Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XI.

Herr, erbarme Dich meiner!

»Heb' das Auge, das Gemüte,
Sünder, zu dem Berge hin;
Schau' die Qualen, schau' die Güte,
Schau', ob ich dein Heiland bin.«

Der Gesang verstummte. Ohne Orgelbegleitung hatte die andächtige Gemeinde gesungen. Ans Herz greifend und die Sinne eigenartig berührend, waren die dumpfen Klänge des einleitenden Fastenliedes durch die dreigeteilte Halle der gotischen Kirche gezogen. Leise verlor sich die Klageweise zwischen den Pfeilerbündeln des Hohen Chores.

Von brennenden Kerzen auf hohen Metalleuchtern flankiert, sah der blutrünstige Kruzifixus über die vielhundertköpfige Menge, die betend in den Bänken kniete oder auf den kalten Steinfliesen am Boden kauerte. Nur ab und zu ein verhaltenes Hüsteln, ein Knittern der gewendeten Gebetbuchblätter – sonst tiefe, beängstigende Stille. In bestimmten Intervallen tropfte das flüssige Wachs auf die Messingschalen. Eine dunstige Helle ging von dem Lichtmeer aus, das jenseits des Lettners das ›Heilige Grab‹ umleuchtete, in welchem der Leichnam des Herrn, ein aus Eichenholz geschnitztes und mit weißer Kalktünche bekrustetes Bildnis, aufgebahrt lag und in seinem naiven Pomp die Gemüter erschütterte.

Stocksteif, mit einer Art von Soutane umkleidet, stand Perdje Puhl am heiligen Grab und blickte unverwandt auf den Eingang der Sakristei, der in das nördlich gelegene Seitenschiff der Kirche einmündete. In der linken Hand trug er eine hölzerne Klapper. Jetzt gab er den zunächst Sitzenden ein überaus herablassendes Zeichen, zupfte mit Daumen und Zeigefinger an der Unterlippe, streckte sie gummiartig vor, ließ die wimperlosen Augendeckel herabfallen und begann Wort und Weise des zweiten Liedes mit fulminanter Stentorstimme anzuschlagen. Die Gemeinde fiel ein, und ergreifend lief es vom Hohen Chor zum Turmeingang, vom Nord- zum Südportal in anschwellenden Tönen:

»Stabat mater dolorosa
Juxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius.
Cujus animam gementem,
Contristatam et dolentem
Pertransivit gladius.
«

Pergoleses Meisterwerk rüttelte und schüttelte die Herzen, machte Stimmung und Weihe und ließ auch die Nacken der Andersgläubigen tiefer sich beugen. Auf dem Baß der Altmännerleute schwammen die Weiberstimmen wie flimmernde Lichtpunkte, und über das alles flatterten die aus tiefster Brust und in seraphischer Stimmung herausgeholten Klagetöne des Schwesternpaares Käschen wie schwarze Trauerbänder dahin. Die frommen Hände auf die spärlichen Busenfragmente gedrückt, verzückt ihre Reliquien betrachtend, sich auf Pergoleses Meistertönen gen Himmel singend, knieten sie dicht hinter Marie Verwahnen, die nicht weit von der Kanzel neben einem brennenden Wachsstock Platz genommen hatte.

»Quis est homo, qui non fleret,
Christi matrem si videret,
In tanto supplicio . . .
«

Knarrend hallte die von Perdje Puhl gedrehte Schnarre dazwischen. Ein fühlbarer Ruck ging durch die Versammlung bis in die hintersten Bänke, denn jetzt nahte der Ersehnte, der Gefeierte, der Mann des sieghaften Wortes von der Sakristei her.

Die schönen Hände in den weiten Kuttenärmeln vergraben, mit freier Stirn, auf der die durch ernste Selbsterziehung gewonnene Charakterstärke sich widerspiegelte, ein Mann mit weltmännischen Manieren in jeder Bewegung, bestieg Pater Bonaventura die Kanzel. Unter den Klängen der zweiten und der folgenden Strophen kniete er nieder und betete lange.

