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»Suzette!« Herr Bonmarché hob den Kopf von den Zahlenkolonnen auf, beschwerte die vollgeschriebenen Blätter mit dem Tintenfaß aus Rubinglas, damit sie der Wind, der das Vorgärtchen peitschte, in dem er gesessen hatte, nicht auseinandertriebe, und spähte durch das Eisenstaket auf das Stückchen krumm gepflasterte Straße, das sich ihm sparsam darbot und einige Meter weiter an der Schloßmauer endete. Diese Schloßmauer, welche die Sackgasse abschloß, war von blauer Klematis und wildem Hopfen verschwenderisch überrankt; hinter ihrer romantischen Fülle erstreckte sich der Gemüsegarten, durch welchen eben Frau Léontine, die Schwester Herrn Bonmarchés, wandelte, ein Küchenmesser in ihrer Rechten, mit dem umgebogenen Daumen der Linken ihren fleischigen Rücken kratzend, der sich zur Erde neigte und der Richtung der mächtigen Nase folgte, die nach Dill und Bohnenkraut suchte. »Suzette!« Léontine kehrte sich seufzend von ihrem Kräuterstück ab und schlich 291 durch das hölzerne Pförtchen zurück, das den hinteren Teil des Gartens der Bonmarchés mit den Gemüsebeeten der Staatsbesitzung verband: der Schloßpächter war ein alter Verehrer der dicken Sergeantenwitwe und hatte ihr ein besonders fettes und gut bewässertes Stückchen Erde für ihr Küchenkraut reserviert. Sie ging, durch den eigenen Garten kommend, die leicht geschwungene Treppe hinauf und betrat das Haus durch das Palmensälchen, dessen Flügeltüren weit offen standen und in dem nahenden Wetter mit den Rolläden klapperten. In den gegenüberliegenden Fenstern, welche gleichfalls geöffnet waren, stand – umrahmt von geblähten Sonnengardinen – der Kopf ihres Bruders, welcher sich heftig über dem Halskragen drehte und nach etwas zu suchen schien; die grünblaue Sodaflasche auf dem eisernen Gartentischchen, an dem er gearbeitet hatte, warf ab und zu einen Funkenblitz in Léontines Augen, die sich furchtsam zusammenzogen.
»Aber, Charles, mein Lieber – was hast du nur?« ächzte sie näherkommend und legte beide Arme über die Fensterbrüstung.
Der Angeredete drehte sich um und blickte sie wütend an. »Was ich habe? He, was ich habe, fragt meine verehrte Frau Schwester?« kläffte der kleine Mann sie mit höhnischer Stimme an. »Wo ist Suzette? Wo steckt dieses Stückchen kostbarer Nonnenerziehung?«
Die dicke Frau an der Fensterbrüstung richtete sich in die Höhe, indem sie die Ellbogen kurzerhand auf das Kakteenbrett stützte und das Küchenmesser nach oben spießte, als erwartete sie eine Mahlzeit, in welche sie einschlagen wollte. »Habe ich sie erzogen oder die Nonnen?« fragte sie würdevoll. »Warum schreist du also mit mir?«
»Und wer wollte, daß sie die Nonnen in ihre Pfoten bekamen?« bellte Charles erbittert zurück. »Du!«
»Ich? Du bist wohl verrückt, mein Lieber. Oder hast du vergessen, daß deine Frau dir auf dem Totenbett das Versprechen –«, sie schöpfte Luft und fuhr ärgerlich fort: »Aber nächstens wirst du wohl noch behaupten, ich habe dieses Versprechen erfunden, damit meine Nichte Lochstickerei und Blumenmalen lernt.«
»Und vergiß nicht die Klosterrezepte, mein Herzchen, auf 292 welche du schleckriges altes Weib gierig gewesen bist«, gab er, zitternd vor Bosheit, zurück. Die Geschwister blickten einander an, als wollten sie sich ermorden. Dann fragte Charles, wie ein Kater sein gewichstes Schnurrbärtchen streichend, mit plötzlicher Freundlichkeit: »Also, wo ist sie? Wo steckt sie bloß, dieses mißratene Kind? Schon dreimal habe ich Marcels Listen, dreimal mit anderem Resultat, aufzuaddieren versucht, obwohl ich kein Dummkopf bin. Vier Augen sehen besser als zwei – ist es nicht so, Léontine?«
Ein neuer Windstoß fuhr durch die Büsche, dann verdunkelte sich der Himmel, und plötzlich fielen die ersten Tropfen auf Herrn Bonmarchés Zahlenblätter. Er raffte sie überstürzt zusammen und eilte in das Haus; auch Léontine zog sich zurück und schloß die Fenster mit scharfem Knall, während schon durch die Terrassentür der Regen auf das gewachste Parkett und den vorderen Teppichrand fegte.
»Es geht vorbei. Gleich ist es vorbei«, sagte Herr Bonmarché, seine Akten unter den Arm gepreßt, indem er das Sälchen betrat.
Frau Léontine bückte sich keuchend bis auf die Erde nieder und zerrte ein eingeklemmtes Stück Teppich unter der Glastür hervor. Herr Bonmarché sah ihr ungerührt zu, wie sie sich damit plagte, und hörte mit Befriedigung ihre Korsettstangen knacken: sie war wie immer zu fest geschnürt – ein Zustand, der ihrem Temperament, das dem des Bruders nicht unähnlich war, Beherrschung auferlegte und sie zu gewissem Phlegma zwang, zu Würde und Ängstlichkeit. Endlich war es gelungen, und Léontine fiel tödlich erschöpft in einen Sessel nieder. »Nimm Platz – oder willst du stehen?« fragte sie ihren Bruder. Mit dieser Redewendung: »Nimm Platz« pflegte sie anzudeuten, daß das Palmensälchen ihr eigenstes Reich war, das man nur aus Gnade betrat. Er meckerte kurz und zog ein maurisches Tischchen unter den spitzen Hintern. Auf der Metallplatte war eine Tigerjagd eingraviert, die von indischen Elefantentreibern, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, in Szene gesetzt worden war. Ein besonders dickes und großes Tier war in die Knie gebrochen, während ihm schon der Tiger den hilflosen Rücken zerfleischte. Auf diesem Motiv rutschte Charles hin und her 293 und blickte in den Garten hinaus, der hinter einer Sturzflut von Regen fast wegzuschwimmen schien. »Nun kommt sie natürlich erst recht nicht nach Hause«, sagte er zu sich selbst. Er drehte den Kopf nach Frau Léontine: »Wo ist sie eigentlich hingegangen?« sagte er drohend und kurz.
Sie verschränkte die Arme unter dem mächtigen Busen und sagte mißbilligend: »Lieber Charles, man sollte nicht glauben, daß du im Krieg und noch dazu hier in Senlis, einem wahrhaften Märtyrerstädtchen, lebst, dessen Bürgermeister erschossen wurde, das die Deutschen kommen und gehen sah und voll von Verwundeten liegt. Wo ist Suzette also hingegangen? Sie zupft Charpie für das Lazarett, hilft den Küchenschwestern Kartoffeln schälen und näht Hemden für unsere Braven. Auch Louise Duclerc und Dauphine Amère, Germaine Cailleux und Charlotte Louat«, sagte sie triumphierend, »ihre früheren Mitschülerinnen, sind dort und machen Vaterlandsdienst.«
Herr Bonmarché verzog seinen Mund. »Wenn Suzette mir helfen wollte, die Listen für den eingezogenen Herrn Marcel und seine Postagentur zu führen, wäre das gleichfalls Vaterlandsdienst«, entgegnete er scharf.
»Marcel – Marcel – ich weiß, was du denkst«, keuchte Frau Léontine. »Du denkst, seit der alte Buvardier tot ist und das Postamt durch den jungen Marcel nur provisorisch verwaltet wird, du könntest dich selbst, mein Lieber, auf einfache Weise in die Anwartschaft dieser Sache setzen. Habe ich recht oder nicht? Entweder fällt Herr Marcel wie so viele, dann bist du der nächste dazu – oder er kommt nach Hause zurück und wird dein Schwiegersohn, dieser Esel mit den ungewaschenen Wackelohren und dem grindigen Stottermund.«
»Man sollte nicht glauben, daß du im Krieg, noch dazu in Senlis lebst, einem wahrhaften Märtyrerstädtchen«, sagte Bonmarché, höchst pathetisch. »Sonst würdest du wohl nicht so unehrerbietig von einem Frontkämpfer reden. Aber ich weiß genau, was du denkst«, fuhr er, sie imitierend, in schreiendem Tonfall fort. »Du siehst dich bereits als Schwiegermutter von François Duclerc oder Gaston Amère, mit denen du dann zusammen auf deinen Bruder herabblicken kannst, diesen Pfandleiher, den sie alle verachten, weil er tüchtiger war als sie.« Er sah die 294 Schwester durchdringend an und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Aber während wir uns hier streiten, Beste, bekommt sie weder Marcel noch Gaston oder irgendein anderer, den wir uns wünschen, sondern« – sein merkwürdig hohes Organ sank nun zum Flüstern herunter – »unsere Drossel wird still und heimlich mit allerlei Beeren gefüttert, die den Käufer erstaunen werden, der sie später einmal tranchiert.«
»Ich verstehe dich nicht –«, sagte Léontine mit angestrengtem Gesicht. »Drücke dich einfacher aus!«
»Nun gut, Léontine. Ich dulde es nicht, daß meine Tochter verführt wird, ohne daß sie es weiß. Und zwar verführt und verdorben durch den Umgang mit dieser verrückten Hortense, auf den du so stolz bist, du Schaf. Oder willst du mir weismachen, daß Suzette sich keinen Augenblick bei ihr aufhält, wenn sie Verbandzeug, Charpie und Hemden auf dem Wege zum Lazarett bei ihr abholt und in ihr Körbchen sortiert? ›Tritt näher, mein Kind. Wie schön, daß du kommst – ich habe gerade daran gedacht, noch ein paar Pfirsiche abzupflücken, um sie dir mitzugeben. Begleitest du mich in den Garten, mein Herz? Dort steht die Leiter, ich halte sie fest, du weißt es ja, daß der Cul mich behindert, bis in die Zweige zu klettern. Auf dem Rückweg kommst du doch hier vorbei? Ich will dir das Häkelmuster erklären, das du neulich bewundert hast.‹ Begreifst du denn nicht«, rief Herr Bonmarché und schlug mit der flachen Hand vor die Stirn, »was hier gespielt wird, mein Kind?«
Léontine sah ihn erwartungsvoll an; ihr Gesicht war, wie das einer Schülerin, erstaunt und ängstlich zugleich, als solle sie eine Aufgabe lösen, deren Wortlaut sie nicht verstand. »Nun ja, mein Lieber«, stotterte sie. »Es ist sehr eigenartig, gewiß, daß Herr de Chamant mit dem Ausbruch des Krieges seine Tochter wie eine Gefangene hält und sie zwingt, die älteste Garderobe seiner durchgegangenen Frau zu tragen, damit sie nicht ausfliegen kann. Mein Gott, Hortense ist nun dreißig Jahre alt und, wie man sagt, ohne Fehltritt geblieben. Die Geschichte mit dem jungen Benoît . . . Das Gerede von ihrem maßlosen Hochmut hörte dann danach auf –, aber ich glaube noch immer, daß sie später den Schleier nimmt. Was soll sie denn auch an Suzette verderben? Ich begreife dich wirklich nicht.« 295
Herr Bonmarché blickte sie mitleidig an. »Ihre Einbildung, teuerste Léontine. Ihre Gefühle und ersten Wünsche, ihren Geschmack an den Männern und ihre Phantasie.«
»Suzette hat durchaus keine Phantasie«, sagte die dicke Frau, »so wenig wie du und ich. Das liegt nicht in unsrer Familie.«
»Aber in der ihrer Mutter«, erwiderte Bonmarché. »Denke doch an Elize!«
»Elize war eine Schwärmerin, Charles, weil sie an Auszehrung starb. Diese Krankheit bringt das oft mit sich, aber Suzette ist gesund. Sie hat Blick für die Wirklichkeit, ganz wie du, und ist von einer erstaunlichen Selbstsucht, die ihr jederzeit hilft, an das Ziel zu gelangen, das sie sich vorgesetzt hat.«
»Dann wird es also schon schwierig sein, ihr den Umgang mit dieser Hortense zu verbieten«, murmelte Bonmarché. »Man könnte ihn ihr höchstens verleiden, aber ich weiß noch nicht, wie«.
