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Um dies deutlich zu machen, will ich einige Versuche vorlegen. Mit einem Profile, und einem ganzen Gesichte.
Ich nehme das Profil des Montesquieu, nach Daciers Medaille.
Ich fange bey dem Ganzen des Kopfes an, und sage: er ist überhaupt proportionirt; der Totaleindruck ist sehr vortheilhaft für den Geist; (dies muß jeder sehen, der auch nur ein wenig Beobachtungsgeist hat, wenn er auch in seinem Leben kein Wort von Montesquieu gehöret hätte) die Stirne ist schief; der Winkel, den sie mit einer Perpendicularlinie, in dieser natürlich scheinenden Stellung des Kopfes macht, ist wohl in die dreyßig Grade; oben gegen die Haare ist sie stark zurück gewölbt; nicht runzlicht; nicht fleischicht, sondern gespannt und beinicht; bey den Schläfen ist sie ein wenig eingedrückt; die Augenbraunen scheinen nicht sehr haarreich; doch gegen die Nase etwas dachförmig, gleich gestrichelt; unten an der Stirne, bey der Wurzel der Nase ist ein mittelmäßiger Eindruck; unter den Augenbraunen, über dem obern Augenliede eine merkliche Vertiefung.
Das Auge ist über die Hälfte offen; das obere Augenlied ist ungefähr so breit als das Auge; hinten am obern Augenliede sind einige Falten; der Stern im Auge ist im Profile merklich, und hinter sich stehend; der Augenmuskel unter dem Auge hat drey merkliche Falten, wovon die äußerste mit dem untern Umrisse des obern Augenliedes beynahe einen halben Zirkel ausmacht.
Die Nase hat die Länge der Stirne; sie läuft, den Eindruck bey der Wurzel ausgenommen, fast in einer Linie mit der Stirne fort; in der Mitte hat sie eine kaum merkliche flache Einbiegung; unten ist sie ziemlich rund und weit hervorstehend; das Nasloch ist lang und offen; das Nasläppchen unterher fein, und nicht stumpf; die Einbiegung davon geht kaum bis auf die Hälfte der Nasbreite; der untere Umriß unter dem Nasenloch ist bis an die vördere Wölbung ziemlich horizontal, und macht mit dem Profile der obern Lippe beynahe einen rechten Winkel aus; die Wangenfalte von der Nase gegen den Mund ist etwas scharf, und beynahe bis gegen den Mund zu flach; die Oberlippe ist flach gewölbt, nicht muskulös; die Lippen scheinen ziemlich fest aufeinander zu liegen; keine ragt über die andere hervor; sie sind nicht hoch, nicht fleischicht; stehen nicht ganz horizontal; lenken sich am Ende eher ein wenig gegen das Auge.
Die untere Lippe bis zum Kinn ist nicht so lang als die obere; gegen das Kinn etwas eingebogen, und unterscheidet sich vom Kinne durch einen sanften gegen den Winkel der Lippen sich hinauflenkenden Einschnitt.
Das Kinn selbst ist nicht viel hervorstehend, nicht spitzig, auch nicht sehr fleischicht, macht ungefähr den Drittheil eines nicht völligen Zirkels aus.
Der Punkt, wo das Unterkinn anhebt, ist merkbar; das Unterkinn selbst aber ist nicht fleischicht, auch beynahe ganz flach im Umrisse; wenn von dem Punkte, wo sich der Hals anzuheben scheint, eine Horizontallinie gezogen würde, so möchte der Winkel vom untern Umrisse des Kinnes ungefähr zwanzig Grade seyn.
Der Hals ist weder lang noch kurz, weder dick noch dünne, von vorne nur ein wenig ausgebogen; die Gurgel kaum merkbar; aber merkbar, breit, und doch nicht unsanft ist der lange Seitenmuskel am Halse vom Ohr gegen die Brust (Musculus colli lateralis); hinten ist der Hals eingebogen; der Umriß der ganzen Hirnschale von der Stirne zum Nacken macht etwas mehr als die Hälfte eines Zirkels aus, und ist also hinten sehr merklich hervorstehend; ein Umstand, der mich sehr aufmerksam macht, weil er durch die Lage und Größe des großen und kleinen Gehirns bestimmt wird.