Immer inbrünstiger, verlangender, packender drangen die Mysterien des frommen Liedes von den Lippen der Gläubigen. Kerzenlicht, Dämmerungen, Schlagschatten und der ragende Kruzifixus . . . und dann:

»Quando corpus morietur,
Fac ut animae donetur
Paradisi gloria.
«

Eine unnennbare Inbrunst wohnte in diesem Gesange. Töne waren's, unter deren Allgewalt das Trauerspiel auf dem Kalvarienberg lebhaft vor die Sinne trat, Klänge, die man nie mehr vergessen konnte im Leben. Zum Erlöser schreiend, sich aus dem irdischen Tale der Tränen sehnend, stiegen sie aufwärts, um melancholisch am Kreuzgewölbe zu ersterben. Das Lied verzitterte, verwehte – aber auf der Kanzel erhob sich Pater Bonaventura. In der weißen Kutte mit dem dunkelfarbigen Oberkleid, die durchgeistigten Hände auf die Kanzelbrüstung gelegt, den schlanken Oberkörper ein wenig rückwärts gebeugt, den ausdrucksvollen Schwärmerkopf mit dem kastanienbraunen Haar und der großen Tonsur zur Seite geneigt, ließ er die Blicke mit einem feinen Lächeln über die Schar der Andächtigen schweifen. Sehnende Augen, verklärt und tiefgründend . . .! – und auf Marie Vermahnen blieben sie haften, als hätten sie an diese eine stumme Frage zu richten. Und diese Augen . . .! –

Marie Verwahnen mußte sie fühlen. Ihre Brust hob und senkte sich wie unter dem Einflusse einer auf sie eindringenden höheren Gewalt. Die Hände ineinander verschlungen, das schmale Gesicht von der weißen Hülle umzirkt, in dem schmalen Gesicht dunkle Schattenringe, in dessen Tiefen die Augäpfel sich maßlos vergrößerten, versuchte sie die diabolischen Lockungen niederzukämpfen, die in verführerischer Gestalt sich ihres Geistes bemächtigt hatten. Was wollte der Satan . . .?! – Ihre Gedanken jagten sich in hastiger Flucht.

»Großer Gott, heiliger Gott – rette mich vor mir selbst!«

Unter ängstlichem Murmeln sah sie ins Leere.

Da schlugen ihr die ersten Laute Bonaventuras ans Ohr. Er las das Evangelium vom Leiden und Tod des Erlösers, und diese Laute kamen ihr vor wie das Klingen von Harfensaiten, mit denen der Wind spielt. Und dieser Wind nahm an Stetigkeit und Heftigkeit zu, bis er schließlich zum Sturm wurde, um alsdann wieder allgemach in sich zusammenzufallen.

Der Benediktiner legte das Evangelium auf die Kanzelbrüstung. Mit einer raschen Handfertigkeit schlug er die Ärmel des weiten Obergewandes zurück: »Kommet her und sehet die Stätte!«

Und wie in einer Zauberlaterne zog es an der frommen Menge vorüber. Jeruschalaim! – und hier der Berg des Bösen Rates, der Berg des Ärgernisses, und weiter gen Osten, von Olivenhainen bedeckt und dreifach gekuppt – Golgatha. Und die Palmen von Josaphat wehten herüber, und auf dem höchsten Geklüft, das die Schlucht des Kidrons einengte, saß Satanas und spannte die Fledermausflügel. Die Sonne hatte ihre Mittagshöhe erreicht – aber die Fledermausflügel spannten von Osten nach Westen, und sie beschatteten, was jenseits des Toten Meeres lag bis über das Pisgagebirge hinaus, und sie bedeckten den felsigen Landstrich zwischen Jeruschalaim und Joppe, und sie legten sich schwer auf die purpurblauen Wogen des Mittelländischen Meeres. Und da solches geschah, zogen Dämmerungen über die Erde und über den Himmel, und das Dunkel wuchs mit großer Schnelligkeit und hüllte die heilige Stadt ein und die Berge des Bösen Rates und des Ärgernisses; es kroch im Geklüft aufwärts, wo Satanas saß, und umhüllte auch ihn. Nur seine Augen leuchteten gleich feurigen Kohlen durch die Nacht. Und tief in ihnen lag ein bläulich-grünlicher Schein. Der stierte unverwandt gen Golgatha. Jenseits des Berges dehnte sich ein langgezogener Lichtbalken, eingefaßt von schieferblauen Schattenmassen, die wie aufgeklebt am Firmament hafteten; das Licht aber hatte eine sandige Färbung, die an den Ton von Gewitterwolken erinnerte, wenn Hagel darin sitzt.

