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Ohne seinen Vermutungen anderen gegenüber weitern Spielraum zu geben, ging Herr Barthes Terwelp nach Hause. Er dachte an Marie Verwahnen. Obgleich er sich bemühte, das Trübe aus seinen Folgerungen zu scheuchen, heiteren Gedanken Raum zu geben und seine vermeintlichen Beobachtungen in das Reich einer regen Phantasie zu verweisen, er konnte über gewisse Punkte nicht hinweg; immer tiefer klügelte er sich in den Zusammenhang der Dinge hinein, konstruierte, tüftelte, bis schließlich das beklemmende Gefühl des Zermarterns sein Inneres beherrschte und er seiner Unruhe kaum noch Herr werden konnte.
Müde und abgespannt warf er sich in einen Sessel.
Es hielt ihn nicht lange darauf.
Er setzte eine Virginia in Brand.
Sie schmeckte ihm nicht.
Mit einer unwirschen Geberde warf er den glimmenden Rattenschwanz in eine Ecke des Zimmers. Immer diese Zwangsgedanken, der drückende Alp, den er nicht zu bannen vermochte! – Die Lehre vom magnetischen Rapport, die er selbst nicht leugnen konnte, trat ihm vor die Sinne, und er beschäftigte sich eingehend mit der Projektion des Willens, jener besonderen Art der Beeinflussung des Individuums durch ein anderes, die er noch vor einiger Zeit seinem Freunde Abraham van Melle gegenüber in beredten Worten verfochten hatte. Er erörterte das Sein und Nichtsein des geheimnisvollen Ods und grübelte über das Fluidum nach, das nach seiner Ansicht imstande war, auf höchst mysteriöse Weise von einer feinnervigen auf eine andere, besonders hierzu prädestinierte Person überzuspringen. Sollte etwa auch hier – von Marie Verwahnen – auf ihn . . .
»Unsinn!«
Warum überhaupt dieses sensitive Grübeln und Denken? – Und selbst zugegeben, seine Vermutungen deckten sich mit der Wirklichkeit – warum diese Erregung, wo doch nicht mehr zu retten und zu helfen war? – Aber dieses Mädchen, dieses auch von ihm verehrte Geschöpf mit den feinfühligen Nerven, dem äußeren Reiz und der sonderbaren inneren Verklärung . . . Wenn es möglich wäre, wenn wirklich . . .!«
»Ach, was!«
Hastigen Schrittes ging er auf ein Schränkchen zu, entnahm ihm Glas und Flasche und suchte das Unbehagliche seiner Stimmung durch die belebende Wohltat des Tokayers hinwegzuspülen.
Eine Stunde später war Herr Doktor Barthes Terwelp zu seinen Patienten gegangen. – – –
»Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!«
Gestärkt hob sich Abraham van Melle vom Betstuhl.
»Herr, mein Gott,« sagte er, »ich danke Dir, daß Du diesen Kelch vorübergehen ließest. Ewiger Gott, Deine Allmacht und Güte währet ewig!«
Und plötzlich sah er das Leben mit anderen Augen an. Nicht mehr lauter Mühe und Arbeit schien es für ihn; eine lachende Sonne strahlte hinein – und wenn auch mit Sünde und Irrtum gemischt, so war doch die furchtbare Not aus seinem Dasein gewichen. Die dunklen Schatten, die riesengroß zu werden begannen, schrumpften in sich zusammen, freundliche Ausblicke taten sich auf. Er sah in eine Gegend hinein, über welche ein schweres Gewitter, ohne merklichen Schaden angerichtet zu haben, gezogen war. Neubelebt lag sie vor ihm. Tausend und aber tausend Tropfen perlten auf den frischgetränkten Halmen, die Natur atmete auf, ein sanftes Regen und Säuseln lief durch die triefenden Bäume, und mit süßem Wohllaut rief eine ferne Glocke über die friedlichen Lande – die Abendglocke des Herrn.
Verklärten Auges sah Abraham van Melle in diesen Abend hinein. Es kam über ihn wie eine Verheißung, wie ein Appell an eine glückliche Zukunft. Und dieses Glück, das ihm unter Tränen zulächelte, war ihm durch Marie Verwahnen geworden, durch jenes Mädchen, dem er skeptisch begegnet, das er verdammt hatte. Ja – jetzt stand sie in der lachenden Landschaft, die sein Geist vor seinen trunkenen Blicken entrollte. Aber sie stand allein, vereinsamt, müde und trostlos, und schwarze Kleider wehten um ihre schöne Gestalt, die der Abendwind gegen das ersterbende Licht blies. Sie wurden länger und florig, bis sie die milden und heiteren Farbentöne völlig bedeckten.