»Und ich sehe noch immer nicht ein, weshalb«, sagte die Schwester eigensinnig und blickte ihn kampflustig an. »Hortense gehört zu den besten Familien, und Herr de Chamant wird, wie man erzählt, bei der nächsten Wahl Deputierter werden –.«
»Für seine klerikale Partei«, ergänzte ihr Bruder ironisch. »Doch einerlei. Ob du begreifst oder nicht, die Sache muß ein Ende haben. Sie paßt mir ganz einfach nicht.« Er erhob sich und ging mit gereizten Schritten in dem Gartensaal auf und nieder. Der Regen, der jetzt an Heftigkeit nachließ, schien an Beständigkeit zuzunehmen und durchtränkte Himmel und Erde mit grauem, diffusem Licht. Es war unerträglich stickig und schwül in dem verhangenen Sälchen, welches, sobald man die Fenster schloß, seinen Eigengeruch verströmte – eine Mischung aus dem Inhalt der Schübe von Léontines Schränkchen, einem gedrechselten goldenen Ding mit Spiegelscheibenaufsatz: den außerordentlich haftbaren Duft von alten Keksen und Mottenkugeln, Glacéhandschuhen und Spitzenschals, die nicht mehr getragen wurden. Vor diesem Schränkchen blieb Bonmarché stehen und trommelte mit nervösen Fingern gegen den Scheibenaufsatz. Ein verrückter Gedanke, noch viel zu vage, um konkrete Gestalt anzunehmen, bemächtigte sich seiner und 296 machte ihn leise schwanken, als ob er getrunken hätte. »Du sagtest, sie ist nun fast dreißig Jahre, Fräulein Hortense de Chamant?« fragte er in den Spiegel hinein, ohne sich umzudrehen.
»Es fehlt nicht viel.«
»Und hübsch ist sie nicht?«
»Wie man will. Der Geschmack ist verschieden«, erwiderte Léontine. »Für meine Begriffe –«
Herr Bonmarché krächzte und drehte sich nach ihr um. »Sie ist wohl zu mager und kann einen Kragen um ihre Taille legen? Ihre Hüften sind schmal wie die eines Jünglings, und die Augen sind viel zu groß?« Das erstaunte Gesicht seiner Schwester bemerkend, lachte er spöttisch auf. »Nein, nein, ich kenne das Fräulein nicht, aber da sie nicht dein Geschmack ist, wird sie wohl das Gegenteil von dir sein, teuerste Léontine.«
»Sie ist auch das Gegenteil von Suzette«, sagte Léontine beleidigt. »Und wenn dir deine Tochter gefällt, mußt du begreiflicherweise Hortense außerordentlich häßlich finden.«
»Ich habe als Vater kein Urteil darüber, ob Suzette einmal hübsch werden wird«, erwiderte Bonmarché steif. »Auf jeden Fall ist sie es heute noch nicht – dieses dicke, unreife Kind mit den grünen Stachelbeeraugen.«
»Dick! Dick!« ereiferte sich seine Schwester. »Sie hat die weichste, weißeste Haut, die mir jemals begegnet ist.«
»Die haben alle mit rotem Haar«, sagte Bonmarché ungerührt.
»Suzette ist nicht rothaarig, lieber Charles, sondern hat herrliches, volles Haar von der Farbe des Mahagoniholzes«, schwärmte Frau Léontine.
»Man könnte denken, sie sei dein Geschöpf«, erwiderte Bonmarché. »Aber an ihrem Augenaufschlag und dem gezierten, frömmelnden Wesen«, fuhr der frühere Pfandleiher fort, »haben ebenso gut die Nonnen und besonders die Oberin ihren Anteil, wie du sie an ihrer weißen Gesichtshaut durch deine Mixtürchen hast. Und wenn sich nun noch dieses Fräulein Hortense mit seinen Künsten einmischt . . .«, er brach ab und versetzte dem goldenen Schränkchen einen verächtlichen Stoß, der es zittern und klirren machte. »Öffne das Fenster«, sagte er herrisch. »Der Regen hat aufgehört. Nein, lass' es noch eine 297 Weile geschlossen, damit uns niemand belauscht. Schließlich bist du doch eine Frau und müßtest mich verstehen«, flüsterte Bonmarché, »obwohl du trotz deiner Ehe, oder wahrscheinlich gerade deswegen, ein Kind geblieben bist.«
Léontine sah ihn mit offenem Mund gehorsam und demütig an. »Und was verlangst du von mir, lieber Charles?« fragte sie unterwürfig.
»Ich möchte wissen«, begann er zögernd, »wie sie eigentlich lebt, dieses Fräulein Hortense. Ihre Gewohnheiten: wann sie die Messe oder das Kloster besucht, ob sie ab und zu Luft schöpft, einen Spaziergang und Einkäufe in der Nähe des Hauses und zu welcher Stunde sie solche macht – – Ein jedes Mädchen braucht einmal Nähgarn, ein paar Stricknadeln oder ein Stückchen Spitze«, wehrte er rasch und gereizt den Einwand Frau Léontines ab, den er schon kommen fühlte. »Übrigens wüßte ich nicht, wie ihr Vater, der den ganzen Tag über Land ist, um Schweine zu kurieren, das Fräulein einsperren sollte. Einen Cul zieht man aus; drei, vier Taftunterröcke läßt man einfach zur Erde fallen; Besätze, Samtbänder, Schleifen, Pailletten und Straußenfedern am Blusenausschnitt trennt jede Stickschere ab.«
»Aber Hortense ist, wie man erzählt, ein viel zu gehorsames Kind«, erwiderte Léontine. »Außer zur Frühmesse morgens um sechs setzt sie keinen Fuß aus dem Haus. Was sie zur Wirtschaft braucht, bringt ihr der Vater in seinem Kutschwagen mit, und Kleinigkeiten besorgt ihr Suzette, wenn sie vorüberkommt. Eigene Kleider besitzt Hortense nicht, um unter die Leute zu gehen.«
»Sehr interessant«, sagte Bonmarché mit geweiteten Nasenflügeln. »Und wenn der Alte nach Hause kommt, empfängt ihn seine gehorsame Tochter als Frau de Chamant, Léontine?«
Seine Schwester sah ihn argwöhnisch an. »Du hast eine Art zu fragen, Charles . . .«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es ist noch niemand dabei gewesen, wenn ihn Fräulein Hortense empfängt.«
Herr Bonmarché lachte schallend auf. »Das hast du hübscher ausgedrückt, Beste, als du selber beurteilen kannst«, sagte er maliziös. »Um so besser. Bedauerlich für einen Mann, wenn seine Frau oder Schwester alles versteht, Léontine.« Er hob 298 ihr, klirrend vor Übermut, das verfettete Kinn in die Höhe. »Ich mache noch einen kleinen Spaziergang, die Luft muß jetzt wundervoll sein«, sagte er, gut gelaunt.
»Du wirst doch nicht etwa bei Fräulein Hortense einen Besuch machen wollen?« fragte Léontine besorgt.
»Aber nein – wie kommst du darauf, meine Liebe?« gab er, ehrlich erstaunt, zurück.
Seine Schwester sah ihn von unten her halb stolz, halb mißtrauisch an. »Dir ist alles mögliche zuzutrauen«, sagte sie dann gequetscht. »Du bist noch immer der kleine Schelm, der du als Junge schon warst«, fügte das lächerliche Geschöpf mit sklavischer Liebe hinzu. Sie erhob sich, holte das Küchenmesser aus ihrer Schürzentasche, wo sie es während ihres Gesprächs mit dem Bruder aufbewahrt hatte, und richtete ihre Gedanken von neuem auf das fehlende Bohnenkraut. »Ich gehe noch einmal zu meinem Beet«, sagte sie aufgeräumt. »Wenn Suzette inzwischen zurückkommen sollte –«
»Bin ich gleichfalls nicht mehr im Hause«, ergänzte Herr Bonmarché. »Aber das tut nichts. Suzette wird, wie immer, durch irgendein Fenster steigen. Ich kenne dieses Kind.«
Sie verließen beide das Sälchen über die Gartentreppe, die dicke Frau schloß von außen zweimal die Glastür ab und schob vorsichtshalber den Schlüssel unter die Vorlegematte. Herr Bonmarché ging um das Haus herum und betrat den Flur durch die Vorderseite, nahm den Hut von dem Garderobenständer und holte seinen Stock aus dem Rachen eines ausgestopften Gorillas mit tückischen Glimmeraugen . . .
Keine fünf Minuten danach bewegten sich die Chinoiserien eines von Frau Elize in junger Ehe bemalten Kaminschirmes, der das Gartensälchen verzierte, und Suzette schob den Ständer zur Seite, der sie verborgen hatte. Ein fünfzehnjähriges junges Mädchen mit aufgegangenem Zopf kam zum Vorschein und blickte sich vorsichtig um. Das zerraufte Haar aus der Stirn zurückschiebend, verschränkte es beide Hände spielerisch hinter dem Nacken und ging, indessen die jungen Brüste mit furchtloser Keuschheit den dünnen Stoff seiner weißen Mullbluse spannten, auf den Scheibenaufsatz des Schränkchens zu, wo Suzette mit hochgeröteten Wangen vor ihrem Spiegelbild 299 stehen blieb und es neugierig wie eine Fremde prüfte, die sie zum erstenmal sah.
Ihre grünen Augen, noch voller Unschuld wie die Lichter blutjunger Katzen, sprühten gefährliche Funken; die glatte, milchweiße Kehle stieg aus dem Kragenbündchen, als wolle sie es sprengen, und ihre vollen, stämmigen Beine drückten sich an den kleinen Goldschrank, der leise zu schaukeln anfing. Dann schnitt Suzette ihrem Spiegelbild eine ungeduldige Fratze und zog aus dem obersten Schubfach Bürste und Kamm hervor, eine Schachtel mit Reispuder, halb schon verbraucht und nachlässig eingerissen, und eine Hasenpfote. Sie begann, sich schweigend und heftig zu bürsten und griff dann nach dem Kamm. Ihr dichtes ungebärdiges Haar, das beim Bürsten geknistert hatte, hielt die Kammzähne immer wieder mit eigensinnig verfilzten Knoten, die sie zornig herausriß, auf; sie gab dabei jedesmal einen kleinen, schmerzlichen Laut von sich und stampfte mit dem Fuß. »Wenn Papa und die Tante wüßten –!« sagte sie, während sie rasch ihren Zopf wieder zusammenflocht. Sie stopfte das Ende geschickt in den Mund und faßte es mit den Zähnen, entnahm dem Kamm einen Büschel Haare, mit welchem sie es umwickelte, und steckte ihre Frisur. Hierauf, mit der gleichen Unachtsamkeit, begann sie sich zu pudern und war bald vollkommen weiß im Gesicht wie ein mehlüberstäubter Clown.
»Hortense muß mir einmal zeigen, wie man es macht, elegant zu sein«, sagte sie vor sich hin. Sie zog eine zweite Schublade auf, die Glacéhandschuhe enthielt, und legte ein fliederfarbenes Paar prüfend an ihren Arm. »Sie werden zu eng sein, denke ich mir«, fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort, »denn meine Mutter war dünn wie Schilf, sagt Tante Léontine.« Sie seufzte. »Ich sollte Essig trinken und mein Korsett fester schnüren, damit ich Hortense gefalle, meiner geliebten Hortense. Mir den Umgang mit ihr verbieten zu wollen!« – Sie stieß ein verächtliches Lachen durch ihre geblähte Nase und runzelte die Stirn. »Ein guter Einfall, mich hinter dem Schirm zu verstecken, als ich nach Hause kam, he! Obwohl ich im Grunde nichts anderes wollte, als die Handschuhe meiner Mutter stehlen, um welche ich Tante Léontine vergeblich gebeten hatte. Welches Glück, 300 daß ich weiß, was Papa mit mir vorhat – dieser trockene, hämische Schuft. Ich hasse ihn. Oh, wie sehr ich ihn hasse und ewig hassen werde, obwohl ich weiß, daß der Haß eine Sünde und die Liebe für ein junges Mädchen wie mich etwas Verbotenes ist, wenn der Vater sie nicht bestimmt. Marcel! Was sagte die Tante von seinen Eselsohren und dem grindigen Stottermund? Mein Gott, so häßlich ist er zwar nicht, besonders in Uniform, und er hatte, als er neulich vorbeikam, um uns Adieu zu sagen, eine Art, mir die Hand zu küssen . . .« Sie hob ihren heißen Arm an die Lippen, drehte das Handgelenk langsam nach außen und ahmte Marcels Liebkosung nach: gespannt, mit innerer Aufmerksamkeit und der gleichen Nüchternheit, sich zu betrachten, wie sie sie eben erst vor dem Spiegel überraschend bekundet hatte. »Aber nein – ich will ihn nicht. Nicht Marcel, noch François Duclerc oder Gaston Amère . . . überhaupt keinen einzigen Mann; besonders dann nicht, wenn ihn Papa mir heimlich ausgesucht hat. Auch Hortense, davon bin ich fest überzeugt, haßt ihren Vater und wünscht ihm den Tod, damit sie ausgehen kann. Selbst Pierre Rousselot und René Le Grand, der junge Louat und sein älterer Bruder – sie alle verabscheuen ihre Väter, diese kalten, geizigen Männer, welche von ihnen verlangen, daß sie nicht nur die Phrasen nachplappern sollen, die ihnen vorgesagt werden, sondern auch noch mit dem eigenen Blut ihre kläglichen Wünsche ernähren, die um nichts als um Sicherheit kreisen . . . Aber ich schlage Papa ein Schnippchen, so wahr ich Suzette Bonmarché heiße und Hortense meine Freundin bleibt.«
»Hier ist es. Da wohnt sie also, das Fräulein Hortense de Chamant.« Herr Bonmarché stand vor der Gartenmauer und betrachtete, scheinbar als Altertumskenner, das in den steinernen Bogen eingelassene Tor. »Ein Schlitz für die Zettel und Briefe der Bauern, die den Doktor zu seinen Patienten bestellen – – wenn das Gefängnis vollkommen ist, wird innen ein Kasten sie auffangen müssen, zu dem er den Schlüssel hat.« Er bückte sich, brach einen kleinen Stein aus der zerklüfteten Mauer und warf ihn in den Schlitz; es gab einen dumpfen, polternden Ton, wie er erwartet hatte. »Welch hübscher Türklopfer«, sagte er 301 und hob eine hölzerne kleine Hand mit gekalkter Manschette hoch, die als Griff einen eisernen Ring bewegte, der schon völlig verrostet war. Er ließ ihn vorsichtig wieder zurück auf die gerippte Türfüllung fallen und schlenderte harmlos weiter. »Wie Suzette wohl hier hineinkommen mag? Wahrscheinlich von dem Klosterhof her«, dachte er angestrengt. »Soviel ich weiß, nimmt das Dogcart Chamants alltäglich diesen Weg.«
Er hatte recht, Das Besitztum Chamants war ein Quergebäude des Schwesternhauses und bildete einen Teil der früheren Klausur, welche mit ihren Fenstern dem Wirtschaftshof abgekehrt war und in den Garten ging; das heißt, weniger in einen Garten als in einen Laubengang, dessen Wände von hochgezogenen Trauben und Spalierobst gebildet wurden. Einige Stockrosen, Goldlacknester, Resedenkissen und Königskerzen, die von selber im Sommer wiederkamen, vervollständigten ihn. Von der Wohnung Chamants zu dem jetzigen Klostergebäude der Benediktinerinnen führte kein Durchgang mehr, denn der Flur, der die Zellen der Nonnen mit der Kapelle verbunden hatte, war heute zugemauert; doch drang durch die eingezogenen Wände noch manchmal Orgelspiel und Gesang – geisterhaft unwirklich wie die Sage von einer versunkenen Stadt. »Weiß der Teufel, ein prachtvoller kleiner Harem«, setzte Bonmarché mit belebter Miene seine Betrachtungen fort. Ob man nicht wenigstens einen Blick in den Garten riskieren könnte?« Er umkreiste das Anwesen Herrn de Chamants wie ein liebebedürftiger Kater und suchte sich alle Möglichkeiten ganz genau vorzustellen. »Die Gartenmauer ist viel zu hoch; doch von dem zwischen das Nonnenkloster und Chamants Besitzung gezwängten Haus da müßte es wohl oder übel einen sparsamen Ausblick geben.« Es war eine grauschwarze, schmale Wand, die er jetzt musterte; nicht viel mehr als ein Schlauch, der in jedem Stockwerk ein einziges Fenster und auch dies nur mit Anstrengung aufwies; die Kaminschlote schienen wie dürre Beine einander auf die Füße zu treten und sich den Platz auf dem Giebel streitig machen zu wollen. »Sieh da –!« Er faßte mit flatternden Händen nach seinem Zwickerschnürchen und setzte den Klemmer auf, beugte sich gegen ein kleines Porzellanschild, auf welchem in schräger Zierschrift einige Worte standen, rümpfte hierauf befriedigt die 302 Nase und ließ den Klemmer mit leisem Schnurren wieder heruntertanzen. »Jean Auvertin, Hemdenmacher . . .«, sagte er vor sich hin.