Die dunkelblauen Schattenrisse dreier Kreuze ruhten auf der sandfarbigen Helle. Alle Einzelheiten waren deutlich erkennbar. Das mittlere Kreuz maß etliche Schuhe höher denn die übrigen. An seinem Längsscheit war eine Tafel befestigt – und an diesem Kreuze hing sterbend der Nazarener.

Eine Aureole umbüschelte sein Haupt.

Es war der einzige milde und versöhnende Schein in der Finsternis.

Und Satanas sah nach dem Nazarener hinüber. Er wollte den Menschensohn sterben sehen und sich weiden an seinen Qualen. Das sollte ein hoher Genuß für ihn sein, denn er wußte, daß mit dem Tode des Erlösers ein Teil seiner großen Macht auf Erden dahin sei. Und darum haßte ihn Satan – und darum freute er sich auf das kommende Sterben.

Und von Golgatha kam ein dumpfes Geschrei: »Sei gegrüßt, König der Juden!«, dem eine Stimme folgte, die da lautete: »Herr, gedenke meiner, wenn Du in Dein Reich kommst.«

Und die dritte Stunde verfloß, und wieder klang es durch die grausige Stille: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?!«

Da flog ein höllisches Grinsen über das Gesicht des Gespenstes mit den Fledermausflügeln. Ein Zittern und Bersten lief durch die Kidronfelsen. Die Palmen von Josaphat rauschten dumpf herauf wie Wasser der Meerflut. Und wieder die atemlose Stille von eben. Der stille Hügel, auf dem die Kreuze standen, hörte das Herz des Sterbenden klopfen. Sein Atem trat in die letzten Züge ein. »Es ist vollbracht!«

Das Herz des Nazareners hatte aufgehört zu schlagen.

Mitdem hallte ein betäubendes, gellendes Gelächter über die steinige Landschaft. Es war ein scheußliches Freudengelächter; das bleierne Wasser des Toten Meeres mußte es hören.

Der zackige Sitz auf dem Felsblock der Kidronsschlucht war leer – und die Sonne stand wieder am Himmel. –

Und Bonaventura reckte sich auf; sein Antlitz war unter der Beschwörung der Großen Passion schier überirdisch geworden. Darin leuchtete es auf wie ein heiliges Feuer, durchzuckt von einer ergreifenden Wehmut, die die Mundwinkel schmerzlich herabzog.

»Und Satanas hatte gelacht . . .

Mit pochenden Schläfen stieß Bonaventura die letzten Worte über die lautlose Menge; dann schloß er die Augen.

»Und Satanas hatte gelacht . . .!« Wie eine Posaune kam es daher, doppelt ergreifend und wirksam durch die Art und Weise, wie Bonaventura es brachte.

Unter Schauerkrämpfen ließ Marie Verwahnen ihre kalte Stirn auf die Holzbank sinken. Ihre Knie zitterten; ihre Fingerspitzen krümmten sich ein. Eine unstillbare Sehnsucht drang trotz der Leidensgeschichte des Herrn, trotz allen Bangens bis an die Pforte des Paradieses. Und dort in der goldenen Pforte erhob sich ein seraphisches Bildnis mit mächtigen Flügeln. Und dieses Bildnis stand wie ehern in dem flammenden Eingang. Seine Haare waren gelockt, die Augen glänzten in himmlischer Glut, und durch den unendlichen Raum drangen die Harmonien seliger Stimmen. Das Bildnis aber trug die schönen Züge Bonaventuras . . .

