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Wir gingen durch eine Reihe von Tagen, der Mönch und ich.
Wir sahen Bilder und Spiegelbilder, die uns verlähmten, den Geist erschütterten; andere wieder, die plötzlich auftauchten, jeder Plastik entbehrten und spurlos zergingen; letztere zersträhnten einem zwischen den Fingern.
Erinnerungen und Spiegelungen!
Viele kamen mit stechendem Glanz und schreienden Lichtern; andere in düsteren Gespinsten, die jegliches mit ihren traurigen Maschen verhüllten. In diesen Maschen wohnen die Gedanken, die sich mit dem Tod beschäftigen, und solche Gedanken sind die ernstesten und herzzerreißensten im menschlichen Leben.
Wir sterben alle, dürfen aber beglückt sein, daß wir die Stunde des Scheidens nicht wissen, nicht mehr hören, wie die Sterbeglocke anschlägt, nicht mehr sehen, wie und wann die bleichen Kerzen verlöschen. Nur eins verbleibt uns beim letzten Atemzuge, beim Erkalten der Stirne: das ewige Licht wird uns leuchten.
Ich sehe in die Häuser der Menschen hinein, in den Palast des Königs, in den der Königin und Nebenfrauen, in die Schenke ›Zum halben Mohrenkopf‹, woselbst Bänatz Tenkhoff, der ägyptische Joseph, schon längst seine Anna Flintrup aus Roxel, dem Schulten Flintrup die seine, eingebracht hatte, sie in Küche und Keller und zwischen den ehelichen Federposen wie ein Heiltum behütete. Ich sehe das stolze Anwesen im Kirchspiel über dem Wasser, wo der Tod auf der Schwelle lauerte, stündlich bereit, dem Ältesten des Zwölfer-Rates den letzten Hauch von den starren Zügen zu nehmen.
Ich sehe den König ...
Er saß vor seinem goldenen Tisch, bedeckt mit Schreibgeräten und Schriftsätzen.
Divara stand neben ihm, drückte ihren üppigen und stolzen Leib warm an den seinen. Mit ihrem bleichen und preziösen Antlitz und dem herzförmigen Mündchen rückte sie näher, preßte die Lippen auf seine Stirne und küßte ihn lange.
»Seid gütig, barmherzig«, flüsterte sie ihm zu.
»Wenn die Esel die Laute schlagen, tanzt irgendein Narre«, entgegnete er.
Ihre linde, beringte Hand glitt ihm sacht über die Schläfen.
»Lasset ihn tanzen. Er hat gesündigt, und ihm muß vieles vergeben werden – das weiß ich.«
»Also mag er als Esel die Laute weiter schlagen«, sagte Johannes Leydanus. »Um deinetwillen – ich gebe ihn frei.«
»Und Elisabeth Wandscherer ...?«
»Weib!« fuhr er auf. »Du fürchtest dich wohl, eine solche Nebenfrau an deiner Seite zu wissen?«
Sie warf sich zurück. Ihr Mund wurde spöttisch. Durch ihren stolzen Leib ging ein Zittern und Aufbegehren.
»Ihr irrt Euch. Wo ich bereits mit so vielen Eure Gunst und Gnade zu teilen gewohnt bin, wird mir auch diese nicht lästig. Im Gegenteil: sie wäre mir herzlichst willkommen, müßte ich nicht heilig befürchten, es könnte daraus ein tiefes Trauerspiel werden.«
Erhobenen Hauptes verließ sie das Zimmer.
»Weiber...!« knirschte Johannes Leydanus, beugte sich vor und tauchte das Schreibrohr ein. »Dem störrischen Grautier jedoch muß man die Raufe mit goldenem Hafer bestellen. Solch Geschmeiß kann gefährlich werden.«
Mit steilen Zügen legte er nieder:
»Dem Statthalter des Herrn vom neuen Tempel und hocherfahrenen Rat Knipperdolling.
Die Weisheit des Allerhöchsten erleuchte deinen Sinn, stärke deine Liebe, vermehre deinen Glauben, vergelte deine Dienste mit Wohltaten; sie bereichern dich und bringen dich endlich zu dem Erbe, so da niemals aufhören wird. Amen!
Wisse, allerwertester Bruder, daß Ich durch dieses Mein gegenwärtiges Schreiben dich freundschaftlich daran erinnern will, was gestern geschehen. Die Eilfertigkeit und Übereiferung ist gemeiniglich eine üble Sache. Besonders dann, wenn derartige Mißhelligkeiten, die ans Recht gehen, unter dem bösen Einfluß des süßen Weines passieren. Dir ist nicht unbekannt, daß Ich einen Statthalter und etliche Räte habe, deren Hilfe und Dienst Ich keinen Augenblick entbehren kann, die überall, wo Ich gehe und stehe, zur Hand sein und Mir ihre treue Gefolgschaft leisten müssen. Ohne dieses geht's wie auf einer mißratenen Rollerbahn. Kegel und König purzeln eines Tages sonder Kugel und Zutun jählings zusammen, ohne den Mut aufzubringen, Krone und Köpfe wieder in die Höhe zu zwingen. Ich habe dich über alle gesetzt, bin mit Ehren dir gegenüber nicht sparsam gewesen. Ich ermahne dich derowegen, daß du Meiner Liebe nicht vergissest, noch dich mit Mir entzweiest, als dem noch alle Guttaten gar wohl in frischem Andenken schweben, welche Mir von dir und deinem bedeutsamen Geiste sind erzeiget worden. Es gibt Beispiele von Ministern und Kanzlern, die ihren Herrn verleugnen, selbst noch im Grabe. Noch kürzlich las ich als Nachruf:
Der Knecht, der seinen Herrn bespuckte,
War letzten Endes superklug:
Bevor er noch sein Machwerk druckte,
Floh er vor seinem eigenen Buch.