Der Prediger fühlte sich unbehaglich.
Legte sich ihm nicht eine kalte, unsichtbare Hand quer über die Stirne?!
Er verfärbte sich.
Da wurde an die Tür geklopft.
»Domine . . .!«
Hille Verwahnen trat unter Führung Stinas ins Zimmer. Die Alte machte den Eindruck einer Verstörten. Das graue, dünne Haar hing ihr in dürftigen Strähnen um die eingefallenen Wangen. Die schmalen Lippen versuchten zu sprechen, aber Hille Verwahnen konnte die Worte nicht finden.
»Na, Hille – was gibt es?«
Als Abraham van Melle dies fragte, da sah er wirklich, daß die Alte verstört war; ihre Blicke liefen ängstlich und unstet durch alle Ecken des Zimmers. Da nahm er die Hand der alten Frau und sah stumm auf sie nieder.
»Domine,« stotterte diese, »sie – war – hier – meine Tochter?«
»Sie war hier – und bei ihm,« versetzte der Prediger.
»Und jetzt – wo ist meine Tochter?«
»Nicht mehr da.«
»Und war hier?«
»War hier – sie wird nach Hause gegangen sein.«
»Ach, Gott – nein, nein, nein . . .!«
»Vielleicht in der Kirche . . .?«
»Auch da nicht.«
»Ich will doch nicht glauben . . .«
»Das ist es ja eben,« stöhnte die Alte. »Wenn einer da tritt und webt und die Lade stampft, kann kein Unglück passieren, stirbt keiner, wird keine Todsünde getan, reißt kein Deich und geht kein Wasser über das Land hin. – Domine, das ist es ja eben: ich habe die Zeit verpaßt und bin eingeschlafen über der Lade. – Und nun ist das Unglück gekommen.«
»Aber, Hille . . .!«
»Das Unglück, das Unglück . . .!«
Der Prediger fuhr auf.
Draußen erhob sich ein Geräusch von vielen Stimmen.
»Domine,« sagte Mutter Verwahnen mit flatternder Stimme, »die wissen's auch schon. Die fühlen das – die glauben fest, daß da irgend was passiert ist mit meiner Tochter. Aber wenn da etwas passiert ist . . . Jesus Christus, Herr Pastor . . .!«
»Liebe Frau . . .«
»Wenn da etwas passiert ist, Herr Pastor . . .!«
Mit vorgestreckten Händen, langsam rücklings schreitend, sagte die Alte: »Domine, beten Sie für meine unglückliche Tochter.«
Tränenlos verließ sie das Zimmer und ging von hier auf die Straße: »Ich will sie suchen, ich muß sie finden . . .«
Abraham van Melle hörte diese Worte noch von der Treppe her. Das übrige verhallte in dem lauter werdenden Stimmengewirr von draußen. Auch er schloß jetzt auf ein herannahendes oder bereits geschehenes Unglück. Er ging ans Fenster und sah von dort aus das Verworrene und Verstörte in den Mienen der Leute, die auf Mutter Verwahnen vor seinem Hause warteten. Viele steckten die Köpfe zusammen und verhandelten laut und mit halb verschluckten Sätzen zusammen. Er dachte an seinen Sohn, er dachte an das Wunder und an Marie Verwahnen, er dachte daran, was da noch alles verhängnisvoll in der Zukunft schlummerte für ihn und die anderen. Und Abraham van Melle wurde bewegt und ergriffen. Er beugte sich vor der Wucht des Verhängnisses, dem gegenüber alles menschliche Wissen und Können zwerghaft erscheint. –
Unten ging es jetzt lauter und lärmender zu. Erschüttert von den ungeheuerlichen Vermutungen, die immer mehr um sich griffen, wollten die Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen. Man suchte nach Motiven der verhängnisvollen Tat, denn daß die Wachsmarie gestorben und zwar keines natürlichen Todes gestorben war, das stand bei allen so fest wie das ›Amen‹ in der Kirche. Man erinnerte sich mit einiger Dankbarkeit an so vieles, was die Ärmste getan hatte. Man erinnerte sich des Wunders auf dem Paternosterdeiche, man hielt sich vor, daß sie immer so fromm und sittsam gewesen, daß sie, die doch wenig Begüterte, gern gegeben hatte, wenn es ihr karges Einkommen erlaubte, ja, man erinnerte sich . . . Andere wieder nahmen die nackte Tatsache hin, ließen aber das Mitleid beiseite. Man sprach von einem Begräbnis ohne kirchlichen Beistand, von einem Grab auf ungeweihter Erde und von anderen Dingen, bei denen das Stummbleiben der Glocken eine Hauptrolle spielen würde. Das Mitgefühl, das man Hille Verwahnen selbst entgegenbrachte, vermochte hieran nicht vieles zu ändern. Das Urteil über ihre unglückliche Tochter war im allgemeinen vernichtend, erschwert durch die zuletzt gesprochenen Worte Bonaventuras, die noch im Gedächtnis aller hafteten. Es stand schlimm um das Gedenken des verschwundenen Mädchens.
