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Und Marie Verwahnen betrat die Wohnung Abraham van Melles. –
Wäre der Küster weiblichen Geschlechtes und die Ehefrau des Herrn Loth gewesen, hätte ferner das evangelische Pfarrhaus Ähnlichkeit mit den von Schwefel und Pech überregneten Städten Sodom und Gomorra gehabt, man hätte füglich sagen können: und Perdje Puhl wurde in eine Salzsäule verwandelt.
Nichtsdestoweniger stimmte der Inhalt der alttestamentlichen Legende auch auf ihn.
Perdje Puhl war tatsächlich in eine Salzsäule verwandelt. Vielen anderen passierte dasselbe.
Wie einer, dem plötzlich die Mundsperre anfliegt, genau mit demselben Gesichtsausdruck und geöffneten Kauwerkzeugen stierte Perdje auf den verfemten Eingang, wo das verlästerte und verlachte Wesen verschwunden war.
Die bereits Gerichtete hatte hierdurch die Wohnung eines Ketzers betreten, sie hatte somit einen zweiten Frevel auf den ersten gestapelt, und das war hinreichend, sie überhaupt aus der Gemeinschaft der christkatholischen Menschen zu tilgen. Ein derartiges Beginnen schrie gen Himmel – und dieses im Geiste erwägend, wich auch die Maulsperre wieder von dem salzigen Küster. Auch er mußte gen Himmel schreien – und er tat es mit dem Aufgebot des ihm zur Verfügung stehenden küsterlichen Organs.
»Geliebte im Herrn!« so wetterte er, »also auch das noch! Sie ist mithin, wie der heilige Mann sagt, nicht nur eine liebestolle Kamelin und ein brünstiges Tier in der Wüste – auf sie passen auch die Worte, die da lauten: Ich will meinem Buhlen nachlaufen, der mir gibt Brot, Wasser, Wolle, Flachs und Trinken. – Also Hosea im fünften Kapitel des zweiten Buches.«
Da kam wieder die Mundklemme über ihn.
Sprachlos sah er in die enge Gasse, die mit ihren schiefen und winkeligen Häusern auf den Marktplatz führte. Entgeistert stierte er auf den teuflischen Spuk, auf den schwarzen, zottigen Gegenstand, der von dort herbeikapriolte. – – –
Inzwischen waren Schlaume Herzlieb, Isidor und die fettleibige Erdhummel schimpfend und Gerte fuchtelnd, meckernd und fagottierend durch die blühenden und duftigen Gartenstege gezogen.
Schlaume achtete nicht auf das Grünen und Treiben in der Natur, auf das Zwitschern und Nesterbauen in den Zweigen und auf den belebenden Erdgeruch, der aus der warmen Scholle hervordrang. Er mochte es sich eingestehen oder nicht, das offenbare Zerwürfnis mit Isidor, die Mißhelligkeiten und pekuniären Schäden, die aus dieser Zwietracht mit tödlicher Sicherheit erwachsen mußten, waren ihm in die Glieder gefahren. Ein ehrenvoller Rückzug seinerseits war hierdurch nicht nur angezeigt, sondern geradezu notwendig geworden, ein Rückzug, den er zuvörderst durch Enthaltung des Schimpfens in die Wege zu leiten gedachte. Also – er enthielt sich in erster Linie des Schimpfens.
Hierauf pfiff er ein fröhliches Liedchen in Gottes schöne Welt hinein.
Isidor achtete nicht darauf.
Alsdann führte er ein lautes Selbstgespräch, in welchem er die Vorzüge der Rahmweißen mit dem blauen Halsbändchen in die beste Beleuchtung stellte.
Es schien keinen Eindruck zu machen.
Als dieses nicht fruchtete, schlug er einen jovialen Ton an.
»Nu, Isidor, wo geht's Dir?«
Schlaume hatte etwas Wehmut in die joviale Färbung der Fragestellung gemischt.
Derselbe negative Erfolg.
Isidor dachte gar nicht daran, so kurzerhand seinen Frieden mit Schlaume zu machen. Die Kränkung wurzelte zu tief. Bockbeinig, gesenkten Hauptes und auf seine wichtige Stellung als Geldverdiener fußend, zog er Schritt für Schritt den heimischen Penaten entgegen.