So weit gingest du nicht, konntest du nicht gehen. Nichtsdestoweniger muß Ich des gestrigen Tages gedenken. Es war ein dies ater von der obersten Sorte und wurde zur Nacht ohne Sternenfeuer. Potentia Dei, robur meum. Gottes Kracht – Meine Macht. Du aber hattest den herostratischen Mut, Mir Meine Macht und Gottes Kracht aus den Händen zu winden. Das Schwert war dir nahe, und hätte Meine Dankbarkeit und Liebe zu dir Mir nicht den Zorn aus den Händen gewunden, dein Kopf wäre gefallen, genau wie der des sündigen Apostels und Jüngers. Heilo! Ich bin Sieger geblieben, und Ich freue Mich dessen, denn es wäre Mir bitter leid um Meinen lieben dahingegangenen Bruder gewesen. Es heißt wohl: Quem di diligunt, adolescens moritur. Wen die Götter lieb haben, der stirbt bald. Aber Ich will noch nicht sterben. Ich habe noch das Reich zu befestigen, seinen Glanz über den Erdball zu werfen, im Namen des himmlischen Vaters. Dazu habe Ich deine Hilfe bitter vonnöten. Also gib Mir die Hand. Es sei alles vergessen. Nur sei verständig, nicht hochmütig, bleibe fest im Glauben und treu deinem Herrn. Erinnere dich fleißig des Josua und Caleb und lies bisweilen in dem Buch Esther die Geschichte des Mardochäus. Gott aber schenke dir und Uns die Erkenntnis seiner Weisheit und aller Weisheit auf Erden. Und ob die Welt durch ihre Bosheit und ihren Stolz auch noch so aufgeblasen und närrisch wäre,
In fide persiste salvus
Carnis curam agat Deus.
In allen Gnaden dein wohlgeneigter Johannes Leydanus.«
Noch an demselben Tage, als es Abend wurde und der göttliche Zeidelmeister mit seinen goldenen Bienenschwärmen nicht geizte, vielmehr sie verschwenderisch über Münster ausstreute, standen der König und Knipperdolling Hand in Hand in der gegurteten Halle und sahen sich tief in die Augen.
Johannes Leydanus aber sagte: »Und Ahasverus legte Zins aufs Land, auf die Inseln im Meere. Aber alle Werke seiner Gewalt und Macht und die große Herrlichkeit Mardochais, die ihm der Herrscher gab, das ist geschrieben in der Chronik der Könige von Medien und Persien. Denn Mardochai, der Jude, war der nächste nach ihm und groß und angenehm unter der Menge seiner Brüder.«
Da neigte Knipperdolling sein Haupt und fürchtete sich.
Der düstere Thomas von Celano fand keine Ruhe im Grabe.
Er stand hoch über den Wolken und sang über die Stadt hin:
»Dies irae, dies illa,
Solvet saeclum in favilla
Teste David et Sibylla.«
Dazu streckte er die beinerne Hand aus, die kaum eine Fleischfaser mehr herzeigen konnte.
Da fielen die Blätter von den Bäumen herunter, lärmten die Häher in den Bocksdornhecken, trompeteten die Kranichvögel mit heiserem Schreien dem fernen Süden entgegen.
Die Tage verloren ihre Hirtzensprünge, die Nächte gewannen immer mehr an Ausdauer und Atemschwere. Die Herbstzeitlosen standen noch in üppigster Blüte, um dann eines baldigen Todes unter den verfrühten Kälteschauern zu sterben.
Bald darauf tänzelten auch die ersten Schneeflocken vom Himmel herunter, waren munter und guter Dinge und spreiteten einen köstlichen Silberschleier über das heilige Münster.
Langsam ging es in den Winter hinein.
Während all dieser Zeit war der Bischof müßig geblieben. Ihm fehlte es an Geld und sonstigen Hilfsquellen. Seine Hauptleute und Spießknechte zeigten wenig Neigung, für ein › Dominus vobiscum‹ oder einen fünfhunderttägigen Ablaß sich eine testa di morte vor Gräben und Mauern zu holen ... und wäre nicht der brave hessische Stückmeister Fritze Lampadius mit seinem eigenen Hinterlader und der Teufelskanone gewesen, hätten ihm nicht ›Jans Pumpernickel‹ und ›Männe Ungeschlacht‹ ehrlich Rede und Antwort gestanden, man hätte des Glaubens sein können, die münsterischen Wirren wären wie das Hornberger Schießen verlaufen, so still war es zwischen Lager und Mauer geworden, als hätten die Luderkrähen das alleinige Recht, ihre Flug- und Marodeurkünste auf dem verwaisten Zwischengelände zu zeigen.
