verwirrung des Haushalts. Es war schon ein wahres Glück, wenn die Kinder bis sieben schliefen. Gewöhnlich ließ sich bald nach sechs ein Zirpen hören, ein aufgeregtes Zwitschern begann, die Erschaffung eines neuen Tages verkündend, das Patschen nackter, kleiner Füße wurde hörbar, und die Kinder waren auf und umher, tobten in ihren Hemden herum mit rosa Beinen und glänzendem, vließigem Haar von ihrem Bad am Sonnabend her, ihre Seelen in Erregung über die Sauberkeit ihres Körpers.
Sobald nun das Haus sich mit dem Sturme tobender, halbnackter Kinder zu füllen begann, stand eines der Eltern auf, entweder die Mutter, leicht und schlumpig, mit ihrem dichten, dunklen Haar in einem losen Knoten über einem Ohre baumelnd, oder der Vater, warm und behaglich, mit strubbeligem Schwarzhaar und dem am Halse nicht zugeknöpften Hemd.
Dann konnten die Mädchen oben das ewig sich wiederholende: »Nanu Billy, was soll denn das bedeuten?« in ihres Vaters starker, hallender Stimme hören; oder der Mutter würdevolles: »Ich hab dir doch gesagt, Kassie, ich will das nicht haben.«
Merkwürdig war es, wie ihres Vaters Stimme wie eine laute Glocke tönen konnte, ohne daß er irgendwie erregt war, und wie ihre Mutter wie eine Königin reden konnte, die jemandem Gehör erteilt, obgleich ihre Bluse an allen Ecken und Kanten offenstand und ihr Haar nicht aufgesteckt war und die Kinder einen wahren Höllenlärm vollführten.
Allmählich gab's dann Frühstück, und die älteren Mädchen kamen in diese babylonische Verwirrung hinunter, wo halbnackte Kinder wie die verkehrten Enden von Engeln umherflogen, wie Gudrun sagte, wenn sie die kleinen, bloßen Beine und pulligen Hinterviertel auftauchen und wieder verschwinden sah.
Nach und nach wurden die Kleinen dann eingefangen und waren nun, nachdem das Nachtzeug endgültig ausgezogen war, für das reine Sonntagshemd fertig. Aber bevor das Sonntagshemd über den Strubbelkopf gestülpt werden konnte, sauste der nackte Körper los, um sich in dem Schaffell zu wälzen, der den Wohnzimmerteppich vertrat, während die Mutter hinterherlief und scharfen Einspruch erhob, indem sie das Hemd wie eine Schlinge hielt, und des Vaters Bronzestimme ertönte, und das sich auf dem Schaffell wälzende nackte Kröt fröhlich verkündete:
»Mutter, ich bade mich in die See.«
»Wozu läßt du mich mit dem Hemd hinter dir herrennen?« sagte die Mutter. »Steh auf, nun!«
»Ich bade mich in die See, Mutter«, wiederholte die sich wälzende nackte kleine Gestalt.
»Es heißt ›in der See‹, nicht ›in die See‹«, sagte die Mutter mit ihrer seltsamen, gleichgültigen Würde. »Ich stehe hier und warte mit deinem Hemd!«
Endlich waren alle Hemden angezogen, alle Strümpfe paßten zusammen, und alle kleinen Hosen waren zugeknöpft und die kleinen Unterröcke hinten zugebunden. Die große, immer im Hintergrunde lauernde Feigheit der ganzen Gesellschaft bestand aber in der Umgehung der Strumpfbänderfrage.
»Wo sind deine Strumpfbänder, Kassie?«
»Weiß nicht.«
»Na, dann sieh dich mal nach ihnen um.«
Aber von den älteren Brangwens wollte keiner mit der Sache etwas zu tun haben. Nachdem Kassie unter der gesamten Einrichtung herumgekrabbelt und sich ihren ganzen Sonntagsstaat verschmiert hatte, zu allgemeinem Kummer, da wurden die Strumpfbänder über dem abermaligen Waschen der kleinen Hände und des Gesichts vergessen.
Späterhin wurde Ursula dann böse, wenn Fräulein Kassie aus der Sonntagsschule mit bis auf die Enkel heruntergerutschten Strümpfen in die Kirche kam und ein schmutziges Knie sehen ließ.
