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An dem Abend des gleichen Tages, die Sonne war schon im Untergang und das dunstig beschlagene Silber der Seine in jener Verwandlung begriffen, die – wenn sich das Flüssige weithin verfärbt, als ob ihm ein anderes Element zugesetzt worden wäre – in dem Strom den Strom der Geschichte spiegelt und ihren Murmelmund öffnet, saßen zwei sehr alte Männer vor einer Schenke der Isle St. Louis inmitten Paris. Der eine von ihnen, ein hagerer Mensch mit ungebeugtem Rücken, knotigen Gliedern und schlohweißen Haaren, deren Kranz mit dem Rand seiner Baskenmütze wie nach der Linie geschoren abschloß, sah unter starken, kohlschwarzen Brauen unbewegt vor sich hin. In genau bemessenen Zwischenräumen führte er langsam sein Glas zum Munde, trank, hielt es einen Augenblick lang in der Schwebe zwischen Genuß und Erfüllung und setzte es vorsichtig ab. Der andere, wohl kaum jünger als jener, doch von der nervösen Beweglichkeit, wie sie unmäßig fette und dabei kluge, sich selbst verspottende Männer haben, schnitt mit eiligen, kleinen Händen Stücke von seinem Käse herunter, die er abwechselnd in den Mund schob und der graugelben Katze hinwarf, die träge um das wacklige Tischchen und die rohen, eisernen Stühle strich, während schon langsam das Fieber der Nacht ihre mageren Lenden erfüllte.
Einige Schritte von beiden entfernt, schminkte ein sehr junges Straßenmädchen, gegen die blättrige Hauswand gelehnt, mit kurzen, heftigen Strichen den Mund und schielte über die Spiegelscherbe, die es ungeschickt vor sich hinhielt, zu den zwei Alten herüber; seine Tätigkeit, welche es eingelernt und mit einer Art zornigen Unschuld vollbrachte, geschah in der gleichen gedankenlosen und fast mechanischen Weise, mit der ein Bauernmädchen das Kalb oder die Enten antreibt und den hölzernen Stecken bewegt.
»Da ist sie wieder, die kleine Zumpel«, sagte der dicke Herr Marinier und beobachtete das arme Geschöpf mit scharfen, ein wenig zwinkernden Augen, wie er die Zinnmarke einer Schüssel 127 oder den irisierenden Schmelz eines Glases betrachtet hätte. »Sehen Sie nur, Casculade!«
Der Angesprochene drehte sich um und legte die festen rotbraunen Hände bedächtig auf seine Knie. »Ich möchte schwören«, sagte er langsam, »daß das Mädel aus meiner Heimat ist – aus Tarbes oder Pau oder gar – – gleichviel! Sie ist ein Pyrenäenkind, mein ich, man sieht es am ganzen Gehabe. He?« rief er und klopfte ein paarmal mit dem Fingerknöchel hart und entschieden an der eisernen Tischplatte auf. »Komm herüber, Therese, ich rate es dir!«
Das Mädchen schnitt eine Fratze und verschwand um die Häuserecke.
Der dicke Herr Marinier kicherte boshaft und wischte sich die Altmännertränen aus den wässrigen Augenwinkeln. »Eher zähmen Sie eine Katze«, sagte er wohlgefällig.
Casculade, ein ausgedienter Notar, schob energisch seine zerfransten Manschetten unter die Ärmel zurück und schlug die zerbrechlichen Kranichbeine behutsam übereinander. »So sind sie, so sind sie alle da unten«, flüsterte er gedankenverloren und blitzte dann seinen fetten Gefährten mit glühenden Augen an. »So wild und scheu wie die Murmeltierchen, heiß wie die Preißelbeere im Moos und kalt wie das Wasser des Gave, das aus den Bergen herabkommt. Die eine im Guten, die andre im Bösen; aber beide haben die gleiche Natur, und diese Natur, Sie mögen es glauben oder mögen es bleiben lassen, hört nicht auf – jungfräulich zu sein.« Er warf einen kurzen, drohenden Blick nach dem dicken Herrn Marinier, der sein gewohnheitsmäßiges Grinsen noch beibehalten hatte, während schon eine stille Erwartung seine fleischigen Wangen spannte. »Und so war auch sie –«, sagte Casculade still und nickte vor sich hin.
Der andere fragte vorsichtig: »Sie?«
»Die unvergeßliche Bernadette«, erwiderte Casculade. »Sehen Sie«, sagte er kurz darauf lebhaft, »ich habe sie ja nur einmal nahe und später höchstens drei bis vier Male aus der Entfernung gesehen. Mein Onkel, der Friedensrichter Duprat, gehörte zu jener verfluchten Meute, welche die arme Kleine und ihr Werk zu Fall bringen sollten. Damals, als ich nach Lourdes kam, um die Ferien bei ihm zu verbringen [es war im Frühsommer 58, 128 und das Städtchen quirlte und tobte noch immer wie ein riesiger Ameisenhaufen], waren die großen Ereignisse eigentlich alle vorbei. Die Visionen der Grotte von Massabielle näherten sich ihrem Ende, die Quelle hatte das harte Gestein mit der Gewalt einer Frühlingsblume unauffällig durchbrochen und war nun wie von altersher da, und mit mir kamen aus Cauterets, aus Barèges, aus Luz, aus Bagnère de Bigorres und den anderen Badeorten die Presseleute, die Sommergäste, die Wespenschwärme der Kongregationen und die Kohorte der Wissenschaftler, den Finger an der Nase; kurzum, das Wunder begann profan, und das Profane beeilte sich, unter der Schürze des Wunders geheimnisvoll zu werden. Alte Jungfern hatten gleichfalls Gesichte, die Gassenbuben, wie überall, überkletterten die Barriere, die der famose Herr Jacomet, die Kreatur des Barons Massy, vor der Grotte errichtet hatte, um Rosenkränze oder Medaillen gegen fünf Sous in das Wasser zu tauchen, und kleine Kinder, von ihren Ammen und großen Geschwistern verängstigt, glaubten unter den Haselnußstauden den Teufel gesehen zu haben.«
Herr Casculade hustete kurz und zornig, trank, setzte das Weinglas heftiger nieder und fuhr in beherrschtem Tonfall fort: »Sie können sich denken, daß da ein Bursche von eben sechzehn Jahren, der unter der Schulbank seinen Voltaire liest und für das Glaubensbekenntnis des savoyardischen Pfarrers schwärmt, nicht gewillt war, auf die Seite der Einfalt und des Mirakels zu treten, obwohl dieses Alter hinwieder auch schwerlich für die juristische oder – wie sich mein Onkel auszudrücken beliebte – administrative Gewalt begeistert und dem reißenden Strom einer jungen, lawinenhaften Empfindung entgegengestellt werden kann. Denn das wollte er, dieser filzige Schurke, der überall seine Aufpasser hatte, die ihm melden mußten, wann wieder ein Mensch das Gemeindegrundstück, der Verordnung entgegen, betreten hatte, um sein Heil bei der Quelle zu suchen. Diese Quelle – sehen Sie, Marinier . . .«, der alte Notar blickte still vor sich hin, griff nach der Karaffe, schenkte das Weinglas langsam und sorgfältig ein und schien einer fernen, mystischen Liebe feierlich zuzutrinken.
