Johann Caspar Lavater
Von der Physiognomik
Johann Caspar Lavater

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Dritter Abschnitt.

Von dem Nutzen der Physiognomik.

Nachdem wir die Würklichkeit der Physiognomik dargethan zu haben glauben, so wird es Zeit seyn, auch ein paar Worte von dem Nutzen dieser Wissenschaft zu sagen.

Ist es nicht ausgemacht, daß der Umgang mit den Menschen das erste ist, was uns in der Welt aufstößt; der Mensch ist berufen, mit Menschen umzugehen. Kenntniß des Menschen ist die Seele des Umgangs, das, was den Umgang lebendig, angenehm, und nützlich macht; und etwas, das auf einen gewissen Grad einem jeden Menschen schlechterdings unentbehrlich ist. Ich rede nemlich von derjenigen Kenntniß des Menschen, die von den freywilligen Entdeckungen der Vertraulichkeit nicht abhängt.

Die Wörter: Staatsmann, Seelsorger, Prediger, Arzt, Kaufmann, Freund, Wohlthäter, Hausvater, Ehegenosse, darf ich nur aussprechen, um einen jeden, der sie höret, sogleich zu überzeugen, daß es eine sehr vortheilhafte, ja unentbehrliche Wissenschaft für einen jeden sey, aus dem Aeußerlichen des Menschen seinen Charakter erkennen zu können; wenigstens diejenige Seite davon, mit welcher man es zu thun hat. Ich bin auch überzeugt, daß wenn alle Physiognomik, wovon mancher ohne es selbst zu wissen so viel besitzt, (ich meyne, die deutliche sowohl, als die confuse) aus der Welt auch nur einen Tag herausgehoben werden könnte, viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menschheit sind, würden unterlassen werden; und daß unsere Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrscheinlichkeiten beruht, bey allem, was wir unmittelbar mit den Menschen zu thun haben, unendlich geschwächt und wankend gemacht werden würde.

Neun erdichtete Silhouetten zur Prüfung des physiognomischen Genies.
»1. Ein guter brauchbarer Geschäfftsmann, von gemeinem Verstande, ohne starke Leidenschaft.«

Die gute Physiognomie eines Menschen ist für den Kenner eine der besten Empfehlungen, und ich mache mir kein Bedenken zu sagen, eine der sichersten, die Gott ihm selbst angehängt, oder aufgedrückt hat; die das Herz zugleich einnimmt, und mit Freude und Liebe erfüllet.

Die Physiognomik ist eine Quelle der feinsten und erhabensten Empfindungen; ein neues Auge, die tausendfältigen Ausdrücke der göttlichen Weisheit und Güte zu bemerken, und den anbetungswürdigen Urheber der menschlichen Natur, der so unaussprechlich viel Wahrheit und Harmonie in dieselbe gelegt hat, in neuen Liebenswürdigkeiten zu erblicken. Wo das stumpfe und ungeübte Auge der Unaufmerksamen nichts vermuthet, da entdeckt das geübte des Gesichtskenners unerschöpfliche Quellen des geistigsten, sittlichsten, und zärtlichsten Vergnügens. Nur er versteht die schönste, beredteste, richtigste, unwillkührlichste und bedeutungsvolleste aller Sprachen, die Natursprache des moralischen und intellectuellen Genies; die Natursprache der Weisheit und Tugend. Er versteht sie im Angesichte derjenigen, die selbst nicht wissen, daß sie dieselbe sprechen; er kennet die Tugend, so versteckt sie immer seyn mag. Mit geheimer Entzückung durchdringt der menschenfreundliche Physiognomist das Innere eines Menschen, und erblickt da die erhabensten Anlagen, die sich vielleicht erst in der Ewigkeit entwickeln werden. Er trennt das Feste in dem Charakter von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufälligen. Er beurtheilt den Menschen nach ihm selbst, und nicht nach seinen äußern Verzierungen.

Die Physiognomik verschwistert Herzen und Herzen; sie stiftet die dauerhaftesten und edelsten Freundschaften; sie erhöhet das Vergnügen des Umganges; sie sagt dem Herzen, wo es reden und schweigen, warnen und ermuntern, trösten und strafen soll.

Sie ist zu der Erziehung der Kinder oder Lehrlinge schlechterdings unentbehrlich. Denn sie zeigt mehr, als alle Handlungen und Worte; sie zeigt die intellectuellen und moralischen Anlagen.

Aber ja, verhehlen wollen wir es auch nicht, sie ist in einem bösen Herzen das Schwert eines Rasenden; eine Quelle von teuflischem Argwohn. Mit einem Worte, sie kann, wie jede andere Wissenschaft, gemisbraucht, und mehr als hundert andere Wissenschaften dem Besten des menschlichen Geschlechtes, der Tugend und der Religion, geheiligt werden.


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