»'s ist doch 'ne wahre Schande!« rief Ursula bei Tische. »Die Leute müssen ja denken, wir wären Schweine, und die Kinder würden nie gewaschen!«
»Ist ja ganz einerlei, was andere Leute denken«, sagte die Mutter großartig. »Ich achte darauf, daß das Kind ordentlich gebadet wird, und wenn ich damit zufrieden bin, können andere Leute es längst sein. Sie kann ihre Strümpfe nicht in Ordnung halten, wenn sie keine Strumpfbänder hat, und das Kind kann doch nichts dafür, daß es ohne sie laufen gelassen wurde.«
Die Strumpfbandquälerei wiederholte sich in verschiedenen Abstufungen; aber bis jedes der Kinder lange Röcke oder Hosen trug, wurde sie nicht aus der Welt geschafft.
An diesem Tage gingen die Brangwens über die Hauptstraße zur Kirche und machten lieber den Umweg um ihre ganze Gartenhecke, als daß sie über ihre Gartenmauer auf den Kirchhof geklettert wären. Das war nicht etwa ein von den Eltern für die Kinder aufgestelltes Gesetz. Die Kinder selbst sahen auf richtige Beobachtung der Sabbatwürde, höchst eifersüchtig und eindringlich einander beobachtend.
Allmählich machte es sich wirklich so, daß das Haus Sonntags nach der Kirche so etwas wie ein Heiligtum wurde, in dem es Frieden atmete, als habe sich ein fremder, seltsamer Vogel in den Raum verflogen. Drinnen wurden nur Lesen und Geschichtenerzählen und ruhige Beschäftigungen geduldet, wie Zeichnen etwa. Draußen mußten alle Spiele so wenig aufdringlich wie möglich betrieben werden. Gab es Lärm, Geschrei und Heulen, dann brach bei dem Vater und den älteren Geschwistern ein wilder Geist durch, der die jüngeren rasch unterkriegte, da sie Angst vor dem großen Bann hatten.
Die Kinder selbst hielten den Sabbat inne. Wenn Ursula in ihrer Eitelkeit sang:
»Il était un' bergère
Et ron-ron-ron, petit patapon«,
dann rief Therese sicherlich:
»Das ist doch auch nicht grade ein Sonntagslied, unse Ursula.«
»Das weißt du doch nicht«, erwiderte Ursula überlegen. Immerhin geriet sie ins Schwanken. Und ihr Sang verflog, ehe sie damit zu Ende kam.
Und das, weil ihr, ohne daß sie es wußte, der Sonntag zu köstlich war. Sie befand sich an einem seltsamen, nicht zu benennenden Orte, an dem ihr Geist träumend umherwandern konnte, unbelästigt.
Der weißgekleidete Geist Christi ging zwischen den Ölbäumen umher. Das war eine Erscheinung, keine Wirklichkeit. Und sie selbst nahm an dieser Erscheinung teil. In der Nacht kam eine Stimme, die rief: »Samuel! Samuel!« Und immer noch rief die Stimme durch die Nacht. Aber nicht diese Nacht, auch vorige Nacht nicht, aber in der unergründlichen Sonntagnacht, im Schweigen des Sabbats.
Da war Sünde, die Schlange, in der auch Weisheit verborgen war. Da war auch Judas mit dem Gelde und dem Kusse.
Aber tatsächlich gab es keine Sünde. Wenn Ursula Therese einen ins Gesicht gab, selbst am Sonntag, das war keine Sünde, keine ewige, bleibende. Das war schlechtes Benehmen. Wenn Billy die Sonntagsschule schwänzte, war er schlecht, war er schändlich, aber er war kein Sünder.
Sünde war etwas Unbedingtes und Dauerndes: Schlechtigkeit und Unart waren nur etwas Zeitweiliges und Bedingtes. Wenn Billy mal mit einer Ortsredensart Kassie »du Sünder« nannte, so verabscheute ihn jedermann. Als aber auf der Marsch ein schlapsig-schlaksiger junger Fuchshund erschien, da wurde er aus Mutwillen »Sünder« genannt.
