Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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VIII.

Bonaventura

Um zwölf Uhr sollte er kommen.

Die Wirbeltrommel Perdje Puhls hatte Leben in das sonst so ruhige Treiben der kleinen Stadt gebracht. Die aktiven Mitglieder der Sankt Sebastians-Bruderschaft waren auf dem Großen Markt unter Gewehr getreten, überweht von dem rotseidenen Banner, auf dem der große Märtyrer Sebastianus geschildert war, wie ihm der Leib von mauretanischen Bogenschützen durchspickt wurde. Christkatholische Jungfrauen aus dem dortigen Paramentenverein hatten das Banner gläubigen Sinnes gestiftet und mit seiner Nadelmalerei die nachfolgende Devise auf dem Seidentuche verewigt:

›Ein frommes Herz, ein gut Geschütz
Sind heilsam und zu allem nütz –
Drum, heiliger Sebastian,
Laß keinen Schuß vorübergahn.‹

Die beiden ehrsamen Jungfrauen und Schwestern Nettchen und Settchen Käschen hätten zu gerne den Vers mit einem kräftigen ›Amen‹ geschlossen, da aber Herr Perdje Puhl, als Verfasser der Devise, keinen passenden Reim darauf finden konnte, unterblieb die Sache, worauf Nettchen und Settchen ostentativ ihren Austritt aus obigem Verein erklärten, eine Eigenmächtigkeit, die geraume Zeit die Gemüter der kleinen Stadt in Aufregung versetzte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Jetzt war Gras darüber gewachsen.

Fröhlich flatterte und knatterte das Banner im laulichen Wind. Herr Cornelis Janßen, der lustige Schankwirt, hatte den Degen gezogen und hielt als zweiter Offizier in weißer Krawatte, Frack und himmelblauer Schärpe, an der sich goldene Fransen befanden, Posto bei dem entrollten Banner. Da der erste Chargierte, Herr Faßbindermeister Hesselink, mit Tod abgegangen war, so war dem Herrn Cornelis Janßen einstimmig das Kommando für den heutigen Tag zugestanden worden, ja, es ging schon lange das Gemunkel um, man würde ihn, in Anbetracht seiner Verdienste als Kirchendelegierter, aller Wahrscheinlichkeit nach in die erste Charge einrücken lassen, ein Umstand, der sofort im Herzen der Frau Cornelis Janßen den kleinstädtischen Dünkel wachsen ließ und sie veranlaßte, die etwas hochnäsige Gattin des Kreistierarztes nicht mehr zu grüßen.

Herr Cornelis Janßen gab in seiner Eigenschaft als Höchstkommandierender eine köstliche Figur ab. Die putzigen Beinchen waren zu weit durch die schwarzen Hosenröhren gesteckt, känguruhartig trat sein wohlgemästetes, mit einer weißen Weste bekleidetes Bäuchlein aus dem Frack hervor, während die vielfach eingeknickte Degenscheide ihm recht unliebsam zwischen den kurzen Beinchen kapriolte und bammelte. Allein diese sofort in die Augen springenden Mängel wurden gänzlich aufgehoben durch den martialischen Sitz des Zylinders und das Forsche in der Stimme, die sich bemühte, die etwas schwerfällige Gesellschaft der Bundesbrüder in Reih' und Glied zu bringen. Schließlich gelang es. Butterblumensträuße in den Gewehrmündungen, die talergroße Sankt Sebastians-Denkmünze auf der Brust, Pulverhorn und Schrotbeutel umgehängt, erwarteten die Herren das Zeichen zum Abmarsch. Noch fehlte die Musik. Ohne Perdje Puhl durfte und konnte nicht losmarschiert werden.