Aber die Stadt blieb noch immer gefährdet. Nicht der äußere, aber der innere Feind war rüstig am Schaffen. Die Zufuhr setzte mehr oder weniger aus. Die Kornspeicher verloren allmählich an Fülle, die Fleischhauerbänke schrumpfelten an Waren ein und manchenorts saßen bereits die Ratten auf den Tischen, zwinkerten mit ihren blutunterlaufenen Äugelchen hierhin und dorthin und wollten Verköstigung haben. Dazu beteten die Kinder mit hungrigen Mäulchen: »Herr, gib uns unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, in Ewigkeit, Amen.«
Ja, es war Winter geworden, die Blätter raschelten über die verschneite Erde, aber schon lange vorher, und zwar an dem Tage, wo der Apostel auf dem roten Boden saß, den abrasierten Kopf zwischen den Füßen, hatte der Älteste des Zwölfer-Rates unter dem liebevollen Zuspruch des Predigers Rottmann die große Reise ins Jenseits, die keine Rückkehr verstattet, angetreten.
Es war ein feierliches und heiliges Sterben gewesen.
Als aber das Lächeln schwand, das seine Züge bis zum letzten Atemzuge verklärte, als die brechenden Augen noch einmal die Tochter suchten und fanden, um sich dann für ewig zu schließen, stieß Elisabeth Wandscherer einen herzzerreißenden Schrei aus, der die Sterne berührte.
Raban fing sie auf.
In seinen Armen erstarrte sie, als wäre auch ihr das Leben abgesprochen. Keine Trauer mehr, kein Entsetzen mehr. Beim Anblick des Verstorbenen ließ das Entsetzen ihre Züge versteinen.
Unter ihren Brauen lohte der Haß auf, das Unversöhnliche, das mit Zentnergewichten auf ihrer Seele lastete ... und als der Vater beigesetzt wurde, die kranken Lichter der Wachskerzen die Gruft umstanden, blieben ihre Wimpern so trocken, als hätte sie das Weinen verloren.
So vergingen ihr die Wochen, die Monde.
Und da eines Tages ... es war zwischen Weihnacht und dem heiligen Dreikönigenfeste ...
Der Erbmann saß bei ihr.
Die Schaffnerin in ihrem grauen Gewand und dem weißen Stirn- und Kinngebände hatte gerade die Tafel gerichtet und zum Essen gebeten, da erhob sich Elisabeth Wandscherer, unvermittelt und mit Augen, die die Ewigkeit suchten.
»Komm«, sagte sie tonlos.
»Geliebte, wohin?«
»Zu ihm.«
»Aber Herrin«, fiel die Schaffnerin ein, »Ihr seid noch gestern in der Kapelle gewesen. Zu vieles Beten bringt nicht die ewige Ruhe, vergoldet ihm nicht die Tage im Himmelreich, macht es dem Seligen schwer, die Anschauung Gottes zu finden.«
»Laßt mich, Josepha, der Geist hat es mir also geboten. Was wollt Ihr? Kümmert Euch nicht um mich, um meine Gedanken und Werke. Ich gehöre zu denen, die sich selbst nicht mehr kennen. Was bleibt mir noch übrig? Meine Tage sind gezählte Tage. Ich gehe den Weg allen Fleisches.«
»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte Raban.
Er hatte sie in seine Arme genommen.
»So ist es, Geliebter. Nur der Geist ist lebendig ...« und ihre Worte irrten ins Leere, ins Wesenlose hinein: »Komm, wir wollen jetzt gehen. Der Weg ist nicht weit; wir werden ihn finden. In der dritten Seitenkapelle der Kirche Über dem Wasser, da liegt er, da ruht er neben meiner heimgegangenen Mutter. Auch zur jetzigen Stunde ist die Kirche geöffnet. Ich weiß es. Die Menschen fehlen. Wir werden allein sein und uns aussprechen können. Wir haben es nötig. Am Grabe des Vaters wohnt die Ruhe und alles das, was uns tröstet. Es ist nicht zu verfehlen. Neben dem Taufstein und an der Stätte, wo die ewige Lampe einst flämmerte, da liegt er bestattet. Warte nicht lange. Gib mir die Hand, denn ich werde dich führen.«
Sie fuhr sich hart über die Augen.
»Man muß seine Sinne zusammennehmen, um nicht zu straucheln. Andere denn ich wären schon längst ins Straucheln geraten. Aber der Geist des himmlischen Vaters ist bei mir. Die Seligen der Wiedergetauften umschweben mich, leiten mich die richtigen Pfade, selbst dann, wenn sie in die Ewigkeit gehen.«
Sie lag regungslos an der Brust des Geliebten.
Der Gedanke an den Tod hatte sich an sie geschlichen.
Nur die gefalteten Hände, die ihr müde im Schoß hingen, zeigten eine leise Bewegung.
Die alte Schaffnerin schluchzte still vor sich hin.
»Warum weinst du, Josepha? Um mich? Um Raban? Laß nur, unser Schicksal erfüllt sich.«
»Ach Herrin ...!«
»Erfüllt sich, muß sich erfüllen. Der König ...! Ich denke dabei an den Cherub mit den siebenfältigen Schwingen. Sie umschatten mich, berühren mich mit ihren Flügelspitzen. Josepha, bleib rüstig. Am Grabe des Vaters ist Wohlsein. Wir kommen bald wieder.«
Kurze Zeit darauf standen sie in der Seitenkapelle. Ein mattes Schneelicht blaute durch die hohen Fenster, erfüllte die weiten Hallen der Kirche mit Dämmerungen.