Die Brangwens nahmen davon Abstand, ihren Gottesglauben auf die eigenen, unmittelbaren Handlungen anzuwenden. Sie sehnten sich nach dem Sinne des Ewigen, Unsterblichen, nicht nach einer Reihe Vorschriften fürs tägliche Leben. Darum waren sie auch schlecht erzogene Kinder, starrköpfig und anmaßend, wenn auch edelmütig in ihren Gefühlen. Außerdem hatten sie – was für die gewöhnliche Nachbarschaft ganz unerträglich war – etwas so Stolzes, das gar nicht zu dem Betragen eines demokratischen Christenmenschen paßte. So standen sie immer etwas für sich, außerhalb des Gewöhnlichen.
Wie bitter Ursula ihre erste Bekanntschaft mit den Lehren der Heiligen Schrift stimmte! Ein eigenartiger Schauer durchfuhr sie, als sie zum erstenmal die Erlösung auf ihren eigenen Fall anwandte. »Jesus starb für mich, er litt um mich.« Ein Stolz und ein Schauer lagen hierin, gefolgt beinahe sofort von einem Gefühl von Düsterkeit. Jesus mit Löchern in Händen und Füßen: das ging gegen ihren Geschmack. Der schattenhafte Jesus mit den Wundmalen: das war ihre Erscheinung. Aber Jesus als wirklicher Mensch, sprechend mit Zähnen und Lippen, und einen den Finger in seine Wunden legen heißend, wie ein Dorfbauer, der sich seiner Schwären rühmt, der stieß sie ab. Sie wurde denen feind, die auf dem Menschentum Christi bestanden. Wenn er nur ein Mensch gewesen war und ein Menschenleben im gewöhnlichen Sinne geführt hatte, dann war sie gleichgültig gegen ihn.
Aber die Eifersucht der gewöhnlichen Leute war es ja nur, die auf Christi Menschentum bestehen mußte. Der gewöhnliche Geist war es, der nichts Übermenschliches dulden kann, nichts, was außer ihm steht. Die schmutzige, entweihende Hand der Wiedererwecker des Glaubens war es, die Jesus ins Alltagsleben hinunterziehen wollte, die Jesus mit Hosen und Gehrock bekleiden wollte, um mit ihm an Gewöhnlichkeit auf gleichen Fuß zu kommen. Die unverschämte Vorstadtseele war es, die fragte: »Was würde Jesus wohl tun, wenn er in meinen Schuhen stände?«
Allem diesem hatten die Brangwens die Spitze zu bieten. Wenn überhaupt einer von ihnen, so war es die Mutter, die sich durch das allgemeine Geheule einfangen ließ, oder doch am sorglosesten dagegen war. Sie wollte von allem Übernatürlichen nichts wissen. Sie schloß sich tatsächlich nie, während ihres ganzen Lebens nicht einmal, Brangwens geheimnisvollen Schwärmereien an.
Ursula aber stand auf seiten ihres Vaters. Als sie heranwuchs, dreizehn, vierzehn Jahre alt wurde, widersetzte sie sich mehr und mehr ihrer Mutter Gleichgültigkeit gegen das Leben. Für Ursula lag etwas Verstocktes, fast etwas Böses in ihrer Mutter Haltung. Was machte Anna Brangwen sich in diesen Jahren aus Gott oder Jesus oder Engeln? Sie war das unmittelbare Alltagsleben. Immer noch bekam sie Kinder, war sie umdrängt von allem Kleinkram häuslichen Lebens. Und fast gefühlsmäßig ärgerte sie sich über ihres Mannes Sklavendienst für die Kirche, sein dunkles, untertäniges Sehnen nach der Verehrung eines unsichtbaren Gottes. Wem konnte an einem nicht offenbarten Gotte liegen, wenn er einen Haufen Kinder hatte, der nach Futter schrie? Laß ihn sich doch um die unmittelbaren Erfordernisse seines Lebens kümmern, aber nicht herumlaufen und sich dem Höchsten in die Arme werfen!