Nicht lange danach betrat er mit raschem Entschluß Auvertins kleine Bude, wo der Hemdenmacher mit seinem Gesellen vor einem Berg Wäsche saß. Der Mann nahm den Fuß von der Nähmaschine und kam Bonmarché höflich entgegen.
»Ich höre, Sie fertigen Hemden aus eigenem Stofflager an?« fragte derselbe und fügte eilig, als fürchtete er, eine Absage zu erhalten, hinzu: »Der Preis ist mir einerlei. Nehmen Sie Maß. Nächste Woche fahre ich nach Paris und brauche dringend ein halbes Dutzend gestreifter Oberhemden.«
»So rasch wird das kaum gehen, mein Herr«, sagte der Schneider zögernd. »Sie sehen, ich habe nur einen Gesellen, den anderen hat man mir eingezogen; doch will ich mein Möglichstes tun. Der Krieg –«, er zuckte bedauernd mit seinen Hängeschultern und legte bereits Herrn Bonmarché das Maßband um den Hals.
»Können Sie sehen, Meister?« fragte der neue Kunde und sah zum Fenster hin.
»Sehr freundlich«, sagte Herr Auvertin und folgte unwillkürlich dem Blick seines eigenwilligen Auftraggebers, wobei er, Zahlen und Maße vor sich hinmurmelnd, nach dem Notizbuch griff, das auf der Tischkante lag.
»Sie haben wenig Licht bei der Arbeit«, bemerkte Herr Bonmarché.
Der Schneider sah ihn argwöhnisch an. »Sie können versichert sein, daß jeder Stich an der richtigen Stelle sitzt«, erwiderte er gekränkt.
»Natürlich, natürlich!« beeilte sich Bonmarché zu beteuern. »So war es nicht gemeint.« Er drehte krampfhaft den Kopf nach dem Fenster und fragte beiläufig: »Dieser Garten gehört wohl Herrn de Chamant?«
»Das kümmert mich nicht«, sagte Auvertin. »Aber wollen Sie jetzt, bitte, den Stoff,. den Sie verarbeitet wünschen, aus den Regalen nehmen? Ich habe die allerfeinsten Muster und bin vorbildlich eingedeckt.« Er holte einige Ballen, die Bonmarché ihm bezeichnet hatte, und trug sie an das Licht. 303
Der Kunde begann seine Ware über den grünen Klee zu loben und schien unschlüssig, welchen aus dieser Fülle einwandfrei schöner Stoffe er eigentlich wählen sollte. Indem er noch bald die eine, bald die andere Ware prüfte und angestrengt in den Garten schielte, bemerkte er plötzlich ein Huschen und Blitzen, das wie Licht und Schatten an den Spalieren vorüberstreifte – fast körperlos und kaum unterschieden von Blättern oder Gras.
»Fräulein Hortense de Chamant –!« wisperte eine Stimme neben Herrn Bonmarchés Ohren, und die Hand des Schneidergesellen deutete in die Tiefe. »Sie fragten doch nach ihr?«
»Sehr interessant«, sagte Bonmarché mit dem Anschein völliger Kälte. »Was ist mit dieser Dame?«
Der Geselle war schon wieder zurück an seinen Platz gegangen und bewegte die Nähmaschine; ihr einförmig trockenes Rattern überdeckte seine gemurmelte Antwort und machte sie ebenso wesenlos wie die Erscheinung des Mädchens, welches soeben Herrn Bonmarchés Augen wie eine Scherbe geblendet hatte, in der sich ein Lichtstrahl fing . . .
War sie verschwunden? Witterte sie, daß sie jemand beobachtete? Hatte sie Schutzfarbe angenommen wie ein von dem Jäger verfolgtes Tier, oder verwandelte sie sich wie Daphne in einen verästelten Baum? In ihrem resedenfarbenen Kleid stand Hortense mit klopfendem Herzen an dem früchtebeladenen Pfirsichspalier und legte die Hand auf die Brust, die sich angestrengt senkte und hob. Sie mußte rascher gelaufen sein, als es ihr Mieder erlaubte und das Gewicht ihrer Röcke zuließ, denn feiner Schweiß stand wie Tau auf ihrem blassen Gesicht. Es war nach dem kurzen heftigen Regen schon wieder schwül geworden; die Erde, das Gras und die Blumenrabatten dampften von Fruchtbarkeit. Eine blaugelbe Raupe mit haarigem Rücken wanderte mit geduldiger Eile den Stamm eines Pfirsichbäumchens empor und schien dem Mädchen, weil alles den Atem und die Bewegung anhielt, wie ein Verräter zu sein; wie eine Magnetnadel, welche beständig auf etwas Verborgenes zielte, oder ein Finger, der Räuber und Diebe auf ihre Gedanken hinwies. Sie streckte die Hand aus und rührte sie an; sogleich ließ das Tierchen sich, tödlich erschrocken, ins Gras 304 herunterfallen. Der Funke, den der große Topas an dem Ring der Dame ausgesprüht hatte, war bereits wieder erloschen; doch hatte er ausgereicht, um den Verfolger die Spur aufs neue finden zu lassen, die er verloren hatte. Er sah eine nymphenhaft zarte Gestalt, einen Nacken, über welchem die Haare von mattem Braunblond hinaufgekämmt waren und dem freien Hals etwas merkwürdig Nacktes und Dargebotenes gaben, ein sehr bestimmt gekurvtes Profil von fast bestürzendem Hochmut und wiederum eine Rückenlinie, in deren leidendem Schmachten eine Welt von Sehnsucht verkörpert war, eine Dienstbarkeit, die sich schamlos nach Liebe und Grausamkeit verzehrte, ohne jedoch das Geringste von ihrem Stolz zu verlieren.
Der Fall jener kleinen blaugelben Raupe, deren Lebensbahn ihr Finger durchkreuzt und zu jäher Wendung angerührt hatte, schien Hortense befreit zu haben. Sie wandte sich rasch von der Pfirsichwand ab und eilte in das Haus. In dem puppenhaften Boudoir ihrer Mutter, das sie nun schweißübergossen betrat, schien seit Jahren nicht das Geringste verändert oder verrückt zu sein. Die zyklamenfarbene Schäfertapete, vor deren unzähligen Tempelchen sich das ewige Spiel zwischen Mann und Frau eintönig wiederholte, bedeckte Plafond und Wände, ohne einer auch noch so schmalen Leiste zu gestatten, sie zu durchbrechen; das Zimmer erhielt dadurch den Charakter einer Hutschachtel, welcher durch Atlasschleifen am Garderobentisch, Spitzengardinen und Tüllwolken noch verstärkt und unterstrichen wurde. Zwischen zwei alten Vasen von zweifelhaftem Kunstwert, die die Kaminplatte zierten, standen, die bronzene Stutzuhr flankierend, einige Photographien in farbigem Glasrähmchen, deren Ecken mit Muscheln ausgelegt waren. Sie zeigten in verschiedenen Posen das Bild einer reizenden jungen Frau, der Hortense zum Verwechseln ähnlich war; nur, daß die Dargestellte des Adels, doch auch jenes Hochmuts ermangelte, der die Tochter von ihr unterschied, sondern den Schmelz ihrer jungen Büste, wie eine eitle, arglose Taube ihr schwellendes Gefieder, gedankenlos vor sich hintrug. Vor diesen Bildern blieb Hortense stehen und betrachtete sie versunken, indessen ihre Finger mechanisch mit den Knöpfen der Bluse spielten und sie zu lösen begannen. Eine unberührte, fast stumpfe Haut mit dem 305 ermatteten Glanz von edlen, in der Knospe schon welkenden Treibhausrosen leuchtete aus dem Ausschnitt und verströmte den eigentümlichen Duft einer gepeinigten, großen Natur: süßlich und stechend zugleich.
Hortense ließ die Hände heruntersinken, kehrte sich von der Kaminplatte ab und ging mit geöffneter Bluse in dem Zimmerchen hin und her. Eine grenzenlose Verlassenheit lag über ihrer Erscheinung; mehr noch: ein tiefes Vergessensein von allen wirkenden Kräften des Lebens und seinen Möglichkeiten. Sie hob eine Stecknadel von der Erde und klemmte sie zwischen die Zähne, spießte sie in ein seidenes Kißchen auf dem Toilettentisch, blies ein Stäubchen von der pudergefüllten Dose und hauchte, sich niedersetzend, gegen das Glas des Aufstellspiegels, der schon von jeher, Gott wußte warum, einen rostigen Flecken zeigte. Sie langweilte sich. Wie lähmendes Gift lief die Langeweile durch ihre Adern und drohte sie zu ersticken. Sehr fern schlug die Turmuhr der Kathedrale und nahm sich zwischen den einzelnen Schlägen eine unendliche Zeit; ihre Töne waren wie Katarakte, die aus dem drohend geöffneten Wehr einer unbarmherzigen Ewigkeit in das winzige Zimmer drangen. Dieser steigenden Flut war nicht zu entgehen, das Mädchen fühlte es deutlich, und auch der krächzende Anschlag des Ührchens unter dem Glassturz, das sich nun mit geschäftiger Eile jenem Dröhnen entgegenstellte, änderte nichts daran, sondern glich dem insektenhaften Bemühen eines Menschen, welcher mit schartigem Messer an den Wänden seines Gefängnisses kratzt, um noch in letzter Minute einen rettenden Ausgang zu suchen.