Die Gruft lag noch offen, nur mit einer leichten Erdschicht bedeckt. Der Grabstein fehlte noch immer.
Am Kopfende des Heimgegangenen brannte ein schmales Döchtlein. Das warf ein mattes Scheinen über die geworfenen Schollen.
»Vater ...!«
Ihre Hände krampften sich schmerzhaft zusammen.
»Um deinetwillen und aller Barmherzigkeit willen – gut, daß du den Tag nicht mehr flehest ...« und sie wandte sich jählings: »Raban, wie ist das? Die Blätter sind doch lange gefallen?«
Er legte die Arme um sie und sagte: »Ja, mein Lieb, sie sind schon lange gefallen!«
»Und wir harren noch immer auf des Königs Bescheid, und er versprach doch hehr und heilig, Botschaft zu geben. Wie ist das?«
»Er tat es.«
»Und siehe: die Botschaft blieb aus, und wir warten und warten.«
»Er wird seine Gründe haben, der König«, versetzte er bitter.
»Das wird er«, und ihre schmalen Hände umgriffen den Nacken, glitten über Schultern und Brüste.
»Noch immer nichts. Ich taste und taste und finde weder Gold noch Siegelsteine.«
Ihre Worte nahmen an Heftigkeit zu: »Du weißt doch: Juwelen, gebrochen aus Monstranzen, Kelchen und heiligen Gefäßen ... jegliches zu einem herrlichen Geschmeide vereinigt ... ein Geschenk des Königs ... und das sollte Dusentschuer herrichten. Aber noch immer nichts. Ich finde weder Schmelz noch güldene Kettlein«, und aufs neue umgriffen ihre schmalen Hände den bloßen Nacken, glitten über Schultern und Brüste. »Raban, wie ist das?«
Die Brauen des Erbmanns traten näher zusammen. Eine Verstörung ging über ihn fort. Er gedachte des furchtbaren Augenblicks, als er auf dem Marktplatz vor Johannes Leydanus gestanden.
»Elisabeth, ich sagte ihm ja: Herr, sie bedarf keiner Guttat. Als mir anverlobt, was bleibt ihr da übrig? Sie wird den alten Famlienschmuck der Bischopink von und zur Getter tragen.«
»Schon richtig. Aber er fügte hinzu: Der Schmuck aus der Hand eines Herrschers gegeben, ist stolzer einzuschätzen als der aus der Hand eines Erbmanns. Solche erhöhen und prägen die Würde. Geschenke von adeligen Knechten hingegen ...«
»Verdammich ...!«
Sie legte den Arm um ihn her und schmiegte sich an ihn mit der Inbrunst einer Verzweifelten.
»Raban, vergib mir. Es ist alles so furchtbar. Dieses Harren und Bangen ohne Erlösung. Dieses Sichsehnen nach Auferstehung. Die Blätter sind doch längst von den Bäumen ... und nichts, nichts! Aber er wußte um unsere Trauer im Hause, um das Sterben des Vaters. Möglich, er gedachte dieser Trauer und des Sterbens des Vaters und ließ die Tage dahingehen, um später ...«
»Oder er wollte vergessen«, sagte er hastig.
»Der und vergessen?!«
Sie bäumte sich auf.
»Ein König vergißt nicht. Dieser vor allem nicht. In seinen Augen sah ich Lichter, die die Brautkammer erhellten. Gedenke der Worte des Vaters. Gedenke der Esther ... und sie wurde zu Ahasverus geführt, nachdem sie zwölf Monate im Frauen-Schmücken gewesen war, sechs mit Balsam und Myrrhen und sechs mit köstlichen Spezereien und Narden. Und er gewann sie lieb über alle des Harims und machte sie zur Königin an Vasthis Statt, denn ihr Antlitz war lieblich, ihre Zierden ragten wie Lanzenspitzen, und ihr Nabel faßte mehr als eine Unze Benzoesalbe.«
Sie warf sich in seinen Armen herum.
»Wer wird es auch dem König verdenken, diesem Propheten im neuen Jerusalem, wo selbst der Cherub mit den siebenfältigen Schwingen ... und wenn Dusentschuer kommt, Dusentschuer mit den furchtbaren Händen, um mir das Juwel um den Nacken zu legen ... Großer Gott, heiliger Gott! was soll aus mir werden?! und du ...!«
Ihre Augen dunkelten ein, ihre Lippen stammelten: »Wo du hingehst, da gehe auch ich hin, wo du bleibest, da bleibe auch ich. Aber was hilft mir das alles?!« schrie sie auf. »Ich sehe das Kettlein, und der Atem des Königs steht über mir. Er will was, er streckt seine Hand, er will mich betasten. Raban, halte mich fest, halte mich fest ...«
»Geliebte ...!«
Aber sie entglitt seinen Armen.
Sie fiel in die Knie, beugte sich nieder und küßte die geweihte Erde, die noch immer des Steines harrte.
Er neigte sich zu ihr.
»Komm jetzt«, sagte er leise, so wie die Priester zu Sterbenden reden, die mit unruhigen Fingern über das weiße Linnen spielen.
Sie hörte ihn nicht und wollte nicht hören.