Ursula aber war gänzlich für alles Hohe! Sie war immer voller Abneigung gegen Säuglinge und häuslichen Krimskrams. Für sie war Jesus von einer andern Welt, nicht von dieser. Er hielt ihr nicht die Hände vors Gesicht und sagte:
»Sieh, Ursula Brangwen, die habe ich um dich bekommen! Nun tue, wie dir geheißen.«
Für sie stand Jesus in wunderbarer Ferne, schien durch die Weite wie ein weißer Mond bei Sonnenuntergang, eine Mondsichel, die der Sonne folgend uns aus unserem Gesichtskreise hinwegwinkt. Zuweilen standen an einem Winterabend in weiter Ferne mächtige Wolken, die sich dunkel gegen das leuchtend gelbe Band des Sonnenuntergangs abhoben und sie an Golgatha erinnerten; zuweilen erschreckte der Mond, wenn er blutrot über den Hügel emporstieg, sie mit der Erkenntnis, daß Christus nun gestorben sei und schwer und tot am Kreuze hinge.
An Sonntagen grade pflegte diese Welt der Erscheinungen über sie zu kommen. Sie hörte das lange Schweigen, sie wußte, nun fände die eheliche Vereinigung des Dunkels mit dem Lichte statt. In der Kirche erklang die Stimme wie ein Widerhall nicht von dieser Welt, als sei die Kirche selbst die Muschel, die noch die Sprache der Erschaffung tönte.
»Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren; und nahmen zu Weibern, welche sie wollten.«
»Da sprach der Herr: Die Menschen wollen sich meinen Geist nicht mehr strafen lassen, denn sie sind Fleisch: Ich will ihnen noch Frist geben hundert und zwanzig Jahr.«
»Es waren auch zu den Zeiten Tyrannen auf Erden, denn da die Kinder Gottes die Töchter der Menschen beschliefen, und ihnen Kinder zeugeten, wurden daraus Gewaltige in der Welt und berühmte Leute.«
Über so etwas regte Ursula sich auf, als wäre es ein Ruf aus weiter Ferne; würden nicht in jenen Tagen die Söhne Gottes sie auch für schön gehalten haben, würde sie nicht von einem der Söhne Gottes zum Weibe genommen worden sein? Das war ein Traum, der sie ängstigte, denn sie konnte ihn nicht verstehen.
Wer waren die Söhne Gottes? War nicht Jesus Gottes eingeborener Sohn? War nicht Adam der einzige von Gott erschaffene Mensch? Und nun waren da doch Menschen, die nicht von Adam gezeugt waren. Wer waren sie denn, und wo kamen sie her? Sie mußten doch auch von Gott abstammen. Hatte Gott so zahlreiche Nachkommenschaft außer Adam und Jesus, Kinder, deren Ursprung die Kinder Adams nicht mehr erkannten? Und vielleicht hatten diese Kinder, diese Söhne Gottes nichts von der Austreibung, nichts von der Schande des Sündenfalles erfahren.
Diese kamen also freien Fußes zu den Töchtern der Menschen und sahen, daß sie schön waren, und nahmen sie zum Weibe, so daß die Weiber schwanger wurden und Männer von hohem Ruhm hervorbrachten. Das war noch ein lebenswertes Schicksal. Sie bewegte sich ganz in jenen bedeutungsvollen Tagen, als noch die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen kamen.
Auch keinerlei Vergleich der Götter- und Heldensagen untereinander konnte ihre Leidenschaft für das Wissen zerstören. Zeus wurde zum Bullen oder zum Menschen, um ein sterbliches Weib lieben zu können. Er erzeugte mit ihr einen Riesen oder einen Helden.
Schön, so war es also in Griechenland gewesen. Sie aber war kein Griechenweib. Weder Zeus noch Pan noch irgendein anderer dieser Götter, selbst nicht mal Apollo oder Bacchus durfte ihr nahe kommen. Aber die Söhne Gottes, die sich die Töchter der Menschen zum Weibe nahmen, die waren derart, daß sie auch sie zum Weibe hätten nehmen dürfen.