Sie sprang wie eine Ertrinkende auf und duckte sich gleich danach wieder zur Erde, schob den geblümten Kreton zurück, der ihr Toilettentischchen umspannte und wie ein Sesam, während die Ringe des Vorhangs vertraulich rasselten, seinen Faltenwurf öffnete . . . und holte ein Kästchen darunter hervor, das sie verzweifelt und fast entsetzt an ihre Brüste hob. Es war, auf den ersten Blick schon ersichtlich, eine japanische Lackarbeit, eine Vexierschachtel, die ihren Inhalt nur erfahrenen Händen preisgab und erst aufsprang, wenn man gewisse Teile übereinanderschob. Eine Fülle von Briefen schüttete sich, als die Schachtel sich öffnete, ihr in den Schoß. »Lucien Benoît!« Der 306 klagende Ton, mit dem dieser Name die Stille durchschnitt, glich einer Geisterbeschwörung, die aus den Tiefen der Erde eine Seele ans Tageslicht ruft. Hortense sah sein einfaches, dunkles Gesicht mit der ruhigen Stirn und den scharfen Augen, seine starken Hände, die still und geduldig auf den eckigen Knien lagen, als sie ihn anflehte, bei ihr zu bleiben, und den eigensinnigen, klaren Mund, den sie vergeblich mit ihren Küssen hatte zu siegeln versucht. Er war gegangen und hatte sie, wie sie sich sagte, mit der Fußspitze einfach zur Seite geschoben; er hatte ihre Tränen vergessen, ihre Drohungen überhört und ihre Schönheit für nichts geachtet, um einem anderen Ruf als dem ihren, einer neuen, alles verzehrenden Liebe mit der gleichen Bereitschaft zu folgen, die ihn zuerst vor ihr auf die Knie und hernach an das Herz jener süßen Gewalt, jenes schrecklichen Lichtes geworfen hatte, das Hortense unter Beben schon kommen fühlte, bevor es Lucien noch ahnte. Hortense war klug. Ihre weiblichen Sinne, durch viele Generationen verfeinert, hatten gelernt zu erraten, was die Tatsachen noch verschwiegen. Es war ihr ein leichtes, die unverstellten und fast unbeholfenen Briefe Luciens mit einem sechsten Sinn zu erfassen, der die innere Logik und das Gesetz der Aufeinanderfolge ihrer scheinbar gestörten Gefühle so bloßzulegen vermochte, daß ihre Mitte sich enthüllte; ihre harte kristallinische Form, zu welcher sich ihre erotischen Künste wie ein aus dem Wasser gefischter Seestern zu einem Rubin verhielten . . .
Nun begann sie in den Briefen zu blättern – ängstlich, als ob ihre Hände in warmer Asche wühlten, aus der noch immer ein Funke fahren und sie versengen könnte. Dies war der erste Brief, sie entsann sich, der sie damals erschreckt und in ihr ein Gefühl unausdeutbaren Schwindels, zugleich aber auch das Bewußtsein geweckt und seltsam bestätigt hatte, herausgefordert zu sein.
»Meine geliebte Freundin«, begann er, »mein Herz ist mir müde und schwer. Ein Kummer bedrückt mich, den ich nicht kenne; eine Angst erfüllt mich, die fürchterlich ist, weil sie keinen Gegenstand hat. Ich bin närrisch, Hortense, meine Hände glühen, mein Kopf ist zum Bersten gefüllt mit Gedanken, die ohne Zusammenhang sind. Wahrscheinlich bin ich ganz einfach 307 krank vor Sehnsucht nach Deiner Schönheit –.« Und dann der entsetzlich nüchterne Satz: »Aber ich glaube es nicht. Verzeih mir, Geliebte. Ich bin ein Tölpel. Ich bin Deiner nicht wert, Hortense. Aber wenn Du jetzt in mein Zimmer kämest, wo ich Dir, über das Bett geworfen, unter Tränen zu schreiben versuche; ich sage, wenn Du jetzt vor mir stündest, vollkommen nackt, von dem Licht übergossen, mit welchem der Mond die vier Wände kalkt; nicht als Traumbild, sondern aus Fleisch und Blut – Du würdest entsetzt sein, weil meine Wünsche mehr als Dich selber suchen, Hortense; mehr als Deine Hingabe, die ich schone, Deinen Körper, den ich Dir selber bewahre . . . nicht aus Enthaltsamkeit, meine Freundin, sondern – verzeihe mir dieses Wort – aus Begierde; aus einer Begierde, Hortense, welche sich fürchtet und davor zittert, von Dir gestillt zu werden, denn sie will nicht befriedigt sein; einem Durst, der schon heute den Becher verschmäht, auf dessen Boden er sieht . . .«
Sie hatte darauf geantwortet, oh! Sie hatte den Handschuh aufgenommen, den der entsetzliche Unbekannte ihr in den armen, hilflosen Worten ihres gequälten Freundes entgegengeschleudert hatte.
Der nächste Brief: »Du bist stolz, Geliebte. Du schreibst mir, daß keiner Dich wert sei, den Dein Körper sättigen könnte. Du verbietest meiner Hand, nur den Saum Deines Kleidchens, mein Kind, zu berühren, bevor sie nicht schon bei dem bloßen Gedanken in Asche zerfallen wäre. Ich bitte Dich: Höre mich an, Hortense. Du weißt, ich habe in meinem Leben noch keine Frau umarmt – weder aus Neugier, geschweige denn aus Liebe. Es mag also sein, daß Du recht hast, mich mit Verachtung zu schlagen, weil ich – ich schwöre Dir, daß Du Dich irrst – nur zu verschmähen, zu unterschätzen und wegzuwerfen scheine, was ich nicht kenne, Hortense. [Mein Gott, was schreibe ich? Wegzuwerfen! Mein Verstand gehorcht mir nicht mehr.] Aber ich habe Dich einmal geküßt. Nur ein einziges Mal, und Du selbst, Geliebte, hast mir die Lippen geboten, diese sanften, grausam geöffneten Lippen, die, während sie mich streiften, alles verweigerten. Ich glaubte damals, es müsse der Tod oder die Ewigkeit sein, was sich anschickte, mich zu berühren; aber, ach, es war beides nicht. Vielleicht, wenn dieser Kuß sich erneuert, 308 wenn ich Dir mehr noch entrissen und mein Herz nicht geschont haben würde, das Dich von nun an zu lieben beschloß – –. Ja, meine Freundin, so seltsam es klingt: Ich begann Dich von diesem Augenblick an mit einer Liebe zu lieben, die immer zärtlicher wurde, je mehr ich Dir entsagte . . .«
Sie stöhnte vor Wut in Erinnerung, diese Zärtlichkeit angenommen und sie mißdeutet zu haben. Seine verzweifelte Liebe zu ihr, die sie suchte und doch nicht suchte, seine tapfere Flucht, die ihn mitten hinein in die Hölle ihrer rasenden Wünsche und katzenhaften Süchte geführt und dort den Rest ihres Stolzes in den Armen geborgen hatte wie ein hilfloses kleines Kind, hatten in ihr ein Gefühl der Rachsucht, das niemals gestillt worden war, hinterlassen und das Bedürfnis, die offene Rechnung mit jener Macht zu begleichen, an die sie ihn hatte verlieren und für immer hingeben müssen.
»Ich weiß alles«, begann ein folgender Brief, »was Du mir sagen könntest, Hortense, ich weiß sogar noch mehr. Es ist schrecklich, auf einen anderen Menschen eifersüchtig zu sein, auf ein Wesen von Fleisch und Blut – aber wo ist diese Frau? Es gibt sie nicht und wird sie nicht geben, denn ich weiß, daß nichts Schöneres auf der Welt ist, nichts Vollkommeneres als Du. Grausam und unmenschlich, Dir zu sagen: sei versichert, wenn irgendwo ein Geschöpf lebte, das schöner wäre, so würde ich es lieben; ich würde nicht aufhören, es zu begehren gegen alle Vernunft. Aber, vielleicht, ich weiß es noch nicht, suche ich überhaupt nicht die Frau. Ich, der ich noch nicht ihren Körper erkannt und mich nicht vermischt habe mit der Schönheit, nach welcher ich verschmachte, habe bereits übersprungen und hinter mir gelassen, was noch niemals mein Eigentum war. Denn ich liebe Dich nur, meine teuerste Freundin, um die Liebe selber zu lieben . . . Das ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit, die ich noch nicht verstehe; die mich brennen macht, ohne mich zu verbrennen, die mich blendet, ohne mich zu verblenden – –.« Und einige Zeilen darunter: »Aber, ach, ich tue Dir weh. Dein verwundbares Herz leidet doppelt, weil es grundlos zu leiden scheint; es quält sich nicht nur für sich allein, sondern auch für den anderen mit, der es peinigt, weil er selber gepeinigt, der es kränkt, weil er selber erkrankt ist und keine Hoffnung auf 309 Rettung oder Genesung hat. Es ist furchtbar, Hortense: Ich hoffe nichts mehr, ich habe mich aufgegeben. Und doch, so seltsam es klingen mag, bin ich auch wiederum nicht verzweifelt; ich bin ohne Hoffnung der Rettung gewiß, und ohne Gewißheit fühle ich schon einen unermeßlichen Trost. Ich liebe Dich . . .« Und dann jenes Wort, das ihre Wünsche wie mit dem Schwert erbarmungslos von dem lebendigen Leib ihrer Sehnsucht abgetrennt hatte: »Ich möchte Dich Schwester nennen.«
Seine nächsten Briefe, die wieder ruhiger, ja heiter und zärtlich waren, hätten ein weniger wachsames Herz als das ihrige einschläfern können, wenn nicht dieser Ausdruck »Schwester« und die Bitte, sie so nennen zu dürfen, sich in allen Wendungen wiederholt und Hortense mit Deutlichkeit auf die Gefahr und deren Gestalt hätten hingewiesen – eine Gefahr, die bald nicht mehr form- und wesenlos bleiben würde.
»Ich habe ein Buch gelesen, Hortense«, hieß es in einem der folgenden Briefe, »vielmehr, ich nenne es vorläufig ›Buch‹, weil ich kein anderes Wort für diese Memoiren weiß – nein, auch ein Tagebuch ist es nicht und keine Biographie, überhaupt nichts, wovon man den Eindruck hat, daß es aus Worten zusammengesetzt, mit Sätzen aneinandergefügt und nach bestimmten Prinzipien aufgebaut worden sei. Natürlich besteht es aus Worten und Sätzen, wie ein Mensch aus Armen und Beinen besteht, aus Haut und Haaren, Flüssigem, Festem, Mund, Nase, Ohren und Augen. Doch diese Bestandteile sind nicht er selbst und machen ihn nicht aus, ebensowenig wie Worte den Satz und Sätze eine Erzählung machen, geschweige denn dieses Buch, das ich meine – aber meine ich denn ein Buch? Verstehe mich recht: Ich bin keinem Sinn, den man auslegen könnte, darin begegnet; keiner Lehre, keiner Gebrauchsanweisung, doch auch nicht dem entzückenden Unsinn, der die Welt zu einer farbigen Fabel, einer melodischen Lüge macht, die keine Wirklichkeit hat. Ich bin der Gestalt einer Flamme begegnet in ihrer Unbedingtheit, in ihrem verzehrenden Eifer, der neben sich nichts duldet, was kälter ist als sie. Eine solche Flamme, ebenso rein wie schrecklich in ihrem Dasein, verlangt ständig nach neuer Nahrung, mit der sie sich erbaut; sie gleicht darin der Gestalt einer Welle, die stets mit frischem Zustrom gespeist wird und 310 doch immer sie selber bleibt. Aber während die Welle sich damit begnügt, sich beständig neu zu gebären, verwandelt die Flamme, was sie ergreift, in ihr eigenstes Wesen, Hortense. Und sie hat mich ergriffen. Höre mir zu und bleibe stark, meine Schwester: Ich gehöre mir schon nicht mehr. Aber wenn ich mir selber nicht mehr gehöre, wie könnte mich dann ein anderer Mensch als Eigentum besitzen?«
Diesem Brief, dem grausamsten unter allen, weil er aussprach und doch verhüllte und den Gegenstand jener Liebe, welche Lucien von nun an erfüllte, noch nicht mit Namen nannte, hatte Hortense mit scheinbarer Großmut ein volles Echo gegeben. Sie schenkte Lucien sofort die Freiheit von jeglicher Bindung an sie zurück und entließ ihn, ihrem Wesen entsprechend, so vollkommen und in dem gleichen Grade der Abstoßung, wie die neue Begegnung ihn angezogen hatte, so daß der Arglose glauben mußte, von Hortense verstanden zu sein.
»Ich habe mich nicht getäuscht, Hortense«, schrieb er damals, »daß Du die einzige bist, der mein Herz sich eröffnen kann, denn wir haben die gleiche Natur. Diese Natur, so sind wir geschaffen, befiehlt uns nicht nur, schlechthin zu lieben, sondern sie drängt uns, je mehr wir ihr folgen, zur Unersättlichkeit. Alles zu schenken und zu empfangen, bedeutet das Gleiche für uns. Wenn wir wählen, wählen wir wiederum alles; wenn wir uns einmal entschieden haben, ist es für immer, Hortense. Daß die Liebe ewig ist, wußten wir längst – aber daß auch ihr Gegenstand ewig sein muß, um uns Unvernünftigen zu genügen, hat jene andere Frau mich gelehrt, die Deine Rivalin ist.«
Beim Lesen erinnerte sich Hortense der entsetzlichen Eile, mit der ihre Augen das Briefblatt überflogen und ihr Herz diese Frau zu hassen oder so zu lieben beschlossen hatte, daß Luciens überschwenglicher Anspruch an sie vernichtet worden wäre – doch schon die folgenden Zeilen enthüllten der tödlich Beleidigten damals, wie gleichermaßen vergeblich sowohl Haß wie Verführung war.