Bei Mutter Verwahnen, die bislang hilfesuchend und in einem fast lethargischen Zustand durch die Leute gegangen, kam endlich die Erkenntnis ihres ganzen Unglücks zu Raum. Mit einem wilden Schrei brach sie auf der Straße zusammen. Barmherzige Menschen brachten sie in ihre Wohnung.
Und da zogen viele hinaus – hinaus auf die Wiesen . . .
Doktor Barthes Terwelp begegnete ihnen. –
Die Stunden des Tages krochen wie die Schnecken, die nicht Ende noch Ziel finden konnten.
Die Leute standen in flüsternden Gruppen zusammen. Die Neugierigen jedoch waren hinaus auf den Deich gegangen, um zu sehen, was diejenigen machten, die es sich nicht hatten nehmen lassen, die Vermißte zu suchen. Von hier aus sahen sie viele dunkle Punkte, in langen Reihen auseinander gezogen, über die grünen Wiesen streifen. Unter den Suchenden befanden sich Cornelis Janßen, Moses Herzlieb, Perdje Puhl und Herr Eusebius Dornkat, die unter Anleitung des Doktors die verschiedenen Kolke und Teiche abfischten, die zwischen dem Rheindamm und dem Pappelgehölz diesseits Wisselwards gelegen waren. Über die Stelle, wo er bei seinem Heimritt die Erscheinung im Nebel gehabt haben wollte, war er sich zuerst nicht im klaren. Erst als er dem mächtigen Holunder wieder begegnete und die alte Weide bemerkte, die er noch heute morgen passiert hatte, da glaubte er auch das betreffende Wasser gefunden zu haben, wo die Ärmste zu suchen war.
Tiefblau und friedlich lag es mitten im lachenden Frühling. Leise strich der Wind über die stille Fläche. Nur leichte Furchen zogen von einem Ufer zum andern. Hungerblümchen und Goldenmilzkraut schmiegten sich um das umbuschte Ufer des Teiches. Eine kirchliche Weihe ruhte auf dem verschwiegenen Wasser.
Es mochte um die dritte Mittagsstunde sein, als die Menschen, die sich auf dem weiten Gelände zu schaffen machten, plötzlich zusammenliefen. Bald darauf bewegte sich eine traurige Gruppe der Stadt zu. Diejenigen, die bisher neugierig auf der Deichkrone gewartet hatten, kamen ihr entgegen und schlossen sich an. Viele von ihnen schlugen die Hände zusammen. Keiner wagte zu sprechen. Der Anblick des Traurigen hatte alle stumm gemacht. Moses Herzlieb, der mit Doktor Terwelp voranschritt, hatte die Seidenmütze abgenommen und drehte sie entsetzt, gleichsam um Herr seiner Gefühle zu bleiben, zwischen den Händen. Still und ernst zog man in die geängstigte Stadt ein. Wortlos ließen die Menschen, die vor den Häusern standen, den kleinen Zug vorüberziehen. Sie faßten es nicht; sie konnten es auch nicht fassen, aber alle bewahrten unter dem Eindruck des erschütternden Schlages eine würdige Haltung. Perdje Puhl war den anderen gestikulierend und unter allen Zeichen des Schreckens vorangeeilt, um dem Herrn Dechanten über das Vorgefallene Bericht zu erstatten. Die Konferenz dauerte lange. Wichtige und schwerwiegende Fragen mußten zwischen den beiden Männern verhandelt worden sein, denn als nach ungefähr einer Stunde Perdje wieder zum Vorschein kam, trug er eine Haltung zur Schau und machte dazu ein Gesicht, als sei von ihm, unter Hinzuziehung des Herrn Dechanten, über das zukünftige Seelenheil der Marie Verwahnen in aller Feier und Form entschieden worden – und das von Rechts wegen.
