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Die weiße Flügelhaube Josephas bewegte sich durch die Räume des verwaisten Hauses, wie sie es seit vielen Jahren getan hatte.
Seit dem Ausgang der Elisabeth Wandscherer hatte sich nichts im Tun und Lassen der Betagten geändert. Gewissenhaft folgte sie deren Befehlen und Anordnungen. Nicht um Haaresbreite wich sie davon ab. Sie diente Raban, wie sie der geliebten Herrin gedient. Sie betreute ihn, wie sie diese betreut hatte. Nichts änderte sie. Die Schildereien an den Wänden blieben an der nämlichen Stelle. Kein Stuhl wurde gerückt, keine Truhe in eine andere Ecke geschoben. Mit linder Hand spreitete sie das Bett der Heimgesuchten, wie sie es immer gespreitet hatte. Sie begnügte sich mit dem Wenigen, was ihr von Staats wegen zugeteilt wurde, und das beste davon ließ sie dem Erbmann zukommen, ohne daß dieser es wußte. Sie lebte ihr Leben, wie sie es vor Gott und ihrem Gewissen verantworten konnte, und gedachte tagtäglich der geliebten Herrin auf den Knien und mit bitterem Weinen.
Nein, nicht das Geringste hatte sich im Patrizierhause im Kirchspiel über dem Wasser geändert, nicht so viel, daß man davon eine Schwalbe hätte aufscheuchen können. Nur der großen Standuhr in der Eingangshalle war wieder der frühere Odem gegeben. Der schwere Perpendikel bewegte sich aufs neue mit der Würde eines päpstlichen Legaten, der mit seinen Palafrenieren daherkam, sich wohlfühlend in der eigenen Würde und Machtbefugnis, gemessen und feierlich, ohne dabei mit seinem sonoren Auf und Nieder innezuhalten.
Unter diesem einförmigen Klopfen und Pochen schaffte Josepha, sorgte sie, erhoffte sie eine Wendung der Dinge, ein Wiedersehen mit der Gekrönten in Sion, ein sanftes Schreiten in die immer stärker werdende Helle des ewigen Lichtes.
Der Mönch und ich sahen das alles, sahen die weiße Flügelhaube unermüdlich durch die Gänge des räumigen Hauses einherschaukeln und sahen noch manches, das uns die Sinn verkehrte.
Es zwinkerte noch. Der Tag verstreute sein letztes Feuerspielen über die Erde. Der große Flieder atmete Weihrauch bei Weihrauch, beglückte den Abend und kräuselte ein zartes Wölkchen in das offene Fenster der Kammer, das Raban seit dem furchtbaren Tage innehatte.
Er saß bei der Lampe, und Schweigen umgab ihn.
Neben ihm lagen die Werke des großen Duns, des Schotten, unter anderen die Kommentare zu den biblischen Büchern, die zu den Sentenzen des Petrus Lombardus und die heftigen Ausfälle, die er gegen Thomas von Aquino und die Thomisten geschrieben, vor ihm des wackeren Hermann von dem Busche ›Vallum humanitatis‹, ediert bei dem geschickten Herrn Quentel Unter vier Winden in der Stadt der heiligen drei Könige.
In diesem hatte er fleißig gelesen, schon Stunde um Stunde, mit heißer Inbrunst, mit pochenden Fibern, nicht um sein Wissen zu mehren, ihm die letzte Feile zu geben, vielmehr aus dem unwiderstehlichen Drange heraus, sein rauschendes Blut zu beschwichtigen, es geruhsamer und stiller zu machen.
Das Haupt gestützt und müde der Arbeit, sah er über die Schriften fort in den laulichen Abend hinaus, den schon hier und da einzelne Sternchen durchstichelten.
Die brutalen Schicksalsschläge hatten sein Aussehen um vieles geändert. Eine stetige Gedankenflucht durchmarterte ihn, durchfurchte ihm Stirn und Schläfen, krönte ihn mit Dornen, heftete ihn tagtäglich an das Holz der Qualen, durchstieß ihm die Seite, und als er eines Morgens sein Bild in der Spiegelscheibe betrachtete, wurde er bleich wider Willen.
Er sah nochmals hinein, und ein heiseres Lachen durchgellte die Kammer, denn siehe: ein weißer Streifen, kreidig wie die gekälkte Wand, zog sich ihm von der linken Schläfe bis zur Mitte des Schädels.
Da wandte er sich, und sein Sinn sann auf Rache.
Noch desselbigen Tages ging er zur Torburg.