»Du kennst meinen Schulkameraden Pierre Loux«, war der Briefschreiber fortgefahren, »welcher seit einigen Monaten das Seminar der Missionen besucht und im Auftrag der Weißen 311 Väter in Afrika wirken wird. Vor etwa drei Wochen kam er hierher, um seine schwerkranke Mutter auf dem Sterbebett zu besuchen und von ihr Abschied zu nehmen; bei diesem traurigen Anlaß begegneten wir uns wieder. Er war noch immer der scheue, fast mädchenhafte Junge mit den eisernen Handgelenken, die ihn zum Staunen sämtlicher Lehrer auf der Schule befähigt hatten, der beste Turner zu sein. Wir kamen ins Reden: Dieses und Jenes; erinnerst du dich? und wie es so heißt, wenn man mit einem anderen Menschen nicht mehr als nur die Vergangenheit hat – bis er mich plötzlich in einer spröden und gleichzeitig listigen Art von Überrumpelung fragte, ob ich eigentlich glücklich sei. Ausweichend, aber im tiefsten getroffen, entgegnete ich, woher – Gott im Himmel – ein Mensch wie er die Berechtigung zu jener Frage nehme, der dem Glück in jeglicher Form doch abgeschworen habe. »Ich? Abgeschworen dem Glück?« fragte er heftig zurück und packte mich an den Händen wie damals, als er wettete, jeden Gegner innerhalb einer Minute zu Boden zwingen zu können. »Wenn ich wüßte, wo es ein Leben gäbe, das mich noch glücklicher machte als meines, so ließe ich alles bisherige fahren – doch das verstehst du wohl nicht.« Ich dagegen: »Wenn dich einer versteht . . .« Er ließ meine Hände los, trat zurück und maß mich mit einem Blick, Hortense, der mich traf wie der Hammerschlag, der ein Metall auf seine Beschaffenheit prüft. »Bist du fertig mit deinem Studium?« fragte er sachlich und kühl. »Ein ausgelernter Giftmischer. Ja«, erwiderte ich erstaunt. »Gut, komme mit mir in die Missionen. Die kleine Bihira erwartet dich dort im Namen ihrer Brüder«, sagte er merkwürdig trocken und ohne jedes Pathos, als schlüge er mir beiläufig vor, einen Apéritif zu trinken. »Die kleine Bihira?« Mit einer Bewegung, welche mir deutlich zeigte, daß sie oft von ihm ausgeführt wurde, holte er ein vergriffenes Photo aus seinem Jackett hervor. Ich möchte es Dir auf den Knien beschreiben oder mit einem einzigen Wort, das die Grenzen der Sprache sprengt. Und doch war das, was ich damals erblickte, um es niemals mehr zu vergessen, so einfach wie eine Blume mit ungefülltem Stern; es war das Gesicht einer jungen, bereits verstorbenen Nonne, das von dem wandernden Licht eines Lächelns [wie andere Gesichter von Fleisch, von 312 Augen, Lippen und Haaren] erbaut war und sich mit diesem seltsamen Lächeln gleichzeitig gab und entzog. Schilt mich nicht einen Phantasten, Hortense, wenn ich Dir sage, daß jenes Lächeln an keiner Stelle zu haften und keinem der Organe, die wir als Sitz der Gefühle betrachten, anzugehören schien. Wer die Augen lächeln zu sehen glaubte, kehrte erschrocken den eigenen Blick von ihrer furchtlosen Tiefe ab, auf deren Spiegel er als ein Nichts zurückgeworfen wurde; wer die Süße der Lippen betrachtend liebkoste und bei ihr zu weilen wünschte, verbrannte an einer Trauer, die wie tropfendes Opferblut war. Aber es lächelte, dieses Gesicht, das ich zuerst für das eines Ritters mit dicht umschließender Stahlhaube hielt; für den Kopf eines Kreuzfahrers; eines braven, aber verwegenen Schlingels von erhabener Heiterkeit. Diese Züge: geschlechtslos, unendlich einfach, mit der schnurstracks gezogenen Linie der Brauen und der reinen, gleichsam gesiegelten Stirn – – sie waren auch zeitlos wie die einer Schwester, die dem Bruder so innig vertraut sind, daß sie immer Gegenwart bleiben. Ich kannte sie. Besser: erkannte sie wieder als Fleisch von meinem Fleisch. Dieser Blick auf sie vermählte mich ihr in jener mystischen Zeitentiefe, wo in priesterlichen Königsgeschlechtern sich Bruder und Schwester lieben. Bedenke, Hortense, eine tote Nonne! Rede ich wahr oder wirr? Aber ich will versuchen, mich wieder zurückzufinden. »Bihira?« fragte ich noch einmal, während mein Herz einen Wirbel von erschreckender Eile schlug. »So nennen die Negerchristen und Katechumenen sie, die ihr Bild an die Bambuswand ihrer Hütten und an die Mauer der Räume heften, wo gelehrt und gepredigt wird. Du solltest ihre Memoiren lesen – den ›Kleinen Weg der geistlichen Kindheit‹, der darin aufgezeigt wird.« Mein guter Pierre, dieser trockene Junge, auf dessen Lippen ein schmückendes Beiwort schon Lüge gewesen wäre, blickte mich mit verschmitztem Lächeln spöttisch und liebevoll an. »Ich selbst bin ein hölzerner Bursche, weißt du, und kann nicht viel anfangen mit ihrer Mystik, die immer nur ›Liebe‹ sagt. Sie war ein ganz junges Mädchen von eben fünfzehn Jahren«, fuhr er, fast wie entschuldigend, fort, »als sie Karmeliterin wurde, und vierundzwanzig Jahre, als sie bereits wieder starb. Man sagt, an galoppierender Schwindsucht – bah, 313 wenn es einen Liebestod gibt! . . . Aber zu solchen Dingen habe ich keinen Zugang«, stellte er aufrichtig fest. »Für eine Französin hatte sie erstaunlich wenig Maß, weil sie das Maß ihres Herzens lebte, das ebenso furchtlos wie zärtlich, ebenso klug wie phantastisch, so erfahren wie kindlich war. Am liebsten hätte sie alle Formen der Liebe zugleich gelebt. Das Martyrium war ihr Jugendtraum; doch auch das Gestirn eines Kriegers, eines Priesters, Apostels und Kirchenlehrers zogen sie mächtig an. Sie umkreiste auf ihren Planetenbahnen die Mitte, aus der, wie man sagt, jeder Mystiker eigentlich lebt, und stürzte sich ahnungslos wie ein Kind in die Arme der Liebe hinein. Dort erfuhr sie dann auch«, fuhr er leise, fast widerwillig fort, »daß es schrecklich ist, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen, und gab sich als Schlachtopfer hin. Sie nahm nichts zurück – verstehst du –, nicht den kleinsten Bruchteil, nicht einen Seufzer und keinen Atemzug. Sie verweigerte ihrem Geliebten nichts und drängte ihm nichts auf; ja, wenn er verlangt hätte [widersinnig, doch ich wage es auszusprechen], daß sie aus Liebe zu ihm der Liebe entsagen sollte, hätte sie es getan.«
Hortense warf das Bündel Briefe zu Boden und richtete sich auf den Knien empor; ihr Körper, von trockenem Stöhnen geschüttelt, wiegte sich über den armen Blättern wie der eines indischen Schlangenbeschwörers, welcher dem tödlichen Biß des Reptils mit seiner Flöte begegnet. Dann schob sie die Blätter übereinander, um sie wieder zusammenzubündeln. Noch einmal, wie abschiednehmend, blieb ihr Blick auf diesem und jenem Briefblatt, auf dieser und jener Stelle haften, die wie glühende Wachstropfen waren, welche von niedergebrannten Kerzen auf ihre Hände fielen: »Im Grunde«, las sie mit tiefem Erbeben, »lebte sie ganz ohne Trost in finsterster Einsamkeit. Keine Verzückungen trösteten sie, kein Wunder zerriß mit magischem Blitz den mühsam geglaubten Himmel ihrer künftigen Seligkeit. Nur selten wurde ihr Hilfe zuteil, und dann nur wie unter Schleiern. Ein kurzer Traum auf dem harten Strohsack ihres kärglichen Lagers tröstete sie und erfüllte ihr Herz mit jener Geduld, die schon hinreichte, um sie der armen Kleinen als Gewährung erscheinen zu lassen; als eine Liebkosung, die sie zum Nest trug wie der Vogel die Flaumfeder – ebenso 314 leicht an Gewicht wie schwer an geheimer und seelenhafter Bedeutung . . .«
Hortense hob sich mühselig von den Knien und stopfte die Blätter wieder in das japanische Kästchen; als sie es zuschieben wollte, klemmte der dünne Deckel, und indem sie versuchte, seine Mechanik gewaltsam anzuwenden, sprang der Lack mit feinem Ächzen entzwei wie ein gebrochenes Herz. Sie lachte leise, wie irrsinnig, auf und blickte mit grausamer Freude auf das zerstörte Geschenk; ihre Züge nahmen dabei den Ausdruck jener jungen Hortense an, die kurz nach dem Bruch mit ihrem harten Geliebten nach der Sonntagsmesse vor aller Augen das Haus von Madame Lemure betreten und die weise Frau um Bestätigung des Zustands gebeten hatte, in den sie angeblich von Lucien gewaltsam versetzt worden war. Lucien, welchen damals das Seminar der missionierenden Patres schon in die Reihen seiner Alumnen aufgenommen und freudig willkommen geheißen hatte, wurde daraufhin ausgestoßen; doch datierte, obwohl Madame Lemure dem empörten Vater den Irrtum seines Kindes bestätigt hatte, auch von da ab ihre Gefangenschaft. Nach dem ersten Skandal, den das Städtchen gehörig ausgekostet und für immer dem Archiv seiner Lüste wie ein Stimulans einverleibt hatte, das imstande war, seine altersschwachen und erschlafften Gefühle aufzupeitschen, wenn das Gespräch darauf kam, genoß Hortense jene seltsame Achtung, die manchmal verlassenen Mädchen zuteil wird – ja, mehr noch: aus ihrem verblassenden Schicksal, das allmählich immer unwirklicher wurde, sog sowohl die Romantik der Frommen, wie der Haß der Gottlosen Nahrung. Daß sie es einem künftigen Pfaffen, der sie, wie diese sagten, »an der Nase herumführen wollte«, so gründlich heimgezahlt hatte, fand den Beifall der liberalen Partei; aber ebenso glaubten die Anhänger Richmonds, eines Lyrikers, der den schöngeistigen Zirkel der Damen des Kirchenchors leitete, sich in der Hoffnung gestärkt, eine Büßerin in Hortense zu finden, die sich endlich, geläutert durch süße Schmerzen [die man ihr mitfühlend gern gönnte], ihrem Geliebten in dem Beruf einer Nonne verbinden würde – ebenso heiligmäßig wie schön, so ernst wie kokett, so gefühlvoll wie zynisch, so stolz wie hingebungsvoll. Während die Liberalen 315 jedoch in dem gleichen Maß, wie ihr Ziel erreicht schien, ihre Anteilnahme an Fräulein Hortense, wie ein Satter an seiner Mahlzeit, verloren, warteten mit geduldiger Gier die Frommen auf ihre Speise; sie begnügten sich, ihre Bestätigung immer weiter hinauszuschieben und das reizende Wunschbild Hortensens mit allem Tand zu behängen, den ihr eigenes Leben, farblos genug, von sich selbst fortgeräumt hatte. So war auch jenes Wort zu verstehen, das Frau Léontine ihrem Bruder, Herrn Bonmarché, gegenüber heute morgen geäußert hatte: »Aber ich glaube noch immer, daß sie später den Schleier nimmt.«
Nun, wie wir wissen, teilte Herr Charles durchaus nicht ihre Meinung. Begabt mit der scheußlichen Nüchternheit eines Mannes, der es gewohnt ist, sich seine Gelüste so oder so, aber auf jeden Fall ohne Hemmung und Skrupel zu erfüllen, war Herr Bonmarché felsenfest überzeugt, daß auch Hortense über kurz oder lang zu dem Ihrigen kommen würde; nur, daß ihre Schliche die seinigen kreuzen und sich an Plänen vergreifen könnten, die bereits fix und fertig in seinem Gehirnkasten lagen, bereitete ihm Sorge. Er mußte sie ablenken, das war klar, und sie mit Suzette zu entzweien suchen; um so dringlicher, wenn die Freundschaft der Mädchen schon jenen Grad erreicht haben sollte, der ihm immer gewisser erschien, je mehr seine grobe Vorstellungskraft sich der Sache bemächtigte . . .
In solche Gedanken versunken, verließ er die Werkstatt des Hemdenmachers und nahm mechanisch und doch geleitet von einem bestimmten Ziel den Weg nach der Postagentur. Sie war über Mittag geschlossen und die Jalousie heruntergelassen; ein Pappschild, von Fliegendreck reichlich beschmutzt, baumelte vor der Tür. Herr Bonmarché schloß sie umständlich auf und nahm das Schild mit zwei Fingern ab, besann sich jedoch eines Besseren und hängte es wieder an seinen Platz – – Nachdem seine Stellung als Postagent gefestigt und Bonmarché selbst dem Städtchen, wie er wohl wußte, unentbehrlich geworden war, ging er mit der Zeit recht großzügig um und befriedigte seinen Sadismus auf mannigfache Art, wobei er Wert darauf legte, durchaus korrekt zu erscheinen und dem Kunden, der eine Einzahlung machte oder Briefmarken zu erstehen wünschte, an seinen Handgriffen und dem Schweiß, den sie kosteten, zu 316 beteiligen, indem er vor aller Augen seine Listen von rechts nach links schob, einen Tarif gewissenhaft auszog, von unten nach oben und wiederum von oben nach unten addierte und immer langsamer wurde, je eiliger es der Besteller hatte oder je länger die Reihe war, die auf ihn wartete.