»Sie wollten von Bernadette erzählen«, ermahnte ihn Marinier. 129
»Man kann von Bernadette nicht erzählen, ohne die Quelle zu nennen, und nicht von der Quelle, ohne den Namen, den die Erscheinung dem kleinen Mädchen auf sein Bitten hin mitgeteilt hatte«, erwiderte Casculade. »Ich muß zurückgreifen. Was ich berichte, wurde mir selber von meinem Onkel kurz nach der Ankunft in Lourdes geschildert und trägt umsomehr den Stempel der Wahrheit, als es mich damals wirklich bewog, für die Sache der sogenannten Vernunft jene Handlangerdienste zu leisten, die mich Bernadette gegenüberstellten, als sie die letzte Erscheinung hatte und hinterher wieder nach Hause ging: klein, armselig, ein verlassenes Kind mit traurigen, schwarzen Augen. ›Stell dir vor, mein Junge‹, sagte Duprat, ›dies und jenes ist hier bei uns vorgefallen, und das Tollste: die ’Dame‘, wie Bernadette ihre Erscheinung nannte, hat ihr endlich auf das Drängen der Pfaffen und sämtlicher Betschwestern hin ihren Namen zur Kenntnis gebracht. Ein schwieriger Ausdruck, sage ich dir; die Kleine, als sie zum Pfarrer zurücklief, hat ihn unaufhörlich, um nichts zu vergessen, vor sich hingemurmelt, ja, ja! Immer wieder, wie irgendein dummes Tierchen, das man mit einem lateinischen Namen zum Pharmazeuten schickt.‹«
»Nun«, fuhr Herr Marinier rasch dazwischen, »ich denke, diese Geheimnisvolle nannte sich, wie zu erwarten war, die allerseligste Jungfrau?«
»Nein, das ist es ja eben. Sie sagte von sich: ›Ich bin‹« – Herr Casculade drehte sich um und vergewisserte sich, daß kein unberufenes Ohr diesen Ausdruck vernehmen könnte – »›Ich bin die Unbefleckte Empfängnis‹. Verstehen Sie, Marinier?«
Der Fette zog mit bedauerndem Zischen die Unterlippe ein. »Ein Dogma«, sagte er dann enttäuscht, »das Bernadette aufgeschnappt hatte. Übrigens müßte es richtiger heißen: ›die unbefleckt Empfangene‹, wie? Mein Gott, welch ein Durcheinander!«
Der alte Notar sah ihn schwermütig an und senkte den Kopf auf die Brust. Das aussichtslose Beginnen, jene Zusammenhänge begrifflich erläutern zu wollen, die er bisher nur ahnend gefühlt und, wie ein Geizhals den schönsten Karfunkel, in dem Kellergewölbe des einsamen Alters und der trüben Verlassenheit still für sich hatte leuchten und aufzucken lassen . . . Diese blitzhafte 130 Einsicht, verbunden mit der Gewißheit, sich nicht erklären zu können, machte ihn unfähig weiterzusprechen und lähmte sein Gefühl.
»Bernadette – und ein Dogma!« sagte er dann und ballte die dunkle Faust. »Dieses Mädchen, dem es unmöglich war, die erste Frage und Antwort des französischen Katechismus auch nur annähernd herzusagen! Sie war nicht dumm – oh, gewiß nicht, aber so gänzlich unzähmbar, so unfähig, wenn sie auch hätte wollen, sich abrichten zu lassen, daß man Mühe hatte, das arme Kind für die erste heilige Kommunion notdürftig vorzubereiten. Diese Hirtin, unschuldig und verspielt wie ihr Lieblingslämmchen Pigou – sie war in jeder Beziehung arm . . . unvorstellbar und unaussprechlich arm an Worten und Begriffen.«
»Um so eher«, erwiderte Marinier, ohne den Alten zu schonen, »könnte ein Ausdruck gleich diesem, dessen Laute der Wind wie gefiederten Samen durch Zufall an sie herantrug, Wurzel geschlagen haben. Gerade das Unverstandene haftet mit dem Reiz unlösbarer Widerhäkchen, die es geheimnisvoll machen, ohne daß es notwendigerweise auch wirklich geheimnisvoll ist. Aber erzählen Sie weiter von Ihrer Bernadette.«
»Nein«, sagte Casculade eigensinnig und verschränkte die Arme über der Brust, als hütete er tief innen einen unendlichen Schatz. »Der gesunde Menschenverstand würde auch hier alles zu deuten wissen. Man hat sie eine Halluzinierte, eine Rutengängerin oder ganz einfach ein hysterisches Mädchen genannt. Daß die Quelle mineralhaltig sei, hat sich allerdings nicht beweisen lassen – doch wozu braucht die Masse Beweise, wenn sich die dümmste Behauptung nur immer mit dem Mantel der Wissenschaften behängt . . . und welcher Glaubenssatz wäre dem Klüngel des gebildeten Christenpöbels vertrauenswürdiger als einer, welchen die Wissenschaft ihm zu bestätigen scheint! Nein, Marinier, nein! Der Glaube kann nichts beweisen, sondern hat seine eigene Hellsichtigkeit, wie sonst nur die – Liebe sie hat.«
Er stieß mit der Hand sein Weinglas zurück und wollte sich erheben; der andere, ehrlich erschrocken, hielt ihn am Ärmel fest, drängte ihn sanft auf seinen Stuhl hinunter und sagte leise: »Mein lieber Freund – verzeihen Sie einem allzu Berührten, der 131 sich nur durch seinen Sarkasmus vor dem Glauben zu retten weiß.«
Der alte Casculade starrte ihn an. »Vor dem Glauben – zu retten?« fragte er dann, vollkommen verständnislos.
Herr Marinier hob die gepolsterten Schultern. »Sie können das nicht begreifen, nun ja, Sie sind aus anderem Holz. Ich aber«, fuhr er aufrichtig fort, »ich bin von Natur aus feige und fett wie eine gemästete Ente und salbe mich gegen jede Gefahr mit dem Bürzelfett einer Ironie, die mir das Leben erträglich, wenn auch nicht liebenswert macht. In dieser Haut, mein verehrter Freund, lebe ich nun über siebzig Jahre – und nicht einmal allzu schlecht. Wenn ich glauben wollte, das weiß ich genau, wäre es aus damit.«
»Womit?« fragte Casculade atemlos.
»Mit diesem Leben, begreifen Sie doch, das ich nun einmal führe. Ich müßte sterben. Meine Natur, deren innerstes Wesen die Konzilianz und die Verneinung des Wunders ist, würde vernichtet werden. ›Vernichtet und wiedergeboren‹, werden Sie sagen wollen, ich weiß. Aber ich will nicht vernichtet werden und auch nicht wiedergeboren. Ich bin dafür zu alt. Nach der Quelle muß man sich bücken können – mir steigt schon bei diesem Gedanken das Blut in meinen Kopf.«
»Sie haben sich auch nach der ersten Quelle nicht gebückt, lieber Marinier«, erwiderte Casculade. »Und übrigens brauchte sich nur Ihr Herz, nicht aber Ihr Kopf zu bücken.«
»Sie irren«, sagte Marinier kurz. »Aber gleichviel – ich kann weder glauben, noch lieben und strebe auch nicht danach. Wohl möglich, daß Glaube und Liebe ihre eigene Hellsicht haben. Dann bleibe ich eben blind.«
Herr Casculade sah ihn aufmerksam an. »Gut, aber wenn Sie es wünschen, werde ich weitererzählen.«
»Ich bitte darum«, sagte Marinier höflich, doch jetzt ohne Anteilnahme.
»Diese Erscheinung also«, fuhr Casculade nachdenklich fort, »nannte sich Bernadette gegenüber ›die Unbefleckte Empfängnis‹ und nicht ›Empfangene‹, wie Sie meinten; ähnlich wie Gott ›die Liebe‹ schlechthin, ›die Gerechtigkeit‹ oder ›die Wahrheit‹ oder wie immer heißt. Ich habe diesem Ausdruck ›Unbefleckte 132 Empfängnis‹ sehr lange und eigentlich mehr um des Mädchens willen, das ich liebte – er errötete tief und mit ungewöhnlicher Anmut – als um seiner selbst willen nachgegrübelt und bin, wie ich glaube, zu dem Mysterium des frühesten Ursprungs gekommen. Dieser Ursprung, sein Name besagt es schon, war unbefleckt wie die Quelle, die am Anfang der Wege hervorbrach; aber noch mehr: der Ursprung als solcher war in der Tiefe der Gottheit vor allem Geschaffenen da. Lesen Sie in dem Buch der Weisheit: Immer heißt es: bevor. Bevor er etwas geschaffen hatte; von Urbeginn, ehe die Erde ward; vor den Flüssen, den Meeren, den Wassertiefen – noch ehe er das alles gemacht und die Angeln der Erde befestigt hatte, war der unentsprungene Ursprung, war die Unbefleckte Empfängnis der Schöpferkraft eingeboren und spielte, als sie nach außen trat, zu den Füßen des Allerhöchsten wie eine Wasserquelle, welche, auch wenn sie getrübt werden sollte, aus ihrer eignen Natur die Kraft der Reinigung hat. Vor der Geburt aller Dinge war schon die Wiedergeburt, und die Natur der Natur war von Anfang an – Übernatur.«
»Was machen Sie aus der Wirklichkeit, mein lieber Casculade?« rief Marinier entsetzt.