Marie schreckte auf und stierte zur Kanzel. Da stand er mit heiligen Zügen, stark, groß, frei; so hatte sie ihn noch niemals gesehen.

»Und Satanas lachte,« fuhr der Mönch mit gedämpfter Stimme fort, »und sein Gelächter tönt auch heut so scheußlich, so herausfordernd und furchtbar wie an jenem Tage, da der Welterlöser das Haupt neigte und Leib und Seele sich schieden. Es dringt in die verborgensten Winkel, es gellt hinein in die verschwiegensten Stuben, es ist dort, wo der Schnaps die Gesichter dunsig macht und die Morgensonne dem auf den Tisch geknallten Coeurkönig ins Gesicht lacht. Es überhallt die heimliche Sünde und wiehert vor Freude in die Liebesidylle hinein, wenn zwei auf verbotenen Pfaden sich finden und das Mondlicht seine verführerischen Netze wie ein pfiffiger und kundiger Teich- und Reusenmeister auswirft. Und die zappelnden Fischlein verfallen den engen Maschen, denn der feurige Liebesstern betört ihre Sinne – und der brünstige Nachtmar treibt sie hinein. Und das Gelächter, das teuflische Lachen, das die göttliche Vorsehung gewissermaßen als Warnung bestehen läßt . . .?! – Die es hören sollen, hören es nicht! – Geliebte im Herrn! – Ich bin ein Mensch und denke menschlich von den menschlichen Schwächen – und wehe dem, der es wagen sollte, den ersten Stein gegen die von der Sünde Umgarnten zu heben! – Noch leben sie, noch strecken sie sich nicht in dem letzten Hemd, noch ist keine Grube für sie aufgeworfen, und so lange sie leben, ist auch für sie der Kreuzesstamm auf dem Kalvarienberge errichtet, das Kreuz der Erlösung.«

Settchen Käschen schlug sich bei diesen Worten an den kindlichen Busen, während Nettchen in dem Überwallen ihrer Gefühle die Kapsel mit der Reliquienpartikel an die betenden Lippen drückte. Moses Herzlieb äugelte scheu um die Pfeilerecke und zwirbelte verlegen seine seidene Schirmmütze in den Händen herum. Er war sich keiner Sünde bewußt, wenn er von dem sich ab und zu genehmigten süßen Schnäpschen absah. Noch einmal hielt er eine umfassende Heerschau über sein vergangenes Leben. Er hatte keinen falschen Wechsel gezogen, nicht mit zu kurzer und unrichtig gekerbter Elle gemessen und keine Pleite gefingert, aus deren Aermelfalte das verschmitzte Gesicht eines kleinen Profitchens heraussah, und was das wichtigste war: hinsichtlich der fleischlichen Sünden und der ehelichen Treue hatte er sich keine Vorwürfe zu machen, selbst da nicht, als ihm die schöne Rosalie Pinkus, verwitwete Lessmann, verfängliche Blicke zugeworfen hatte. Ja – Giddel, seine brave Frau Giddel konnte in dieser Hinsicht mit ihm zufrieden sein. Es stand gut im Kontobuch seiner Seele. ›David und Kredo‹ stimmten aufs Haar – aber, aber! – als der redegewaltige Benediktiner in so schaurigen Farben malte, verborgene und offenkundige Laster und Leidenschaften schonungslos an den Pranger stellte, da war es ihm doch zumute, als wenn da zuweilen ein kleines, unerforschtes, übersehenes, naseweises Dezimalsündchen ans Licht des Tages wollte, ein Purzelbäumchen schlüge und mit feinem, aber eindringlichem Fistelstimmchen in die Worte ausbräche: »Hier bin ich, Herr Moses!«

»Wehe dem, der es wagen sollte, den ersten Stein zu heben, um ihn auf die sündige Mitwelt zu schleudern,« fuhr Bonaventura mit erhobener Stimme fort, »denn gerade für sie steht das Kreuz auf dem Kalvarienberge, und gerade für sie geschehen noch heute Zeichen und Wunder. Noch hat das große Werk der Erlösung keine bleibende Stätte auf Erden gefunden, Lauheit und Dünkelsucht schießen in Ähren und tragen hundertfältige Ernte, und der Engel des Herrn steht von ferne und verhüllt sich weinend das Antlitz. – Hört, wie Satanas lacht! und dieses Gelächter übertäubt die Worte des Priesters, den Mahnruf der Glocken und das herzzerreißende Wort des göttlichen Dulders: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«

»Erbarmen, Erbarmen!« hauchte die Wachsmarie; ihr Oberkörper sank bis auf die Fersen herab.

