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Vor dem Kaplanhäuschen: seitlicher Vollmond. Eines der Fenster matt beleuchtet und eines der Dachfensterchen. Auf dem Tisch des Kaplans steht eine Petroleumlampe. Er sitzt und schreibt auf einem Amtsbogen, hochparterre. Auf dem Tisch steht ein Glaskrug Milch, auf einem Teller etwas Weißbrot.
Menachem; Simeon; Julius; Berthold; Ferdinand; Katharina; Elischen; Hugo.
Sie sind im Begriff, über den kleinen Zaun zu klettern. Sie flüstern.
Hugo (mit einer schleichenden Bewegung): Ich klettere ruff und schleich mich ans Fenster ran.
Alle treten in einer Gruppe zusammen unter dem Fenster der Kaplanstube.
Ferdinand und Berthold (gleichzeitig): Steig auf unsere Schultern, Hugo, erspar dir den halben Weg.
Die übrigen Geschwister kalkulieren in stummen Worten, wie man am leichtesten heraufsteigt.
Hugo (zu den beiden): Macht mich nur nicht widerspenstig, ihr zwei Weißgesichter.
Simeon (im Flüsterton, zu den jüngeren Brüdern): Holt die Leiter dort! Seht ihr nicht?
Sie stellen die Leiter ganz behutsam an die Wand des kleinen Häuschens. Hugo steigt herauf, hält sich, oben angekommen, am Stuck fest.
Hugo: Die is dem Schornsteinfeger sinne.
Julius: Vorsicht gebiert die Stunde.
Hugo (zischt herunter im Eifer): Deine Gelehrsamkeit soll mich – ollet Weißgesicht!
Simeon (mit dem Gedanken, den Hugo anzuspannen): Nun laßt ihn mal.
Elischen: Fall nur nicht, Hugo.
Hugo klettert immer höher, er hält sich an der Fensterbrüstung fest.
Katharina: Halt dich fest, denk an deine gute Mutter.
Hugo (im Eifer): Hört ihr nun endlich uff zu predigen! – (Ganz kleine Pause) – Simeon, eck kann ihn sehen. Er sitzt am Tisch vor 'ner Lampe mit 'nem grünen Schirm,
Elischen: Was noch?
Julius: Sch – –
Elischen: Ich setz mich was auf de Bank, bin so müde von Dorachens Rekonvaleszenz.
Simeon: Zu gefährlich, ich stütz dich lieber, Schwester.
Julius: (nach oben blickend): Weiter?
Hugo: Allet mit Ruhe, wie im Stamm.
Menachem (zu Katharina): Was sagt er vom Stammbaum?
Katharina: Von seinem Indianerstamm fabuliert er.
Hugo: Nun nimmt er den Federkiel wieder – nu überlegt er – ich glaub, er summt dabei. Hören tu ich zwar nix!
Simeon: Kannst du das Geschriebene lesen?
Hugo: Ich laß mir nicht kommandieren! Sonst komm ich herunter (tut, als ob er absteigen will).
Simeon (klug): Dem tapferen Löwen, dem Häuptling kommandieren?
Hugo (schielt furchtbar nach unten in seinem Eifer): Auf dem Tisch steht eine Kanne Milch. Und daneben auf einem Teller Bretzel zum Aufpäppeln, wie in 'ner Kinderstube. Und nu schreibt er wieder.
Menachem: Was schreibt er, Knabe?
Hugo: Wartet ens.
Hugo: »Ich ergreife die Feder« – das »F« malt er bei der »Feder«.
Julius: Soll ich dir mein Lorgnon rauf reichen, Hugo?
Hugo: Für wat? Für de Augen oder für de Löffels? – Drüber steht geschrieben – wartet man: An Seinen Faden.
Simeon: An Seiner Gnaden?
Hugo: Stimmt!
Katharina: Versuche noch mehr zu entziffern, Hugo.
Elischen: Unsere Mutter, soll ich dir sagen, schenkt dir ein paar Dukaten für deine Sparbüchse.
Hugo: Nu mal langsam voran. – Seh! – Nu faltet er den Zettel. – (Pause) – Er siegelt. Er hat sich den Finger verbrannt.
Julius: Sch!
Hugo: Leiser kann ich doch nicht, Menschenskinder! Er leckt am Daumen und nu am Mittelfinger.
Simeon: Komm herunter, Hugo, das genügt.
Menachem: Wir wissen wenigstens, daß unsere Konferenz gefruchtet hat.
Hugo (guckt nochmal neugierig durch das Fenster): Seine Klappe ist verrammelt und der Nachtpott – –
Simeon und Julius: Sch – – Sch – –
Elischen und Katharina: Aber Hugo – –
Der Postillon tutet das erstemal vor Abgang der Postkutsche.