»Nichts weiter«, erwiderte Casculade ruhig, »als daß ich es wage, sie auf die Einheit ihres Ursprungs zurückzuführen. Doch die Einheit dessen, was Sie mit Recht als ›Wirklichkeit‹ bezeichnen, kann, wie der Logos, durch den sie wurde, nur eine ganz personale sein und ist es auch in der Tat. Es ist –«, er hob gelassen die Hand und sprach mit der trockenen Festigkeit des denkenden Menschen das Ungeheure fast unbefangen aus: »Maria!« sagte er, wandte sich ab und stützte den Ellbogen auf. »Maria, die Quelle der Wiedergeburt«, wiederholte Herr Casculade. Sie ist die ›Unbefleckte Empfängnis‹, wie das Wasser der Taufe die Heilung schlechthin, und wie jede Heilquelle unter den Kräften des gewöhnlichsten Rohrwassers steht, wenn dieses Wasser – Taufwasser wird. Ist das klar und einfach genug?«
»Und wo ist Bernadettes Stelle in dieser Kosmologie?« erwiderte sein Gefährte, ohne – es war nicht ersichtlich, ob aus Zustimmung oder Mitleid – seine Frage verneint zu haben.
Herr Casculade kehrte aus schwindelnder Ferne zu seinem 133 Ausgang zurück. »Nun müßte ich eigentlich«, sagte er schalkhaft mit einer fast ländlichen Freundlichkeit auf den durchgebildeten Zügen, »in meinem pyrenäischen Platt von Bernadette weitererzählen. Denn sehen Sie, lieber Herr Marinier, dieses Mädchen, dessen Bild man hernach für zehn Centimes, man stelle sich vor, schon bei Lebzeiten an der Grotte verkaufte [›Das ist ungefähr das, was ich wert bin!‹ pflegte sie selbst zu sagen], die Tochter des François Soubirous, der sein Mehl nicht auszumahlen verstand, und seiner Ehefrau, welche wie er alle Leute auf Borg bediente, dieses treuherzig wilde und ab und zu auch der Putzsucht nicht abgeneigte Kind ist niemals für mich zu einer ›Idee‹, wie man annehmen möchte, geworden, sondern bis heute das gleiche geblieben, das es von Anfang an war. Ich sagte schon, daß ich Bernadette zum erstenmal gegenüberstand, als sie Abschied von ihrer Erscheinung nahm – damals, als man die Grotte mit hohen Brettern verschalt und den Zugang zu dem Gemeindegrundstück sorgfältig abgesperrt hatte. Es war Mitte Juni, ein heißer Tag, doch gegen Abend fiel von den Bergen schon die Ahnung einer Kühle herunter, welche die Nächte bei uns so frisch und den Himmel sternenklar macht.
›Sieh dich vor, mein Junge‹, sagte Duprat, ›daß sie dich nicht behext, diese Kleine mit den aufgerissenen Augen, und beobachte gut, was die Menge wieder für Hokuspokus treibt. Vor allem aber nimm dich in acht, einen Höhergestellten aufzuschreiben, wie etwa den verflixten Veuillot oder die Prinzenerzieherin, die mir neulich, wie ich glaube mit Absicht, ins Garn gelaufen sind. Am besten stehst du der Grotte ganz genau gegenüber, auf der Wiese de la Ribière, fügte er noch hinzu.‹«
Der alte Casculade schloß die Augen. »Ich sehe alles noch vor mir wie damals«, erzählte er langsam und klar. »Den Gave, der an dieser Stelle sehr breit ist, die bewaldeten Hügel und weiter dahinter den Gipfel des Ger; die Abhänge von Vinzens, die von Hirten, Bauern mit ihren Karren, von Fußgängern, Reitern und Wagen in buntem Durcheinander bedeckt und in steter Bewegung waren. Jede Einzelheit hat sich mir eingeprägt: das feine Profil eines jungen Béarners mit kornblumenblauer Mütze wie ein Münzenbild Heinrichs des Vierten, und Frauen in ihren scharlachroten und weißen Capulets, die Säuglinge auf dem 134 Arm. Durch diese Gasse von Menschen kam sie mit ihrer Kerze – ein kleines, liebebedürftiges Kind, das der Mutter entgegeneilt. Merkwürdig: damals und heute noch immer ist mir, als wäre sie barfuß gegangen – mit jener stillen, tierhaften Anmut, wie sie die Füße von jungen Hirten und Hüterinnen haben. Sie streifte mich fast, ich trat zurück und atmete gleichsam ihr ganzes Wesen für einen Augenblick ein.«
Herr Casculade faltete seine Hände und murmelte mit erstickter Stimme: »Es war meine Heimat in ihrer Verklärung, in ihren reinen, starken Gerüchen, ihrer wilden Jungfräulichkeit. Als dann Bernadette auf den Knien lag, das Gesicht in eigentümlicher Starre zu der fernen Grotte gekehrt, gehörte sie nicht mehr der Erde an, sondern war eine Bürgerin jenes Landes, das den Namen ›Dorine‹ für den Steinbrech nicht kennt, und die Heilkraft der Wasserminze und Tormentilla nicht braucht. Sie weilte dort – das war keine Frage und drückte gleichsam den Himmel als Zustand, als jenes schwebende Gleichgewicht aus, das uns das Ballspiel eines Jongleurs so unendlich anziehend macht, und von welchem wir annehmen möchten, es wäre kinderleicht. Kein Zweifel: sie war noch dieselbe; sie, Bernadette Soubirous, aus dem kleinen unbedeutenden Lourdes, und auch die Gewichte der Wirklichkeit hier und der Wirklichkeit an und für sich waren die gleichen geblieben. Entzücken, Staunen, Kummer und Freude, die ihr Gesichtchen veränderten, zogen noch immer darüber, wie Wolkenschatten über den First eines Gebirges wandeln und den Sonnenstand ahnen lassen, der ihr Kommen und Gehen erlaubt. Kein Grashalm und kein Insektenflügel, der diesem Dasein plötzlich entfallen, kein Härchen von Bernadettes Scheitel, das verlorengegangen wäre – und doch war alles von Grund auf verändert und hatte gewissermaßen die Kraft, die ihm vor unausdenklichen Zeiten zu eigen war, wiedergewonnen. Die Welt war heil . . .«
Herr Casculade atmete tief und hob sein Glas gegen Marinier, der ihm Bescheid tat und leise fragte: »Sie haben das alles schon damals gewußt?«
»Nein«, sagte der alte Notar mit Freimut und lächelte vor sich hin. »In diesem Alter empfindet man nur – allerdings viel genauer, als man später zu wissen vermag. Aber ich fühlte von da 135 ab sehr deutlich, daß das Wunder nur eine Vorwegnahme ist; ja, mehr noch: der natürliche Zustand, in welchen der gläubige Mensch jeden Augenblick treten kann. Um ein Bild zu gebrauchen: mir war zumute, als hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt das Dasein nur aus der Betrachtung einer Wasserfläche gekannt, in der sich Berge und Bäume umgekehrt spiegelten, und nun – fast betäubt – hob ich plötzlich den Blick und sah zum erstenmal ihre volle, lautere Wirklichkeit. Als dann später die zahlreichen Heilungen, die an der Quelle erfolgten, auf ihren Wundercharakter geprüft und wie mystische Spirituspräparate, denen der Mittelpunkt fehlt, dem ›Forum der Wissenschaft‹ vorgelegt und von ihm begutachtet wurden, ist mir immer klarer geworden, mein Freund, daß wir das Wunder nicht als eine Art monströser Warzengebilde, als Abweichung von der natürlichen Regel, oder mindestens doch als Ausfallserscheinung, wie wir gewohnt sind, betrachten dürften, sondern es hinnehmen sollten wie Licht an regnerischen Tagen . . . jenes diffuse, verhangene Licht, das uns die Ansicht der Welt sowohl wie das Dasein der Sonne verbürgt.«
Herr Marinier zwinkerte heftig und fragte mit schleppender Stimme: »Und was für Heilungen sind das gewesen, die vor dem ›Forum der Wissenschaft‹ als Wunder gegolten haben?«
»Keine«, erwiderte Casculade rasch, »denn die Wissenschaft kennt keine Wunder. Sie stellte nur fest, daß mit ihren Mitteln und bei dem gegenwärtigen Stand ihrer Erfahrungen diese Vorgänge – Lahme hängten die Krücken an den Wänden der Grotte auf, innere Wunden schlossen sich plötzlich, und Blinde erlangten das Augenlicht wieder – nicht natürlich erklärt werden konnten.«
»Noch nicht, Herr Casculade, heute noch nicht«, gab Marinier zurück. »Aber –«
»Ich weiß, was Sie einwenden müssen«, ergänzte der alte Notar. »Aber sagte ich nicht, daß es lächerlich wäre, das Wunder mit andren Organen als jenen, welche es selber bildet, irgendwie deuten zu wollen?«
»Ein Kreis, der in sich zurückläuft«, erwiderte Marinier.