Er stand nicht auf seiten des Bischofs, aber jetzt erhoffte er den Sieg seiner Waffen. So nur war das Heil zu erwarten, das geliebte Weib aus den Krallen des sakrosankten Tigers herauszuschälen – mochte kommen, was wollte: er hatte mit dem Infulträger zu sprechen.
So ging er, mit seinem Freipaß versehen, zur Ägidiitorburg, pochte dort an und begehrte freie Fahrt zu seinem Erbe und Eigen.
Der Hauptmann jedoch, der an Stelle des ehrenreichen Schacht von Delfingen die Schanze befehligte, zuckte die Achseln und bedeutete ihm: »Seit gestern: was binnen den Mauern der Stadt ist, bleibt binnen den Mauern, sieht den endgültigen Aufstieg und Glanz des neuen Tempels oder geht mit ihm unter. Euer Freipaß ist nichtig. Erbmann, ich kann Euch nicht helfen, so gern ich es täte, denn täte ich es, grinste mit der Morgenfrühe mein Kopf von der höchsten Stange ins bischöfliche Feldlager, und das wäre denn doch ...«
»Nein«, sagte Raban. »Aber ich danke Euch, Hauptmann.«
Er wandte sich um und um, und groß Trauern kam ihn an.
Sein Blut rauschte ihm so mächtig zu, daß selbst das Geheul der Viertelskartaunen und Wallbüchsen es nicht einschläfern konnte, so heftig setzte das Feuer ein, als hätte der Hexenkessel des Fliegenfürsten über Stadt und Feld geschwefelt, um alles niederzuflammen, was in der Umgebung der Wälle noch unangefochten in die verschiedenen Läger des Bischofs hineintrotzte.
Er fühlte, auch die letzten Reserven versagten.
Sein Fuß wurde schwer.
Sein Herz drohte auseinanderzureißen.
Die abgemagerten Hände krumpften sich ein mit den müden Krampfversuchen eines Leprosen.
»Nichts mehr!«
So zerklirrte ihm ein Kristall zwischen den Fingern, aus dem er die spärlichen Tropfen einer vagen Hoffnung zu schlürfen gedachte.
Eine ungeheure Wand stellte sich auf.
Ein Hinüber gab es nicht mehr, und er war nahe daran, sich dem Magister sacri palatii zu verschreiben, sich das weiße Gewand der Dominikaner mit der düsteren Kapuze um den abgemergelten Körper zu legen. Er dachte daran, ja, er dachte daran, und seine Lippen stammelten: »Geliebte, Geliebte! O du, mein Weib – du! Du – eine Lilie im Tal, eine Rose in der Ebene von Saron! und nunmehr entblättert, von ekelhaften Händen zerpflückt und fern dem Erlöser und seinem Erbarmen!«
Seit diesem Tage saß er über den Büchern, laß er die Werke Duns, des Schotten, vertiefte er sich immer verzweifelter in des wackeren Hermann von dem Busche ›Vallum humanitatis‹, willens, das Vergessen zu suchen und doch außerstande, dieses heißersehnte Vergessen finden zu können.
Nur das Grauen um ihn, das gleichmäßige und ewige Auf- und Niedergehen der Sterne, der aufdringliche Ruch nach Firnis, das monotone Näseln von erlöschenden Sterbekerzen. –
Immer stärker atmete der Flieder im Krautgärtlein seinen Weihrauch aus, immer nachhaltiger legte sich die Hand des Geschickes auf die Schulter des Verzweifelten.
Der lauliche Abend mit seinen pyrotechnischen Künsten hatte ihm nichts mehr zu sagen.
Seele und Gedanken waren dem Verlöschen nahe.
Da war es ihm so, als würde zaghaft gegen die Türe geknöchelt.
»Herein!« sagte er müde.
Die bleiche Flügelhaube der Schaffnerin drängelte vor.
Dann trat sie selber auf weichen Schuhen ins Zimmer.
»Was bringt Ihr, Josepha?«
»Herr, daß ich's man sage: jemand steht draußen.«
»Nachricht von ihr?«
»Ach, wenn es so wäre! Ich täte ihr mit tausend Lichtern den Eingang erhellen, ihn froh und freudig machen, denn sie liebte ja so die freudigen und frohen Lichtlein. Nein, Herr, aber einer möchte Euch sprechen.«
»Wer ist's denn?«
»Meiner Schwester Kind. Hat graue und dumpfe Tage hinter sich, obgleich sein Handwerk ein gesegnetes war.«
»Wo schafft er?«
»Er hat sein eigen Gewerk als Schreiner und Zimmermann am Eingang zum Honekamp und in hiesiger Leischaft gelegen.«
»Wie heißt er?«
»Heinrich Gresbeck. Auf sein Wort kann unsereins das Brot des Herrn essen und das Blut seines Bechers trinken.«
»Warum weint Ihr, Josepha?«
»Er wird es Euch sagen.«
»So laßt ihn kommen.«
Da ging die Alte und ließ Heinrich Gresbeck ins Zimmer treten ... und der da eintrat, war ein Mann in den besten Jahren, helläugig, ähnlich wie die Dohlenvögel es sind, und mit dem Gehabe eines offenen und freigeborenen Bürgers, wenn auch schmerzdurchpflügt und mit einem stumpfen Messer durchrissen.