Sie klammerte sich an eine geheime Hoffnung, an ihre Sehnsucht an. Sie führte ein Doppelleben, eins, in dem die Tatsachen des täglichen Lebens in ihrer Unzählbarkeit alles umschlossen, ein anderes, in dem über den Dingen des täglichen Lebens die ewige Wahrheit thronte. So dringend wünschte sie, die Söhne Gottes möchten zu den Töchtern der Menschen kommen; und sie glaubte mehr an ihre Wünsche und deren Erfüllung als an die offenkundigen Tatsachen des Lebens. Die Tatsache, daß ein Mann ein Mann war, bewies noch nicht seine Abstammung von Adam, schloß mithin auch nicht aus, daß auch er einer der ungeschichtlichen, unerklärlichen Söhne Gottes war. So weit also war sie wohl verwirrt, aber noch nicht widerlegt.
Und abermals hörte sie die Stimme:
»Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Himmelreich komme.«
Aber hier wurde ihr erklärt, das Nadelöhr sei eine kleine Pforte für Fußgänger gewesen, durch die das große Kamel mit seinem Höcker und seinem Gepäck sich unmöglich hätte hindurchquetschen können: oder vielleicht hätte ein kleines Kamel es unter großer Gefahr wagen können. Denn man könne die Reichen nicht unbedingt vom Himmelreich ausschließen, hatte der Sonntagsschullehrer gesagt.
Ebenso gefiel es ihr, als sie erfuhr, in den östlichen Ländern müsse man dichterische Übertreibungen anwenden, oder niemand höre auf einen; denn die Leute aus dem Osten müßten etwas bis zum Himmel emporschwellen oder zu einem Nichts zusammenschrumpfen sehen, ehe sie den beabsichtigten Eindruck empfingen. Sofort empfand sie Zuneigung zu dem Geiste des Ostens.
Und doch behielten die Worte immer noch eine Bedeutung, die weder von ihrer Kenntnis über Torwege noch von Übertreibungen berührt wurde. Der geschichtliche oder der örtliche oder der seelische Anteil an diesen Worten waren drei ganz verschiedene Dinge. Der unerklärliche Wert des ganzen Spruches aber blieb unverändert bestehen. Was war denn nun diese Beziehung zwischen dem Nadelöhr, einem Reichen und dem Himmelreich? Was für eine Art Nadelöhr, was für ein reicher Mann, welcher Himmel? Wer konnte das wissen? Es bedeutet die unbedingte Welt und kann nie mehr als halb durch Ausdrücke der bedingten erklärt werden.
Aber mußte man denn diese Sätze auch wörtlich nehmen? War ihr Vater ein reicher Mann? Konnte er nicht in den Himmel gelangen? Oder war er nur halbwegs reich? Oder fast arm? Jedenfalls würde er es viel schwerer finden in den Himmel zu kommen, wenn er nicht all sein Hab und Gut den Armen gäbe. Das Nadelöhr würde zu eng für ihn sein. Sie wünschte beinahe, er besäße keinen Pfennig. Ging man der Sache auf den Grund, dann war eigentlich jeder reich, der nicht so arm war wie die Ärmsten der Armen.
Sie empfand Gewissensbisse, wenn sie ihren Vater in ihrer Einbildung ihr Klavier und die beiden Kühe und sein Vermögen auf der Bank an die Armen des Bezirks weggeben sah, damit sie, die Brangwens, ebenso arm wie die Wherrys würden. Und das wünschte sie sich nicht. Sie wurde ungeduldig.
»Na gut,« dachte sie, »dann wollen wir den Himmel nun mal auf sich beruhen lassen, das ist das Ganze, – jedenfalls mal diese Art Nadelöhre.« Und damit gab sie diese Frage auf. Sie wollte nicht so arm werden wie die Wherrys, um alle Bibelsprüche der Welt nicht – wie die jämmerlichen, schmutzigen Wherrys.