Jetzt fingen die Glocken an zu bimmeln. Herr Cornelis Janßen kam sich vor wie ein Feldherr, von dessen strategischen und taktischen Erwägungen und Dispositionen das Wohl und Wehe von Abertausenden und das Heil der alleinseligmachenden Kirche abhing. Immer forscher leuchteten die schnapsseligen Vergißmeinnichtaugen, immer selbstbewußter stellte er bald den rechten, bald den linken Fuß vor, wobei er sich schwerfällig in den Hüften wiegte und spielend die verrostete Degenklinge durch die weißen Baumwollhandschuhe gleiten ließ. Plötzlich nahm Herr Cornelis Janßen die Hacken zusammen: »Stillgestanden! – Jetzt kommen die Mädchen!«

Und richtig – sie kamen. Weißgekleidet, etliche brennende Kerzen in den Händen, andere künstliche Lilien und Palmstücke tragend, klein, groß, pausbackig, stubsnäsig, hager und rundlich, aber alle mit verklärten Mienen, zogen sie näher – der Herr Kaplan im weißen Röckling, die Hände fromm ineinander gelegt und das Barett auf dem Kopfe. Ihm folgte Marie Verwahnen im schlichten Kleide, die Augen zu Boden geschlagen, bleich und durchgeistigt und eskortiert von Nettchen und Settchen Käschen, beide Hilfslehrerinnen an der dortigen Mädchenschule und Mitglieder a. D. des Paramentenvereins. – Marie hatte sichtlich gelitten. Seit jenem großen Begebnis auf dem Deiche und dem letzten Zusammensein mit dem Studiosus Johannes van Melle hatte sie, bald stimmlich gehoben, bald betrübt bis in den Tod, ihre Tage verlebt. Einem ferneren Begegnen mit dem Geliebten, der übrigens seit jener einschneidenden Stunde fiebernd und wie geistesabwesend umherging, war sie geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie lebte nur sich und ihren Betrachtungen, und mehr denn sonst las sie die Schriften über die stigmatisierten Nonnen Katharina Emmerich und Luise Lateau, die ihr der Herr Dechant als heilsame und erbauliche Lektüre angeraten hatte. Eine neue Welt ging ihr auf. In selbstquälerischer Weise vertiefte sie sich in die magnetischen Eigentümlichkeiten und somnambulistischen Seelenzustände dieser beiden gottbegnadeten Frauen und fühlte mit der Zeit, daß ähnliche, verwandte Klänge die Tiefen ihres eigenen Herzens und Gemütes durchzitterten. Vor allen Dingen weilten ihre Gedanken bei Luise Lateau. Sie schwärmte mit der exaltierten belgischen Geistlichkeit und dem braven Bischof von Tournai, sie fühlte die Nervenausströmungen dieser körperlich und geistig verwandten Person, sah die durch Handauflegen verursachten Krämpfe bei ihr, schwelgte mit ihr in transzendentaler Verzückung, hörte ihre Lamentationen und Prophezeiungen im schlafwachen Zustande, sah das Blut aus den heiligen Malen der Stigmatisierten fließen und legte im Geiste die Hände auf die Wunden des gleichgearteten Wesens. Seele und Leib schienen hierdurch oft wie geteilt; aber eins blieb ihr treu: der berückende Zauber, der unwiderstehlich von ihrer eigenartigen Schönheit ausging – und dieser Zauber umspielte sie wie der Ruch von weißen Friedhofsrosen.