»Nu, denn nich!« sagte Schlaume.
So waren sie bis zu den ersten Häusern gekommen.
Hier, wo die Gärten zurücktraten, die blühenden Aprikosen- und Pfirsichbäume dem Auge entschwanden, wo Gundermann und Bienensaug ihre Hauptbedingungen, das Versteck der Hecken, verloren, hörte auch das eigentliche Reich der mitsurrenden Erdhummel auf. Ihr Flug wurde unruhig, unstet, zwecklos. Der komisch wirkende Ton ihres Fagotts verlor an Glanz, Feuer und Gleichmäßigkeit und nahm eine unwirsche Klangfarbe an. Alles genierte sie. – Sie ärgerte sich über den steifgravitätischen Schritt Isidors, über das etwas verschrobene Beinwerk Schlaumes – kurzum, sie kam sich vor wie ein zweifelhafter Reporter, dem irgendeine Sache nicht in seinen Kram und seine Cliquenwirtschaft paßt, und dieserhalb – ob mit Recht oder Unrecht, ob es dem moralischen Empfinden und der sittlichen Würde schnurstracks entgegenlief oder nicht: hier mußte die Giftblase entleert und tapfer gestichelt werden. Und so geschah es. Die Kritikaster- und zweifelhafte Reporternatur der braunroten, haarigen und dickwanstigen Erdhummel kam zum glorreichen Durchbruch. Mit schadenfrohem Brummton umschwirrte sie einige Male den ruhig seines Weges einherwandelnden Bock – dann rückte sie näher und dann . . .
Was hatte ihr Isidor überhaupt zuleide getan?
Dieser Bockphilosoph, der sich ruhig in seine Liebesträume zurückzog, kümmerte sich nicht um die Hummel, aber die Hummel um ihn – und er wurde angerempelt. Sein lustiges Schwänzchen, das wieder in die heiterste Stimmung gekommen war, schlug ein flirrendes Rädchen nach dem anderen – und gerade dieser Ausbruch ungezwungener Lustigkeit schien besonders mißfällig auf die an und für sich schon verdrießliche Hummel zu wirken. Hier setzte sie ihr Gift- und Stechorgan an und stachelte weidlich.
Mit einem klagenden Gemecker fuhr Isidor auf. – In dem irrtümlichen Glauben befangen, Schlaume habe gestochen, wandte er seinen ganzen Zorn und Ingrimm auf diesen. Steifbeinig machte er kehrt, senkte das Gehörn und verdrehte die Augen, mit der bestimmten Absicht, den nichtsahnenden Humanistiker in Grund und Boden zu rennen. Als er aber dessen schuldlos-dummes Gesicht bemerkte, wußte er, von wannen das tückische Geschoß gekommen war. In ohnmächtiger Wut tat er einen verzweifelten Luftsprung, und dann, bevor Schlaume es noch verhindern konnte, setzte sich Isidor in einen krummbeinigen Stakelgalopp und raste auf den Großen Markt und die katholische Kirche zu. Von dem brennenden Stigma gepeinigt, ein gehörntes Untier mit schwarzen Zotten und schleppendem Bocksbart, die Augen verdreht, so daß das Weiße unheimlich glänzend hervortrat, jagte er weiter, alles überrennend, was sich ihm in den Weg stellte. Das Hummelgift wirkte. Alle zärtlichen Liebesgedanken, alle Erinnerungen an gehabte Schäferstündchen schmolzen dahin wie Schnee an der Märzsonne. Isidor kannte sich vor Wut und Schmerzen nicht mehr. Sein Galopp artete in eine panikartige Flucht aus, und wie Schlaume auch zetern und flehen mochte, er konnte das Unglück nicht mehr aufhalten. Hinter ihm herrufend, mußte er mit leiblichen Augen zusehen, wie sein Brotverdiener an einem hohen christlichen Festtag die Straßen durchfegte, die lächerlichsten Sprünge vollführte und blindlings dem staunenden Menschenknäuel entgegenwetterte. Alle Bande der Disziplin waren auseinandergesprengt. Kein Zuspruch verfing mehr; das Verderben wollte sich austoben – und es tobte sich aus.
In putzigen Kurbetten erschien Isidor auf der Bildfläche des Marktes, und zwar in dem Augenblick, als dem Küster die zweite Mundsperre anflog.