Ihr heißer Mund lag auf der eiskalten Erde.
»Vater«, redete sie, »sei bei uns, bei Raban und mir ... und wenn das Schwerste über uns käme: dein letzter Wunsch sei uns heilig. Uns geschehe nach deinen Worten – in Ewigkeit, Amen.«
Von Raban gestützt, erhob sie sich von den eisigen Fliesen.
»Also geschehe es«, sagte einer mit versöhnenden Worten.
Der Prediger Rottmann war auf leisen Schuhen in die Seitenkapelle getreten, ein brennendes Öllämpchen in der Linken, willens, es auf die Grabstätte seines dahingegangenen Freundes zu stellen.
So hatte er es seit dessen Tode gehalten. Alle acht Tage erschien er mit brennendem Docht, um das Opfer zubringen.
»Lux lucet in tenebris«, sagte er mit gemessener Stimme und stellte das Licht ab.
»Ruhe in Frieden!« und zu den beiden gewendet: »Ich hörte und habe verstanden. Was euch bewegt – ich kann es verstehen. Vielen wäre es besser, sie hätten Totenerde im Munde, als noch das Leben zu haben. Aber wer das Leben noch hat, soll ringen und kämpfen um des Herren willen, auf daß er seine Gebote erfülle. Gott ist gerecht, und er kennet die Sinne und Einwürfe der Menschen. Was nicht in gutem Glauben geschieht, ist Sünde. Was hingegen in Liebe und gutem Glauben hingeht, ist jeglicher Schuld und jeglicher Sünde ledig ...« und er legte beiden die Hand auf: »Geliebte! Ich kenne den Willen des Heimgegangenen, denn ich nahm ihm das letzte Wort und den letzten Odem vom Munde. Er sorgte sich um eure späteren Jahre, um das, was die Menschen benötigen, herzenseinig und beseligt zu werden. Besser eine glückliche Stunde, um ein baldiges Sterben zu finden, als unter tausend und abertausend Stunden, die wie Seifenblasen erscheinen, ein unfrohes Dasein zu fristen. Ich segne euch beide, und geht es nicht anders, zwingt die Not eure Herzen enger zusammen – seid getrost im Herrn, denn ihr handelt im Zustand der Gnade. Gott hat es wollen. Es ist darin weder Schuld noch Sünde zu finden. Mein Segen bleibt euch dennoch für ewiglich.«
Dann ging er.
Auch Raban und Elisabeth Wandscherer verließen die Kirche.
Sie traten in einen schneeblauen Abend, Hand in Hand und voll des heiligen Gedankens: »Mag kommen, was wolle – noch in letzter Stunde löst sich für uns das große Geheimnis, das selbst den Tod überwindet, denn Gott hat es wollen.« – – –
Nur noch einzelne Schneesternchen glitzerten zwischen den Häuserzeilen, in denen allgemach die Fenster aufhellten. Ein weißes Leilach bedeckte die Erde, lag auf Gesimsen und Dächern, kleidete die gute Stadt in das Gewand der Gräber.
Münster war ruhig. Nur zuweilen rumpelten ›Männe Ungeschlacht‹ und ›Jans Pumpernickel‹ von den Wällen herunter. Das kümmerte die Anabaptisten nicht weiter. Sie verließen sich auf ihre Spießknechte, auf die Stärke der vorgeschobenen Werke, ihrer Harnascher, auf den energischen Willen des von Gott gesandten Herrn und Königs, Johannes Leydanus. Nur bangten sie um die spärliche Zufuhr, um das Schwinden ihrer Bestände in Keller und Räucherkammern, woselbst sich schon vielfach die Mäuse genötigt sahen, an ihren eigenen Schwänzen und Pfötchen zu lutschen und bessere Zeiten herbeizusehnen.
Mit Ausnahme natürlich.
Fortunas Rad schütterte hierhin und dorthin.
Bei den Begünstigten düftelte es noch nach Eingepökeltem, nach Sülzen und sonstigen Leckertäten.
Im ›Halben Mohrenkopf‹ ließen sich kaum bedrohliche Mängel nachweisen. Küche und Keller erfreuten sich eines gemästeten Bäuchleins, denn der ägyptische Joseph hatte sich stets als guter Sachwalter seines Anwesens behauptet. Besonders in den jetzigen Zeitläuften, woselbst Anna Tenkhoff, geborene Flintrup aus Roxel, dem Schulten Flintrup die seine, als ehelich angetrautes Weib das Zepter führte und neues Leben in die Wirtschaft brachte. Alles florierte man so. Mit honiggelben Bernsteinperlen um Nacken und Schultern, die Ledertasche mit Silberschließe auf der stattlichen linken Hüfte, hielt sie gut Regiment, ließ sie bei braver Bedienung und Pflege ihre Kulleraugen herumscharmutzieren, so daß die Schenke ›Zum halben Mohrenkopf‹ bald zu den gesuchtesten zählte. Ihr zur Linken stand die bäuerliche Pfiffigkeit, zur Rechten der listige Erzeuger aus den nahen Baumbergen, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als seiner eingeborenen Tochter Speckseiten, Eingesalztes, zutunliche Faselschweine und sonstiges, was Klauen und Euter aufweisen konnte, gegen vollwertige Wiedertäufersilberlinge in die Marievengasse zu liefern – zur Ehre Gottes und zum Wohlergehen seines ihm zugetanen Schwiegersohnes.