So wandte sie sich wieder der nicht wörtlichen Anwendung der Sprüche zu. Ihr Vater las sehr selten, aber er hatte sich eine Sammlung von Büchern mit guten, bildlichen Darstellungen zugelegt und konnte dasitzen und sie ansehen, sonderbar gespannt wie ein Kind, und doch mit einer Leidenschaft, die keineswegs kindlich war. Er liebte die frühen italienischen Maler, ganz besonders aber Giotto und Fra Angelico und Filippo Lippi. Deren große Schöpfungen warfen einen Zauberbann über ihn. Wie oft schon hatte er sich an Raffaels »Disputa« oder Fra Angelicos »Jüngstes Gericht« herangemacht oder die wunderschönen, vielgestaltigen Anbetungen der Weisen aus dem Morgenlande, und immer, jedesmal wieder hatte er sich von stufenweise steigender Freude erfüllt gesehen. Das hatte mit der Festsetzung einer ganzen, geheimnisvollen, architektonischen Art von Auffassung zu tun, die den menschlichen Körper als Einheit benutzte. Zuweilen mußte er gradezu nach Hause laufen, um vor Fra Angelicos »Jüngstes Gericht« zu treten. Die Reihe offener Gräber, die zu beiden Seiten aufgehäufte Erde, der so ordentlich darüber aufgebaute Himmel, das lobsingende Fortschreiten zum Paradiese auf der einen Hand, der stammelnde Niedersturz zur Hölle auf der andern erfüllten und befriedigten ihn. Ob er an Engel oder Teufel glaubte oder nicht, war ihm dabei ganz einerlei. Die Auffassung des Ganzen verlieh ihm tiefste Befriedigung, und mehr verlangte er gar nicht.
Ursula, die an diese Bilder von Kindheit auf gewöhnt war, stöberte nun ihre Einzelheiten durch. Sie betete Fra Angelicos Blumen, sein Licht und seine Engel an, sie hatte die Teufel gern und ergötzte sich an seiner Hölle. Aber die Wiedergabe des in der Höhe von Engeln im Kreise umgebenen Gottes wurde ihr plötzlich langweilig. Die Gestalt des Höchsten wurde ihr plötzlich langweilig und erregte ihren Zorn. War denn das der Höhepunkt, die eigentliche Bedeutung des Ganzen, diese eingemummelte, nichtige Gestalt? Die Engel waren so entzückend, und das Licht so wunderschön! Und das nur, um etwas so Nichtssagendem wie diesem Gott zur Umgebung zu dienen!
Sie fühlte sich unbefriedigt, aber noch nicht imstande, selbst zu urteilen. Sie mußte sich noch zu häufig wundern. Der Winter kam, Fichtenzweige brachen unter der Schneelast herunter, die grünen Fichtennadeln nahmen sich so reich aus auf dem Grunde. Da lief die wundervolle, schnurgrade, sternartige Fährte eines Fasans über den Schnee, klar abgedrückt; da waren die schwerfälligen Abzeichen eines Kaninchens, zwei Löcher vorn und zwei hinten; der Hase machte tiefere Eindrücke, etwas abschüssig, und seine beiden Hinterfüße kamen zusammen nieder und machten ein größeres Loch; die Katze machte ganz leichte kleine Löcher, und die Vögel Spitzenmuster.
Allmählich verdichtete sich das Gefühl von Erwartung. Weihnachten nahte. Nachts brannte in der Werkstätte eine geheime Kerze, das Geräusch verhaltener Stimmen wurde hörbar. Die Jungens lernten das alte Spiel von St. Georg und Beelzebub. Zweimal in der Woche gab es bei Lampenlicht Gesangsübungen in der Kirche, um ihnen die alten Weihnachtslieder beizubringen, die Brangwen gern hören wollte. Die Mädchen gingen auch zu diesen Übungen. Überall ein Gefühl von Geheimnis und Erregung. Jeder bereitete irgend etwas vor.
Die Zeit kam näher, die Mädchen schmückten die Kirche aus, banden mit kalten Fingern Stechpalmen und Kiefernzweige und Eiben um die Pfeiler, bis ein neuer Geist in die Kirche einzog, der Stein in dichtes, reiches Laubwerk ausbrach, die Bogen Knospen schwellen ließen und kalte Blumen sich in dem schwacherhellten, geheimnisvollen Dunstkreise erschlossen. Ursula mußte Mistelzweige über der Tür einflechten und über der Chorwand und ließ eine silberne Taube von einem Eibenzweige herabhängen, bis die Dämmerung hereinbrach und die Kirche wie ein Wäldchen aussah.
Im Kuhstall machten die Jungens sich die Gesichter schwarz für die Hauptprobe; der Puter hing tot, die gefleckten Flügel weit ausgebreitet, in der Milchkammer. Nun kam die Zeit, um Pasteten auf Vorrat zu backen.