Der nun trat näher in seinem Eisenbrüstling und sagte: »Vergelt's Gott, daß Ihr mich anhören wollt. So bin ich nicht vergebens gekommen.«
»Gresbeck, Ihr seid Anabaptist?«
»Und seid es noch heute?«
»Mit Ausmaß.«
»Erklärt mir.«
»Herr, ich habe nicht auf linden Kissen geschlafen, bin nicht auf Sohlen gegangen, die ins Paradeis führten. Es heißt wohl: immerwährendes Dulden erspart einem das Fegfeuer. Ich glaub' nicht mehr dran, 'ne überjährige Eselstute gibt keine Fohlen mehr her«, und nun erzählte er, wie er auf Wanderschaft gewesen, sich mit Winkelmaß und sonstigem Gerät weiterzubilden, wie er heimgekehrt und zu Beginn des Wiedertäuferreiches ein ehrsames Mädchen geheiratet habe. Des ferneren: wie er fünfzehn lange Monde hindurch an den Freuden und Leiden der neuen Gemeinde Christi teilgenommen und nunmehr als Spießknecht auf der Kreuzschanze, nicht fern der Jüdenfeldertorburg, stände, um dort nächtlicherweise Wacht und Runde zu machen.
»Und weiter?« fragte der Erbmann.
»Herr, die Nacht vor der Geburt Johannes des Täufers ist nahe.«
»Was heißt das?«
Da begann es in den Augen des Mannes im Eisenbrüstling zu flinzeln.
»Herr, in dieser Nacht soll sich Großes begeben.«
»Gresbeck, ich verstehe Euch nicht.«
»Ihr werdet es, Erbmann. Um Euch das auseinanderzusetzen, dazu muß ich einen langen Atem aufbringen, denn es muß tagen wie das Licht über dem Walde, sonst geht einer mit der Sense einher und schneidet auch die Breßhaften des Geistes, die Duldsamen im Herrn und alle, die reinen Herzens sind und nicht durch Sünde gingen, von der Koppel herunter. Herr, ich bin Wiedertäufer, aber, wie ich schon sagte: mit Ausmaß, denn seit die neue Lehre keine reine Lehre mehr ist, die Weiber das Heiltum ihres Leibes feilbieten, als wäre dieses Heiltum wie die Miste in den Wallgräben, seit der König dahinlebt wie die Herzöge der Türken und Ungläubigen, seit das Volk hungert und durstet, die Kinder an den welken Brüsten der Mütter absterben, wie die Fliegen absterben um die Zeit des großen Fliegensterbens – von da an fielen die Gebote von mir ab, als wären es Späne unter dem Hobeleisen.«
Er atmete tief, um dann weiterzusprechen.
»Und nun, wo es kracht in den Sparren und dem Balkenwerk des neuen Tempels, die Aussätzigen leben, die Gesunden sterben wollen ... Herr ...!« und er stieß die geballten Fäuste zur Decke, um sie mit einem wilden Schrei wieder einzuholen, »Herr, wo man meine Weihkerze zerbrach, mein Häuschen verunzierte, mir die Brust zerstieß und meine Stube dieserhalb zu einer Blutstube machte ... Herr, Herr! da geht das nicht weiter ... nein, da geht das nicht weiter ... nicht um 'nen Tipfel. Da muß einer vom Bauwerk herunter ... mit Kopf und Kragen 'runter, und wenn's ein Gekrönter wär', einer mit 'nem feinen Gesicht und mit gesalbtem Haar ...«
Seine Stimme erlahmte, kroch heiser am Boden.
Raban erhob sich.
»Mann, was ist Euch geschehen?«
Eine rissige Hand schlug sich auf den Eisenbrüstling.