Viele Menschen umstanden das Haus Hille Verwahnens. Als sich die Tür hinter dem kleinen Zuge schloß, hörte man einen herzzerschneidenden Aufschrei, dem bald darauf ein leises Wimmern folgte. Nicht lange danach erschien der Herr Polizeidiener, um die Voruntersuchung einzuleiten und den Tatbestand vorläufig in seinem dickleibigen Notizbuch festzustellen. –
Inzwischen hatte sich Barthes Terwelp in das evangelische Pastorat begeben. Er traf Abraham van Melle bei seinem Sohne an. Gestärkt schlummerte der Genesende zwischen den weißen Kissen. Er fühlte noch immer die kühle, lindernde Wachshand und den belebenden Odem des lieblichen Mädchens . . .
Abraham van Melle hatte das Kommen und Gehen der Leute da draußen nicht bemerkt, und Stina Prußt hatte noch keine Zeit gefunden, ihm die traurige Nachricht zu übermitteln. Sie stand als Neugierige mit den übrigen vor der Haustür der Webersleute. Allen Groll gegen das christkatholische Fraumensch schluckte sie heroisch herunter. Jedes Unglück wirkt besänftigend; es macht mitleidig, edelmütig, empfänglich – und Stina Prußt konnte vergessen.
Lautlos war der Arzt ins Zimmer getreten: »Domine . . .«
»Barthes . . .!«
»Wir haben Marie Verwahnen gefunden.«
»Menschenskind . . .!«
»Sie ist tot,« ergänzte Barthes Terwelp mit gedämpfter Stimme. »Meine Ahnung täuschte mich nicht; nicht weit vom großen Flieder hat sie im Wasser zwischen den Weiden gelegen. Jetzt gilt unsere Sorge dem da.«
Abraham van Melle wankte. Er hielt sich an einer Stuhllehne: »Barthes, Barthes, Barthes . . .!«
Draußen entstand ein dumpfes Geräusch, das immer näher rückte.
Stina Prußt öffnete hastig die Tür.
»Domine, die Alte von drüben, Hille Verwahnen ist hier . . . Ich glaube . . .«
Ein lautes Weinen und Jammern drang ins Zimmer.
»Marie . . .! – Marie . . .!«
Geisterbleich erhob sich der Kranke von seinem Lager.
»Wer rief nach Marie?! – Wo ist sie? – Was will sie? – Herr Doktor, mir ist so . . .«
»Domine,« meinte Terwelp, »es ist besser, er erfährt das Schlimmste: denn zu verheimlichen ist hier nichts mehr – und Zweifel erdrücken.«
Ohne die Antwort des Predigers abzuwarten, begab sich Barthes Terwelp in die Tiefe des Zimmers. Hier ergriff er die Hand des Kranken, setzte sich zu ihm und sprach lange auf ihn ein.
Endlich zeigte er leise nach oben.
Da fiel Johannes van Melle mit einem dumpfen Laut in die Kissen zurück.
Barthes Terwelp blieb bei ihm und wachte bei ihm. Der Prediger aber ging zu Hille Verwahnen. – – –
Die Nacht kam und die Nacht ging. Im Befinden Johannes van Melles wechselten sich Fieber und Selbstgespräche ab. Ängstlich verfolgte Doktor Terwelp den weiteren Gang der Erscheinungen. – In der darauffolgenden Nacht war sein Geist ruhiger geworden. – Seine Gedanken traten in das kleine Zimmer ein, wo sie die Verblichene aufgebahrt hatten. Er war allein mit ihr, so ganz allein, denn Mutter Verwahnen hatte bei seinem Eintritt die Stube verlassen. Friedlich lag seine Marie zwischen den schwarzen Brettern. Die Lichjungfer hatte alles auf das beste besorgt. Sie hatte ihr ein weißes Kleid angetan, die braunen Haare mit dem Metallschimmer auf das sorgfältigste gescheitelt und ihr das Kränzchen, das sie als Kind zum ersten Male am Fronleichnamstage getragen, um die wachsbleichen Schläfen gelegt. Die schlanken Hände waren über der Brust gefaltet; Partikelchen glitzernden Rauschgoldes lagen über Sterbekleid und Haare verstreut. Er trat dicht an die Lade; ihm war es wie Licht und Gesang. Nun hatte er sie doch noch gefunden. Er tastete nach ihrer kalten Hand und behielt sie lange in der seinen. Jetzt entzog sie ihm diese nicht mehr. Und wie ruhig und doch wie beredt lag das liebe Gesicht auf dem schmalen Kissen! – Und als er sich niederbeugte, fiel eine Träne auf die wächserne Stirne. Da brach er vor der Lade zusammen und legte seinen Mund auf den der Verstorbenen. Sie ließ es ruhig geschehen und sträubte sich nicht wie das letzte Mal. »Marie – meine liebe Marie . . .!« Sie hörte ihn nicht mehr, sie gab keine Antwort; nur die Kerzen, die die Lichjungfer aufgesteckt hatte, unterbrachen die Stille, die so still war wie das Herz, das unter dem weißen Kleide nicht mehr schlagen wollte. So weilte er stundenlang bei der toten Geliebten. Als er ihr dann den letzten Kuß gab, als er Abschied von ihr nahm, als er dann zur Tür ging und noch einmal sich wandte, da glaubte er ein goldenes Reiflein zu sehen, das wie ein Heiligenschein über ihrem verklärten Gesicht stand – und das Reiflein flimmerte so . . .