»Sie haben recht«, gab ihm Casculade unerschüttert zurück. »Ein Kreis wie der Glaube.« Er trank seinen Wein aus und klopfte mit einem Fünf-Francs-Stück heftig gegen das Glas. Ein 136 schwächeres Klopfen, wie Echo, schien dem seinen Antwort zu geben; der Stock eines Blinden, welcher sich bettelnd an den Tischen vorüberschob, schlug mit der eisernen Zwinge am Gewirr der Stuhlbeine auf. Als er vorbeikam, warf der Notar das Geldstück in seinen Hut. »Sie müssen mir aushelfen, Marinier«, sagte er dann verlegen. »Ich habe nichts anderes da.«
»Eine Ehre für mich, Herr Casculade«, erwiderte Marinier. »Aber wir trinken noch eine Flasche, Sie sind von mir eingeladen.« Mit jener eigentümlichen Anmut und spirituellen Güte, die in seltsamem Gegensatz zu dem trägen, unüberwindlichen Fett stand, das seine Erscheinung entstellte, legte er seine zierliche Hand auf Casculades Knie und sagte freundlich: »Wir bleiben jetzt, bis es dunkel ist. Dann hat Ihre innere Hellsichtigkeit meiner Blindheit nichts mehr voraus, mein lieber Diogenes.«
Herr Casculade lächelte. »Gehe ich denn mit meiner Laterne spazieren?« fragte er heiter zurück. »Ich glaube doch, um bei dem Ausdruck ›innere Hellsicht‹ zu bleiben, daß ich bemüht bin, sie unter dem Mantel zu tragen.«
»Aber heute haben Sie mich geblendet«, sagte Herr Marinier. »Um so schlimmer, da so das Dunkel nur schwärzer geworden ist.«
Herr Casculade sah gedankenverloren hinter dem Bettler her. »Sie sind der zweite Mensch, Marinier, den mir das Leben gezeigt hat, welcher, obwohl man ihm anbot zu sehen, seiner Blindheit den Vorzug gab«, sagte er merkwürdig sanft.
»Dann sind Sie noch wenig Sündern begegnet«, erwiderte der Fette und blickte das schöne Gesicht des Greises, auf welchem die Unschuld des hohen Alters sich mit dem niemals gelöschten Feuer der frühesten Liebe paarte, mit spöttischer Zärtlichkeit an. Herr Casculade schüttelte seinen Kopf. »Ich meine es wörtlich«, sagte er ruhig. »Ich denke an das Wunder der Wunder in dem gesegneten Lourdes. Eine Geschichte, so mysteriös wie der Ursprung der Gnadenquelle.«
»Sie machen mich neugierig, lassen Sie hören«, sagte Marinier, winkte den Wirt heran, mit welchem er sich flüsternd besprach, und rückte dann seinen Stuhl näher an Casculade.
Schon begann der Himmel über Paris sich mit dem Widerschein 137 billiger Freuden hastig zu schminken, wie eine Hure, welche die karg bemessenen Stunden einer letzten Gelegenheit zu verlieren und mit dem Rest aus dem Schminktopf vorhergegangener Nächte nicht auszukommen befürchtet; die Dämmerung ging fast unvermittelt in den künstlichen Tag der gefälligen Göttin und die Stille der Arbeitsruhe in Lärm und schrillen Spektakel über, als habe ein unsichtbares Orchester das Zeichen zum Einsatz erhalten. Der Pont St. Louis belebte sich wieder, und in dem Schein der Gaskandelaber blitzte das Fensterglas einer Kutsche, welche langsam vorüberrollte, wie der Eingang zu einer Zauberhöhle versprechlich und ungewiß auf. Ein Herr im Zylinder klopfte mit seinem Stock an die Scheiben; der Wagen hielt an, und ein Pärchen stieg aus, um seinen Weg, dicht aneinander gedrängt, zu Fuß fortzusetzen. Der Mann hielt seine Begleiterin wie ein Räuber die Beute an sich gepreßt und redete auf sie ein; nicht ihr Mund, vielmehr ihre fest geschnürten, mit Pailletten benähten Hüften schienen ihm Antwort zu geben. Der Wirt brachte kugelförmige Lämpchen aus buntem Glas auf die Tische, entzündete sie und wischte mit seiner Serviette die Krümel von der Platte; dann setzte er den bestellten Wein in einem liegenden Körbchen, dessen Griff sich um den Flaschenhals schloß, mit der Sorgfalt des Kenners nieder und schenkte die ersten zwei Gläser langsam und vorsichtig ein.
»Ihr Wohl, Herr Casculade!« Beide tranken; der eine fast achtlos und dem geheimnisvollen Bericht schon innerlich hingegeben, der andere noch in den Sinnen hängend wie die Walnuß in ihrer Haut.
»Jener Vorfall, von dem ich erzählen möchte«, begann der alte Herr Casculade, »hat sich wenige Jahre später, als Bernadettes Sendung schon lange erfüllt und sie selbst nach ihren eigenen Worten wie der Besen, mit dem man die Stube gefegt hat, in ihre Ecke zurückgekehrt war, als eine der Heilungen zugetragen, die nirgends verzeichnet sind.