Das Ohr ist breit, läuft mit dem untern Umrisse der Nase, und dem obern Augenliede ungefähr parallel.
Die Muskeln am Kinnbackenbein (Musculi maxillares inferiores) sind merkbar. Die Backen unter dem Jochbein ein wenig hohl.
Man kann nicht glauben, wie sehr die Kenntniß der Physiognomien durch eine solche Beschreibung zunehmen muß; wie sehr sich das Auge des Beobachters dadurch schärft und übet; wie stark der Eindruck dadurch wird.
Wenn ich nun nichts von Montesquieu wüßte, und sein Angesicht auf diese Weise beobachtet hätte, so würde ich erst die Methode der Ausschließung bey der Beurtheilung desselben anwenden. Ich würde zum Exempel sagen: so sieht kein Dummkopf aus; dies Gesicht ist nicht das Gesicht eines Blöden, Seichten, Trägen; nicht eines Traurigen, Melancholischen; nicht eines Flüchtigen, Furchtsamen.
Aber es macht den Eindruck von Kühnheit, Lebhaftigkeit, Aufmerksamkeit; es ist etwas festes, männliches, nervöses, feines, gesetztes, überlegtes darinn.
Diesen Eindruck muß es sogleich auf jedem Auge würken. Vermuthlich, weil es uns dunkle Aehnlichkeiten mit Leuten darstellt, an denen wir durch Erfahrung und Umgang dergleichen Eigenschaften bemerkt haben.
Allein nun gehe ich Theil für Theil durch, und jeder einzelne Theil fängt an, mir für sich selbst charakteristisch zu werden, und wenn ich so sagen darf, jeder giebt zu dem großen Quantum von Geist, welcher sich in diesem Gesichte ausdrückt, seinen mehr oder minder beträchtlichen Beytrag. Ich finde keinen Zug, den ich der Dummheit verdächtig halten dürfte.
Nun laßt uns auch ein Gesicht von vorne her betrachten. Aber dabey wird vor allen Dingen anzumerken seyn, daß es erstlich weit schwerer ist, den vördern Theil des Gesichts, als das Profil zu beschreiben; eben so wie es größtentheils auch schwerer ist, dasselbe zu zeichnen. Zweytens, daß das Anschauen des Mahlers, und folglich die Activität der Muskeln, wenn sich jemand mahlen läßt, uns statt des natürlichern Zustandes größtentheils etwas gezwungenes, steifes, oder gespanntes darstellt; welches bey dem Profile selten wiederfährt, wo der, welcher sich zeichnen läßt, größtentheils eben darum, weil ihn das Auge des Mahlers nicht regiert, natürlicher und freyer schaut.
Laßt uns die Hauptzüge an Newton bemerken. Ein länglicher, fast cylindrischer Kopf, von einer mehr fleischichten als beinichten Art; der sich in meinen Augen sogleich durch die genaue Proportion ausnimmt, indem von der Stirne bis oben an die Augenbraunen, von diesem Punkte bis unten an die Nase, und von da bis unten ans Kinn, dieselbe Weite ist. Die Stirne ist hoch, über den Augenbraunen etwas hervorstehend, bey den Schläfen ein kleiner Bug oder Eindruck.
Die Augenbraunen sind haarreich und dachförmig.
Die Augen genau in der Mitte des ganzes Kopfes, hinter dem Vordache; das obere Augenlied fast so breit sichtbar als das Auge; einige kleine Falten sind hinten dran; das untere Augenlied ist merkbar; die Nase groß, etwas breit, nicht spitzig, knorpelicht und fleischicht; das Nasloch ziemlich weit; das Läppchen geht nur bis an die Mitte der Breite, und ist hinten gegen die Backen viel höher als gegen die Spitze der Nase; die obere Lippe hat ein kegelförmiges Grübchen; die Lefzen sind fleischicht, breit, und würden wahrscheinlich im Profile nicht vor oder zurückstehen, aber in der Mitte gleich einem Winkel eingeschnitten scheinen; unter der untern Lefze sind einige Falten, welche beynahe zufällig zu seyn scheinen; das Kinn ist breit, etwas hervorstehend, muskulös; das Unterkinn uneben, auf der rechten Seite niederhängend, und der Umriß davon bis zum Ohr wellen- oder schlangenförmig; die Haare scheinen weich, fein, wallend. Der Totaleindruck ist für jedermann von Ernsthaftigkeit, Nachdenken, und Weisheit.