*
Drei Tage nach ihrer Auffindung sollte sie bestattet werden. Schon in aller Frühe kam Herr Eusebius Dornkat mit seinem Newö in das Sterbehaus. Sie trugen ein Kränzlein von Buchsbaum, Pinsel und Farbtopf mit sich. Das Kränzlein befestigte der Herr Newö am Fußende des einfachen Sarges, und in diese Umrahmung hinein pinselte Eusebius Dornkat die vier inhaltsschweren Buchstaben ›R. I. P. S.‹ mit weißer Ölfarbe. Nach diesem Liebesdienst verließen die beiden Männer das Trauerhaus, um sich sonntäglich anzuziehen.
Eine Stunde später erschienen die Träger. Es war eine ungewöhnliche Zeit, da sie sich einstellten. Sie hatten ihre bestimmte Weisung erhalten und durften daher nicht anders handeln. Mit altmodischen Zylindern auf den Köpfen, mit glattrasierten, bläulich angehauchten Gesichtern und langen, schwarzen Röcken betraten sie das Sterbehaus. Bei ihrem Eintritt sahen sie sich gleich nach dem ortsüblichen Schnaps um. Eine weitläufige Verwandte der Familie Verwahnen sorgte dafür, daß diese Gemütsmenschen nicht zu kurz kamen. Mit geschlossenen Augen und behaglichem Schmunzeln gossen sie die helle Flüssigkeit hinter die verknotete Binde. Sie waren in die richtige Stimmung gekommen. –
Zur Zeit der Beerdigungsstunde saßen Nettchen und Settchen Käschen beim Morgenkaffee. In ernster Stimmung tauchten sie ihre Milchbrötchen in die dampfenden Tassen. Große Trauerschleifen hatten sie um ihre weißen Kragen geschlungen, aber weniger des Herzeleids halber, das ihnen das entsetzliche Geschick der Wachsmarie verursacht hatte, als vielmehr der unsterblichen Seele wegen, die nach ihrer kirchlichen und felsenfesten Überzeugung unrettbar für den Himmel verloren war. In dieses Wehleidige mischte Settchen aber eine gewisse freudige Zuversicht hinein, da durch den Tod ihrer bisherigen Vorgesetzten für sie ein Einrücken in deren Stelle nicht ausgeschlossen erschien. Der Stimme des Herrn Dechanten und der Perdje Puhls war sie sicher – und das genügte so ziemlich. Nachdem Nettchen und Settchen den Kaffee zu sich genommen und die leckeren Milchbrötchen verzehrt hatten, gingen sie ruhigen Herzens zur Schule, die seit einigen Tagen ohne Hauptlehrerin war.
Inzwischen stellten sich die Leidtragenden ein. Nur wenige erschienen, darunter: Doktor Barthes Terwelp, Abraham van Melle, Cornelis Janßen, Eusebius Dornkat mit seinem Herrn Newö, Moses Herzlieb und noch einige, die in näherer Beziehung zu Hille Verwahnen standen.
Mutter Verwahnen selbst hatte sich wiedergefunden. Tränenlos sah sie den Vorbereitungen zu, tränenlos sah sie, wie die glattrasierten Männer ihr einziges Kind aufhoben und über die Schwelle trugen. Aber da drinnen, in ihrem Herzen da drinnen . . .
In aller Stille ging es dem nahen Kirchhof zu. – Keine Glocke wurde geläutet – auf ungeweihter Erde ward sie bestattet.