Unter atemlosem Schweigen kam sie näher. Nettchen schritt ihr zur Linken, Settchen zur Rechten. Ganz in Schwarz gekleidet, die schlichten blonden Haare gleichartig gescheitelt, mit demselben Augenniederschlag, denselben hysterischen Gefühlen, derselben Weltanschauung, demselben unerbittlichen Eifer und derselben Glaubensstärke behaftet, unterschieden sich die beiden Jungfrauen nur durch die verschiedenartige Reliquie, die eine jede von ihnen in einem schwergoldenen Anhängsel um den Hals trug. Nettchens Kapsel umspannte ein winziges Partikelchen von der Lanzenspitze des heiligen Quirinus, über dessen Gebein das prächtige Münster in Neuß erbaut wurde, wohingegen Settchen sich rühmen konnte, ein Zahnfragment der heiligen Apollonia aus Alexandrien ihr eigen zu nennen. Von der ans Wunderbare grenzenden Heilkraft dieser Reliquie machte die letztere einen ausgiebigen und selbstlosen Gebrauch. Nicht nur ihrer näheren Verwandt- und Bekanntschaft, sondern auch fernerstehenden und wildfremden Menschen ließ sie die Wohltat dieses Beißfragmentes zugute kommen. Stellten sich irgendwo die bohrenden Schmerzen des Zahnreißens heraus, war eine geschwollene Backe vorhanden, dick, straff und gerötet, als hätte eine Hornisse hineingestichelt, und brüllte der Delinquent, daß es zum Steinerbarmen war, gleich war Settchen Käschen zur Hand, um die heilsame Kraft des Sankt Apollonia-Zahns in die Wege zu leiten. »Sieh mal, mein Kind,« begann sie alsdann mit salbungsvollen Worten, »dieses hier ist von der heiligen Apollonia aus Alexandrien. Wenn ich nun mit dieser Kapsel über Deine kranke Backe streiche und es hilft, dann mußt Du zu Gott beten und ihm danken, daß er Dich durch die Fürsprache der großen Heiligen von Deinen quälenden Schmerzen befreit hat – hilft es aber nicht, dann mußt Du erst recht zum lieben Gott beten und ihm danken, daß er Dich würdig befunden hat, diese Schmerzen zur Läuterung Deiner unsterblichen Seele in Geduld zu tragen, denn Gott ist einsichtsvoll und gerecht.« – Und wenn sie diese Worte gesprochen hatte, dann begann die Streichprozedur. In den meisten Fällen aber fühlten sich die Patienten veranlaßt, das zweite Dankgebet, wegen gütig überlassener Schmerzen zur Läuterung der unsterblichen Seele, gen Himmel zu schicken – und innerlich gestärkt, durchdrungen von der Würde ihrer gelungenen Sendung, die Kapsel zärtlich an ihren jungfräulichen, wenn auch nur sehr rudimentären Busen drückend, verließ Settchen den Ort und die qualvolle Stätte ihres erfolgreichen Wirkens. –

Immer lauter bimmelten die Glocken. Etliche sonore Töne mischten sich ein, und unter diesem Geläut waren der Herr Kaplan, die weißgekleideten Mädchen, Marie Verwahnen nebst Begleiterinnen bis in die Nähe der Schützenbrüder gekommen. Der Höchstkommandierende senkte den Degen und ließ mit dem fliegenden Banner salutieren. Herablassend winkte der Herr Kaplan mit der Hand: »Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Janßen,« ein Hinweis, der ihn auch sofort veranlaßte, ein kräftiges »Rührt Euch!« zu kommandieren.

Herr Perdje Puhl kehrte mit seiner Wirbeltrommel zurück. Er hatte den vorgeschriebenen Rundgang vollendet. Die übrigen städtischen Musizi, von denen der erste, seines Zeichens Leineweber, die Klappentrompete handhabte, der andere, zur Schuhmacherinnung gehörig, die Klarinette blies und der dritte, als wohlbestallter Barbier, das Waldhorn beglückte, stellten sich ebenfalls ein. Jetzt konnte es losgehen, und wirklich – es ging los.

Perdje mit dem kompletten Musikkorps setzte sich an die Spitze des Zuges, der Höchstkommandierende folgte mit der ihm unterstellten Sankt Sebastians-Schützengesellschaft, und der Herr Kaplan beschloß, in einiger Entfernung von den männlichen Teilnehmern, mit seinen Jungfrauen und weißgekleideten Mädchen den feierlichen und denkwürdigen Aufzug.