»Erbmann, was Euch geschehen. Woran Ihr heute noch blutet.«
»Gresbeck ...!«
»So und nicht anders ... denn gestern ... um's Abendwerden, als ich auf Wache ging und Runde machte ... zwei Hunde von drüben ... in den Farben des großen Propheten ... die packten zu mit groben Fäusten und führten mein junges Weib zu den goldenen Kammern, wo sie den schönen Leib vertrenzen und zunichte machen – und das heißt Stirn gegen Stirn und Auge um Auge.«
»Gresbeck ...! Gresbeck ...!«
»Erbmann ...!« und das heisere Wort erhob sich aufs neue vom Boden, drängte sich zwischen die Zähne und zischelte: »Erbmann, daran ist nichts mehr zu ändern, da heißt das: Stirn gegen Stirn und Auge um Auge.«
Über das Gesicht Rabans legte sich eine graue Farbe.
»Also auch Euch ...?!«
»Ja, Erbmann, auch mir.«
Und dieser mit brüchiger Stimme, indem er die Rechte Gresbecks wie mit einem Schraubstock umklammerte: »Und was wollt Ihr beginnen?«
»Was ich schon sagte: ich stehe auf der Kreuzschanze, nicht weit von der Jüdenfeldertorburg, auf Wache ... kenne jeden Graben ... jeglichen Zugang ... jeglichen Schlagbaum ... jegliche Mauerscharte ... und die Nacht vor der Geburt Johannes des Täufers ist nahe.«
»Das sagtet Ihr schon. Aber was soll's mit der Nacht vor der Geburt des Täufers?«
»Herr, in einer solchen Nacht erfüllen sich alle Pläne und Anschläge. Die ist wie der Täufer selber. Erleuchtend, erlösend, befreiend. Die heult nicht mit den Wölfen, sondern erschlägt die Wölfe. Die hat es satt und genug vor Galle und Verdrossenheit. Die geht mit den Gerechten und nicht mit den Ungerechten. Die erhebt sich wider Rehabeam, den König in Israel, und gegen sein Weib, das mit dem Rauschen ihrer Füße zu den Türen hineinging ...« und er verfiel abermals in ein Stück seines Wiedertäufertums und sagte: »Und wird Israel übergeben um der Sünden willen des Königs, die er sündigte im Tempel des neuen Jerusalems ... und wird ihn schlagen mit dem eigenen Totschläger und seinen Samen vernichten bis zum letzten Spelz und bis zur letzten Granne. Das hat's auf sich mit der Nacht vor der Geburt Johannes des Täufers.«
»Gresbeck – und Ihr ...?!«
»Herr, ich spinne dem Bischof keine Seide zu, habe sie niemals gesponnen, denn unter seinem Krummstab war dem Gewerk minderwertig gedient, praßten die Großen mit der Gier der Hamstermäuse auf den Feldern, blieben die Weiber die Paradestücke des Domkapitels und der sonstigen Pfaffheit und nicht die des Bürgers, waren die Zeiten elendige Zeiten und kaum zu ertragen. Legte man den Tag auf die andere Seite, blieb er ein Tag wie seine Schwestern und Brüder. Also für den Oberpriester habe ich keinen seidenen Faden auf der Spule. Aber jetzt ... wir haben einen Rehabeam hier und ein Weib, das mit dem Rauschen ihrer Füße durch die Türen einherwandelt. Drum immer noch besser, mit dem da draußen das Kyrieleis zu singen, als mit dem Tiger und seinen silbernen Krallen das Vaterunser vom Maulwerk herunterzubeten. Das Kyrieleis muß herein ...«
Die Hand Rabans schnürte fester und nachhaltiger.
Dann gab sie die des verzweifelten Mannes frei.
»Ja, das Kyrieleis muß herein! und Ihr – warum beehrt Ihr mich?«
Da Gresbeck: »Herr, zum dritten Male, wenn es beliebt, denn aller guten Dinge sind drei, drei Gegrüßt seist du Maria, drei Gottheiten in einer Person, und so sage ich denn: Ich habe die Torwacht, kenne jegliches Mauerstück und jeglichen Ausgang ... und die Nacht vor der Geburt Johannes des Täufers ist nahe ... und somit ...«
»Mensch, Ihr nehmt mir das Wort von der Zunge. Ihr wollt zum Bischof, um ihm Mittel und Wege zu zeigen ... und wann ...?«
»Noch heute, wenn ich die dritte Runde aufmache.«
»Und die Nacht des Täufers ist als die des Sturmes gedacht?«
»So ist es.«
»Und ich ...?!«
»Ihr sollt mir Helfer sein, denn wir spinnen gleiches Maß und gleiches Leid, und das gibt 'ne propere Leinwand zusammen.«
Raban durchfuhr es. Ihm klang es zu mit dem Gestampf von Hufen, mit dem Geklirr von Spießknechten, mit dem Rumpeln von brechenden Mauern und Ziegelbrocken ... und ein Licht ging ihm auf, wie ein Licht von einem hohen Berge herunter. Das schritt auf ihn zu, umleuchtete ihn, umbüschelte ihn, wurde zur Mandorla ... und in dieser Mandorla: sein Weib ... sein angebetetes Weib ...