Der alte Schulte Flintrup aus Roxel war zufrieden mit ihm, denn Tenkhoff hatte sich völlig umgestellt, den alten Adam abgelegt und sich einen völlig neuen um den fetten und kurzbeinigen Kadaver gezogen.
Seit seiner Verheiratung brannte er ergiebiger als ein Kirchenlicht. Alles glänzte und prunkte an ihm. Eine Lachsforelle konnte sich nicht flinker in einem Tobel oder in 'nem kristallblauen Sprudelwasser benehmen. Auch das Widersinnige mit dem ›ägyptischen Joseph‹ hatte sich bei ihm völlig gegeben, war elendiglich in die Brüche gegangen. Die Scheu vor dem Weibe lag hinter ihm. In den Armen der Gebenedeiten aus Roxel, die einer angespeckten Weindrossel nach der Lese gleichkam, war er anderen Sinnes geworden. Kurz, sie hatte ihm auf die Strümpfe geholfen, denn als wenige Tage vor der Hochzeiterei der Prophet Dusentschuer amtlich vorsprach, um ihr das Brautgeschmeide in Gestalt einer honigfarbigen Bernsteinkette anzupassen, war er Zeuge von so opulenten Wohlhabenheiten geworden, daß sich ihm die Sinne verkehrten und er sich ein angegrautes Wollschaf nannte, solange auf die ehelichen Freuden verzichtet zu haben.
Er lebte fortan ein ganz anderes Leben. Die späten Abendstunden, wenn der ›Halbe Mohrenkopf‹ die müden Augen zumachte, wurden ihm zu wahren Offenbarungen, die warmen Kommoditäten zu Genußlichkeiten, die ihn in die Träume der tausend Nächte und der einen Nacht versetzten. Ja, ihm erschien sogar der Cherub mit den siebenfältigen Schwingen. Der redete ihm zu, sich noch ein zweites Weib an die Seite zu legen, welches Ansinnen er aber männiglich von sich wies, da er sich weidlich seiner besseren Hälfte erfreute und nicht mehr ihren offensichtlichen Reizen und treuen Augen zu entrinnen vermochte.
So lebten die beiden in geordneten Verhältnissen, zufrieden mit sich und ihrem selbstgegründeten Paradeis, daß sie wie blonde Ferkelchen grunzten und fröhlich dahinvegetierten.
Auch in der Schenke hellten die Fenster auf und legten rötliche Lichtbalken quer über die Schneespreite.
Es war just um die Zeit, als Raban und Elisabeth Wandscherer die Kirche in der Leischaft über dem Wasser verließen.
Die Frau hatte alle Hände voll zu tun.
Sie trudelte hierhin und dorthin, munterte die Lichter auf, rückte die Krüge zurecht, unterhielt sich mit einigen anwesenden Gästen, alles nach der Schnur und mit freundlichem Lächeln, um schließlich die Tafel in einer abgesonderten Ecke mit einem funkelnagelneuen, lammweißen Tischtuch zu decken.
Der ehemalige Joseph von Ägypten kam hinzu, mit noch etwas verwehten Augen und dem behaglichen Ausdruck eines Versonnenen, denn er hatte gerade sein Mittagsschläfchen gehalten und dabei gesägt, als gölte es, einen knorzigen Eichenstumpen in zwei gleiche Teile zu zerlegen.
Er klebte ihr eine auf das prächtige Sitzfleisch.
»Holla, was gibt's da?«
Sie drillte herum, verärgert und mit heißen Augen.
»Ach! du bist's?! Man weiter, mein Liebling. Mußt dich aber beeilen.«
»Warum das?«
»Wir kriegen Besuch, gewissenermaßen hohen Besuch.«
»Von wem denn?«
»Ja, wenn du wüßtest!«
»Na, wer denn?«
»Gewissenermaßen der Gevollmächtigte des Königs.«
»Herr Jeses ...!«
Dem braven Tenkhoff fiel das Herz in seinen weitläuftigen Hosenboden. Er mußte sich halten, um nicht auf die Dielen zu purzeln.
»Nur keine Bange. Ihr Mannskerle schreit gleich Herr Jeses, Maria und Joseph. Der Prophet kommt. Dusentschuer hat sich angemeldet. Er will Schweinsohren verzehren, dazu unseren guten Spanier trinken. Men to, hab' ich gesagt, immer men to, denn so 'ne vornehme Kundschaft ist nicht außer Honorierung zu lassen.«
Sie wischte sich mit ihren kleinen Wurstfingern über das appetitliche Mäulchen.
»Denn bei Lichte besehen, Dusentschuer war es, der uns beide in ein und denselbigen Pott warf, uns gewissenermaßen als Brautleute anpräsentierte.«
»Schon richtig«, und Tenkhoff kniff seinem Herzgold, wie er seine Hausehre zu nennen pflegte, in die Paradiesäpfelwange, »aber dann laß wenigstens den Vorhang herunter, wenn er sich über die Schweinsohren und den Spanier hermacht, sonst nasen die anderen hungrigen Mäuler an unseren Pökelfässern herum, denn offen gestanden, Schweinsohren und die heutigen Zeitläufte passen man schlecht zusammen. Ungefähr wie Swienegelstacheln und dein delikates ...«
Sie hielt ihm den Mund zu.