»Um dem Einhalt zu tun,« erklang es von neuem, »um die Lauen zu stärken, die Schwachen im Geiste zu trösten, sind Wunder und Zeichen vonnöten. Wehe, dreimal wehe uns allen, wenn wir dieser Wunder und Zeichen nicht achten! – Höret und wisset: die Weltlust, und hierdurch die Verderbnis der Sinne, hat das Weib in dieses Tal der Tränen gebracht – und darum dreimal wehe dem Weibe!«

Nettchen und Settchen Käschen knickten zusammen wie gebrochene Lilien. Also auch in ihren Herzen hatte die Weltlust ihre verderblichen Wurzeln geschlagen. Mit beiden Händen griffen sie in die Gegend, wo sie das Unkraut vermuteten, und sie sahen im Geiste, wie der höllische Buhle um sie hofierte, wie er liebreich auf sie einsprach und sie schließlich mit glühendem Zweizack, unter Geigengejohle und Bratschenklängen der brennenden Pforte entgegenschleppte.

»Herr, sei mir Sünder gnädig!«

Die geknickten Höllenbräute wagten nicht mehr aufzublicken. Sie vermieden jedes fremde Auge, denn sie glaubten, ihre eigene Schande widergespiegelt zu finden.

»Herr, erbarme Dich unser!«

Und wieder begann der junge Benediktiner. Aber seine Stimme klang mild: seine Mienen waren geglättet und ruhig wie ein klares Wasser, in welches der Mond sieht. »Ich sagte,« erklang es von der Kanzel, »das Weib ist die Trägerin der Weltlust, und dennoch – und darin erkennet die Allbarmherzigkeit des ewigen Gottes – es ist ein gefügiges Werkzeug des Himmels und ein vom göttlichen Dulder ausgewähltes Gefäß seines Willens. Er bedient sich des Weibes, um die Geschehnisse auf Golgatha symbolisch wiederzugeben, auf daß die Erinnerung daran niemals erlösche und hierdurch die Wankelmütigen sich festen und die Freidenker gläubig werden durch den Anblick eines begnadeten Weibes, durch das Hören und Sagen von ihm – durch Zeichen und Wunder!«

Die Blicke aller wendeten sich in diesem Augenblick instinktiv auf Marie Verwahnen. Sie fühlte das, aber an Stelle des Unruhigen, das alle Zuhörer beherrschte, kam eine abgeklärte Stimmung über sie, süß, berauschend und einlullend. Sie hörte nur ihn, sie sah nur ihn, und sie schwelgte in den geheimnisvollen Lauten, die jetzt allbezwingend an ihr Ohr schlugen: »Wendet die Blicke, Geliebte im Herrn, und folget mir in das begnadete Land, wo die Schmelzhütten stehen und die Hochöfen durch ihren Rauch den Himmel verfinstern – nicht hierdurch begnadet, aber begnadet durch jenes liebliche Wesen, das der Himmel gezeichnet. Eines schlichten Mannes Tochter, von einem schlichten Weibe geboren, hatte der Herr sie auf das Lager geworfen, ihre Züge verklärt und ihren Geist geläutert von den irdischen Schlacken und ihn ähnlich gemacht dem Geist himmlischer Wesen. Mitten in der Stube war das Bett errichtet: tännern Holz mit Stroh gefüllt, aber sauber mit weißen Kissen und weißen Decken gespreitet – und auf diesem schlichten Lager: Luise Lateau. Am Kopfende stand eine Lilie, schuldlos, rein und weiß, der blendenden Wolle des Lammes ähnlich. Das war der einzige Schmuck, der sich den Blicken des Eintretenden darbot. Der höchste Schmuck ruhte in ihr selber, denn sie hatte die Kraft, Leib und Seele voneinander zu trennen. Und geschah es, dann lag ihr Körper starr, empfindungslos, während der Geist die wunderbarsten Gesichte hatte, nach fremden Weltteilen hinüberschwebte, Sonne, Mond und Sterne besuchte, mit Verstorbenen Zwiegespräche hielt, die Leidenden im Fegefeuer tröstete, in die graue Vergangenheit hinabtauchte und die Geschehnisse der dunkeln Zukunft voraussah.«