»Stillgestanden! – Mit Sektionen rechts schwenkt marsch!«

»Donnerkiel!« meinte Herr Perdje Puhl, als die äußerst schneidige Kommandostimme des ersten Offiziers in spe an sein Ohr schlug, »Donnerkiel! – gut so, Cornelis.«

Aber dem gespendeten Lob fügte er noch ein Kodizill hinzu, indem er sich umwandte und sagte: »Gut so, Cornelis! – aber trotz- und alledem: die Seele, die Physische vons Ganze, wie es die Lateiner benennen, sitzt hier,« und dabei schlug er sich auf die Männerbrust, daß es knallte.

»Bataillon, marsch!«

Im Gleichschritt und mit klingendem Spiel setzte sich die Kolonne in Marsch.

»Rudibumbumbum!«

Mit der rührenden Weise aus Händels Messias: ›Tochter Sions, freu-e-e-e Dich‹, die Herr Perdje Puhl fein und sachgemäß als Unterlage für ein zündendes Marschtempo benutzt hatte, ging es dem Rheintor zu, wo der solenne und offizielle Empfang des Herrn Bonaventura stattfinden sollte. Alles schwamm in Wonne und Seligkeit. – Fliegende Fahnen in den päpstlichen Farben winkten aus allen Fenstern und Bodenluken, Girlanden aus Stechpalm- und Buxbaumzweigen spannten sich quer über die Straßen, und über das Pflaster spreitete ein Blumenteppich von zerrupften Ranunkeln und Primeln sein dottergelbes und spinatgrünes Gewebe aus. – Am Rheintor, wo der mächtige Deich in die Stadt einlief, war eine Ehrenpforte errichtet, die kunstfertige Hände mit Teppichen und Tannenreisig würdig drapiert hatten. So wollte es die frommgesinnte Bürgerschaft, denn wie ein Triumphator, wie ein siegreicher General sollte der Herr Pater Bonaventura, der mit dem gestrigen Tage seine Missionspredigten in einer Nachbargemeinde beendet hatte, empfangen werden. Und Herr Bonaventura war ein General im wahrsten Sinne des Wortes, ein umsichtiger Feldherr auf dem Gebiete fortreißender Dialektik. Er machte die toten Steine lebendig. Er sprach mit den Lilien auf dem Felde und wußte, was die Wellen erzählten im plaudernden Rinnsal. Er kannte die Sprache der Blumen und was der Fichtenwald brauste und rauschte, wenn der Sturm mit schwerem Fittich hindurchfuhr. Er wußte, was der Donner wollte, wenn er mit Posaunenstimme aus der hängenden Wolke predigte. Er rüttelte die Glaubensschwachen auf, er stärkte die Schwachen im Geiste und schreckte die Bösen mit den Dämonen der Hölle. Dann lag alles wolkenverhangen, trüb und traurig wie Karwochentage, dumpfe Glockenschläge gingen über die Erde und mahnten zur Umkehr – aber schließlich brach dennoch durch Dunkel und Nacht und Trübnis ein glänzendes Licht hervor, verheißend, belebend – das Licht des Erlösers. –

»Tochter Sions, freu-e-e-e Dich . . .

Der Zug näherte sich der stolzen Ehrenpforte; die Kirchenglocken waren inzwischen verstummt.

Unter der schwebenden Girlande baumelte eine mit einem Stechpalmenkranze umgürtete Pappscheibe, die auf beiden Seiten mit demselben Willkommgruße bedeckt war. Nettchen und Settchen Käschen hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre ausgiebige Kenntnis in der Poetik christkatholisch zu verwenden und in den Dienst der guten Sache zu stellen. Ihrer gemeinschaftlichen Firma hatte der Spruch sein Leben zu verdanken.

›Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe;
Es naht der Hirt – hier steh'n die Schafe!‹

war auf der Pappscheibe in gotischen Lettern zu lesen. Rechts und links von diesem poetischen Erguß hatten sich die Sankt Sebastians-Brüder, gemäß kirchlichen Erlasses, zu rangieren, während der Herr Kaplan mit der ihm anvertrauten Herde defilieren und so weit vorrücken mußte, bis die verhängnisvolle Stelle des seinerzeit gefährdeten Dammes erreicht war. Hier auf historischem Boden sollten laut Programm die ersten Präliminarien der Begrüßung stattfinden. Die Anordnung ging nach Wunsch. – Die Herren Schützenbrüder schwenkten vorschriftsmäßig am Triumphbogen ein, der Herr Kaplan, die Wachsmarie, die beiden Dichterinnen und die übrigen Mädchen zogen hindurch, die Büchsen rasselten bei Fuß, und Perdje schlug noch einen freudigen Wirbel – alles nach Vorschrift! – als der Herr erste Leutnant in spe die baumelnde Papptafel nebst Begrüßungsdithyrambe gewahrte, sie las und dann jählings erbleichte.

»Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe;
Es naht der Hirt – hier steh'n die Schafe!«

sprach er mit bebenden Lippen, dann verstummte seine Zunge, wie Zacharias verstummte, ein Priester von der Ordnung Abia, als ihm der Engel des Herrn verkündete, daß seine hochbetagte Frau noch eines Knäbleins genesen würde. Kreidebleich sah Herr Cornelis zuerst die ihm unterstellten Truppen an – die wußten's nicht, dann flogen seine verstörten Blicke zu Perdje Puhl hinüber – allein dieser stand da, als sei ihm die Buttermilch über eine Salatschüssel gelaufen. Er fügte sich aber der Vorschrift und hatte kein Verständnis für die gänzlich verzweifelte Lage des Herrn ersten Offiziers in spe. Da kehrte diesem die Sprache wieder.

»Perdje . . .!« stöhnte er aus tiefster Seele.

Perdje Puhl sah ihn von der Seite an.

»Und hier – hier sollen wir stehen?« fragte Herr Cornelis Janßen mit umschleierter Stimme, wobei sein Kopf betrüblich wie der Fettschwanz einer Heidschnucke wackelte.

»So will es die Kirche,« versetzte der Küster.

Herr Cornelis Janßen reckte sich auf: mit dem Degen in der bebaumwollten Hand zeigte er auf den ominösen Pappdeckel: »Also hier, Herr Perdje Puhl, sollen wir stehen?« – Seine Stimme wuchs, als er weiter redete und das beleidigte Herz an die stolze Männerbrust klopfte. »Hier? – ich, der den geweihten Degen trägt, und dort die übrigen Herren der Sankt Sebastians-Gilde?«

Perdje Puhl hatte nur ein ablehnendes Achselzucken für die grimmigen Worte.

»Gottdomie noch mal! – Herr Perdje, was heißt das: Es naht der Hirt – hier stehn die Schafe . . .? – Entweder wir rücken weiter vor, oder . . .«

Mit der geballten Faust schlug er sich auf das tadellos gestärkte Vorhemd. Blitze schossen aus seinen schnapsseligen Vergißmeinnichtaugen.

»Beruhigen Sie Ihre Physische,« meinte der Küster. »Nach der kirchlichen Vorschrift . . .«

Das genügte für den Herrn Offizier.

»Denn nicht!« schrie er mit Stentorstimme. »Ich danke . . .«

Mit einem sackgroben Fluch warf er die Klinge in die verknitterte Degenscheide zurück. Dann ging er.

Herr Cornelis Janßen hatte also in der feierlichsten Weise das ihm übertragene Amt als Höchstkommandierender niedergelegt, und es wäre voraussichtlich zu einer sehr bedenklichen und fatalen Rebellion gekommen, wenn sich nicht in diesem Augenblick eine altmodische Karosse in der Ferne des Deiches gezeigt hätte. Schwerfällig holperte sie durch die sonnige Landschaft. Kiebitze schwankten darüber hin und entfalteten jongleurartig ihre prächtigen Flugkünste. Bald mit langsamen Schwingenschlägen dahinschwebend, gaukelnd, bald sich in der Luft überschlagend und hierbei zeitweilig das blendende Weiß der Unterseite, bald den dunkelgrün- und purpurschillernden Mantel dem Auge bietend, jetzt wieder in den kühnsten Schwenkungen sich hebend und senkend, belebten diese Vögel in eigenartiger Weise das niederrheinische Frühlingsbild.