Hugo: Er holt den Mantelkragen. – Kinder, nu aber rasch herunter.
Er klettert über den Stuck des Hauses herab und dann, von Ferdinand und Berthold gehalten, springt er in den Garten.
Katharina (stolz): Des Vaters Rede hat gefruchtet.
Hugo (wieder unten, ungeduldig): Wo sind die Dukaten?
Beide Mädchen: Die Mutter will sie dir selbst geben.
Hugo (impertinent): Das laßt euch alle gesagt sein: krieg ich se nicht, denn klatsch ich ihm die Vorgänge wieder, daß seine Kaplannose weiß wird wie sinne Milchpulle.
Simeon (überlegen): Unter den Indianern, glaubte ich bis jetzt, gab es keine Erpresser.
Julius: Seine Eltern können sich gratulieren.
Katharina (auf Hugo weisend): Er ist doch noch halbwüchsig.
Hugo (kleinlaut): Den Mantelkragen hatte er sich schon von der Wand genommen, – wacker.
Alle schleichen auf Zehen vom Hause fort und klettern über den Zaun wieder zurück. Ferdinand und Berthold springen hinüber. Hugo, wie ein Indianer; Simeon und Julius sind ihrer Schwester Katharina behilflich, und Elischen, von plötzlicher Angst getrieben, der Kaplan könne kommen, setzt wie eine wilde Stute über den dornigen Blattzaun, ihr halbes Hosenbein mit der langen Spitze daran bleibt in den Dornen der Hecke hängen. Sie verstecken sich alle hinter der Kirche. Sie hören, wie der Kaplan seine Türe aufschließt, und sehen ihn eilig über den Platz zur Postkutsche gehen. Von der Postkutsche sieht man nur das rote Laternenlichtchen zwischen dem Laub der Bäume auf den Wegen. Es tutet das zweitemal.
Simeon: Nun geht ihr alle heim und tröstet die Eltern. Ich warte auf ihn.
Menachem: Als Bauer hab ich mir manche Schlauheit zugeeignet und rate dir von diesem Schritte ab.
Katharina: Ich warte mit dir, Simeon.
Elischen (ironisch neckend): Ei, ei, liebe Schwester – wenn das dein Engelbrecht ahnte.
Simeon: Laß die Albernheiten.
Menachem: Um der Gradheit willen sollte man zu ihm hinaufsteigen.
Simeon (überhört Menachems Äußerung): Bruder, du hast recht, es wäre undiplomatisch, ihn weiter zu bedrängen.
Julius: Auch nach meiner Meinung.
Elischen: Er glaubt dann, wir haben Angst.
Menachem: Aber selbstverständlich haben wir Angst, wir dürfen Angst haben! Noch dazu die Eltern – was werden wird.
Katharina: Geht doch beide zu ihm, gern schließ ich mich euch an.
Elischen (gebieterisch): Oder ich!!
Simeon: Oder die ganze Herde.
Es tutet das drittemal. Man hört das Geschirr der Pferde. Sie brechen alle im Sturmschritt plötzlich auf, eilen über den Markt heimwärts. Sie sind entkommen.
Nachtwächter Altmann (kommt über den Marktplatz, bleibt in der Mitte des Marktplatzes stehen, die Ankunft des Kaplans, den er am Rand des Marktes erblickte, abwartend): Einen gesegneten Abend wünsch ich Ehrwürden. (Zeigt auf die Richtung der Postkutsche) Nun ist sie fortgaloppiert. (Er berührt seine alten Beine, die knarren.) Die Postkutschräder sein dat nicht! Aber minne ollen Beine knarren.
Kaplan lächelt zerstreut.
Nachtwächter (blickt auf zum Mond): Wie er so jede vier Wochen von oben herunterkömmt, grade über Hexengaesecke. Und immer hab eck dann meine liebe Not, de Kenger all im Schlaf zu blasen.
Er räuspert sich und spuckt lange aus.
Kaplan (zerstreut): Ich werd auch nicht schlafen können, alter Freund. Komm er, lieber Altmann, und trinke er einen Korn mit mir oben im Stübchen.
Nachtwächter (trottelt hinter dem Kaplan her): Wenn mich doch der liebe Herrgott erhöhen möchte.
Kaplan: Ist er denn nicht mit seinem Amt zufrieden?
Nachtwächter: Den roten grellen Dudelsack da oben (er bleibt stehen und sieht nochmal nach oben; zornig) tat eck verdammt den Bauch aufschlitzen. Wenn et schlägt vom Kirchenturm.
Sie treten ins Haus, und man sieht nur noch das matterleuchtete Zimmer des Kaplans.