Immer verzehrender, himmlischer, verheißender, immer mehr sich im Mystischen verlierend und die Gemüter mit sich fortreißend, tönte es vom Munde des Sprechers. Wie von einer starken Hand gepackt, von zwingenden Armen umschlossen, aus denen es kein Fortkommen und Sichlosreißen mehr gab, fühlte sich die Wachsmarie in das Reich des Uebersinnlichen getragen. Alles Menschliche streifte sie ab; sie glaubte ihren Körper in einen Astralleib verwandelt, der, jeder Schwere Hohn sprechend, sich hob und den Sternen näher rückte. Ahnungsvolle Träume, Divinationen beherrschten ihren Geist, sie gab sich keine Rechenschaft mehr von dem, was irdisch, was überirdisch war; ihr seelischer Zustand bildete sich seine eigene Welt, in der eine andere, hellere Sonne strahlte als die, die alljährlich das erbärmliche Leben auf dieser Erde wachrief, wenn die Winterstürme vergingen – und diese Sonne, dieses heilige Licht . . .

Die Stimme Bonaventuras weckte sie aus dieser Vertiefung der Sinne. Und wieder begann er: »Und fromme Kirchenfahnen wehten vor dem Hause der Luise Lateau, über dessen Lehmwände das verfallene Dach wie ein gelähmtes Augenlid hing. Gesunde und Kranke, Kleriker und Laien knieten nieder und küßten mit Inbrunst die heilige Schwelle, hinter welcher die Gottbegnadete ruhte und ihre Verbindung mit der anderen Welt aufrecht erhielt, wo Zeichen und Wunder geschahen und sich die Wundmale des gekreuzigten Dulders erneuten, den gläubigen Herzen zur Erbauung, den Sündern zur Einkehr. Beuget die Knie, denn diese Stätte ist heilig! – Gläubig stand auch ich auf den rohen Binsen in dem öden Gemach. Friede und Weihe! – Es war in der Karwoche und an demselben Tage wie heute; der Frühling ging über Land, gerade wie heute – und da ruhte sie auf dem einfachen Lager, schon halb hinübergegangen, schon halb eine Selige. Die Decken waren zurückgeschlagen, die weiße Leinenbinde war ihr von den Schläfen genommen, prophetische Worte gingen ihr von den starren Lippen. Und siehe, siehe: rote Tropfen rieselten ihr von der wächsernen Stirne – und diese Tropfen waren Blut, als hätte dort die grimmige Dornenkrone gelegen; schwere Tropfen sickerten aus den Händen und Füßen, als hätten dort die Eisennägel gehaftet – und diese Tropfen waren Blut; starre Tropfen standen an der linken Seite der Brust und fielen rot auf das weiße Linnen des Bettes – und diese Tropfen waren Blut und entquollen genau derselben Stelle, wo der römische Knecht dem Heiland den Speer in die Seite gebohrt hatte. Sehet die Dulderin und beuget die Knie, denn also erneute sich die furchtbare Stunde auf der Schädelstätte, im Angesichte von Jeruschalaim!«

Bonaventura beugte sich rückwärts. Ueber das schöne Haupt des Benediktiners huschte es wie von himmlischen Lichtern.