Die Erwartung wurde immer gespannter. Der Stern war am Himmel aufgegangen, die Gesänge, die Lieder waren zu seiner Begrüßung bereit. Der Stern war das Zeichen am Himmel. Nun mußte die Erde auch ihr Zeichen geben. Je später der Abend wurde, um so rascher schlugen die Herzen in Vorahnung, alle Hände lagen voll fertiger Geschenke. Dann kamen die Worte des Gottesdienstes voll zitternder Erwartung, die Nacht war vorüber und der Morgen da, Geschenke wurden überreicht und entgegengenommen, Freude und Friede schlugen ihre Flügel in aller Herzen, laut brachen die Weihnachtslieder hervor, der Friede der Welt brach an, alle Zwietracht war vorüber, Hand schloß sich in Hand, jedes Herz war voller Gesang.
Und doch wurde er bitter, dieser Weihnachtstag, als er sich dem Abend näherte und der Nacht, er wurde eine Art Bankfeiertag, flach und abgestanden. Der Morgen war so wundervoll gewesen, aber am Nachmittag und Abend starb die hohe Freude hin wie eine im Keim erstickte Blüte, wie eine Knospe in falschem Frühlingswetter. Ach, Weihnachten war nur ein häusliches Fest, ein Fest mit Süßigkeiten und Spielzeug. Warum konnten nicht auch die Erwachsenen ihre Alltagsherzen auswechseln und sich seliger Freude hingeben? Wo war diese selige Freude?
Wie leidenschaftlich die Brangwens sich danach sehnten, nach dieser seligen Freude. Der Vater war unruhig, sein dunkles Gesicht wie verzweifelt, am ersten Feiertagsabend, weil die Leidenschaft nicht länger anhielt, weil der Tag sich wie jeder andere entwickelt hatte und die Herzen nicht länger in Flammen standen. Über der Mutter lag eine gewisse Geistesabwesenheit, wie immer, als fühlte sie sich auf Lebenszeit in die Verbannung ausgestoßen. Wo war das Herz, das vor Freuden brannte, nun die Zeit erfüllet war; wo war der Stern, wo das Entzücken der Weisen, der Freudenschauer über das neue Leben, der die Erde in ihren Grundfesten erschütterte?
Und doch war er noch da, wenn auch noch so schwach und unangemessen. Der Kreislauf der Schöpfung durchlief immer noch das Kirchenjahr. Nach Weihnachten sank die Freude allmählich und veränderte sich. Sonntag folgte auf Sonntag, in kaum wahrnehmbarer Bewegung bahnte sich eine feine Umgestaltung in den Herzen seiner Hausgenossen an. Das von Freuden geschwellte Herz, das den Stern gesehen hatte und ihm bis in die innersten Mauern der Geburtsstätte gefolgt war, dem dort in dem großen Licht die Sinne geschwunden waren, das mußte nun fühlen, wie das Licht sich ihm langsam entzog, wie ein Schatten herabsank und es dunkel wurde. Ein Schauder kroch über die Erde, Schweigen kam über sie, und dann wurde alles Finsternis. Der Vorhang im Tempel zerriß, ein jedes Herz gab seinen Geist auf und sank tot danieder.
Ruhig gingen sie umher, eine leichte Blässe auf den Lippen der Kinder, am Karfreitag, weil sie den Schatten auf ihren Herzen fühlten. Dann kamen die Lilien der Auferstehung, blaß, mit Totengeruch, die ein kaltes Licht verbreiteten, bis der Tröster herabgesandt ward.
Wozu aber dies Gedenken an Wunden und Tod? Sicherlich fuhr doch Christus mit heilen Händen und Füßen empor, gesund und froh und stark? Sicherlich waren doch nun Kreuzigung und Grab vergessen? Aber nein – immer dies Gedenken an Wunden, immer dieser Geruch von Leichengewändern? Die Auferstehung war in diesem Kreislauf nur eine Kleinigkeit, verglichen mit dem Kreuz und dem Tode daran.