Klaffenden Mundes sah dieser das Nahen des teuflischen Unholds.
Schreckliche Begebenheiten und Naturereignisse lähmen die Zunge, schreckliche Begebenheiten bringen in der höchsten Not die Sprache zurück. Perdje Puhl war wieder zungenfertig geworden.
»Die Wachsmarie in Gestalt eines Bockes!« schrie der Küster, »und in den Bock ist der Satan gefahren! – Der Satan . . .! – Der Satan . . .!«
Moses Herzlieb wollte versinken. Der Zusammenhang der Dinge war ihm sofort klar geworden. Um allen unliebsamen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen, drückte er sich ruhig beiseite, um auf dem nächsten Wege sein Haus zu erreichen.
Immer näher galoppierte der Gepeinigte. Staub flog hinter ihm auf. Das Schwänzchen wirbelte, der Bart streifte den Boden, das Weiße im Auge war blutunterlaufen. Die Weiber kreischten, und die Männer drängten sich enger zusammen. Mit tragischer Wucht setzte die unvermeidliche Katastrophe ein. Noch einmal rief Perdje über die Hegung: »Sehet das Strafgericht des ewigen Gottes! – Der Satan . . .! – Der Satan . . .!« aber er hielt seine Stellung inne. Er dachte gerade daran, den großen Bannfluch gegen den Bock auszustoßen – da unterlief Isidor den zum Exorzismus Geneigten.
»Der Satan . . .! – Der Satan . . .!« kreischten die Weiber.
Rittlings, seiner Selbstherrlichkeit und seiner ganzen küsterlichen Würde entkleidet, saß Perdje auf dem Untier, das nunmehr, noch mehr geängstigt, in den tollsten Sprungkünsten davonjagte. Allein dem unfreiwilligen Rittmeister war kein langer Sattelsitz beschieden, obgleich er sich in tausend Nöten am Bocksgehörn festhielt und krampfhaft mit den Beinen Isidors Bäuchlein umklammerte. Zuerst flogen Hut, Taschentuch und Schnupftabaksdose ins Weite – dann folgte er selber. Unsanft und in hohem Bogen schlug er auf das holperige Pflaster, während Isidor in erleichterten Sprüngen davonraste. Um die nächste Ecke verschwand er.
»Und es war doch der Satan!« knirschte Perdje zwischen den Zähnen.
Barmherzige Weiber hoben ihn auf. Andere gaben ihm die verlorenen Sachen zurück. Mit eingedrücktem Hut, schadhafte Stellen an Rock und Hosenzeug, die verbeulte Zinndose in der Hand haltend, reckte er sich noch einmal auf und sagte: »Betet für die räudige Seele – betet für Marie Verwahnen! – Der Satan ist in ihr! – Der Satan . . .! – Der Satan . . .!«
Dann hinkte er heimwärts.
Aber sein küsterliches Prestige war dahin; sein Stern sank mit dem heutigen Tage tiefer und tiefer.
Die Menge ist wandelbar. Sie hörte auf Herrn Eusebius Dornkat, der mit tiefer Erkenntnis und Weltweisheit die ruhige Erklärung abgab: »Kinder, das war ja gar nicht der Satan. – Das war der schwarze Isidor, Schlaume Herzlieb sein kapitaler Springbock.«
»Gottdomie noch mal!« riefen die meisten.
Da gingen alle ruhig auseinander.
Herr Eusebius Dornkat hatte die richtige Beschwörungsformel gefunden.
Und Isidor?
Desgleichen.
Meckernd, wenn auch mit einer faustgroßen Schwellung an der Hinterseite behaftet, hatte er den Schutz des Herzliebschen Stalles gefunden.
Schlaume war glücklich. – – –
Selbstbewußt, der höhnenden Menge und ihrem Gelächter Trotz bietend, war Marie Verwahnen in die Wohnung Abraham van Melles getreten. Hinter ihr schloß sich die Tür des evangelischen Pfarrhauses.
Im Hause des Predigers stand der Tod am Kopfende des Bettes, um den letzten Hauch von den Lippen des Fieberkranken zu nehmen. Jetzt kam wirklich der Malach Hamoves. Lautlos war er gekommen, lautlos hatte er sich den weißen Kissen genähert, ruhig in das fieberheiße Gesicht des Ärmsten geschaut – und dann mit dem Schärfen der Sense begonnen. Wie eine ferne, fremde Vogelstimme lief das eintönige Wetzen durch das dämmerige Zimmer.