Er hätte aufschreien mögen, aber er stammelte nur: »Elisabeth, Elisabeth ...!« und nochmals ergriff er die Hand des Starken im Eisenbrüstling, des Starken mit den schmalteblauen Augen eines Dohlenvogels: »Gresbeck, ich bin Euer Mann, und noch in heutiger Nacht ...«
»Nicht so!« gab dieser zurück. »Das brächte nur Schaden. Laßt mich erst machen. Ihr bleibt. Einer ist nötig zwischen Stadt und Mauer. Erst wenn die Trommel in der Sturmnacht pocht, wenn der Täufer seine Stimme erhebt und durch die Völker schreitet, dann steht an der Hobelbank und hobelt Eure Späne herunter. Erbmann, wie denkt Ihr darüber?«
Raban sah ihm tief in die Lichter.
»Ein Wort, ein Wille.«
»So paßt mir's. Mit Gott denn!«
»Mit Gott denn!«
Da verließ Heinrich Gresbeck das Zimmer und ging seinem Dienst nach, um vor Hahnenkraht jenseits der Schanze zu sein und sich dem Bischof in Verpflichtung zu geben.
Raban von Bischopink tat einen Atemzug, als wären ihm Wackersteine von der Seele gefallen.
Er gedachte, weiterzulesen, aber aus den Lettern Duns, des Schotten, drang ihm ein grauenhafter Spittelgeruch zu. Alles tot: die Buchstaben, die niedergelegten Weisheiten und Wahrheiten. Nur leeres Gedresch, Fasnachterzeug und eitel Gerede. Die vergilbten Blätter des großen Mannes stanken nach Verwesung und Plattheiten. Mit Kankerspinnengelenken stakelte es von Zeile zu Zeile, über die Spitzfindigkeiten eines verlogenen und spintisierenden Geistes.
Was sollte ihm dieses, vornehmlich in der jetzigen Stunde?
Da war Heinrich Gresbeck, der schlichte Mann im Söldnerkrebs, der Rächer seiner Ehre, doch aus einem anderen Eichenkloben herausgeholt worden.
Ja, Gresbeck! Dessen Gedanken standen auf Kampf, auf Wiedervergeltung. Der wollte leben um seines Weibes willen, um die Schande seines Bettes hinwegzunehmen, es wieder ehrlich zu machen.
»Gresbeck, ich danke dir. Recht wirst du haben, denn wir spinnen gleiches Maß und gleiches Leid, und das gibt 'ne propere Leinwand zusammen. Ich will ...!« und seine Hand legte sich schwer auf die Schriften, die für ihn abgetan waren.
Aus dem dunstigen Schein der Lampe trat er ans Fenster.
Das alte Blut der Bischopink von und zur Getter rauschte ihm in den Ohren.
Sein heißer Blick ging nach oben.
Lichter bei Lichter, Sterne bei Sterne, in ewiger Ruhe, in lautlosem Wandel eines ewigen Friedens. Das flinzelte mit silbernen Kettlein, in goldenen Schnüren, mit dem sanften Scheinen von Myriaden von Perlen und Kleinodien ... ausgestreut von der milden und gütigen Hand eines kundigen Schatzmeisters. Eine Treuja dei, ein Gottesfriede, wie nicht mehr zu finden.
Und dennoch: nur scheinbar, ihr Toren und Leichtgläubigen!
Auch hier Kampf bis aufs Messer, bis zum letzten Atemzuge. Ein Geborenwerden aus zuckenden Flammenschlünden, ein Sterben in eisigen Räumen und Weiten. Welten stiegen herauf, Welten gingen dem Niedergang zu. Welten krachten gegeneinander, gleich den verlorenen Haufen auf unermeßlichen Walstätten, rangen um Sein und Nichtsein, mit der Wut der Verzweifelten, Welten zertrümmerten vor dem Willen des Ewigen.
Raban von Bischopink sah das alles, erkannte das alles.
Ein Sternlein nur glänzte ihm zu mit mildem Leuchten.
Dieses Sternlein mußte leben.
Er rang die Arme nach ihm.