In dem kleinen Badeort Cauterets, zwei Wegstunden etwa von Lourdes entfernt, lebte ein junger Blinder, dem eine Krankheit in frühester Jugend das Augenlicht geraubt und ihn unfähig, nur den geringsten Schein irgendwie wahrzunehmen, zurückgelassen hatte. Ich kannte ihn gut, er flocht Körbchen aus Bast, die 138 er den Sommergästen verkaufte, und besserte Stühle aus. Aber er war nicht besonders tüchtig und besaß nicht jene Ersatzorgane, die man sonst häufig bei Blinden als ein zweites Augenlicht findet. Er ließ sich betrügen, nahm falsche Münzen und merkte nicht, wenn ihm ein Körbchen vom Stapel gestohlen wurde. Auch verstand er es nicht, das Mitleid der Leute zu erwecken und seine traurige Lage gehörig ins Licht zu setzen. Im Sommer fehlte es ihm an Kundschaft und im Winter an Weidenruten. Er war einfältig . . . wenigstens glaubten das alle, angefangen von seiner Mutter, die ihn schlecht und recht miternährte, bis zu dem Pfarrer des Städtchens, in dessen Küche er ab und zu einen Teller Suppe erhielt. Schließlich wurde er immer mehr zu einem jener Bettler, wie jeder Flecken sie kennt – ein Mensch, dessen Hosen die Hunde zerreißen, und dem die Kinder, ängstlich bemüht, ihr Ziel nicht zu verfehlen, einen Sou in den Hutkopf werfen. Die Leute bei uns sind gut, aber hart, wie ihr Leben das mit sich bringt; schlagfertig, witzig und einem Rausch am Samstag nicht abgeneigt. In dieser Laune kam es auch ab und zu vor, daß sie den Blinden in eine Café-Bar führten und ihn mit Schnaps und gezuckertem Wein trunken zu machen suchten – weniger wohl, um den Armen noch tiefer hinunterzustoßen, als aus dem Wunsch, ihm die Zunge zu lösen und bei dem Anblick seiner fast kindlichen Freude und tiefen Zufriedenheit ihre eigene Mühsal erträglich und ihr Los, an dem seinen gemessen, beneidenswert zu finden. Übrigens hatte der Blinde wie alle, die außerhalb der sozialen Ordnung und nur in ihrem Menschentum stehen, einen Spitznamen, den zu erläutern, mit jeder Antwort neu zu bewähren und unter Beweis zu stellen, seine Zechgenossen ihn drängten. Er hieß –«, Herr Casculade zögerte und fuhr mit bewegter Stimme fort: »Er hieß so, seit ihn die dicke Jeannette einmal gefragt haben sollte: ›Was hat dir der liebe Gott heute gegeben, Jean?‹ und er erwiderte: ›Zwanzig Centimes, eine Handvoll Zwiebeln und meinen Glauben.‹ Von da ab fügte er immer wieder: ›und meinen Glauben . . .‹ hinzu und hieß in dem Städtchen ›der blinde Glaube‹ – mit jener Eile und Ausschließlichkeit, die immer ein Kennzeichen dafür ist, daß der Nagel genau auf den Kopf getroffen wurde. Er selbst widersprach diesem Ausdruck niemals und gewöhnte 139 sich, wenn er irgendwo klopfte und die Bäuerin fragte: ›Wer da?‹ ›Der blinde Glaube!‹ zur Antwort zu geben – sei es aus Torheit oder Berechnung, wie manche meinen wollten, oder ganz einfach aus dem Gefühl, daß dieser Name – nomen est omen – und er zusammengehörten.
So konnte er wörtlich sagen, daß ihn sein Glaube ernährte, wie ja tatsächlich der Glaube den Glauben und die Sonne den Tag ernährt.
Das ging so, bis die Kunde von Lourdes, vielmehr von den Heilungen unten in Lourdes, auch Cauterets berührten; bis die Pilgerzüge des ganzen Landes den Strom der Wunder, in dessen Flußbett die Abertausende traten, zum Überschwellen brachten und das Wasser sich überall hin ergoß, als habe ein Engel den Teich Bethesda wieder in Wallung gebracht. In den kleineren Orten spaltete sich mit einer Heftigkeit ohnegleichen der Haufe in solche, die glaubten, und solche [wie zum Beispiel der Beigeordnete Herr Dubois mit seiner gestickten Schärpe], die sich verpflichtet hielten, den Anwalt der Göttin Vernunft zu machen. Für beide Teile wurde der Blinde zu etwas, das ihre Meinung ad oculos begründen, und zum Werkzeug, das in der gleichen Funktion, um das Gegenteil zu beweisen, verwendet werden konnte.
›Geh hin, Jean‹, sagten die einen, ›und gib der Muttergottes von Lourdes Gelegenheit, dem verfluchten Dubois und allen Atheisten ihr Dasein zu beweisen.‹
›Er soll gehen, der Tagedieb‹, sagten die andern, ›damit die Menge endlich begreift, daß alles nur Humbug ist.‹
Und nun ereignete sich, was wohl menschlich niemals erklärt werden kann. Der Blinde weigerte sich. Er fuhr fort, seine Körbchen aus Bast zu flechten und blieb vollkommen unberührt.
›Wenn du hingehst, bekommst du dein Augenlicht wieder‹, sagte die Pfarrersköchin. ›Schon vielen hat sie geholfen, die Muttergottes von Lourdes. Oder meinst du, du kriegst deine Zwiebelsuppe für nichts und wieder nichts?‹
›Die Muttergottes von Lourdes braucht mich nicht, Frau Katherine‹, soll der Blinde geantwortet haben; ›überdies gibt es noch andere Leute, die schlechter gestellt sind als ich.‹ 140
›Wenn du hingehst und kommst nach Hause zurück, ohne geheilt zu sein‹, sagte Herr Dubois freundlich, ›verschaffe ich dir ein Pöstchen als Hausknecht an der Mairie.‹
›Wenn ich nach Lourdes fahre, weiß ich schon heute, daß ich geheilt werde, Herr Dubois‹, sagte der blinde Glaube.
Diese beiden Antworten kamen dem Pfarrer, einem redlichen, aber groben Menschen zu Ohren, welcher besser die Sorten des Schnupftabaks als der Frömmigkeit unterscheiden konnte, und bewogen ihn, diese Sache mit Strenge zu untersuchen.
›Ich habe gehört, du Lümmel‹, sagte er zu dem Blinden, ,daß du die Muttergottes verhinderst, ihre Macht an dir zu beweisen.'
,Die beweist sie ja täglich', gab ihm der Blinde unerschrocken zur Antwort, ›und könnte sie ebenso gut, Herr Abbé, an Eustache mit dem Klumpfuß zeigen oder auch an der alten Denise mit ihrem Gallenleiden.‹
›Aha, ich merke schon, daß es dich kränkt, dein Faulenzerleben aufzugeben‹, rief der Pfarrer erleichtert aus. ›Da, nimm eine Prise. Du tust mir leid, stockfinster, wie du es hast.‹
›Ich habe es nicht stockfinster‹, erwiderte der Blinde. ›Ich habe meinen Glauben.‹
›Was sagt der Dummkopf? Er hat seinen Glauben? Mit dem Glauben fällst du die Treppe hinunter und brichst dir Arm und Bein. Schon gut, daß du glaubst. Der Glaube ist, wie man so sagt, ein Hauptstück im Katechismus.‹
›Er ist mein Tag und macht mir so hell, wie die besten Augen nicht machen können‹, soll Jean geantwortet haben. ›Etwas anderes brauche ich nicht.‹
›Hat man schon solch einen Narren gesehen?‹ sagte der Pfarrer erbittert. ›Genau so gut könntest du argumentieren, du habest die heilige Kommunion und brauchtest kein anderes Brot. Aber Schluß damit! Morgen fährst du nach Lourdes, mein Küster begleitet dich. Ich lasse mir's gern eine Kutsche kosten, um Gott die Ehre zu geben.‹
Dieses Gespräch, das Frau Katherine Wort für Wort abgelauscht hatte, lief dem Blinden bereits mit dem Wagen voraus, der täglich die Milchkannen und den Käse nach Lourdes hinunterbrachte. Der Kutscher trank seinen Wacholderschnaps in der Auberge neben Duprats Haus, und so erfuhr ich davon – 141 zeitig genug, um am folgenden Tage das Schauspiel nicht zu versäumen, dessen Ablauf nur wenige Zeugen gesehen, geschweige denn wirklich begriffen haben, und das weder in die Journale der Ärzte, noch in die erbaulichen Spalten der ›Lourdesrosen‹ Eingang fand . . .
