Kurd Laßwitz
Traumkristalle
Kurd Laßwitz

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Jahrhundertmärchen

Will die Knospe noch immer nicht springen? Jetzt muß doch bald die ersehnte Stunde kommen, da sie sich öffnet, daß er hinausblicken kann und die lichten Sterne schaun und das Land, das er vor allem liebt – – Dauert denn ein Jahrhundert so lange, selbst für einen kleinen Kulturgeist, der sonst durch die Zeiten fliegt wie ein Sonnenblick durch den Weltraum?

Aber er sitzt ja im Gefängnis! Da kann er nichts tun als träumen, träumen von dem letzten frohen Tage, an dem er draußen war, träumen von dem nächsten, der nun kommen muß – – Regt sich die Knospe noch nicht? Ach, nur in der seltenen Neujahrsnacht, wenn ein neues Jahrhundert anfängt, dann ist ihm ein Tag der Freiheit gegönnt. Dann durchschaut er mit seinen hellen Geisteraugen die Dinge und Menschen nah und fern. Und dann hat er wieder ein Jahrhundert Zeit, nachzudenken, wie es wohl das nächste Mal sein wird.

Ungeduldig pocht er mit den kleinen Geisterfäusten an die Wand des grünen Gefängnisses. Und da sie nicht weichen will, faltet er die Flügel zusammen und träumt wieder.

Wie wird es diesmal draußen aussehen? Wie mag's seinem guten Freunde gehen, den sie den Michel nennen? Eigentlich ist der ja dran schuld, daß der kleine Kulturgeist eingesperrt wurde. Es ist freilich schon lange her – –

Damals war er ganz vergnügt umhergeflogen, weit hinweg von sonnigen Geländen bis zu den dunkeln Fichten am Nordmeer. Dort sah er einen Riesenknaben ausgestreckt, der schlief zwischen den Muscheln am flachen Strande, seine starke Faust umklammerte den entwurzelten Stamm einer jungen Fichte, und wild hingen ihm die blonden Locken über die geschlossenen Augen. Sofort war der Kleine von dem jungen Riesen entzückt. Die Augen wollte er sehen, die Augen! Und rasch schob er die Haare vom Antlitz zurück.

Aber das war gerade der Zauber. Die Lider aufreißen, daß es hervorquoll wie ein Himmel blauen Lichts, aufspringen und lockenschüttelnd, den Baumstamm schwingend hinwegtoben, das hatte der Riesenjunge im Augenblick getan. Erschrocken starrte ihm der kleine Kulturgeist nach. Doch da hatte ihn auch schon jemand an den Flügeln und schüttelte ihn. Das war der Genius der Menschheit selbst.

»Was fällt dir ein«, herrschte der ihn an, »meinen weisen Zauber zu brechen? Der Junge sollte noch schlafen, bis er verständiger geworden ist. Nun hast du mir tausend Jahre Geschichte ruiniert! Jetzt läuft der Bengel hin und schlägt mir den kranken Onkel Römerreich tot und die alte Erbtante Antike und versteht doch ihr Testament noch gar nicht zu lesen! Das wird ein schönes Mittelalter werden! Aber dich, vorwitziger Schwarmgeist, will ich zur Strafe in die Fichte im Zauberwald sperren. Nur in der Neujahrsnacht eines neuen Jahrhunderts öffnet sie eine Knospe, und dann magst du hinausgucken, und sonst nicht!«

Und so saß denn der Kleine im grünen Kerker. Wenn aber der Tag der Freiheit kam, dann sah er die Dinge mit Verstand an; denn er war jetzt nachdenklich geworden. Und den Riesenjungen, der inzwischen herangewachsen war, besuchte er gern. Dem war's auch nicht immer gut gegangen. Der totgeschlagene Onkel ging in langer Kutte als Geist in seinem Hause um, und Michel mußte sich hübsch still und folgsam ducken. Und vorgestern, als Geistchen das vorletzte Mal draußen war, da hatten sie den Michel ganz windelweich geschlagen, da saß er zusammengebückt und festgeschnürt und schlief. Aber das letzte Mal, da war's schon besser. Zu einem Manne war er erstarkt; Arme und Füße waren noch gefesselt, den Kopf aber trug er wieder aufgerichtet, groß leuchteten die blauen Augen, doch nicht mehr wild, die Locken waren von der Stirn zurückgestrichen, und Gedanken sah man darunter gehen – wunderbare, tiefe Gedanken, wie sie der Menschheit noch nie erblüht waren – –

Ja, das war überhaupt ein herrlicher Tag!

Wie er an dem Hause vorüber kam und in das Zimmer spähte, wo die beiden Dichter miteinander sprachen. Das war eine neue Welt!

Der Große, dem die Götteraugen so siegreich strahlten, als schaue er die Zukunft vor sich wie eine offene Tempelhalle, – das war Goethe.

Und der andere, der den Kopf in die Hand stützte und nachsann, – das war Schiller.

Und vor ihm das aufgeschlagene Buch mit dem gelehrten Titel, – das war von Kant.