»Leben sollst du, Geliebte!«
»Aber du ...« und die Rechte fiel geballt auf das Fenstergesims nieder, »Johannes Leydanus – du Weiberschänder, du Unchrist, du Verwüster des weiten Gottesgartens, sterben mußt du. Dein erträumtes Reich mit dem Brandmal Kains zwischen den Schläfen – dieses Reich geht zu Ende.«
Und wiederum: »Dieses Reich geht zu Ende.«
Er durchwachte den Abend, die Nacht, bis zum Grauen des Tages. Er verfolgte jede Minute, jede verrinnende Stunde. Er wußte: jetzt stand Heinrich Gresbeck auf Wache. In seinem Eisenbrüstling spiegelten sich die Lichter des Himmelreiches. Er vernahm die einzelnen Schritte des Mannes, der um sein verlorenes Weib trauerte. Er sah Feuer bei Feuer: die Feuer in den bischöflichen Lägern, nicht weit von den eigenen Mauern. Die Kreuzschanze ruhte in den Armen des Schweigens. Nur dann und wann: er hörte wirre Geräusche. Die Zeit rückte näher. Die Frösche choralten in den Gräften, die goldenen Äugelchen voll des Sternenlichtes. Vom Turm der Kirche Über dem Wasser fiel die Mitternachtsstunde herunter. Dann schlug es eins, dann zwei ... die Spanne, wo die Augen müde werden und die Seele durch Schatten wandelt. Jetzt ... Heinrich Gresbeck machte sich fertig ... zog den Sturmriemen an ... warf das befestigte Seil über die Brüstung ... ließ sich tiefer und tiefer ... durchpflügte das Wasser ... trat wiederum an Land und schnürte sich durch Erlen- und Weidengestrüpp, bis er den beizenden Ruch der Lagerstätten in den Windfang bekam. »Halt – Werda?!« »Gut Freund!« »Wohin?!« »Zum obersten Kriegsherrn.« Da wurde Heinrich Gresbeck in die hohepriesterliche Zeltstadt geleitet ... und Raban von Bischopink ließ sich nieder und erwartete das Grauen des jungen Lichtes über den Dächern. Während des bangen Harrens und Wartens sprachen die Feldschlangen und Wallbombarden von hüben und drüben. –
Anderen Tages ...
Hungrig und ausgemergelt stierten die Anabaptisten in das schwelende Land ihrer Hoffnungen. Sie sahen in die Fleischtöpfe hinein, aber es war kein Fleisch mehr darinnen. Sie stülpten die Milchkannen – kein Tröpflein wollte mehr fließen. Die Mütter boten ihren Kindern den Quell des Lebens, aber dieser Quell wollte nicht spenden, denn er war versiegt und hinweggenommen, als hätte der Dünensand ihn aufgesogen mit der heißen Gier eines verdurstenden Riesen ... und dennoch hofften sie, glaubten sie, beteten sie, und wenn sie auch schrien: »Gebt uns Brot um der Barmherzigkeit willen!« – Sion blieb ihr Hort, ihre starke Burg und Johannes Leydanus der König der Könige im Tempel des neuen Jerusalems.
»Tut Buße!«
Ein Schrei gellte auf.
Dusentschuer, der Prophet, raste um die elfte Morgenstunde durch die Straßen von Münster, dem Täufer ähnlich, nur mit einem Ziegenfell bekleidet und den Stab in der Rechten führend.
Alles strömte ihm zu, umkreiste ihn, hing an seinen wulstigen Lippen, die von Besessenheit und Schaum trieften.
Sein Wort war das einer tollen Sirene.
»Tut Buße! Tut Buße ...! Freut euch, ihr Herzlein! Hüpfet, ihr Füßlein! Ihr Fingerlein, zupfet die Gitthit und was sonst klinget und hofieret, denn wisset: die Tage der Erlösung sind nahe. Ein Feldgeschrei wird sich erheben, wie es niemals gehöret wurde auf Erden. Und alle, die es vernehmen, die Stölzlinge, die vor der Stadt liegen, werden erbeben, wie die Könige der Amoriter, die jenseits des Jordans gegen Abend wohnten, erbebten, werden erzittern gleich den Herzögen der Kananiter an den Gestaden des Meeres. Euer König aber lebt und regieret. Sein Wort reicht weit, und sein Schwert ist wie eine züngelnde Flamme. Sein Zepter nimmt euch den Hunger vom Munde, sein Eisen rasiert eure Gegner von den Ackerfurchen herunter, als wären sie Unkraut. Die Hunde über sie, die Hunde des Jehu, des Sohnes Josaphats, des Sohnes Nimsis, wie sie über Isebel kamen, da sie sich schminkte, das Haupt schmückte und auf die Straße hinaussah, um Jehu mit ihrem Angesicht und ihrem Glanz zu betören. Tut Buße! Hoffet auf Pfingsten, und ist Pfingsten gekommen, so meldet Johannes Leydanus: Der Feind ist geschlagen, die Frucht kommt herein, die Kornkammern strotzen vor eitel Fülle und Segen, die Brüste können die Milch nicht mehr fassen, und die Anabaptisten werden einhergehen in Samt und Seide, wohlgesättigt, mit kostbaren Ringen an den Händen, mit Spangen, Hefteln und mit klingenden Ohrgehängen. Tut Buße! Tut Buße ...!«
So Dusentschuer, der Prophet, um an einer weiteren Straßenkreuzung die nämlichen Worte zu rasen.