Kein Auge blieb trocken. Ein leises Schluchzen ging durch den weiten Kirchenraum. Marie glich einer Sterbenden. Mit beiden Händen die Lehne der Holzbank umklammernd, auf die Fersen zurückgesunken, zog ein magnetisches Zucken durch ihren Körper. Wie von hundert Nadeln berührt, die langsam tiefer und tiefer sich bohrten, legte sich ein empfindlicher Schmerz um ihre Kopfhaut. Eine kalte Feuchtigkeit netzte ihre Schläfen und Stirne. Dasselbe Gefühl, dasselbe nadelartige Eindringen machte sich unter der linken Brust bemerkbar, brannte durch ihre Füße und nagte in den feinen Nervenbündeln der inneren Handflächen. Bis in die Fingerspitzen hinein erstreckte sich dieses wundersame Empfinden. Es wurde stärker und stärker, bis es schließlich den Zustand des Krampfartigen erreichte. Klopflaute taten sich in ihrer Nähe auf, wie auf weichen Socken kam es gegangen, vor ihren erregten Blicken standen etliche, die sich an einer Dornenkrone zu schaffen machten, andere hielten Nägel und Hammer bereit – und dort, von den übrigen gesondert, saß ein römischer Soldat, der die Schärfe einer Lanzenspitze mit prüfendem Finger feststellte. Und Palmen rauschten herauf, dumpf und so eigenartig wie die schwermütige Klage eines Föhrenwaldes, wenn der Nachthimmel darüber liegt, aber schmerzlicher, mehr die Seele ergreifend und tiefer. Und ein schöner Mönch stand am Fuße des Kalvarienberges; mit der weißen Hand deutete er auf das Kreuz, an dem der Nazarener das Werk der Erlösung vollbrachte. Und die Stimme des Mönches überhallte die Berge des Bösen Rates und des Ärgernisses, und bei ihm war eine sterbenskranke Gestalt, die ihre Wundmale offen zeigte: Luise Lateau . . .!

»Und ich sah sie,« rief Bonaventura, »ich beugte mich – ich bemerkte das Paradies in den Augen des gottbegnadeten Weibes! – Selig, selig sind alle, die also vom Herrn gezeichnet sind, auf daß Zerknirschung und Buße durch den Anblick der Wundmale entstehe und die Sünde hinweggenommen werde von der strauchelnden Menschheit durch Jesum Christum unsern Herrn, der da kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten!«

»Selig . . .! – Selig . . .! – Herr, erbarme Dich meiner!«

Marie Verwahnen taumelte und wankte.

Und wieder der bohrende, zuckende, intensive Schmerz in den Handflächen – an den Füßen – unter der linken Brust . . . und wie brannten die Schläfen!

»Begnadet wie jene?! – Begnadet wie Luise Lateau?! – Bonaventura . . .

Alles vergeht vor ihren Blicken, vor ihrer Ekstase: das Flammen der Kerzen, der blutrünstige Kruzifixus auf hohem Lettner, ihre irdische Liebe – alles, alles! – Nacht um sie – und nur in dem nächtigen Chaos ein schwacher Lichtschein, der größer wird und sich immer mehr ausreift, und mitten darin: das durchgeistigte, bleiche Antlitz Bonaventuras, der herrliche Schwärmerkopf mit den flammenden Augen.

War es die himmlische Liebe allein, die sie durchzuckte, betörte, vergewaltigte, oder – Bonaventura . . .?!

Sie hörte nicht mehr, wie er mit weicher Stimme den Segen spendete, sie sah nicht mehr, wie er mit einem groben Tüchlein Mund und Schläfen betupfte und dann innig lächelnd die Kanzel verließ. Sie kniete noch an derselben Stelle, als die Leute die Kirche bereits verlassen hatten. Sie konnte es nicht fassen, daß schon alles vorbei sei, daß rechts und links von ihr keine Menschen mehr saßen. Mit Erstaunen bemerkte sie, daß der Küster alle Kerzen gelöscht hatte und außer der Ewigen Lampe, die dunstig vom Hohen Chore herüberflimmerte, nur noch ihr eigener Wachsstock brannte. Sie konnte sich in dem greifbaren Dunkel des weiten Raumes kaum zurechtfinden, bis Perdje Puhl kam und ihr die leisen Worte zuraunte: »Für heute ist alles zu Ende. Es ist Zeit für Dich, daß Du nach Hause gehst.«

Da löschte sie das tiefgebrannte Licht, zog das schwarze Tuch enger um die Schultern und verließ vereinsamt die Kirche.