Auch jetzt, allein in dem Schalterraum, dessen staubige Kühle ihn mit der sterilen und beruhigenden Atmosphäre eines wahrhaften Amtsgebäudes empfing [seiner Pfandleihe zwar von weitem verwandt durch seine Unmenschlichkeit, aber darüber hinaus jede Handlung als gesetzlich legitimierend], überkam Herrn Bonmarché, wie schon so oft, das Gefühl eines Gottes, der die Geschicke sämtlicher Briefmarkenkäufer in seinen Händen hält. Er fühlte seine von niemand bestrittene Bedeutung, die widerspruchslos ins Unendliche wuchs; seine Macht, die die Schere des Vorgesetzten aus Zeitmangel noch nicht beschnitten hatte, und die lockende Vielfalt der Möglichkeiten, dieselbe anzuwenden. Herr Bonmarché nickte dem Präsidenten der Republik, dessen Bildnis zwischen Verordnungen, alten Tarifen und frischgebackenen Formularen wie eine Hieroglyphe des Staates, der in ihm verkörpert war, wohlwollend zu und setzte sich, seinen kleinen Schnurrbart mit einem Bürstchen wichsend, genußvoll an sein Pult. Die braune Uhr an der Wand gegenüber maß mit schläfrigem Ticken die Zeit; jedesmal, wenn der große Zeiger ein Viertel des Ziffernblatts überschritt, besann sich das längst verkommene Schlagwerk und gab ein heiseres Krächzen von sich, das als einziges Zeichen des Lebens von ihm zurückgeblieben und wie das trostlose Räuspern eines alten, vergeßlichen Mannes war, der über den ersten Ansatz, etwas Wichtiges zu erzählen, nicht mehr hinauskommen kann. Plötzlich befiel Herrn Bonmarché ein langgezogenes Gähnen; sein Gehirn, eine scheußliche Leere fühlend, bemühte sich, die behagliche Spannung, die es eben noch angefüllt hatte, wieder zurückzuholen, doch nur eine panische Angst vor dem Schrecken des künftigen Greisenalters durchspülte, als ob seine Blutgefäße unversehens gerissen wären, die farblosen Kavernen . . .
Er griff mit zitternden Händen nach der großen Wasserkaraffe und goß die abgestandene, laue Flüssigkeit in das Glas; dann riß er, ohne getrunken zu haben, ein Briefblatt zu sich herüber 317 und beschrieb es, ohne innezuhalten, mit pedantischen, kleinen Zügen, die trotzdem der Intelligenz nicht entbehrten und eine sinnliche Bogenführung mit verdickten Endungen zeigte. Als er den Federhalter zurück auf das eingebuchtete Tintenfaß legte, klopfte es an die Tür.
»He, Chef, ich denke, es wäre bald Zeit, den Laden aufzumachen«, rief die grobe Stimme des Briefträgers draußen, und Gaston Néans, das ›Beefsteak‹ geheißen, weil er immer nach rohen Zwiebeln roch, auf welchen er ungeniert kaute, schob sich rücksichtslos durch die Tür.
»Ich habe die neue Verordnung studiert«, sagte Herr Bonmarché. Er zog mit wieselhaft flinken Händen die Jalousien hoch. »Gewissenhaftigkeit ist das Erste für einen guten Beamten.«
Das ›Beefsteak‹ spuckte verächtlich aus und warf seinen Postsack zur Erde. »Wenn jeder so dächte wie Sie«, sagte Néans ungerührt, »gäbe es keine Skandalgeschichten für unsere Deputierten, und sie müßten nach Hause gehen. Wer also unsre Verfassung liebt, kann das nicht wünschen, Chef.« Er hob seinen Postsack wieder empor und verschwand mit ihm in dem Sortierraum. »Nichts Gescheites«, rief er, indem er den Sack über dem Tisch entleerte. »Drucksachen und ein paar Feldpostbriefe, denen man es von dem Umschlag abliest, daß der Kompanieführer an die Familie: ›Ich bedauere herzlich . . . beim Sturmangriff . . . Ihr tapferer Gatte . . .‹, na, und so weiter, immer dasselbe, schreibt. Ich trage heut nicht mehr aus.«
»Schön«, sagte Herr Bonmarché etwas nervös. »Aber tun Sie mir bitte noch einen Gefallen und besorgen Sie dieses Briefchen, wenn Sie die Post für den Abendzug nach Chantillé an den Bahnhof bringen, zu dem Gesellen des Hemdenmachers Jean Auvertin, gleich neben dem Haus des Tierarztes de Chamant. Es soll Ihr Schade nicht sein.«
»Wird gemacht, Chef«, sagte das ›Beefsteak‹ schneidig und ohne sich zu verwundern; Néans war der diskreteste Mann, den man sich denken konnte; nicht, weil er ohne natürliche Neugier, sondern weil er als Mensch der reinen Erfahrung zu dem Ergebnis gekommen war, daß Verschwiegenheit immer das Beste von allen Geschäften blieb. 318
»Geben Sie aber den Brief persönlich und nicht im Beisein des Meisters ab, wenn es möglich ist, lieber Néans«, fügte Bonmarché lässig hinzu. »Auvertin ist ein empfindlicher Bursche und ärgert sich über jeden Kunden, der eine Änderung wünscht.«
»Weiß der Geselle, von wem der Brief kommt?« fragte der grinsende Bote hinter dem Bretterverschlag, der den Sortierraum der Agentur von dem Tätigkeitsfeld des Herrn Bonmarché trennte, und hob den fleischigen Kopf.
»Natürlich. Er ist im Bilde«, gab der andere ungeduldig zurück und besann sich der kurzen Besprechung in dem Treppenhaus Jean Auvertins [dem er vorsichtshalber nach alter Gewohnheit einen falschen Namen. und gutes Geld als Anzahlung hatte zurückgelassen], wo der Geselle ihm fest versprach, seine Botschaften, um einen Stein gewickelt, bei ihren Gängen im Garten, Hortense vor die Füße zu werfen. Natürlich kostete diese Art der Briefbestellung Herrn Bonmarché eine ganz gehörige Stange Geld und hatte, so überlegte der Geizhals, schon sehr viel mehr gekostet, als er ursprünglich ausgeben wollte: zuerst die Hemden, dann der Geselle, hierauf Néans, und es war nicht unmöglich, daß er Hortense in dem Briefchen ein Cadeau würde mitschicken müssen – einen Edelstein oder ein Medaillon mit Brillantensplittern besetzt. Bei diesem Gedanken belebte sich das Gesicht des Pfandleihers wieder; er fühlte sich in seinem Gewerbe, das er nur seiner Tochter Suzette zuliebe, deren Heiratschancen die Tante durch seinen zweifelhaften Beruf gefährdet sah, aufgegeben und das er bis zu der Übernahme der Postagentur schmerzlich vermißt und bloß deshalb verwunden hatte, weil er es heimlich durch einen Bekannten in der rue Cardinal Mercier zu Paris noch immer weiter betrieb. Es war auch deshalb durchaus nicht gelogen, wenn er dem Hemdenmacher erzählte, daß er an einem der folgenden Tage nach der Hauptstadt zu reisen gedächte – ein Ausflug, der sich in jedem Monat mit Pünktlichkeit wiederholte und Léontine voll Unbehagen und in dem Gefühl ihrer Ohnmacht zurückließ, das sie immer befiel, wenn die Arme sich männlichen Mysterien ahnend zu nähern glaubte: sie war felsenfest davon überzeugt, daß Charles in der Hauptstadt eine Geliebte, vielleicht sogar deren mehrere habe, die er ängstlich vor ihr verbarg. 319
Diese ›Geliebte‹, ein Monsieur Quiche, von seiner Mutter her Halb-Engländer, ein dunkelhaariger, fetter, eunuchenhafter Bursche, war der einzige Mensch, dem Herr Bonmarché bedingungslos vertraute. Selber an jeder Art von Erotik von Natur aus uninteressiert, besaß Herr Quiche die unschätzbare Gabe, jeden Menschen in Sachen der Liebe vorurteilslos zu beraten und ihm den Weg zu den eigenen Wünschen wie ein Rutengänger zu zeigen: vollkommen bar jeder Moralität, aber unfehlbar in seinem Ausschlag über Erzen und Wasserquellen.
»Nein, geben Sie den Brief wieder her, mein trefflicher Postillon«, sagte Herr Bonmarché plötzlich. »Ich habe noch etwas hinzuzufügen, das erst besorgt werden muß.«
Jenem Quiche also saß ein paar Tage später Herr Bonmarché gegenüber, leicht gestört durch den entfernten Gedanken an seine Postagentur, die er für einige Stunden dem ›Beefsteak‹ übertragen, und wesentlich stärker beunruhigt durch die Vorstellung einer Suzette, welche er wohl oder übel Hortense überlassen hatte. Nachdem der geschäftliche Teil beendigt und von beiden, wie üblich, festgestellt war, daß der Krieg das Leihgeschäft nur begünstigt, ja, seinen Gewinn vervielfacht hatte, zog Herr Bonmarché eine Abschrift des Briefes an Fräulein Hortense hervor, den er damals auf dem Postamt verfaßt und durch das diskrete ›Beefsteak‹ befördert haben wollte. »Lesen Sie!« sagte er eilig, ohne jede Erläuterung. Während Herr Quiche das Einglas zwischen die Fettwülste seines kleinen, fast farblosen Auges klemmte, betrachtete Bonmarché hingegeben die bezettelten Schubfächer, welche die Pfänder: Uhren, Ketten und Ringe enthielten; den Stahltresor und den Perserteppich . . . [unter aufgeregt wippenden Stiefeln, die er plötzlich, wie auf einer Torheit ertappt, als die seinigen rekognoszierte.]
»Ein feuriger Stil«, sagte Monsieur Quiche. »Ist sie noch jung, diese Dame?«
Der kleine Herr Bonmarché schlug seine Beine hölzern übereinander und zupfte die Bügelfalten langsam und sorgsam zurecht. »Sie mißverstehen mich, bester Herr Quiche«, erwiderte er gemessen. »Es handelt sich um den verschwiegenen Auftrag eines früheren Kunden von mir.« Er überlegte und sprach dann weiter: »Nehmen Sie an, ein würdiger Herr bemerkt mit 320 Mißfallen den Verkehr seiner heiratsfähigen Tochter mit einer reizenden jungen Dame von klösterlichem Ruf.«
Herr Quiche hob abwehrend seine Hand und fuhr mit der dicken Zunge über die Unterlippe. »Ich ergänze«, setzte er angeregt fort, »mit einer sinnlichen Betschwester also, welche die Kleine zu ihrem Vergnügen in allen Künsten abrichten wird, die ihr den künftigen Ehegatten, einen honetten, nüchternen Menschen, in der Seele verleiden müssen.«
»Ein Versuch, diesem trotzigen Mädchen den Umgang mit seiner Freundin schlechterdings zu verbieten«, sagte Bonmarché überwältigt, sich von Quiche verstanden zu wissen, »bewirkte das Gegenteil.«
»Der Vater hat also beschlossen, sich selbst jener jungen Dame zu nähern – ich nehme an, daß sie Ende der Zwanzig und durchaus nicht ganz ohne Fehltritt ist – und sie zur Enttäuschung des Töchterchens zu seiner Geliebten zu machen«, ergänzte Monsieur Quiche.
In Herrn Bonmarchés Augen, die trockenen kleinen, tiefschwarzen Korinthen glichen, blitzte es wölfisch auf. »Durchaus nicht«, sagte er hemmungslos. »Denn der Vater will, ohne die Liebe seines Töchterchens zu verlieren, eine ganz besondere Art von Wollust bei dieser Sache genießen. Er will die betreffende junge Dame – nennen wir sie Hortense – nur aus der Ferne, als Unbekannter, in gleichsam geistiger Weise« [hier lachte Quiche hoch und mißtönend auf] »verführen, um sie nachher desto gewisser einem x-beliebigen jungen Mann in die offenen Arme zu treiben.«
»Ein ausgezeichneter Plan, mein Lieber«, stimmte Quiche ihm achtungsvoll bei. »Aber der Vater braucht Phantasie. Vergessen Sie das nicht. Auch Phantasie, um die . . . Folgen dieses Spieles zu überschauen, die es in jeder Beziehung für alle nachziehen kann. Logik allein genügt noch durchaus nicht, wenn ein Unbekannter mitspielen soll, wie hier in unserem Fall.«
»Aber der Unbekannte, Herr Quiche, bin doch ich selber!« rief Bonmarché heftig und unbedacht aus.