Das Volk strömte ihm nach, wie die Schäflein dem guten Hirten nachgehen, gibt er ihnen Aussicht auf fette und gesegnete Weide.
Als er in der Höhe der Marievengasse gekommen, verließen ihn Gaumen und Zunge. Sie waren trockener als gesponnenes Werg, lechzender als die eines jagenden Hundes geworden.
Noch einmal ertönte sein rauhes »Tut Buße!« aus der verrosteten Kehle: »Tut Buße!«
Dann war's alle mit ihm.
Mit listigen Äugelchen schnürte er sich in die Marievengasse hinein und trug Ziegenfell und Stab in eine verschwiegene Ecke des ›Halben Mohrenkopfes‹, um dort in aller Gemächlichkeit den Staub der Straße von sich zu tun, desgleichen dem dürren Hals mit einer Kanne mageren Dünnbieres aufzuhelfen, denn der Schank verzapfte keinen Xeres mehr, geschweige denn Weine, die ihn noch dreimal übertrumpften.
Dusentschuer streckte sich in seiner Schur wie ein Scheich zwischen Dan und Berseba.
Den geschälten Stab legte er ab.
Da trat ihm Tenkhoff entgegen.
Er kam aus der Küche.
Aber um des Herrn Jesu Christi willen – wie sah der Mann aus!
Der ägyptische Joseph war kaum zu erkennen. Alle Herrlichkeiten des Geistes und des Fleisches hatte er von sich getan, sie in die Rumpelkammer verwiesen. Sein Bäuchlein dahin, der Specknacken gleich einer Hutzelbirne verschrumpfelt, die Äugelchen, die sonst pfiffiger als die einer munteren Eidechse glänzten, schienen ausgebrannt, sein sprudelfrisches Lachsforellentum hatte mit dem sprudelfrischen Lachsforellentum nichts mehr zu schaffen.
»Prophet, Prophet«, sagte er mit weinerlicher Stimme, »wo sind die Zeiten geblieben?! 'nen Dachs tut es jammern. Die Beine wollen ja noch, aber vom Kopf bis zum Nabel und noch weiter herunter sieht's elendiglich aus, mehr noch als elendiglich.«
Er seufzte: »Die Schweinsohren mit Schabrübchen sind alle. Meine Frau kann den gestrigen Tag nicht mehr finden und bemüht sich damit, dicke Brummer einzufangen. Schulte Flintrup aus Roxel liefert nicht mehr, kann nicht mehr liefern. Die Bischöflichen schmarotzten ihm das letzte Ferkel und das letzte Kalb aus dem Stall ... Herrjeses! und dann noch: gestern abend hat mir so 'ne niederträchtige Feldbüchse den Küchenschornstein von den Ziegeln gehobelt, reineweg fortgehobelt. Prophet, Prophet und Euer Gnaden zu melden: Das geht so allmählich dem letzten und traurigen Mirakel entgegen ... das geht so ...«
Sein Weib trat hinzu, anzusehen wie 'ne wurmstichige Saubohne.
»Ja, Euer Gnaden, das geht so gewissenermaßen wie 'ner majestätischen Trommel. Erst Trumm-Trumm in allen Hecken und Hägen, und jetzt man noch so 'n poweres Wimmern, wie aus 'nem verklammten Hosenboden heraus.«
»Ganz richtig«, bestätigte Tenkhoff.
»Mensch – Ihr ...!«
Dusentschuers Stimme rollte durch den ›Halben Mohrenkopf‹.
Den abgelegten Stab umgriff er aufs neue.
Er streckte sich abermals in seiner Ziegenschur, die etwas nach Bock stänkerte, wie ein großer Scheich zwischen Dan und Berseba.
»Mensch – Ihr ...! Was wollt Ihr?! Habt Ihr nicht soeben meine große Prophezeiung vernommen?!«
»Das schon, aber bloß so halber, bloß so 'n bißchen um die Ecke herum. Dann bin ich wieder nach Hause gegangen, um mir die leeren Pökelfässer zu betrachten. Nichts mehr, nichts mehr!« und er musterte die Fliesen seines Anwesens, betrenzt mit den Spuren verschütteten Dünnbieres.