Wovon sprachen sie doch? O, er erinnerte sich wohl. Er hatte ja ein Jahrhundert Zeit gehabt, darüber nachzudenken.

Von der Menschheit sprachen sie, von dem großen Jahrhundert, das mit dieser Nacht vorübergerauscht war. Von der Menschheit, die nun zum ersten Male mündig geworden sei, da sie das neue Wort begriffen hatte: »Bestimme dich aus dir selbst!«

Ja, sie hatte sich aus sich selbst bestimmt, den Spukgeist vertrieben und die lebendige Natur befragt, die Millionen Welten, die draußen im unendlichen Nachtraum strahlten, die grünen Fluren und das wogende Meer und den Berge gebärenden Erdball.

Und sich selbst hatte sie befragt, nach ihrem Recht und nach ihrer Pflicht. Da klang aus ihrer eigenen heiligen Tiefe der befreiende Ruf: Du sollst! Handle gut aus Achtung vor deinem Gesetz! Handle gut um der eigenen Würde willen, die dem Menschen gebührt, einem jeden! Das Unabänderliche und das Unerreichbare, vereine es in dir, daß es golden leuchte im freien Spiel der Seele! Verschmilz es im schönen Scheine zum Ideal, daß es dich packe mit der warmen Wirklichkeit des Gefühls, daß es dich durchflute und läutere mit dem heiligen Schauer, der dem Augenblick Dauer verleiht! Vertrauend blick hinein ins Gewirr der Arbeit, daß du das Ganze schon siehst, wo noch die Rüststücke splittern, daß du selbst dich aufbaust zur Menschenhöhe!

So schauten diese Männer in das kommende Jahrhundert.

Und das Jahrhundert schaute auf sie, auf die Unsterblichen, die einer neuen Menschheit ihren Odem eingehaucht hatten.

Glückliches Land, das diese Männer sein nennen durfte! Glückliches Jahrhundert, an dessen Wiege diese Götterpaten die unvergänglichen Gaben zurückließen, die drei ewigen Lampen der Freiheit, der Würde, der Schönheit – – –

Wieder sind hundert Jahre vorüber. Auf dem Werk jener Gewaltigen fußend, welch erhabene Genien müssen am Ende des neuen Jahrhunderts wandeln, müssen dem zwanzigsten den Gruß des Willkomms singen und sagen? O wenn die Knospe endlich sich öffnete!

Und ehrfurchtsvoller Schauer durchzittert das Herz des kleinen Gefangenen.

Und da – siehe – es wächst, es dehnt sich das grüne Gewölbe – und es schimmert von außen – –

Die Knospe springt auf – o Seligkeit! Offen liegt der Himmel, liegt Land und Meer – und alles auf einmal umfaßt der Geisterblick.

Er starrt und starrt. Die Genien sucht er, die großen Unsterblichen, die das Geheimnis des neuen Jahrhunderts zu verkünden wissen, der Zeit, die sie selbst geschaffen – rein und klar, wie es nimmer zuvor die Menschheit vernommen.

Er starrt vergebens, er findet sie nicht. Sie sind nicht da – nicht ein einziger ist da.

Und dem kleinen Kulturgeist rinnen die Tränen herab. Große, runde Tränen, aus denen der weite Himmel glänzt.

Und wie sie fallen, zerstieben sie in Millionen Tröpfchen. Demantstaub ist über die Erde gestreut, und das ganze Land leuchtet.

Wie anders sieht es nun aus!

Millionen und aber Millionen Sternchen schlingen ihre Strahlen ineinander. Sie ergänzen sich, sie verstärken sich zu mildem Lichte.

Und nun erblickt er die neuen Menschen. Wie das ineinander wirkt, wie sich das zusammenschließt, wie das hinübergreift über die Erde mit Riesenarmen, die allen gemeinsam gehören, auch dem Kleinsten! Dort jagt es durch die Lande, dort dampft es über das Meer, dort zuckt es Kunde, redet Sprache im Augenblick durch Fernen, zu denen die Schnellpost Tage brauchte. Das sind die neuen Nerven in einem neuen Riesenleib, das sind die neuen Riesen, die lebendig gewordene Natur in einem großen Willen, das sind die Riesen der Arbeit, der Pflicht, der Hoffnung.

Die großen Genien schweben leuchtend im Äther, aber im Lande schafft ein großes Volk – – – Und nun erblickt der kleine Kulturgeist seinen Freund, den Michel. Höher noch ragt der mächtige Kopf, aber auch die Arme sind frei, und mutig umfassen sie den Erdball. Nur noch die Füße sind gefesselt.

Der Genius der Menschheit schwebt vorüber.

Fragend fleht zu ihm das Geistchen:

»Warum willst du meinem Freunde nicht auch die Füße lösen?«

Der aber winkt majestätisch:

»Hüte dich, hüte dich! Hast du noch immer nicht Geduld gelernt? Marsch mit dir hinein in die Knospe! Dort harre, was dein nächster Tag dir bringen wird.«


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