Die Straßen waren menschenleer.

Viele Sterne waren am Himmel aufgetan; die lichte Milchstraße legte sich quer über die Stadt hin. Ab und zu schossen glühe Punkte vorüber, die einen hellen, rasch zergehenden Schweif nachzogen. Jedesmal, wenn sie verstiebten, wurde eine arme Seele aus dem Fegefeuer erlöst. – Zögernden Ganges umschritt sie die Kirche. Zur Rechten lag das Haus des evangelischen Pfarrers. Alle Fenster hatten die Augen zugemacht, nur die Scheiben des Eckfensters, hinter denen die weißen, frostigen Gardinen hingen und die steifen Geranienstöcke standen, blinkten noch unter dem Einfluß einer Lampe mit grünem Schirm. Neben diesem erleuchteten Fenster befand sich die Stube, die Johannes van Melle schon während seiner Knabenjahre benutzt hatte und auch jetzt wieder bewohnte. Achtlos schritt sie vorüber. Auch die Schwelle ihres eigenen Hauses, das sich ängstlich an die Nachbarhäuser drückte, vermied sie. Sie ging zum katholischen Pfarrhaus, dessen Garten sich bis an die feuchten Wiesen erstreckte. Darüber hinaus erhob sich ein kaum wahrnehmbares Blitzen, als wenn die Frühlingsnacht verschlafen mit den Augen zwinkerte; in den noch kahlen Ästen der Bäume säuselte es mit flüsternden Lauten. Von den Weiden her kamen die bekannten Nachtlaute: das ängstliche »Kiwit!« eines ausgeflogenen Kiebitzes und der markante Ruf der Wiesenralle, ein Locken und Werben, als würde mit einem harten Holzstäbchen über die Metallzähne eines Weberkammes gefahren.

In dem katholischen Pastorat war Licht. Dort hatte der Benediktiner Unterkunft gefunden. Die Zweige der Lindenbäume legten ihre scharfumrissenen, beweglichen Schatten auf die weiße Fläche des herabgelassenen Vorhanges. In der aus dem Fenster strahlenden Helle bemerkte sie, daß bereits die roten Triebe der Pfingstrosen aus den Rabatten des Pastorengartens hervordrangen. Üppig und strotzend wuchsen sie unter der Kraft der schaffenden Wärme. In den Stachelbeersträuchern flimmerten die Knospenspitzen wie grüne Glassplitter. Alles atmete Leben und Freude am Leben – und sie?!

Ein hoher Schatten bewegte sich hinter dem Vorhang. Ruhlos ging er auf und nieder. Der charakteristische Faltenwurf des Benediktinerkleides war deutlich erkennbar. Sie stierte darauf.

Es war ihr, als würde sie zu ihm hingerissen, als müßte sie ihn mit ihren Armen umfangen. Sie fühlte, daß ihr Widerstand erschlaffte, müde wurde. Eine innere, begehrliche Stimme redete ihr zu. Sie hatte die beklemmende Angst eines Menschen, der willenlos in die Sünde hinein will: »Bonaventura . . .

Wieder zuckte ihr Körper unter den rätselhaften Nadelstichen. Sie fühlte die Schmerzen am Kopf, an den Füßen, in den Handflächen und dort, wo ihr Herz fieberhaft klopfte.

Da erfaßte sie ein geheimes Grauen. Sie bangte vor ihrem eigenen Schatten.

»Begnadet wie jene . . .?! – Herr, erbarme Dich meiner!«

Nicht mehr rückwärts schauend, gewaltsam sich von der Stelle reißend, eilte sie mit bebenden Gliedern ihrem Hause zu.

Auf den Wiesen stiegen die Nebelschwaden. Immer lauter wurden die nächtigen Stimmen, und deutlich hallte der Lockruf, die harte Schnarre der Wiesenralle herüber.

 


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