Ein kleiner Kutschwagen, wacklig und alt, zockelte langsam das Ufer des Gave bis zum Felsen von Massabielle entlang und blieb dort wie ein Kinderspielzeug, dessen Feder plötzlich abgeschnurrt ist, am Rand der Landstraße stehen; zwei Männer entstiegen ihm, Jean und der Küster, welcher den Blinden führte, und mischten sich unter den Strom der Pilger, der hinter wehenden Fahnen wie ein Tausendfüßler vorankroch und auf dem Platz vor der Grotte dicht gedrängt Aufstellung nahm. Schwerkranke, die man herangerollt hatte, Sterbende fast, die sich nicht mehr erheben und nur noch mit ihren Augen den Himmel suchen konnten; Gichtbrüchige, Blinde, Lahme und Krüppel, die gleicherweise in ihren Krücken wie in den stählernen Fäden der Hoffnung und festen Zuversicht hingen; kurzum, es fehlte wohl kein Gebrechen, das nicht seine Heilung erwartet hätte; kein Seufzer entrang sich menschlichen Lippen, der sich nicht wie ein Regentropfen mit anderen Tropfen vereinigte, um ein Rinnsal zu bilden, einen Bach, einen Fluß, einen Strom, der mit anderen Strömen aus den Klagetälern der Erde in das Meer der Barmherzigkeit einmünden wollte, auf welchem, wie eine erleuchtete Arche, die lichterstrahlende Grotte schwebte – unendlich fern und dem menschlichen Herzen auch wieder unendlich vertraut und nahe wie die Statue der Jungfrau von Lourdes.«
Herr Casculade, wie noch immer betäubt von der blendenden Dunkelheit dieser Grotte, von jenem sanften, starken Geräusch, das ihrem Innern wie Brausen der Muschel unvermindert und ohne Ende entquoll, deckte die Hand über beide Augen; Marinier sagte trocken und spöttisch: »Es hat auch im Altertum Tempel des Äskulap gegeben. Nur hatten sie bessere Statuen als diese, mein lieber Casculade.«
Eine Weile blieb es still zwischen beiden, dann griff der alte Notar nach dem Glas und leerte es bis auf den Grund. »Heiligtümer des Äskulap . . .«, sagte er dunkel und grollend. 142 »Wahrhaftig, hier ist kein Äskulaptempel, und diese Grotte aus grauem Gestein mit dem dürren, trockenen Boden, in welchem nichts wurzelte außer dem Steinbrech und den struppigen Dornenranken einer armselig wilden Rose, hat keine Ähnlichkeit mit der holden Sirenengrotte von Capri, mit den unterirdischen Grotten der Isis oder der magischen Muttergrotte, die Leonardo malte; ihr Wasser keine mit jenen Fluten, die Venus geboren haben, und ihre blauweiße Devotionalie hat nichts mit den Bildsäulen jener Göttin der gefallenen Schöpfung gemein, die in dem Schoß der Natur noch immer um Hilfe und Heilung fleht. Denn sehen Sie, lieber Freund, was hier seufzt und hier seine Schwären und seine Wunden, den scheußlichen Aussatz des Lasters und den Grind seiner Kopfhaut entblößt – es ist nicht die Krankheit . . . sie könnte viel eher an den Quellen von Vichy, Bagnères oder anderen Orten auf Heilung hoffen – es ist vielmehr die Mutter der Krankheit: es ist die Sünde, Herr Marinier«, sagte Casculade stark und ruhig. »Man geht nicht nach Lourdes, wie man irgendwo hingeht, um eine Kur zu gebrauchen, und was diese Pilger im tiefsten hoffen, ist die Vergebung der Schuld.« Er saß in völliger Abwesenheit und bemerkte nicht, wie ihm Herr Marinier das Glas von neuem füllte; die Hand des Zuhörers zitterte und goß den Rotwein über den Rand, von wo er den Stengel des Glases hinablief und das Tischtuch mit Dunkelheit fleckte. »So kommt es, obwohl von Tausenden Einer geheilt wird, Herr Marinier, daß doch keiner den Gnadenort jemals verläßt, ohne getröstet zu sein«, fügte er noch hinzu.
»Auch diesmal, als der Blinde nach Lourdes fuhr, fiel nichts Besonderes vor. Zwar streckten sich die verkrümmten Finger einer alten Pfründnerin wieder aus, als sie die ganz entartete Hand in das wunderkräftige Wasser tauchte, und ein Mann, der an Magengeschwüren litt, ging frisch und kräftig von dannen – doch weil sich beide Leute den Ärzten nicht vorher dargestellt hatten, wurde auch ihre Heilung nicht als ein Wunder betrachtet; ganz abgesehen davon, daß solche Fälle wie diese unter der Masse verschwanden. Als Letzter näherte sich, geführt von einer barmherzigen Schwester, der ›blinde Glaube‹; sein Kamerad reichte ihm eine schmale, mit Wasser getränkte Leinenbinde, die 143 der Bettler über die Augen deckte und etwa ein Ave Maria lang unbewegt liegen ließ.«
Herrn Mariniers bemächtigte sich eine nie gefühlte Erregung. »Und?« fragte er heiser und krampfte die Hände um den Henkel des Flaschenkörbchens.
»Geben Sie acht. Ich stand nur fünf Schritte von dieser Szene entfernt. Nichts ist mir entgangen. Ich sah, wie die Lippen des Bettlers sich bewegten; wie seine Hände, fast ungeschickt, als hätten sie an der Blindheit der Augen mit Wunsch und Willen Anteil, der Leinenbinde sich näherten und sie zögernd herunternahmen; dann kehrte jener seltsame Mensch, welcher wie keiner vor ihm, noch nachher, auf seine Heilung geantwortet hat, mit riesig aufgeschlagenen Augen den Blick nach mir und dem Küster hin und sagte, während das volle Licht einer vorgehaltenen Kerze sich in den Pupillen spiegelte, ohne sie zu verkleinern: ›Ich sehe, Muttergottes, ich sehe. Du hast einen Rosenkranz in den Händen, und ein Röschen auf jedem Schuh.‹
Was nun folgte, war einem Wirbelsturm ähnlich, der über die Landstraße fegt, und wahllos alles ergreift und ansaugt, um es empor zu schleudern. Die Menschen, die in der Nähe standen oder durch das Gebaren des Bettlers auf ihn hingelenkt worden waren, stürzten fast wie von Sinnen, schluchzend und schreiend, hinzu. Sie hielten ihm Münzen und Heiligenbildchen, Stöcke und Schirme vor das Gesicht, Geldbörsen, Schlüssel, Briefe, Medaillen und ließen ihn einzeln nennen, was dies und jenes war. ›Gute Leute, ihr seht ja, daß er geheilt ist‹, sagte der Küster endlich. ›Laßt uns zu unserem Wagen gehen, wir sind seit heute früh unterwegs und haben noch nichts gegessen. Der Pfarrer von Cauterets, müßt ihr wissen, bei dem ich die Glocken läute, erwartet uns bald zurück.‹
›Seht ihn an, diesen Kerl mit der blauen Nase‹, rief eine dicke Person empört. ›Läßt dem Armen die Zeit zur Danksagung nicht und zieht schon in seinem Sinn, wie ich wette, den Schnaps unterm Stroh hervor.‹
›So sind sie, die Wiedehopfe der Pfaffen‹, sagte der junge Roger gehässig, ein verluderter Medizinstudent, der sich etwas darauf zugute tat, ein Feind des Klerus zu sein. ›Stellen sich 144 vor die Sonne und werfen einen Schatten mit ihrem Bauch. Nur keine Aufklärung, nur kein Licht!‹
Er hätte wohl noch weiter gesprochen, wäre ich nicht hinzugetreten und hätte mich, mir selber zum Rätsel, in den Gang der Dinge gemischt. ›Platz da, man kennt mich und meinen Onkel, den Friedensrichter Duprat‹, sagte ich nicht ohne Spott. ›Überlaßt uns die beiden, damit wir das Ganze zu Protokoll nehmen können.‹
›Ganz richtig, man nehme ein Protokoll auf‹, stimmte der junge Roger wie ein Esel mit heftigem Kopfnicken bei. ›Führen Sie diese Leute, mein Herr, auf die Schreibstube Ihres Onkels und stellen Sie alles vollkommen klar, bevor die Pfaffen wieder einmal ihr Schäfchen in's Trockene bringen.‹
Der Küster wurde rot im Gesicht und schwoll an wie ein Hahnenkamm. ›Seit wann nimmt man Pilger zu Protokoll, als wären sie Flurdiebe, hä?‹ fragte er würdevoll. ›Komm, Jean, wir gehen zu unserem Wagen und wollen doch einmal sehen, wer uns hindern will, sacre bleu!‹
›Sie haben vollkommen recht, mein Herr‹, sagte ich leise zu ihm. ›Wer spricht von der Schreibstube meines Onkels? Lassen Sie uns einen Apéritif in dem nächsten Café zu uns nehmen. Denn sieht es nicht aus, als hätten Sie Grund, das Tageslicht zu scheuen, wenn Sie die Feststellung dieses Wunders der Öffentlichkeit entziehen?‹
Der biedere Mann sah mich unsicher an. ›Ich habe das Tageslicht nicht zu scheuen‹, sagte er dann überwunden. ›Gut, setzen wir uns noch ein Viertelstündchen. Aber auf keinen Fall länger. Ich habe dem Pfarrer versprochen, noch heute zurück zu sein.‹ Er strich sich den Schnurrbart, die Leute nickten und fingen schon an, den Ort zu verlassen, um ihre Neuigkeit ungeprüft so schnell wie möglich weiterzutragen, wobei sie nach Art der Menschen bereits den Anlaß des Wunders vergessen hatten, das ihnen gezeigt worden war. ›Kamerad, wir gehen mit diesem Herrn da. Du hast ja wohl auch nichts, nehme ich an, gegen einen Pernod?‹ fragte der Küster seinen Gefährten und drehte sich nach ihm um.