Der Kranke hörte es deutlich – sonst niemand.
Mit halberblindeten Augen sah er zur Decke. –
Noch vor Beendigung des Hochamtes war Doktor Barthes Terwelp gesenkten Hauptes aus der Krankenstube gegangen. Auch er hatte die ferne, fremde Vogelstimme gehört. Er kannte sie; er hatte sie schon mehr denn hundert Male vernommen, und wenn er sie hörte, dann machte er Kampfereinspritzungen. Es war das letzte Mittel, die Lebensgeister neu zu stärken und das nadelscharfe, abscheuliche Wetzen zum Schweigen zu bringen.
In einzelnen Fällen gelang es – meistens aber nicht. Auch hier machte er Kampfereinspritzungen; aber der eigentümliche Singsang, das feine Schärfen und Klingen wollte nicht aufhören. Da wußte Barthes Terwelp genug. Er hüllte sich in seinen hechtgrauen Don Diego, legte mit zitternder Hand seine Sardellensträhnen zurecht und stülpte das Fortunatshütlein darüber.
Noch einmal sah er den Prediger an und schüttelte ihm treuherzig die Hand. Dann ging er.
Auch die andern Menschen hatten ein Anrecht auf ihn. Ein eiliger Bote rief ihn über Land nach Wisselward, wo eine Frau in schweren Kindsnöten nach ihm verlangte. So schnell wie ihn seine kleinen Beinchen tragen mochten, suchte er das eigene Heim auf, um sein braunes Lieschen satteln und zäumen zu lassen und noch sonstige Vorkehrungen und Anordnungen zu treffen. Keine behagliche Kanasterstimmung empfing ihn. Unwirsch, stumm und frostig kam ihm alles vor. Wie sollte es auch anders sein? – Es paßte genau zu seiner eigenen Gemütsverfassung, zu seinem inneren und äußeren Menschen. Er fühlte, trotz seines warmen Don Diegos, ein eisiges Schauern am Körper. Schleunigst fuhr er in seine Reithosen, ließ sich die Sporen anschnallen, steckte noch einige Instrumente zu sich und zündete sich eine Virginia an. Sporenklirrend ging er auf die Straße, wo er sein treues Lieschen bestieg.
»Ans Geschäft!« sagte Doktor Terwelp.
Dann ritt er an.
Alsbald hatte er die kleine Stadt hinter sich.
Mit keckem Stutzbärtchen, das Wunschhütlein schief auf dem Kopf, an seinem glimmenden Rattenschwanz muffelnd und blaue Wölkchen vor sich hinblasend, also trabte er umdüsterten Geistes landeinwärts.
Rings um ihn lag der prächtigste Osterzauber: goldige Wiesen, leuchtende Blumenbäche, Blüten an Blüten, safrangelbe Fluten von Dotterblumen und Himmelsschlüssel, eine märchenhafte Lohe von schimmernden, sehnenden Kelchen – und darüber das tiefblaue Himmelsgewölbe in unendlicher Klarheit.
Herr Barthes Terwelp achtete nicht darauf. Sein Herz war bei Johannes van Melle. Mit trüben Gedanken ritt er durch die endlose Frühlingspracht.
Fern, jenseits der bläulich umdufteten Baumkronen lag Wisselward – das Ziel seiner Reise. Er ahnte nicht, daß er erst am nächsten Morgen zurückkehren sollte.
Munter trabte Lieschen weiter und weiter. Lerchen stöberten auf; Heupferdchen geigten im Grase. Alte Wackelköpfe von Weiden liefen in der Ferne mit, bis sie schließlich den Atem verloren und zurückblieben. Vereinzelte Bauern kamen dem Reiter entgegen. Sie kannten ihn alle und zogen ehrerbietig die Hüte.
»Der hat's eilig!« meinten die Leute.
Im Grase liegende und wiederkäuende Kühe begrüßten ihn mit lautem »Muhu«.
»Danke,« sagte Doktor Terwelp.