»Kiwit – kiwit . . .

In gemächlichem Trabe, rumpelnd und stoßend, waren Schimmel und Karosse bis in die Höhe der Ehrenjungfrauen und weißgekleideten Mädchen gekommen, und hundertstimmig zog der Choral ›Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre‹ über das Gelände und den murmelnden Rhein hin. Herzerquickend hob sich der würdige Gesang in den sonnigen Aether. Der Wagen hielt. Eine hohe Gestalt, barhaupt, barfüßig und mit der kleidsamen Tracht der Benediktiner umhüllt, entstieg dem Wagenschlage und näherte sich lächelnd der singenden Gruppe.

Es war Pater Bonaventura, ein Mann, der hinreißen und alle Herzen, auch die der Andersgläubigen, fesseln und begeistern mußte. Mit weltmännischen Manieren ausgerüstet, fein und selbstbewußt in jeder Bewegung, ungekünstelt und einschmeichelnd, lauteren Sinnes und angebrachte Strenge mit Milde und Herzensgüte verbindend, waltete er des ihm gewordenen Hirtenamtes in Gott und den Menschen wohlgefälligem Sinne. Er hatte die schlanken, mit feinen Äderchen durchsetzten weißen Hände wie spielend ineinander gelegt. Die hohe Stirn sprang weit zurück, und kastanienbraunes Haar legte sich wellenförmig um die durchgeistigten Schläfen. Heilig dämmerte es auf in den großen Augen. Und diese Augen konnten schimmern wie sanftes Mondlicht, wenn er auf der Kanzel stand und von der Liebe redete, süß und einschmeichelnd wie das verschlafene Rauschen der Fichten im Bergtann, sie konnten flammen und zucken wie Blitze aus schwüler Wetterwolke, wenn er die Ärmel des Gewandes zurückschlug, die Brüstung umfaßte und dann das Bild des Gekreuzigten beschwor, der da gestorben auf Golgatha für die sündige Menschheit auf Erden. Und seinen Worten beugte sich diese Menschheit – sie beugte das Knie und weinte bitterlich.

Der Choral verstummte.

Alle umdrängten die hohe, sympathische Erscheinung. Es war, als sei der Erlöser unter sie getreten. Sie hatten das Gefühl, als sei er gekommen, die Sünden von ihnen zu nehmen und sie einzuführen in das Reich der ewigen Freude. Der Kaplan begrüßte ihn in herzlicher und solenner Weise. Dann sprach er lange in Flüsterlauten zu ihm und deutete auf die Stelle, wo sie standen. Und da solches geschah, verklärte sich das Antlitz des jungen Mönches.

Noch immer sprach der Kaplan – flüsternd und raunend.

Unter den Brauen Bonaventuras zuckte es auf. – Sehendes Auge! – Schön und wunderbar schweiften die Blicke des Benediktiners über das erwachende Grün, über das goldige Tief des weiten Geländes. Resedefarben flutete der Rhein in seinem Strombett. Weiße Segel zogen vorüber, bunte Wimpel wehten vom Mast, überall Weihe und Friede.

Der Kaplan hatte geendet – da wandte Bonaventura das Haupt; seine Blicke blieben auf Marie Verwahnen haften.

»Also hier ist das Wunder geschehen?« fragte er mit weicher Betonung. Seine Stimme klang eigentümlich und seltsam.

Der Kaplan nickte.

Ein gellender Ruf . . .

Die Wachsmarie war in die Knie gesunken. Ihre Lippen berührten den Boden: »Großer – Gewaltiger . . .! – Segne mich, Bonaventura!«

Langsam hob sie das Haupt. Ihre verzehrenden Blicke flammten in die seinen hinüber.