Da stampfte der geschälte Stab auf.
»Seid Ihr des Satans, Tenkhoff?! Will der Antichrist über Euch her mit der Allgewalt des Baals und seiner Herrschaften?! Wenn ja – dann riecht's bei Euch nach Meister Hans aus der Grünen Stiege ...«
»Christus ...!«
Der ägyptische Joseph schlotterte an Armen und Beinen.
»Oder ihr Kleingläubigen«, fuhr Dusentschuer fort, indem er seine Kulpsaugen vorstülpte und wieder einholte, »Ihr und die Frau – ihr tut Buße in Sack und Asche und erhofft die gesegneten Pfingsttage. Da werden die Schleusen des Paradieses sich öffnen, da schüttet es mit Manna vom Himmel herunter, da werden die Bischöflichen getrieben durch die Schärfe des Schwertes über Telgte und Warendorf hinaus, über Hiltrup und Hamm bis ins Land des Herzogs von Jülich, Berg und Kleve, den der himmlische Vater verfluche. Da werden eure Pökelfässer gefüllt und der König schreitet einher im Glanz seines Königtums, schreitet durch Sion, durch die Provinzen, bis er sein Reich gefestet hat bis an die äußersten Grenzen. Kinder des Fleisches, erharret das Fest der Pfingsten und werdet selig.«
So der Prophet und legte den Stab wieder ab.
»Ja – aber«, wagte Tenkhoff einzuwerfen, »es sieht man bloß so 'n bißchen schwach damit aus«.
»Wieso das?«
»Euer Gnaden zu melden, ein Spießknecht kam an, soeben, vor 'ner Viertelstunde vielleicht.«
»Von woher?«
»Von der Kreuzschanze, Herr.«
»Wo sitzt er?«
»Im Apostelstübchen.«
»Soll kommen.«
Und der Prophet reckte sich wieder.
Dann funkte er den Neuling an, der das Apostelstübchen mit dem eigentlichen Schankraum vertauscht hatte: »Was bringt Ihr?«
»Nichts Gutes. Die Ratten werden hellhörig und wechseln über die andere Seite.«
»Seid Ihr Prophet oder nicht? Wenn nicht, dann redet deutlich und nicht in Rätseln.«
»Na denn«, sagte der Spießknecht. »Heinrich Gresbeck ist über die Mauer.«
»Seit wann?«
»Seit der dritten Stunde.«
»Wohin?«
»Wohin soll er sein? Der Bischof hat Schmalz in den Töpfen, und für 'ne Portion Schmalz oder sonst was kann manches passieren.«
»Unsinn!«
»Herr, Knipperdolling dachte anders darüber.«
»Wie – dachte anders darüber?«
»Herr, der Hauptmann der Kreuzschanze sitzt zwischen Faschinen und Mauerscharte. Aber ohne Kopf. Der steckt auf der Stange und tut Heinrich Gresbeck begrüßen.«
Der Prophet lächelte.
»Was soll mir Gresbeck, was Knipperdolling, was der Hauptmann der Kreuzschanze?!« und seine Stimme wurde stärker als die eines Stieres, der die Kuh oder die Färse wittert: »Wer nicht auf mein Wort hört, der hört auch nicht auf das Wort des himmlischen Vaters. Wer sich meinem Prophetentum verschließt, der verschließt sich dem Paradiese. Ihr Armen im Geiste! fragt doch das Vieh, und es wird's euch lehren. Fraget die Vögel unter dem Himmel, und sie werden's euch zujubilieren. Fraget die stummen Fische, und sie werden's euch singen und sagen: In wenigen Tagen, um Pfingsten, kommt das Weltreich über uns mit Glocken und Ehre sei Gott in der Höhe. Amen.«
Er sank schwer auf den ihm von Tenkhoff untergeschobenen Sessel.
»Wenn's denn so ist«, versetzte die abgemagerte Weindrossel, »dann wollen wir uns gewissenermaßen mit dem neuen Glauben weiter benehmen.«
»Wollen wir«, beteuerte Tenkhoff.
»Dann mein Söhnchen, 'ne vollgemessene Kanne! Mich dürstet. Aber wenn's eben noch geht, 'ne solche mit Malz drin.«
Und die Kanne kam.
Da tat er einen gewaltigen Zug, der den letzten Tropfen aus der Tiefe erfaßte.
»Kein Spanier, aber gut«, schmunzelte Dusentschuer, und er verfiel in ein langes Brüten und Sinnen.