»Männe, Männe, und du bist gewissenermaßen der ägyptische Joseph gewesen?!«
Sie lachte.
»War ich, bin ich gewesen«, gab er zurück und zog dabei energisch seinen Ledergürtel herunter. »Aber die Pökelfässer ...! Es könnte schließlich um den ›Halben Mohrenkopf‹ sengerig stinken.«
Sie zuckte die Achseln.
»Ach was! Die armseligen Fässer! Wer die Eier hat, hat die Glucke noch lang nicht. Beim Schulte Flintrup in Roxel sind noch Ferkel in Masse. Laß sie man nasen ...« und sie nahm ihre Arbeit frisch wieder auf, stellte Teller und Assietten zurecht, ließ den Vorhang herunter und plazierte letzten Endes einen dreiarmigen Leuchter auf die gespreitete Tafel.
»So, nu kann Dusentschuer kommen.«
Und der Prophet kam, ganz Würde und Hingebung, in seinem besten Zeug, um Hals und Nacken die goldene Kette mit der Schaumünze. Die leuchtete auf dem schwarzen Tuch wie eine schöne Medaille.
Von Sankt Ludgeri schlug die sechste Nachmittagsstunde, als Dusentschuer bereits das erste Gericht mit Schweinsohren und geschabten Ackerrübchen hinter sich hatte.
Der Spanier war gut.
Zwei halbe Pinten hatte er schon hinter Wams und Weste gegurgelt.
»Bonus!« und er deutete auf die leergewordene Schüssel: »Von so was noch mal dieselbige Nummer.«
Frau Tenkhoff, die ihm Gesellschaft leistete, machte kreisrunde Lichter.
»Euerer Gnaden scheint es wohl zu bekommen?«
»Jawoll! wir haben Kraut und Lot zwischen den Kiemen.«
Im übrigen blieb er einsilbig. Er schien sich in seinem eigenen Glanze zu sonnen, trommelte auf den Tisch und harrte des neuen Gerichtes.
Als es zugebracht wurde, zwinkerte das appetitliche Weibchen des öfteren nach zwei eingelegten Kästchen, die seitlich des hohen Gastes standen, ohne daß er Anstalten machte, der wohlberechtigten Neugierde ein befreiendes Ziel und Ende zu setzen.
Bei der dritten halben Pinte gab Dusentschuer Hals her. Er wurde gesprächig, schob Teller und Schüssel beiseite und sagte: »Trefflich, ganz vortrefflich, meine liebe Frau Tenkhoff. Mit so was kann man dem blödesten Baalspriester die Seele aus dem Leib exorzisieren.«
»Und die beiden Kästchen dahinten ...?!«
»Ja so ...!« und der Prophet warf seinen graumelierten Kopf in den Nacken. »Bedeutsam, höchst bedeutsam, meine liebe Frau Tenkhoff! Selbst die Deuter und Totengräber können nicht über ihren eigenen Schatten springen. Unmöglich! aber es kann immer geschehen ...«
Er fuhr sich mit den harten gelben Fingern, auf denen jedes Glied ein starres Haarbüschel zeigte, über den breiten und kantigen Schädel. Die braunen Raffzähne schoben sich über die gewulsteten Lippen.
»Ja, meine Beste, es kann immer passieren ... Die beiden Schatullen dahier und was sie umschließen ... Von mir ...! Die Arbeiten von Alexandro Neri aus Florenz und die des Nürnbergers Jamnitzer sind als Meisterwerke und Raritäten einzuschätzen. Neri verfertigte Frauengürtel und Gewandschließen, wie sie kein Sterblicher auf die Beine stellte, auch Halskettlein und sonstige Dinge. Nur ich ...« und die flache Rechte legte sich schwer auf sein Wams, daß die armen Seelchen, die über den Lichtschäften standen, in ein unruhiges Flackern gerieten.
»Um Gott nicht ...!« entsetzte sich Frau Tenkhoff.
Sie hielt still wie ein Lämmlein. Verlähmt sah sie in die vorgestoßenen Augen des seltsamen Gastes.
»Nur ich bin ihm über. Doppelt und dreifach. Auch dem Jamnitzer ... über als Prophet und gekürter Goldschmiedemeister Seiner Majestät des gekrönten Königs von und zu Sion.«
Er streckte die Beine.
Seine Blicke kamen ins Glühen.
Die vierte halbe Pinte stand vor ihm.
Tenkhoff schob erregt den Semmelkopf durch den vorgelegten Wandteppich.
»Euer Gnaden, wenn es erlaubt ist ...?«
»Warum nicht?« lachte Dusentschuer ihm zu und legte die Linke auf eines der Kästchen. »Nebenbei gesagt: Die eingepökelten Schweinsohren vom Schulten Flintrup in Roxel waren delikate Schweinsohren. Desgleichen der Spanier. Wir Künstler haben Aufmunterung nötig, sonst will der Geist nicht über uns kommen.«
Er fuhr sich durch den zerrütteten Bart.
»Darf ich weitersprechen, Frau Tenkhoff?«
»Men to! Men to!« sagte diese, immer die Blicke auf die mit Silber beschlagenen Kassetten gerichtet.
»Bonus!« und der Prophet kam in Wallung.