›Meinen Stock!‹ sagte laut und deutlich der Bettler und streckte die Arme aus. 145
›Du brauchst doch jetzt keinen Stock mehr, Jean‹, rief der Küster ihm ärgerlich zu.
Der andere rührte sich nicht von der Stelle und wiederholte: ›Den Stock! Meinen Stock! Er muß noch am Boden liegen.‹
Mit einer Schnelligkeit, wie sie die Einsicht des Intellekts nicht vermitteln kann, hatte ich alles begriffen. Ich riß mit zitternden Händen ein Schwefelhölzchen an und hielt es dem Bettler dicht vor die Augen; er zuckte nicht, rührte sich nicht, sondern sagte: ›Muttergottes, du hast mein Gebet erhört. Jetzt bin ich wieder blind.‹«
Herr Casculade legte den Kopf zurück und durchmaß die gewaltige Purpurhöhle des nächtlichen Himmels über Paris, bevor er fortfuhr: »Es war so. Ich will Sie nicht langweilen, Marinier, mit dem äußeren Fortgang dieser Geschichte, den sich jeder ergänzen kann. Dies aber ist es, was mir der Blinde, als ich neben ihm auf dem Kutschwagen saß und wir beide den Küster erwarteten, der seine Enttäuschung im Gasthaus ersäufte, mit einfachen Worten anvertraute: Er wollte nicht sehen und hatte gewünscht, das bleiben zu dürfen, wozu ihn sein Name gesiegelt zu haben schien: ›der blinde Glaube‹ – doch um zu gehorchen, folgte er seinem Pfarrer und wußte schon vorher, daß ihm das Licht der Dunkelheit abgenommen und das gewöhnliche Tageslicht [er sagte: ›das Hinkende gegen den Hirschen‹, weil ihm Vergleiche aus unserer Welt nicht naheliegen mochten] dafür gegeben würde. Er war ein Mystiker. Seine Blindheit war für ihn, was für den Wüstenvater und frühesten Eremiten die unermeßliche Einsamkeit und die Nacht der Zelle gewesen sein mußte, in die er sich einmauern ließ. Es war eine furchtbare Prüfung für ihn, ja, etwas wie ein geistiger Tod, als er die Dunkelheit seiner Zelle, die einem unmittelbaren Schauen der Gottheit nahe kam, gegen etwas, was keinen Wirklichkeitswert für ihn hatte, um der Schwäche der Menschen willen, ihrer Hartherzigkeit, ihres Kleinmuts, ihres Unglaubens wegen eintauschen mußte. Seine Organe, nicht mehr geschaffen für die fette, fleischliche Nahrung der Erde, fühlten sich schon von dem Maß vergiftet, das uns zur Notdurft des Lebens dient, und wiesen es schaudernd ab. Aber er unterwarf sich, und Jene, welche an gleicher Stelle wievielen den Schleier gelüftet hatte, machte ihn wieder blind.« 146
»Und Sie glauben nicht«, fragte Herr Marinier, »daß die kurze Spanne, in welcher er sah oder zu sehen glaubte, durch die ungeheure Erregung bedingt war, in der er sich befand?«
»Schon möglich«, gab ihm Herr Casculade achselzuckend zurück. »Aber dies war nicht das Wunder, diese flüchtige, zuckende Spanne des Lebens unter dem Tageslicht. Das Wunder war seine Bitte um Blindheit, um jene Blindheit des Glaubens, mein Freund, aus welchem jedes andere Wunder immer nur abkünftig ist. Der Glaube war das Wunder schlechthin wie die Taufe die Quelle der Wasserquellen und das Becken, das jenes Wasser umschloß, die erste Grotte ist, welcher der heile, der geistesmächtige Mensch entspringt, in welchem die Schöpfung wunderbar wird – und das Wunder zur zweiten Natur.«
Er kehrte seine Hände nach außen und legte sie flach auf den Tisch; in dem Schein des Lämpchens traten die Linien geheimnisvoll deutlich zutage und waren wie ein Geschenk. »Das Wunder als zweite Natur – das ist es, was Bernadette mich zu sehen gelehrt hat«, fügte er noch hinzu. »Sie sei gesegnet . . .« Er hob sein Glas, Herr Marinier tat desgleichen und goß mit impulsiver Bewegung die Opferspende aus. Der andere lächelte vor sich hin, ohne die Geste bemerkt zu haben, mit welcher ein spöttischer Fragegeist seine Erzählung ehrte; es war, als stünde in diesem Lächeln das Totenreich freundlich und heiter offen und duldete den Hinübergang von einem zum andern Bezirk.
»Soviel ich weiß, ist sie jung gestorben?« fragte Herr Marinier sanft.
»An Tagen, doch auch an Erscheinung jung«, sagte der alte Notar. »Sie ist seit ihrem vierzehnten Jahr eigentlich nicht mehr gewachsen und blieb auch im Klosterhabit ein Kind: zart, kleinen Scherzen und Spielen geneigt, immer fröhlich, aber leicht zu erschrecken durch jede Art von Verehrung, die man an sie herantrug. Es ist mir daher wie ein Sinnbild erschienen, daß das dunkle Moos und der starre Lorbeer ihres Totenkranzes von Gänseblümchen und Stiefmütterchen«, seine Stimme bebte, »von den Blüten also der harmlosen Hirtin durchflochten gewesen ist. Sie blieb, was sie war . . . und wird auch dort drüben meinem Herzen nichts anderes sein.« Der alte Mann mit den schönen Zügen der Pyrenäensöhne hatte sich wieder gefaßt. »Daß ich mich 147 heute so deutlich wie selten an sie erinnert habe, daran ist nicht nur die Kleine schuld«, – er deutete mit dem Kopf nach der Hauswand, wo das Straßenmädchen gestanden hatte – »sondern ein Traumbild der letzten Nacht, welches mich mit dem ›blinden Glauben‹ wieder zusammenführte. Es war sehr deutlich, und seit dem Erwachen will mich das vage Gefühl nicht verlassen, mit ihm verbunden zu sein. Sie müssen wissen, Herr Marinier, daß der Bettler nach jenem Vorfall in Lourdes nicht mehr lange in Cauterets lebte, sondern auf Wanderschaft ging. Er tauchte bald hier, bald dort auf, um schließlich ganz zu verschwinden – er hat sich wohl später nach Norden gewandt, seine Spur verlor sich dann rasch. Ich kann nicht sagen, daß er mir ganz aus dem Gedächtnis entfallen ist; immer wieder in Abständen tauchte er auf, und jedesmal war sein Bild nur frischer; gereinigt von jeder Zufälligkeit und gleichzeitig wie ein Teil von mir selbst, den ich langsam begreifen lernte – – Dieser unsichtbare Freund und Begleiter, der mein Dasein an jedem Wendepunkt tiefer in seine Bestimmung führte . . . .