Mit feinem Lächeln breitete er die weißen Hände: »Ich sehe Dich – ich grüße Dich – ich segne Dich! – Stehe auf und ziehe in Frieden.«

Ein verhaltenes Schluchzen war umher. Viele gaben sich die Hände, viele umarmten sich – und kein Auge war trocken geblieben.

Moses Herzlieb, der bislang in seinem Schabbesrock, seinen Kleisterlöckchen, die seidene Mütze in der Hand, seitwärts gestanden hatte, trat näher.

»Ich begrüße Sie, Herr Bonaventura,« sagte der Jude. »Sie haben's mir angetan mit die schönen Gefühle.«

Eine große Träne rollte über seine Backe.

»Wer ist der Mann?« fragte der Benediktiner.

Der Kaplan sagte es ihm.

Da reichte ihm Bonaventura die Hand und meinte: »Ich danke Ihnen, Herr Herzlieb. Unser Gott ist ein gemeinsamer Gott – und sein Friede sei mit Ihnen.«

»Ach, wo liebreich!« erwiderte Moses Herzlieb. »Der Gott Abrahams segne Sie.«

Er wollte noch weiter sprechen. Er vermochte es nicht, denn er mußte sich abwenden, um seiner Rührung Herr zu werden. Tränen bedeuten Schwäche, und Moses Herzlieb wollte nicht schwach sein; zudem ließ Herr Perdje Puhl einen dröhnenden Tusch blasen, der wie eine schneidende, aber wohlgemeinte Dissonanz in die harmonische Gegend hineinknallte. Die Schützenbrüder schwenkten, so gut es ging, auch ohne Kommando zur Sektionskolonne ein, Bonaventura gab ein stummes Zeichen, etliche Mädchen streuten Butterblumen und Palm, und unter den weihevollen Klängen des Marsches ›Tochter Sions, freu-e-e-e Dich‹ setzte sich der Zug in Bewegung.

Als er den Triumphbogen passierte und Bonaventura den poetischen Erguß auf der bammelnden Pappscheibe bemerkte, flog ein lustiger Zug um die feingeschnittenen Lippen. Diese verhaltene Fröhlichkeit wurde zum Lächeln, als er die Verlegenheit der beiden gottesfürchtigen Jungfrauen Nettchen und Settchen Käschen bemerkte. Er verbiß es aber, und ernsten Gesichtes zog der würdige und Gott wohlgefällige Mann in die festlich geschmückte Stadt ein. –

Bis in die sinkende Nacht gab es Jubel und Trubel, Musik, sinnige Transparente, bengalisches Feuer und Geknatter von Fahnen – und bis in die sinkende Nacht hinein bemühte sich Moses Herzlieb, Frau Giddel und den kleinen Schlaume mit Aufbietung der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Überredungskunst für seine Handlungsweise umzustimmen. Es war eine schwere Stunde, die sich in den vier Pfählen des kleinen Handelsmannes abspielte. Schließlich gelang es ihm auch. Mutter Giddel und Sohn trugen nach langer Debatte den vorliegenden Umständen Rechnung, sie fügten sich im Hinblick auf die in Aussicht gestellten glänzenden Tage, und überglückselig leistete sich Moses in der zunächst gelegenen Destille ein gefälliges Schnäpschen. Auch wurde er nicht müde, die schönen Gefühle des Herrn Bonaventura in allen Farben des Regenbogens brillieren zu lassen, und machte geheimnisvolle, aber schwerwiegende Andeutungen bei allen, die es hören und nicht hören wollten, über das Unausbleibliche seiner grandiosen und ehrenvollen Zukunft. Ja, es konnte nicht fehlen: er hatte schon jetzt den Herrn Kommerzialrat so gut wie in der Tasche.

»Ich bitte noch um ein gefälliges Schnäpschen. – Prosit, die Herrens . . .

So ging die Nacht hin – die Palmsonntagnacht. Und der andere Morgen kam – der erste Tag in der Karwoche. – Da . . .

 


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