Auch dieses Gesicht präge ich mir also ein. Und dann fahre ich so von einem zum andern fort, und finde die augenscheinlichsten Verschiedenheiten; daß folglich jede Art von Genie sich auf eine eigene und besondere Weise ausdrücken kann. Ich bemerke mir aber vornemlich die Aehnlichkeiten; und frage mich: welchen Zug oder welche Züge haben unter zwanzig Genies, die ich vor mir sehe, die meisten mit einander gemein? und ich finde zum Exempel dies Aehnliche in dem Stirnbeine, unter den Augenbraunen, oder in der tiefen Eingebogenheit oben am obern Augenliede, so zeichne ich mir diese Beobachtungen besonders aus; halte sie aber deswegen noch lange nicht für absolute und in jedem Falle entscheidende Merkmale eines vorzüglichen Verstandes. Ich gehe nun wieder zu den Menschen. Ich wende meine Beobachtung an; ich finde sehr viele Verständige, die dieses Merkmal nicht haben; und schließe also, daß das nicht das einzige Merkmal des Verstandes ist. Ich bemerke, zweytens, daß beynahe alle, die dieses Merkmal haben, verständig sind; daraus schließe ich, daß es, wenn gleich nicht das einzige, dennoch ein sehr gemeines und ziemlich zuverläßiges Merkmal des Verstandes sey. Ich finde drittens einen Thoren, der eben dieses Merkmal, aber auch zugleich Merkmale der Thorheit hat und schließe also: dieses Merkmal ist nicht das einzige, aber dennoch ein gemeines ziemlich zuverläßiges Merkmal des Verstandes, wenn keine entgegenstehende oder offenbar widersprechende Züge vorhanden sind.
Hier habe ich also wenigstens eine hypothetische Regel, die freylich durch neue Beobachtungen, immer mehr berichtigt, eingeschränkt und verfeinert werden muß.
Ueber Schattenrisse.
»Ich befinde mich daher weit besser bey einer geflissentlich zu diesem Zwecke verfertigten Sesselrahme; wo der Schatten auf ein Postpapier, oder besser, ein zartgeöltes und wohlgetrocknetes Papier fällt; wo man den Kopf und den Rücken fest anlehnen kann; der Schatten fällt aufs Oelpapier, dieß liegt hinter dem reinen flachen Glase, mit einer gevierten Rahme festgedrückt, die vermittelst einiger kleinen Schiebergen los und festgemacht werden kann.«
Um mich noch mehr zu üben, stelle ich mich vor die Bildnisse solcher Männer hin, deren Charakter oder Name mir unbekannt ist. Ich betrachte sie, messe sie, gehe weg, und komme wieder, und bediene mich dann wieder des in tausend Fällen so brauchbaren, und dennoch so wenig gebrauchten logischen Kunstgriffes, der Ausschließungsmethode. Ich fange an zu sagen, dieses Gesicht hat nichts blödes, zaghaftes, seichtes; nichts boshaftes, neidisches, argwöhnisches; nichts verschlagenes, zweydeutiges, und schiefes; nichts, nun fehlen mir Worte zu mehrern nichts. Ich sehe also, daß ich mir allererst noch einen größern Vorrath von nüancirten Worten erwerben, daß ich eine reichere Sprache haben muß, und mehr charakteristische Zeichen.