»Das weiß ich und habe es längst gewußt«, sagte Quiche ungerührt. »Aber ob Sie nun selbst Herr Unbekannt sind, oder der Unbekannte ihr Traumbild, das Sie rückwärts wieder 321 verwandelt, ist – auf jeden Fall wird Verwandlung das Los für alle Beteiligten sein. Sie fehlt, mein bester Herr Bonmarché, auch nicht in der Satansmesse.« Er blickte den anderen ohne Erregung mit den toten, farblosen Augen an. »Im übrigen möchte ich Ihnen raten, die geplanten Briefe an Fräulein Hortense durchaus nicht poetisch zu halten. Schreiben Sie nackt und versteckt zugleich; beleidigen Sie getrost diese Frau mit ihrer Schamlosigkeit – aber nur so wie ein Traum beleidigt, der im Erwachen Lügen gestraft wird und dennoch weiter peinigt.« Er hob das Briefblatt von neuem hoch und setzte wieder das Einglas auf; dann begann er genußvoll, mit halbem Ton, den Text vor sich hin zu lesen.
»Mein angebetetes Fräulein Hortense! Wenden Sie nicht, ich bitte Sie, diese armselig kurzen Zeilen um in der Hoffnung, den Namen dessen zu finden, der ihr schwacher Urheber ist. Sie werden es jetzt und später nicht wissen, wessen Schicksal Sie schuldloser Weise besiegelt, wessen Herz Sie gebrochen haben.«
»Nein, – nicht gebrochen«, sagte Herr Quiche. »Dieser Ausdruck ist zu romantisch. Schreiben Sie lieber: entzündet – das ist schärfer und richtiger. Auch in der Geschlechtsliebe gilt nur die Wahrheit und führt am schnellsten zum Ziel. In Ihren folgenden Worten beweisen Sie es ja auch. Also weiter –«
»Genug, daß Sie ahnen, wie sehr Sie die Meinige sind. Denn Sie sind es. Ich besitze Sie ganz mit all Ihren Heimlichkeiten: Ihren Wünschen, die sich nach Freiheit sehnen, Ihrem klugen, allzu beweglichen Geist, der wie die Schlangenzunge gespalten von der Frage nach dem Mysterium der Liebe und dem Verbot, ihm zu huldigen, ist; Ihren Körper, in seiner starren Keuschheit wie die jungfräuliche Biene in ihrem Chitinpanzer eingeschlossen, und trotzdem schmelzbar wie weiches Wachs, das keinem Druck widersteht. Fragen Sie nicht, woher ich Sie kenne, und ob mir diese Kenntnis genügt, meine verdursteten Sinne daran zu befriedigen – die erste Frage deckt sich bereits mit der nach meiner Person, Geliebte, und muß aus tragischen Gründen ewig unbeantwortet bleiben; die zweite geht über die sorgsam begrenzte Erfahrung eines Mädchens hinaus . . . es sei denn, daß dieses Wesen schon einmal die Süßigkeit 322 unbefriedigter Liebe und die Maßlosigkeit der geistigen Lust, die sich ungelöschter Sinnlichkeit paart, an sich erfahren hätte.«
Herr Quiche blickte Bonmarché staunend an und sagte: »Sie wissen mehr als ich mit meiner Theorie.«
Herr Bonmarché winkte höflich ab. »Meine Frau ist über zehn Jahre tot. Seitdem lebe ich keusch.«
Der andere schob mit heftigem Ruck das Sesselchen zurück, worauf er gerade saß. Mit einem leichten Kreiselgefühl musterte er das dürre Männchen, das da den schwindelerregenden Abgrund seines Daseins vor ihm eröffnete.
»Natürlich hatte ich hin und wieder ein kleines Abenteuer. Aber das zählt nicht und ist im Grunde durchaus nicht nach meinem Geschmack. Die subtileren Arten – nun, Sie verstehen – machen den Kenner erst aus.« Er sagte das in merkwürdig sprödem, eingerostetem Ton; niemand, der ihn hier vor sich sah, hätte anderes in ihm vermutet als einen Kleinbürger, ängstlich besorgt um seine Diät, seine Wäscheknöpfe und die richtige Kragenweite. Mit einem leichten Bedauern, diesen Brief nicht selber diktiert zu haben, nahm Herr Quiche noch einmal seine Lektüre gespannt und achtungsvoll auf.
«Nur um eines bitte ich Sie, mein Fräulein: die grenzenlose Verehrung und Liebe eines Verdammten nicht zu verschmähen, der sich andererseits begnügen wird, für immer verborgen zu bleiben – selig darüber, sein armes Geschwätz an Ihrem Herzen verborgen zu wissen wie einen Singvogel, Fräulein Hortense, dessen zitternde Flaumfedern in der Mulde zwischen den nackten Brüsten der Allerschönsten ruhen, sie liebkosen und mit dem Schnabel verwunden, ohne ihr wehe zu tun.«
»Dieses letzte Bild ist zu rokokohaft und enthüllt einen allzu galanten, also ältlichen, Freier, Herr Bonmarché, dessen Phantasie sich von Kupferstichen aus erotischen Mappen nährt«, sagte Quiche in verächtlichem Ton. »Obwohl natürlich der kitzelnde Reiz dieses Bildes – nein, weg damit!«
»Also gut«, sagte Bonmarché unempfindlich . . . ›für immer verborgen zu bleiben‹. »Nun den Schluß, Herr Quiche, wenn ich bitten darf. Lesen Sie noch zu Ende.«
»Doch ein Zeichen der seelischen Einheit zwischen uns beiden, Fräulein Hortenset erbittet sich mein Herz. Tragen Sie das hier 323 beigefügte, kleine Geschenk am Halse, ohne daß ich es weiß. Doch, um nicht zu lügen: ich werde es wissen; vielmehr nicht wissen, sondern nur ahnen – freilich so vollkommen ahnen, daß mein nächster Brief Ihnen Zeit und Stunde ganz genau angeben wird, in der Sie es angelegt haben. Noch besser: tragen Sie es nicht offen, damit Ihr Vater keinen Verdacht schöpft, sondern heimlich unter der Bluse, wo es unser Geheimnis bleibt, und sprechen Sie mit keinem Menschen davon – –«
»Köstlich, Herr Bonmarché, köstlich!« rief Quiche mit ehrlicher Freude aus. »Denn was reizte ein Mädchen mehr, sein Geheimnis der Freundin weiterzugeben, als daß man es ihr untersagt. Und diese Freundin wird noch dazu Ihre eigene Tochter sein, von der Sie wissen wollen, wie weit die Vertraulichkeit beider geht. Welch ein Zopf aus feinen Kombinationen und übereinandergelegten Strähnen, mein lieber, guter Freund! Aber nun lassen Sie mich überlegen, wie dieses Schmuckstück beschaffen sein muß, um Suzette zum Sprechen zu bringen. Nicht zu kostbar . . . aber originell; etwas kindlich . . . vielleicht sogar – meinen Sie nicht? – eine Art Freundschaftszeichen, das Suzette sich von der Dame erbettelt, die es ihrerseits, viel zu stolz, sich von Ihnen beschenken zu lassen, an Ihr Töchterchen weitergibt. Nein, nein, das wäre denn doch zu einfach und könnte allzu leicht auf den Geber, der sich gerühmt hat, die Zeit zu wissen, in welcher Hortense seinen Schmuck anlegt, wieder zurückschließen lassen. Warten Sie. Etwas mit einem »Pendant!« Etwas, das nach Ergänzung ruft und nicht Mühe hat, sie zu finden. Es gibt solche Sachen aus dem Empire . . .« Herr Quiche sprang eilfertig auf die Füße, kramte mit scheußlichen kleinen Händen, in denen sich trotz der weiblichen Form eine ungeheuere Kraft ausdrückte, einen winzigen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete den Tresor.
Herr Bonmarché blickte ihm über die Schulter, als er die Kästen aufzog – von seiner Geschäftsgier ebenso wie seinen Trieben gepeinigt, die ihn angenehm zittern ließen.
»Lassen Sie sehen: zwei schnäbelnde Täubchen aus weißen Perlensplittern auf einem Nest von Saphir. Nein, nein, das paßt nicht zu Ihrem verderbten und lasterhaften Brief. Es müßte gefällig und doch raffiniert sein – vielleicht wie die 324 Schlangennadel mit den Rubinaugen hier. Als Pendant diese Eidechse für Suzette – aber das könnte Hortense nur schwer unter der Bluse tragen.« Herr Quiche kramte weiter, sein Atem ging pfeifend, während er sich an dem Schmuck erregte, und seine Vorstellungskraft sich bemühte, jenes einzigartige Stück herzuschaffen, das sich irgendwo noch verbergen mußte: in seiner Sammlung, in seinen Kästen, in dem Tresor eines anderen Händlers, den Taschen eines gehetzten Diebes, der es ihm in der nächsten Minute mit Sicherheit anbieten mußte, oder noch an dem Kleid einer schönen Frau, die es für ihren Liebhaber hingab, um ihm den Ankauf von Rauschgift oder die Tilgung der zahlreichen Schulden, die auf ihm lasteten, möglich zu machen – jetzt gleich, bei dem nächsten Klingeln der Schelle oder mindestens doch, bis seine Beschwörung zu Ende gegangen war.
»Sie sind zu aufgeregt, bester Quiche«, sagte Bonmarché überlegen und griff – außerstande, seine Begierde länger zurückzuhalten – blindlings in eine Lade, die er bis zum Ende herauszog.
»Nicht! Nicht!« schrie Herr Quiche und versuchte, den Kasten wieder zurückzuschieben. »Hier ist alles noch nicht beschriftet und gesetzmäßig eingetragen.«
In dem gleichen Augenblick stürzte klirrend und teilweise ineinander verhängt das ganze Geschmeide zu Boden; die beiden Männer darüber her – jeder von Furcht und Liebe gepeinigt, doch ohne den leisesten Vorwurf für seinen Unglücksgefährten. Sie wühlten jetzt ohne Sinn und Verstand, ja, fast noch, ohne zu prüfen; entwirrten die Anhänger, schoben die Ringe abwechselnd über die Finger und küßten unter entzückten Rufen bald dieses, bald jenes Stück. Plötzlich sagte Herr Bonmarché trocken und völlig ernüchtert: »Hier!« Der andere wischte sich geistesabwesend den Schweiß von der blassen Stirn und stierte blöd auf das Medaillon, das der Freund ihm entgegenhielt. Es waren zwei kunstvoll geschnittene Gemmen, die sich, durch ein Scharnier verbunden, genau aufeinander legten und Anfang und Ende einer Tragödie von Racine zu verdeutlichen schienen. »Phädra und Hippolyt – sehen Sie her!« sagte Herr Bonmarché. »Hier will die Königin ihren Stiefsohn den Wünschen gefügig 325 machen, zu denen Aphrodite sie antreibt, die Hippolyt verschmäht. Welch gewagtes Thema: die halbentblößte, begierdetolle Gattin des Theseus wendet sich Hippolyt schmachtend zu, während Eros ihre Brüste wie Äpfel dem Jüngling entgegenhält. Er aber, der Spröde, wendet sich ab, kalt und verächtlich, durch göttliche Satzung einer höheren Pflicht geweiht. Auf der anderen Gemme Hippolyts Strafe: die Rache der Phädra, welche zugleich die Rache der Göttin ist. Aphrodite selber geißelt die Pferde, die den Jüngling zu Tode schleifen; seinen herrlichen Körper, den bald die Steine in Stücke reißen werden. Phädra und Hippolyt . . . welch ein Gleichnis«, sagte Herr Charles mit gurgelnder Stimme. »Hortense de Chamant und Lucien Benoît«, fügte er meckernd hinzu.
Herr Quiche blickte grenzenlos überrascht von dem Schmuckstück auf, das er eben noch durch sein Einglas betrachtet hatte. »Diese beiden also . . .!« schrie er entzückt, »deren Skandalgeschichte bis hierher nach der Hauptstadt gedrungen ist – nein!« sagte er fassungslos. »Heloise und Abälard. Sie sind ein Glückspilz, Herr Bonmarché«, fügte er neidisch hinzu. »Wenn Sie wüßten, wie viele meiner Klienten ihren letzten Pfennig hergeben würden – aber sie haben den Köder nicht, den sie sich, ohne den Zufall zu preisen, aus den Lenden geschnitten haben. Junge Kapläne«, log er drauflos, »und alte Herren vom Domkapitel, die Hortense zu bekehren wünschten.«
»Übrigens, wissen Sie eigentlich, wo dieser Benoît sich jetzt aufhält?« fragte ihn Bonmarché.
»Wo sonst, als in den Netzen der Kirche?« gab Quiche gelangweilt zurück. »Nachdem sich die erste Empörung gelegt und man sich angeblich von der Unschuld dieses Herrn überzeugt haben wollte, gewährte man ihm von neuem den Eintritt in das Missionsseminar. Er soll in China gearbeitet haben. Aber halt, ich glaube mich zu erinnern, daß man ihn kürzlich wieder zurückrief und ihn zum Novizenmeister der jungen Leute machte.«
»Hm«, sagte Bonmarché, »gar nicht schlecht«, und versank in beharrliches Schweigen.