Seitwärts, zwischen Pappel- und Erlengestrüpp, stand ein alter, ehrwürdiger Flieder. Seine Äste schimmerten im ersten Grün des erwachenden Lebens.
Im Vorübertraben lüftete der Doktor mit einer gewissen Feierlichkeit das filzige Hütlein. Es war so seine Gewohnheit. Er grüßte immer, wenn er an einem schwarzen Flieder vorbeikam.
»Gott segne Dich!« sagte Doktor Barthes Terwelp.
Tee von seinen Blüten ging ihm über alles, denn er hielt einen Fliederstrauch für einen Beglücker der Menschheit.
Jenseits des Menschenbeglückers verschwand er.
Roß und Reiter tauchten unter in dem goldigen Farbenhauch der endlosen Landschaft. – – –
Hinter der Wachsmarie hatte sich die Tür des evangelischen Pfarrhauses geschlossen.
Juffer Stina schlug beide Hände zusammen, als sie sie eintreten sah.
»Um Jesu Christi willen,« entsetzte sie sich, »das christkatholische Fraumensch . . .!«
Marie Verwahnen würdigte Stina Prußt keines Blickes. Achtlos, mit gesenkten Lidern, schritt sie vorüber und folgte dem kahlen, unfreundlichen Korridor, der auf die Krankenstube führte. Instinktiv fand sie das richtige Zimmer. In aller Stille und ohne anzuklopfen, mit einer Selbstbeherrschung, die auch nicht die geringste Unruhe aufkommen ließ, trat sie über die Schwelle.
Abraham van Melle kniete am Bett seines Sohnes.
Auf das Geräusch, das die Tür verursacht hatte, wandte er langsam das Haupt. Der harte Mann war nicht wiederzuerkennen. Alles Abstoßende, Abweisende in den sonst so strengen und hölzernen Zügen war einer innigen Wehmut gewichen. Ohren und Nase schimmerten durchsichtig. Das Antlitz ähnelte dem eines Mannes, welchem alles Glück unter den Händen zerflossen war.
Abraham van Melle traute seinen Augen nicht. Das plötzliche, stille und unerwartete Erscheinen des schönen Mädchens wirkte auf ihn, als hätte ihn ein wuchtiger Hammerschlag auf die Stirn getroffen.
Marie Verwahnen kam näher. Sie schien bis in die Nähe des Bettes zu schweben. Ein langer, verwunderter Blick irrte ihr aus den Kissen entgegen. Aber der Kranke wußte nicht einmal, wer zu ihm gekommen war. Schüttelfrost und glühende Hitze wechselten ab. Der Puls hatte etwas Unstetes, Flatterndes an sich, und wieder tönte der eigentümliche Singsang des fremden, fernen Vogels herüber.
Der Prediger hob sich vom Boden. Er griff nach seiner weißen Binde, als müßte er dort Platz schaffen, als wäre ihm ein eisernes Band um die Kehle geschmiedet. Die knochigen Hände fingerten und zerrten in nervöser Hast und Unruhe daran. Not und Bängnis seines Herzens schrien aus ihm, obgleich er nichts sagte.
»Domine . . .«
Es war das erste Wort, das sie sprach.
Da kamen auch dem Prediger die Worte zurück.
»Du kommst . . .?« fragte er mit erkünstelter Ruhe.
»Ich komme.«
»Jetzt – wo es zu spät ist? – Was willst Du noch hier?«
»Domine, ich will tun, was Sie mich hießen.«
»Warum das?«
»Weil eine höhere Kraft mich hertrieb.«
»Und da willst Du . . .?«
Mit einem kurzen, heiseren Lachen brach Abraham van Melle die Frage ab.
»Die Hand auf die Stirn legen – das will ich, auf daß er gesunde.«
»Und wenn er gesundet – willst Du ihm entsagen für immer?«
Die Wachsmarie schwieg.
»Willst Du?« fragte der Prediger noch einmal. »Ich weiß, was es mit den Mischehen auf sich hat. Da ist weder Heil noch Glück dabei; ich hab's in meiner eigenen Familie, an Vater und Mutter erfahren. – Willst Du?«
»Ich entsage.«
»So bleibe.«
Abraham van Melle atmete tief auf, dann wandte er sich und verließ zögernd die Stube.