In diesem Traum nun: ich war auf der Place des Vosges und saß dort auf einer der Bänke, während rings umher kleine Kinder spielten, sich an den Händen faßten und sangen, und die Sonne durch helles Blätterlaub fiel, das noch vollkommen frühlingsfrisch war. Die alten hugenottischen Häuser mit ihren Backsteinfassaden sahen fast kleinstädtisch aus, wie sie da abgezirkelt und reinlich mit den schmiedeeisernen Puppenbalkonen diesen seltsamen Platz begrenzten, der ja immer etwas Verschollenes hat; etwas von einer verwunschenen Bühne, deren Kulissen man wegzutragen und abzubauen vergessen hatte, vielleicht auch gar nicht wegräumen wollte, weil das Spiel der Geister das Spiel der Geschichte nach dem letzten Akt weiterträumte. Plötzlich bemerkte ich einen Menschen im Schatten der Arkaden; gleichzeitig fühlte ich, daß die Sonne stärker als vorher brannte; ich sah, daß der Platz- nun verlassen dalag, in einer flimmernden trostlosen Hitze, die jeden Stein durchtränkte. Er zog sich gleichsam in sich zusammen, wurde klein und bucklig, mit Gras überwachsen, trockenen Halmen und Dünenhafer, die dürr durch die Ritzen sprossen. Nichts war zu hören außer den Schritten des einsamen Menschen in den Arkaden, deren 148 Gewölbe das Echo der Sohlen und das Pinkpink der eisernen Zwinge seines Stockes deutlich zurückwarf. An diesem Geräusch erkannte ich ihn und eilte auf ihn zu. ›He, Jean, mein Lieber – so warte doch!‹ rief ich zu ihm herüber. Er ging weiter, ohne auf mich zu hören, sondern beschleunigte seine Schritte, die ihn, wie es in Träumen so geht, immer rascher von mir entfernten. Unbedacht lief ich hinter ihm her, der den Platz nun verlassen hatte und, an dem Carnevalet vorüber, in das jüdische Viertel einbog, in die rue de Birague, dann kreuz und quer, zuletzt in die rue de Venise, wie mir schien, wo ihm schattenhafte Gestalten im Kaftan entgegenkamen: sehr alte Männer, welche ihr Käppchen vor ihm herunterzogen und sich zur Erde neigten. Gleichzeitig war die ganze Gasse von einem klagenden Singsang erfüllt; von einer Trauer, die sowohl Wasser wie Töne und tiefe Dunkelheit war. Mit einemmal war der Blinde verschwunden, ein Trödlerladen, dann war es ein Zelt, mit dem Geruch von gestampftem Lehm, Fellen und fremden Gewürzen erfüllt, hatte ihn aufgenommen. Ein Schrecken durchfuhr mich. Mein Gott – er will seinen Stock verkaufen, dachte ich unwillkürlich. Schon war ich in den Laden getreten; der Händler, ein großer, schlohweißer Mann, auf dessen Stirn wie in leuchtender Schrift die Worte: ›‹ hier bin ich‹ standen, nahm gerade den Stock entgegen. ›Halt!‹ rief ich. ›Jean, was willst du denn tun, ohne den Stock zu haben?‹ Bei diesen Worten kehrte sich endlich der Bettler nach mir um. Er lächelte, seine Augen hatten sich weit geöffnet und sahen mich aus unendlicher Ferne freundlich und liebevoll an. Er war sehend geworden wie einst in Lourdes. Der blinde Glaube – er war in Schauen übergegangen, und mir wurde, indem ich weinend erwachte, ganz klar, daß der Bettler gestorben sein mußte, und jenes finstere Ghetto, an welches sein Stab nun zurückfiel, der Alte Bund war, die Herkunft des Glaubens unter den Kindern Gottes, der bräutliche Schoß in dem Fleisch der Menschheit, den Gott sich auserwählt hatte: rein, unbefleckt, ohne Makel und Fehl – ach, Marinier, jener zweite Versuch einer unersättlichen, göttlichen Liebe, nachdem die unbefleckte Empfängnis der Schöpfung getrübt worden war.«
»Sie sind ein Gnostiker, Casculade«, murmelte Marinier. 149
»Ein Gnostiker oder ein Atheist – beides hätte ich werden können ohne Liebe aus Fleisch und Blut. Doch Bernadette war ganz wirklich, mein Freund, und wurde für mich, was für jeden Mann das Erlebnis der Frau bedeutet: Wirklichkeit – solche, wie Sie und ich, wie die Erde, die Schlehe, der Fels und die Rose, das ganze Dasein in seiner Süße, seiner Härte und Bitterkeit.« Im Sprechen hatte er sich erhoben und umfaßte mit einem einzigen Blick die Uferbäume, magisch durchhellt, das wandernde Wesen des blauschwarzen Flusses, unaufhörlich beunruhigt von fließenden Bahnen, zuckenden Kreisen und Pinselstrichen eines dienstbar gewordenen Lichtes, und die Rotunde des Sternengewölbes, in der sich das brodelnde Dröhnen der Tiefe als Echo gesammelt hatte und von wo es wie farbiger Regen herunterrieselte.
»Mein Gott – wann wirst du dein Ziel erreichen?« fragte er mit erschütternder Stimme. »Und erreichst du es auch in uns?«
Marinier sah entsetzt zu ihm auf, der andere legte ihm sanft seine große, geäderte Hand auf die Schulter und sagte: »Lassen Sie mich jetzt gehen und haben Sie keine Angst. Gott wird das Spiel der Geschichte beenden, wann und wie er will.«
Er ging davon, an den kleinen Tischen drehte sich hier und dort ein Gesicht nach dem einsamen Menschen um und zögerte, in den begrenzten Lichtkreis des Lämpchens zurückzukehren. Herr Marinier blickte ihm sehnsüchtig nach und sank in sich zusammen. Die Nacht schritt voran, und die Gäste zahlten; andere wieder: Zuhälter, Huren und die Schlepper dunkler Lokale nahmen die Plätze der ehrbaren Leute für kurze Weile ein. Er bemerkte es nicht, und auch als sich später das Straßenmädchen aus der Provinz ihm gegenübersetzte, erkannte er es nicht.
Die Kleine brach ein Brötchen entzwei und stopfte es in den Mund.
»Ist's erlaubt, mein Herr?« fragte sie trotzig und goß den Rest aus der Flasche hastig in Casculades Glas.
Herr Marinier blickte sie endlich an. »Du hast wohl wieder nichts eingenommen?« fragte er ohne Spott.
»Zu Hause, beim Brombeerpflücken, habe ich mehr verdient«, sagte sie ungebärdig. 150
»Zu Hause?«
»Nun ja – wo der andere her ist, der mich Therese genannt hat«, gab sie nun sanfter zurück. Dann saßen beide stillschweigend da, die Kleine hatte beim Trinken die Arme bäuerlich aufgestützt; Herr Marinier, müde geworden, blinzelte in das Licht. Plötzlich wurde er von dem Schluchzen des Straßenmädchens geweckt. Sie hatte den Wuschelkopf auf die Platte des wackligen Tischchens geworfen und weinte vor sich hin.
»Nun, nun«, sagte Marinier ärgerlich. »Was soll das bedeuten, Therese?«
»Gar nichts, mein Herr, ich schwöre Ihnen«, sagte die Kleine ängstlich. »Es ist nur – – er sieht meinem Großvater ähnlich, der sich zu Tode fiel, als er ein Schaf, das sich auf einem Grashang verstieg, im Dunkeln herabholen wollte . . .«