»Also, bleiben wir bei dem Medaillon?« fragte Herr Quiche ihn zweimal, ohne Antwort von ihm zu erhalten. »Gut, gut. Ich bringe es zu Néval. Er wird mir schon den Gefallen tun, 326 es sofort auseinander zu nehmen und in zwei Anhänger zu verwandeln, die wie Nußschalen nach Ergänzung rufen und doch auch etwas für sich sind. Wollen Sie darauf warten, oder –?«
»Ich muß in einigen Stunden wieder zu Hause sein«, erwiderte Bonmarché unruhig. »Das Beefsteak vertritt mich zwar, aber ich fürchte, daß Suzette mir Dummheiten macht.«
»Pah – lassen Sie nur diese Dummheiten reif und das Beefsteak sich seiner Hilflosigkeit ohne den Chef bewußt werden, Charles«, sagte Herr Quiche gelassen. »Mit dem ersten Morgenzug kommen Sie dann ganz unvermutet zurück. Das wird sehr wirkungsvoll, schätze ich, für alle Beteiligten sein . . .«
Wie wirkungsvoll in der Tat diese Heimkehr zunächst für Herrn Bonmarché war, hätte sich dieser nicht träumen lassen, als er die Gartentür frühmorgens aufschloß und Léontine, völlig zerflossen, und der Auflösung nahe bis auf die festen, stark eingedrehten Zöpfchen, ihm weinend entgegenkam. Sie roch durchdringend nach Baldriantropfen, der obere Teil ihrer fetten Backen war unter den Augen entzündet, ihr kindischer Mund mit den vollen, unentschiedenen Lippen bebte von mühsam beherrschten Tränen, die sie heftig hinunterschluckte.
»Wo ist Suzette?« fragte Bonmarché brüsk.
Sie hob verzweiflungsvoll ihre Schultern; dann löste sich Léontines Schock in einem Strom von verwirrten Worten, der folgenden Tatbestand ungenau, doch wirkungsvoll umschrieb. Es war in der letzten Nacht ein Gewitter über Senlis heruntergegangen und die überaus furchtsame Léontine, nachdem sie sich überzeugt und einwandfrei festgestellt hatte, daß das Zimmer des Bruders leer war, an die Schlafkammertür der Suzette gelaufen, um dort unter Rütteln und Schreien das gefühllose junge Mädchen um Hilfe anzuflehen. Endlich, da niemand sich meldete, faßte sie den Entschluß, das Geheimnis ihres Nachschlüssels preiszugeben und öffnete mit schlechtem Gewissen, aber merklich erleichtert die Tür, um gleich danach, außer sich vor Entsetzen und Scham, erleben zu müssen, daß Bett und Zimmer der Nichte vollkommen unberührt waren. »Was sollte ich tun? Dieses scheußliche Wetter – – die ganze Stube von Blitzen durchzuckt, obwohl die Jalousien geschlossen und die 327 Portiere noch überdies dicht beigezogen war. Donnerschläge, du glaubst es nicht, wie an dem jüngsten Gericht, wirklich, ein Wetter, wie ich noch nie . . .«
»Ein ähnliches erlebte«, beendete Bonmarché. »Und weiter? Was dann?«
«Mein erster Gedanke . . .«
Herr Bonmarché fixierte sie streng. »War Fräulein Hortense de Chamant, nicht wahr?« fragte er spöttisch und hart.
Seine Schwester blickte ihn fassungslos an. »Natürlich!« rief sie erleichtert aus. »Und ich Närrin glaubte, Pierre Rousselot oder René le Grand, die sie schon lange mit Briefchen und süßen Blicken verfolgen . . . Aber nun bin ich selbst überzeugt, daß sich Suzette bei Fräulein Hortense verspätet haben mußte und von dem schrecklichen Wetter zurückgehalten wurde.«
Herr Bonmarché tippte sich leicht an die Stirn. »Und Herr de Chamant, meine kluge Schwester?« fragte er liebevoll.
Léontine blickte ihn argwöhnisch an. »Na, Herr de Chamant«, gab sie triumphierend und überlegen zurück. »Ich weiß natürlich, daß dieser Herr Blaubart keine Besucher duldet. Aber er ist, wie Suzette erzählt hat, vorgestern für eine Woche verreist, um der Tagung der Veterinäre in Orléans beizuwohnen. Man will ihn zum Vorstandsmitglied –«
»Der gestiefelten Esel machen«, beendete Bonmarché.
»Ich verstehe dich wirklich nicht, lieber Charles«, sagte die Tante wie immer. »Auf jeden Fall wird Suzette, wie ich glaube –«
Er schnitt ihr mit heftiger Handbewegung ihre Vermutungen ab. »Nein«, murmelte Bonmarché vor sich hin. »Ein Kind wird sie sicherlich nicht bekommen wie Fräulein Semele.«
»Semele?« fragte die Schwester entsetzt.
»Nun ja – diese Dame, die unter Blitzen von Jupiter empfing.«
Léontine errötete, bis in den Ausschnitt ihres türkischen Morgenrocks. »Was für schlimme Reden du führst!« sagte sie vorwurfsvoll. »Wenn ich nicht wüßte, wie ehrbar du bist . . .«, fuhr sie schwärmerisch fort und hielt plötzlich inne, weil sie an die ›galante Geliebte‹ in der Hauptstadt zu denken gewohnt war. 328
»Ich meine . . . seit dem Heimgang Elizens . . .«, stotterte sie verwirrt.
»Schon gut.« Herr Bonmarché winkte ab. »Übrigens werden wir warten, bis Suzette von selber nach Hause kommt. Sie arbeitet, nehme ich an, heute morgen in der Spitalküche. Wie? Und, daß du mir die Kleine nicht auszankst!« fügte er väterlich bei. »Das würde unser Vertrauensverhältnis nur stören, Léontine.«
»Ich glaube nicht, daß Suzette dir vertraut«, erwiderte die Schwester.
Herr Bonmarché lachte fröhlich auf und strich sich über die Oberlippe. Ein Schnurren saß ihm tief in der Kehle wie dem Kater am Mäuseloch. »Ich vermute, ich kenne mein Töchterchen besser«, sagte er dann beruhigt . . .
»Du mußt aufstehn, Suzette. Man wird dich vermissen«, flüsterte Fräulein Hortense. Es dämmerte schon. Durch die Jalousien, die man des Unwetters wegen hermetisch verschlossen hatte, wölkte und quoll das Tageslicht mit fast körperlicher Substanz. Ein fahler, doch zäher und unbarmherziger Schein drängte sich durch die Spalten, der seidene Vorhang erbleichte allmählich und zeichnete die dunkleren Streifen des Fensterladens ab. Der Atem Suzettes ging langsam und tief, ohne sich zu verändern. Der linke Träger des Taghemds war ihr über die Achsel gerutscht; die nackten, mädchenhaft üppigen Arme lagen rechts und links auf der Decke, ganz wie bei einem Kind, das beim Einschlafen, satt von Geschenken und Lust, sein Spielzeug verloren hatte.
Hortense, bis auf Schuhe und Strümpfe noch vollkommen angekleidet, saß auf dem Fußende ihres Bettes und starrte mit verlorenem Ausdruck das atmende Mädchen an; dann wanderte ihr erloschener Blick zu dem Bric à Brac auf der Erde: den Wäschestücken, Schmucksachen, Briefen und herabgeglittenen Decken und Kissen, die den Eindruck machten, als schwömme das Lager auf Wogen und Meeresschaum. Keine noch so verzweifelte Ariadne konnte verzweifelter blicken: trostloser und zugleich wilder, zum Äußersten entschlossen und trotzdem jenen Adel nicht leugnend, der ihr Erbteil an Blut und Schicksal und von Natur her war. Dieses Kind hier . . . wie unberührt es noch 329 schlief und die vertraulichen Schrecken der Nacht, an denen Hortense ihm durch Briefe, durch Erzählungen und Erinnerungsstücke dachte Anteil gewähren zu können, wie ein Märchen vergessen hatte. Sie beugte sich vor und berührte sanft mit den Lippen Suzettens Haar; ein Duft wie von Walderde kam ihr entgegen, wenn der Frühling die ersten Kräuter und Anemonen zeitigt. Erinnerung streifte sie, vag und süß, keine bestimmte, sondern nur solche, die die Gabe der Tränen schenkt. War sie, Hortense, selber jemals so jung wie dieses Mädchen gewesen, wie diese derbe kleine Suzette mit den unbekümmerten, festen Gliedern und dem tierisch gesunden Schlaf?
»Suzette!« Sie streckte von neuem die Hand aus – eine Hand: zu geformt und in jedem Glied zu edel durchgebildet, um eigentlich gütig zu sein. Diese Rechte umschloß mit zärtlichem Druck die blanke Schulterkugel Suzettes und glitt dann vorsichtig weiter, um endlich die kleine Brust zu umschließen, die hart von Unschuld und Jugend war und warm wie ein Rebenhügel.
Suzette schlug die Augen auf. Lust und Erschrecken waren auf seltsame Weise in ihrer Tiefe verschwistert und verschmolzen zu einem süßen Entsetzen, das ohne Widerstand war. »Was tust du?« flüsterte sie . . . schon bereit, jede Antwort entgegenzunehmen.
In diesem Augenblick ging ein Ton wie das Seufzen des Menschenherzens, wenn es gehört werden könnte, durch den verschollenen Raum. Eine dünne, unendlich leise, aber melodische Klage, die langsam anstieg, sich senkte, verharrte und sich wiederum hob, um aufs neue in einem Meer von Entzücken und Wohllaut zu versinken, drang aus dem Nebengelaß der Kapelle durch die zugemauerte Tür. Orgelspiel, untermischt mit dem zarten, grillenhaft hohen und strengen, fast geisterhaften Gesang der Nonnen, begann die erste Hore des Tages geheimnisvoll einzuleiten. Dieser Chorgesang, diese jungfräulichen Stimmen kamen aus endloser Ferne; aus einer fühllosen, luftleeren Höhe, wo das siderische Lied der Planeten seinen schrecklichen Ursprung hatte; doch gleichzeitig auch aus unmeßbarer Tiefe, aus der Tiefe des Hades, wo weder Wunsch, noch Erinnerung an die Schmerzen und Freuden des irdischen Daseins waren. Das gleichmäßig starke Summen und Singen, 330 Respondieren und Weiterlaufen der Stimmen hinter fest verschlossenen Türen schien Hortense von immerher dagewesen und die Begleitmusik ihres Lebens, solange sie denken konnte, zu sein. Es war das unveränderlich Gleiche, die Eintönigkeit ohne Hebung und Senkung, der niemals verknotete Faden der Parze, den sie Tag für Tag aufspulen mußte, die grausame Trägheit der leeren Stunden und die quälende, ruhige Zufriedenheit eines Lebens, das – noch nicht lange begonnen – kein Ende absehen konnte. Mit einer jähen, wilden Bewegung warf sie die Hände an beide Ohren und starrte nach der Wand. Dann verzog ein merkwürdig grausames Lächeln ihre leicht geöffneten Lippen, und ein Ausdruck höchster Bewußtheit trat klar in ihre Augen: Kälte, die sie bis zum Grund erfüllte wie den See ein Zustrom von eisigem Wasser, blitzte in ihrer Tiefe und stieg bis zur Oberfläche. Schon hatten Verzweiflung und Wollust ihren Höhepunkt überschritten und sich selber gegenseitig zerstört, um einer letzten Entschlossenheit, einem Wagemut Platz zu machen, wie sie den Schwimmer erfüllen mag, der bereit ist, sich endlich vom höchstem Brett mit Begierde hinabzuwerfen, und noch einmal mit offenen Augen den Abstand zwischen sich und dem Wasserspiegel erprobt, den er durchmessen wird . . .
Wieder schwollen die Stimmen an und versetzten ihr Blut in schwache, doch gefährliche Vibrationen. Sie horchte wie auf eine Liedmelodie aus tiefer Vergangenheit. Sehnsucht, Verklärung, Schmerz und Enttäuschung erschütterten ihre Mienen – dann schlug die Flamme des Hasses empor wie Feuer aus einem lange bedeckten, nun aber wieder durchrüttelten und gelockerten Aschenhaufen. Sie wußte, daß sie zerstören würde, und im selben Augenblick wollte sie es und beendete schon ihr Vernichtungswerk, bevor sie begonnen hatte. Ihre frühere Rache und der Verrat an ihrem teuren Geliebten schienen jetzt erst Gestalt zu gewinnen und wie Geheimschrift deutlich zu werden, die hervortritt, wenn man das Briefblatt über der Kerze erwärmt. Es war etwas Neues hinzugetreten, ein Ferment, das sie wirksam machte und auskristallisierte. Jetzt plötzlich, in diesem Augenblick, war es Hortense erst bewußt geworden, wen sie damals schon hatte treffen wollen, und wem der 331 doppelte Haß galt, mit dem sie Lucien zu zerstören und auszutilgen suchte. Wie ein Schwan mit weit entfalteten Schwingen, gnadelos, zitternd an allen Gliedern, warf sie sich über das junge Mädchen. »Gott und Benoît! Gott und Benoít!« stammelten ihre Lippen – – und während Suzette sie mit klaffenden Knien, entzückt und berauscht, empfing, gab sich Hortense einer Liebe hin, die sie weich und saugend hinunter in die Tiefe des Hades lockte, in die letzte Einsamkeit mit sich selbst, die keinen Gefährten mehr sucht, wie die Blüte, deren Pollen hinab auf die Narbe rieseln . . . unermüdlich, bedürfnislos und zufrieden, keiner Sehnsucht mehr eingedenk . . .