Aber an seine Stätte, dort wo er gekniet hatte, setzte sie sich und legte ihre Hand, ihre schöne, wächserne Hand auf die fieberheiße Stirne des Kranken.
Da fuhr der Studiosus van Melle unter der leisen, wundertätigen Berührung zusammen. –
So saß sie, bis der Abend kam und die milden Lichter des Westens weich und wohlig auf der leichten Decke des Bettes spielten. Ab und zu feuchtete sie ihm die trockenen Lippen an und legte ihm den Kopf zurecht, den er unruhig hin und her warf und rücklings in die Kissen bohrte.
Es war totenstill hier drinnen und auf den kahlen Gängen da draußen. Die Einsamkeit schlich auf Socken umher. Die Stille ebenso. Sie dämpfte die Schritte Abrahams van Melle in seinem Studierzimmer, sie machte, daß die Dielen nicht krachten und der Kanarienvogel in der Guten Stube nicht anfing zu singen; sie war in der Küche und legte Stina Prußt die weiche Hand auf den Mund und hob vermahnend den Zeigefinger der anderen.
Nur eins konnte die Stille nicht verhindern: das war das nadelscharfe Schleifen und Wetzen, das fremde, ferne Vogelgezwitscher, das noch immer nicht nachließ und in gewissen Zeitabschnitten sich deutlich verstärkte. Auch die Wachsmarie hatte ein feines Ohr. Sie vernahm, was andere Menschen nicht hörten. Sie war ja anders geartet als die übrigen Leute; sie war empfindlicher, hellsichtiger und tiefer veranlagt. Sie hörte das Klingen und Schleifen so deutlich, wie es Doktor Terwelp vernommen hatte, und auch ihr war es, als wenn ein geheimnisvolles Wesen sich damit beschäftigte, eine Sense leise und mit einem fast verhaltenen Tone zu schärfen. Und noch etwas erkannte sie mit ihrem hellsichtigen Geiste. Lag ihre wächserne Hand auf der Stirn des Kranken, so entfernte sich das Tönen und Wetzen, hob sie dieselbe, dann rückte es näher und nahm jedesmal einen drohenden Ton an.
Da ließ sie nicht mehr die Hand von der Stirne des Kranken.
So saß sie, bis die Nacht kam und die Sterne heraufzogen. In unendlicher Klarheit, gleich Perlen sich reihend, gleich irren Fünkchen sich zerstreuend, in wechselvollen Farben und Bildern schimmerten sie vom Ostersonntag zum Ostermontag hinüber. Am Himmel war eine wunderbare Bewegung.
Kurz vor Einbruch der Nacht trat der Prediger ins Zimmer. Er hatte ein Gebet auf den Lippen und ein Gebet im Herzen. Er brachte ein Nachtlicht und dämpfte den Schein durch einen Schirm, den er vorsetzte.
Unruhige Kringel zitterten an der tiefhängenden Decke.
Abraham van Melle warf noch einen besorgten Blick auf den Ärmsten, dann entfernte er sich wieder, so still wie er gekommen war.
Ruhig ging die Nacht über die träumenden Lande. Hin und wieder drang das verlorene Schluchzen einer Nachtigall aus dem Garten des katholischen Pastorats ins Zimmer.
Zum ersten Male in diesem Jahre ließ sie ihre schmelzende Stimme ertönen. –
Unter ihrem Gesang schliefen die Menschen ein, die noch am Vormittage Marie Verwahnen verlacht und verhöhnt hatten. Auch die schliefen, die Mitleid mit ihr gefühlt. Auch Moses Herzlieb und Herr Eusebius Dornkat ließen sich von schönen Träumen umgaukeln. Sie verdienten es; sie hatten ein gutes Werk getan und waren zufrieden mit sich. Gleich nach der Katastrophe auf dem Großen Markt waren sie auf Schleichwegen zu Hille Verwahnen gegangen. Die Alte hatte das Bett hüten müssen, allein Herr Eusebius und Moses erhielten Zutritt und erzählten in Kürze, was sich alles vor der Kirche abgespielt hatte. Sie brachten es der Alten in der schonendsten Weise bei, wenngleich sie auch nicht verschweigen konnten, daß ihre Tochter unter dem Hohngelächter der Menge das evangelische Pfarrhaus aufgesucht habe, um dortselbst ihre wundertätige Kraft zu erproben.