So durchlebten die Kinder das Jahr der Christenheit, das Heldengedicht der Menschenseele. Jahrein, jahraus vollzog sich dies Schauspiel in ihnen, ihre Herzen wurden geboren und kamen zur Erfüllung, sie litten am Kreuze, gaben ihren Geist auf und erstanden wieder zu unzählbaren Tagen, unermüdet, da sie in ihrem zerzausten, widerspruchsvollen Leben doch wenigstens diesen Schwung von Ewigkeit besaßen.
Aber nun wurde dies Schauspiel zu einem rein handwerksmäßigen Vorgang: Geburt zu Weihnachten für den Tod am Karfreitag. Am Ostersonntag war das Schauspiel so gut wie abgeschlossen. Denn die Auferstehung war nur schattenhaft und lag unter dem Einfluß des Todes, die Himmelfahrt war kaum bemerkbar, sie war fast lediglich eine Bestätigung des Todes.
Was war die Hoffnung und die Erfüllung? Ja, war es vielleicht nichts als ein nutzloses Nach-dem-Tode, ein bleiches, körperloses Nach-dem-Tode? Ach und abermals ach über die Leidenschaft des Menschenherzens, das so lange vor dem leiblichen Tode schon sterben muß!
Denn aus dem Grabe, nach dem Leidenswege und der Angst der Prüfungszeit stand der Körper verstümmelt und kalt und farblos wieder auf. Hatte Christus nicht gerufen »Maria!«, und als sie sich mit ausgestreckten Händen nach ihm umwandte, hatte er da nicht rasch hinzugefügt: »Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.«
Wie konnten sich da die Hände freuen oder das Herz froh werden, wenn sie sich so zurückgestoßen sahen! Ach, über die Auferstehung des toten Leibes! Ach, über die in schwachem Schimmer schwankende Gestalt des auferstandenen Christus! Ach, über die Himmelfahrt, die nur ein Schatten im Tode ist, ein endgültiges Entschweben!
Ach, daß das Schauspiel so bald vorüber ist; daß unser Leben mit dreiunddreißig bereits zu Ende; daß für die Hälfte des Jahres die Seele kalt und ohne Geschichte ist! Ach, daß der auferstandene Christus unter uns keine Stelle hat! Ach, daß das Gedächtnis an den Leidensweg durch Angst und Tod und Grab immer noch den Sieg über die bleiche Tatsache der Auferstehung davonträgt!
Warum aber? Warum soll ich nicht mit heilem, vollkommenem Leibe, voll starken, leuchtenden Lebens auferstehen? Warum soll ich, wenn Maria »Rabbuni« sagt, sie nicht in die Arme schließen und sie küssen und an mein Herz drücken dürfen? Warum ist der auferstandene Körper tödlich und so abstoßend mit seinen Wunden?
Die Auferstehung ist zum Leben, nicht zum Tode. Werde ich nicht die, die auferstanden sind, wiederum hier auf Erden wandeln sehen, vollkommen an Seele und Leib, gesund und froh im Fleische, lebend im Fleische, liebend im Fleische, Kinder erzeugend im Fleische, endlich zur Einheit gelangt, vollkommen ohne Narben oder Gebrechen, gesund ohne Furcht vor Krankheit? Kommt nicht die Zeit der Mannheit und der Freude und der Erfüllung nach der Auferstehung? Wer könnte wohl als Auferstandener noch von Tod und Kreuz überschattet werden, und wer wollte sich vor dem geheimnisreichen, vollkommenen Fleische fürchten, das des Himmels ist?
Darf ich denn nicht in Fröhlichkeit über diese Erde dahinwandeln, da ich doch auferstanden bin von allen Ängsten? Darf ich nach meiner Auferstehung nicht glücklich mit meinen Brüdern essen, mit Freuden meine Geliebte küssen, meine Hochzeit im Fleische mit Festen feiern, voll Eifers meinen Geschäften nachgehen, zur Freude meiner Gefährten? Ist der Himmel denn ungeduldig über mich und erbittert gegen die Erde, daß ich von dannen eilen müßte oder bleich und unberührt hier herumlungern sollte? Ist das gekreuzigte Fleisch für die Massen auf der Straße zu Gift geworden, oder ist es eine starke Fröhlichkeit und Hoffnung für sie, wie die erste Blume, die sich aus dem Mutterboden der Erde hervorhebt?