Ich gehe also meine ganze Sammlung von Bildnissen wieder durch, und entwerfe allererst einen Nomenclator von allerhand Mienen, Affecten, Neigungen. Ich setze nach einander unter die Rubrik Geist die Wörter: tiefer Scharfsinn, Genie, Erfindungskraft, Beobachtungsfertigkeit, Feinheit, Heiterkeit, Feuer, Lebhaftigkeit, Schnelligkeit, Weisheit, Klugheit, Bedächtlichkeit, mittelmäßige Einsicht, vermischte Fähigkeit, Langsamkeit, Schwachheit, Seichtigkeit, Dummheit, Narrheit, Sinnlosigkeit, Tollheit. Ich bringe unter die Rubrik des Herzens: allgemeinste Güte, Großmuth, Menschenliebe, Freundlichkeit, Leutseligkeit, Bonhommie, Sanftmuth, Demuth, Bescheidenheit, Zufriedenheit, Andacht, Inbrunst, Gottesliebe, Selbstverleugnung, Gelassenheit, Gedult, Friedensliebe, Aufrichtigkeit, Treuherzigkeit, offnes Wesen, Natürlichkeit, Ungezwungenheit, Ruhe, Leidenschaftlosigkeit, Festigkeit, Standhaftigkeit, Herzhaftigkeit, Entschlossenheit, Heldenmuth, Unüberwindlichkeit, Unermüdlichkeit, Eigensinn, Hartnäckigkeit, Rauhigkeit, Wildheit, Bosheit, Argwohn, Neid, Stolz, Hochmuth, Eitelkeit, kindisches Wesen, Gleichgültigkeit, Leichtsinn, Unempfindlichkeit,. Hartherzigkeit, Unbarmherzigkeit, Grausamkeit, Unmenschlichkeit, Falschheit, Verstellung, Bitterkeit, Feindseligkeit, Rachsucht, Unversöhnlichkeit, Geiz, Diebsucht, räuberisches Wesen, Mordlust, Blutdurst, Schadenfreude, Schalkheit.
Ich durchgehe die Wörterbücher, die Sittenlehren, die Schriften der Menschenkenner, der Philosophen, nur um mein Register von Charakteren groß zu machen, und mit vielen Nüancen zu versehen. Mit diesen gehe ich dann erst wieder zu meinen Bildnissen hin, deren Originale mir unbekannt sind; ich lege sie auf die Wage, zähle meine nicht dies, nicht jenes beyseite, bis ich die Charaktere treffe, die sich für das Bildniß passen. Alsdann schlage ich in der Geschichte, und wo möglich in den Schriften oder Werken dieser Männer nach, und erkundige mich so genau als möglich um ihren intellectuellen und moralischen Charakter. Nun, wenn ich diese weiß, kehre ich wieder zu meinen Bildnissen zurück, und vergleiche, und suche den Hauptsitz eines jeden Ausdrucks wieder durch den Ausschließungsweg aus; ich vergleiche die Bildnisse mit mehrern, diese mit Lebenden.
Ich bediene mich noch eines andern Mittels. Oft zeichne ich nach der Natur, und gewinne auf diese Weise die vortrefflichste Gelegenheit zum Beobachten und Abmessen lebendiger Gesichter, und des ganzen Aeußerlichen. Bisweilen zeichne ich auch Profile oder Vordertheile des Gesichts auf ein bloßes Gerathewohl, und finde sodann manchmal, wenn ich mein Register dagegen halte, die charakteristischen Züge, die ich suche. Ich übe mich, um noch weiter zu kommen, Gesichter und menschliche Figuren nach Aufgaben, die ich mir selber mache, zu zeichnen. Ich gebe es mir auf, einen schlauen, einen geraden, ehrlichen, einen hochverständigen, und einen blöden Kopf neben einander zu zeichnen; und so gelänge ich endlich zur Classification; welche in meinem Kopfe Tag, und in meinem Gedächtnisse Platz macht. Insonderheit suche ich bey dieser Classification, die festen, beständigen, unverstellbaren, und dann die weichen Theile, die stille Lage, die Bewegung der Muskeln, die zufälligen, die beständigen Falten wohl von einander zu sondern.
Ich nehme die Beobachtung anderer zu Hülfe, ich lege ihnen meine Bildnisse, meine Zeichnungen vor; sie urtheilen; sie haben Ausdrücke, die ich nicht habe, und die passender sind als die meinigen; sie bemerken was ich nicht bemerket habe; ich lehre sie, und lerne noch mehr von ihnen. Und so gelänge ich endlich zu einer ziemlich ausgebreiteten und immer zuverläßigern Kenntniß, welche sich um so viel mehr erweitert, je mehr ich mit Menschen umgehe, beobachte, vergleiche, und das ganze Aeußerliche, und die Handlungen, Worte, und Leidenschaften des Menschen zusammen nehme.