»Und das Volk lachte?« hatte Mutter Verwahnen gefragt.
»Ja.«
»Und die Marie ist hineingegangen?«
»Ja.«
»Was die Marie tut, ist wohlgetan,« hatte sie alsdann gerufen, hatte sich in den Kissen aufgerichtet und vielsagend mit dem Kopfe genickt. Dann waren Herr Eusebius Dornkat und Moses Herzlieb gegangen.
Mutter Hille aber hatte das Bett verlassen, war in die Kammer geschlurft und hatte sich, trotz des heiligen Osterfestes und trotz ihres Gichtanfalles, in den Webstuhl gesetzt, die Lade gewuchtet, gewebt und die Worte gesprochen: »Es ist wahr und gewiß und hat seine Richtigkeit: so lange man tritt und webt und die Lade stampft, kann kein Unglück passieren, stirbt keiner, wird keine Todsünde getan, reißt kein Deich und geht kein Wasser über das Land. Gott sei meiner Tochter gnädig und verderbe ihre Neider und Feinde!«
Und die Lade stampfte und stöhnte, und das geworfene Schiffchen schlurrte und schlappte, und Hille Verwahnen saß zwischen den Stuhlsäulen und dachte an ihre Tochter im evangelischen Pfarrhause.
Und so saß sie noch jetzt und webte und webte. –
Und ihre Tochter . . .?
Immer noch ruhte die kühle Wachshand auf der Stirne des Kranken, und diese Hand konnte Tränen stillen und Frieden den Friedlosen geben. Sie konnte denen Barmherzigkeit verleihen, die der Barmherzigkeit bedürftig waren, sie konnte ruhige Träume in die fiebernde Seele streuen und Sterbende zum Leben erwecken. Sichtlich beruhigte sich die heiße Fieberwelle unter ihrem wohltuenden und wundertätigen Einfluß.
Immer weiter rückte die sternenbesäte Nacht vor, um sich an die verzehrende Brust des jungen Tages zu schmiegen – und je weiter sie vorrückte, um so ferner klang das seltsame Wetzen und Schleifen. Es war kaum noch zu hören. Um die dritte Stunde war es fast gänzlich verklungen.
Regungslos saß die Wachsmarie. Das Nachtlicht umstrahlte das Madonnengesicht mit dem braungoldigen Scheitel. Verworren jagten die Erinnerungen der letzten Tage ihrem Geiste vorüber, überholt von anderen, verhängnisvolleren, die ununterbrochen aus dem Dunkel der Ecken sich hoben. Heilige oder Dirne . . .! – Böse Ahnungen, Zweifel und Ängste bedrängten sie bei ihrem Liebeswerk. Eine Treibhauswärme tat sich auf, die ihr wie ein lauer Atem zuwehte. Sie sah ihr eigenes Bild im schlichten Kleide, das Gesicht von Leidenschaft verzehrt. Sie hätte hinausstürmen mögen. Und dann kam wieder eine merkwürdige Ruhe über sie, eine Verklärung, die alles vergessen machte, was sie noch kurz zuvor in selbstquälerischer Weise erduldet hatte. Sie fühlte sich selig, auf ihrem bleichen Gesicht erschien das krankhafte Sehnen nach einer anderen, weltfernen Existenz, die sie schon seit ihrer frühesten Kindheit erträumt hatte. Allein, um dorthin zu gelangen – da lag etwas Dunkles, Geheimnisvolles, Unheilvolles dazwischen. Und dort hineinzugehen, hineinzutasten, den verhängnisvollen Schritt in die Tiefe zu wagen . . .
Sie schreckt zusammen.
Über ihr gehen die Schritte des Predigers. Das innere Leid verzehrt ihn. Er kann sich nicht sammeln. Das Ungewisse, die Zweifel, der entsetzliche Dämon . . . Von den aschfarbigen Lippen ringen sich kurzausgestoßene Worte, die sich schließlich vereinen und zu einem inbrünstigen Gebete werden.
Abraham van Melle betet laut.
Deutlich klang es in das tiefer gelegene Zimmer. Es waren nervenaufregende Klagen und Selbstanklagen, heiße und verzehrende Bitten zu dem Allerbarmer dort oben.
Ums Morgengrauen verstummten sie.