Die Linke auf einem der Kästchen, mit der Rechten den güldenen Wiedertäuferpfennig zwirbelnd, begann er mit heißen Worten zu sprechen: »Ich sagte schon eben: Selbst wir und die Totengräber können nicht über den eigenen Schatten springen. Aber es kann immer geschehen ... Heilo! ein Stern wird aufgehen, wie ihn hier zu Land noch keiner erschaute. Er strahlt mit arkadischem Glanz, scheinet wie eine Himmelsleuchte, und sein Geschlecht ist das einer irdischen Königin. Propter reverentiam et securitatis causa, wie die Lateiner es nennen, wappnete ich mich mit der Stärke des Löwen und der Klugheit der Schlangen, denn ich habe eine hohe Mission zu erfüllen.«
Er machte eine bedeutsame Pause und sah stumm in die Pinte.
Wie allen Zeichendeutern und Wahrsagern, haftete auch ihm die Eigenschaft an, seine Worte dunkel zu setzen, die beschworenen Bilder aus einem mystischen Spiegel zu holen.
Er atmete schwer, und schwer rangen sich ihm die wirren Sätze von den Lippen: »Alle Macht liegt bei Johannes Leydanus. Der muß früh aufstehen, der es wagt, ihm das Garn abzuspulen. Wer nicht tut, was seines Gebotes, der gehört an die hölzerne Dreifaltigkeit, wie sie hierorts den Galgen benennen, oder ans Schwert.«
Seine Stimme erhob sich. »Wir sind in königlichen Geschäften, und heute noch werden in Nachbars Gärten die Birnen geschüttelt. Wäre es anders, ich müßte mit dem Manne aus dem Lande Uz sprechen, der da recht und schlecht war, gottesfürchtig und sonder Böses im Herzen, und der da redete: Meine Harfe ist eine Klage worden und meine Flöte ein Weinen. Aber der Herr steht auf der Tenne, die Wurfschaufel in der Hand und trennt die Spreuicht vom Weizen. Sehet, wie die Weizenkörner dahinfliegen, sich häufeln. Sie werden zu Siegelsteinen, zu Smaragden und leuchtenden Rubinen, zu Splittern, die da gleißen wie Gold, zu Geschmeiden und Perlschnüren, wie sie blühen unter dem Gewölbe des Himmelreiches. Sehet hier dieses!« und er nahm das erste Kästchen und öffnete es, und siehe: zwei Schuhe glänzten hervor, die waren so zart wie die Hand eines Kindes, von sämischem Leder, mit Filigran durchstickt und umsponnen, mit Beryll und böhmischen Granaten über und über bebildert.
Frau Tenkhoff schlug die Hände zusammen und dachte bei sich: »Das ist 'n ganz Gerissener, der die Lampe erst ansteckt, wenn's wirkliche Nacht ist.« Dann laut: »Mein Gott und mein Heiland ... und wer soll sie tragen?!«
»Oh!« rief der Prophet. »Mordio und Feuer! Spieglein, Spieglein ...! nur die Schönste im Lande«, und er nahm die zweite Kassette. Die war noch feiner gebildet, mit Schmelz versehen und das Wappen des Königs auf der Silberschließe: die Weltkugel, durchstoßen von zwei zierlichen Schwertern.
Auch diese öffnete er; ein Glimmern und Glitzern, ein Glänzen und Blitzen erhob sich, als würden die Mirakel aus der Höhle Xa-Xa plötzlich aus ihrem Dunkel und Düster gehoben ... ein Geschmeide für den Hals eines Weibes, dessen Kunstfertigkeit und Glanz die Augen blendete und den Mund verstummen ließ.
Die Wirtsleute standen in trunkener Anbetung. Ihre Augen stielten sich vor, vergrößerten sich, wurden zu Hummeraugen.
Aber die junge Frau girrte nach Luft und Erlösung.
»Mein Gott und mein Heiland ...! Gewissenermaßen ... und wer soll das tragen?«
»Oh!« rief Dusentschuer und schloß die Kästlein voller Wunderwerke und Zeichen. »Mordio und Feuer! freue dich, Hälslein, freuet euch Brüstlein! Spieglein, Spieg- lein ...! nur die Schönste im Lande, der neue Stern wird es tragen. Der neue Stern, schöner denn alle und mit dem Geschlecht einer irdischen Königin.«
Er hob sich auf und stand in Verzückung.
»Heilo! aus der ehelichen Frucht ihres Schoßes wird sich ringen das Prinzlein als Folger im Amt, der da weidet und führet alle Völker auf Erden. – Heute noch, so um die neunte Abendstunde herum, wird sich in Münster Großes begeben. Ich wurde zum König geladen. Dort wird mir die Kraft und Herrlichkeit werden, am morgigen Tage Geschmeide und Schuhe um den köstlichsten Nacken, an die zierlichsten Füßchen ...«
Er winkte ab und ließ sich schwer in den Sessel zurückfallen.
»Lasset es hiermit genug sein. Der Geist sehnt sich nach Ruhe und dem stillen Genießen einer sanften Ermattung.«
So Dusentschuer.
Dann sah er mit verschmitzten Äugelchen auf Frau Tenkhoff: »Ich glaube, ich könnte noch die fünfte halbe Pinte gebrauchen. Der Spanier ist gut und über jedes Ermessen.«