Abraham van Melle hatte sich ans Fenster gesetzt, die Hände gefaltet und erwartete so das werdende Licht, das Gott auszugießen gedachte über Gerechte und Ungerechte, über Fromme und Zweifler.
Und noch immer ruhte die schöne, kühle, belebende Wachshand auf der Stirne des Kranken – und sie ruhte dort, bis die Nachtigall im katholischen Pastorgarten ihr sehnsüchtiges Schluchzen einstellte.
Das Nachtlicht verknisterte. Der kalte, nüchterne Schein des Morgens sah ins Zimmer hinein. Auf den Dächern wurden die Spatzen lebendig. Die lange Bängnis der Nacht verlor sich allmählich.
Die Wachsmarie horchte auf.
Kein Klingen und Wetzen ließ sich vernehmen.
Da zog sie die wundertätige Hand von der Stirne.
Auch jetzt dauerte die langersehnte Stille an. Der ferne, weltfremde Vogel hatte das bedrohliche Schleifen völlig vergessen.
Friedlich ruhte Johannes van Melle zwischen den Kissen.
Da breitete die Wachsmarie die Arme nach ihm aus, beugte sich nieder und zog sein Haupt an ihre Brust. Der Genesende schlug die Lider auf und sah sie an: »Du . . .?! – Mir träumte so lieblich . . .! – Die kühle Hand, die Hand meines Glückes – wo ist sie? – Ein Wunder . . .! – O, Du, Du, Du . . .!«
Lächelnd kehrte der erquickende Schlaf zurück.
Aber Marie drückte sein Haupt fester an sich, inniger, länger, um es alsdann sanft und leise in die Kissen gleiten zu lassen. Mit unsäglicher Wehmut beugte sie sich zu seinen Lippen, und als sie diese berührte, schob sie den Arm unter sein Haupt und küßte den Mund mit heiliger Inbrunst: »Lebe wohl, lieber Johannes!«
Langsam erhob sie sich. Eine Träne stand in den Wimpern.
»Was ich getan habe und tue,« sagte sie mit weicher Betonung, »tat ich und tu' ich mit völliger Klarheit und vollem Bewußtsein. Ich gehe von hinnen, von Dir, von allem, was mir lieb und teuer ist auf dieser Erde. Ich weiß, Schmähungen und Gehässigkeiten werden mir folgen – aber auch Tränen, die geliebte Menschen um mich weinen werden. – Aber keine Reue wandelt mich an. Ich gehe von Dir – ich kann nicht anders; es zieht mich hinein ins Dunkle, Ungewisse. Vielleicht ist dort, was ich suchte und nicht finden konnte hienieden. Und nun – lebe wohl, lieber Johannes!«
Der Genesende hörte nicht mehr. Sein Geist hatte sich in seligen Traumgefilden verloren.
»Verzeih' mir,« stöhnte sie auf, »ich kann ja nicht anders, ich bin ja nicht wie die anderen Menschen, lieber Johannes!«
Noch einmal küßte sie ihn.
Es war zum letzten Male.
»Wie sagte der Prediger doch?!« hauchte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ja, so: der Staub muß wieder zur Erde, von wannen er stammt . . .«
Sie wandte sich ab, und ohne noch einen Blick auf das Krankenlager zu werfen, schritt sie der Tür zu. Gefaßt, ohne Leidenschaft, verließ sie das Zimmer. Eine seltsame Starre kam über sie. Als sie lautlos die Tür hinter sich schloß, furchte ein zurückgehaltener Schmerz ihr schönes Antlitz.
»Es ist besser so,« sagte sie, als sie durch den verlassenen Flur ging.
Niemand sah sie, niemand hörte sie. –
Draußen lag ein dichter Rheinnebel über den Straßen. Das matte Morgenlicht dunstete fahl und rötlich hindurch. Die weiter gelegenen Häuser waren kaum zu erkennen. Unbestimmt wuchsen sie in die graue Färbung hinein. Es war still und menschenleer auf den vereinsamten Straßen. Schüchtern und fröstelnd hielt die Wachsmarie den Fuß an.
Ihre Blicke hefteten sich auf die rechte Hand – auf die wundertätige Hand.
Ihre Augen verklärten sich.
»Ich bin doch heilig, Bonaventura . . .!« kam es jauchzend von ihren Lippen.