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»Wenn ich es Ihnen gestehen soll«, sagte ungefähr zwölf Jahre später der Kanonikus Jacques Le Roy zu einem alten Konfrater an der Notre Dame in Paris, »so hat mich die ungewöhnliche Bildung dieses Herrn Belfontaine am meisten angezogen. Sie wissen doch, ich war damals Pfarrer in diesem gottverlassenen Städtchen und hatte keinen Verkehr, keine Anregung, keinen Menschen, der meine Bibliothek mit den kostbaren Erstausgaben der Enzyklopädisten und der Sammlung tropischer Schmetterlinge zu schätzen vermocht haben würde. Überdies« – er betrachtete wohlgefällig seine gepflegten Finger mit den mandelförmig geschnittenen Nägeln – »trug er mir seine Freundschaft so unwiderstehlich an, daß ich nicht ›nein‹ sagen konnte, ohne unhöflich oder grausam zu sein; ganz abgesehen davon, daß er mir wirklich gefiel. Wahrscheinlich bin ich kein Menschenkenner«, fuhr er mit kindlicher Koketterie und gespielter Bescheidenheit fort. »Auf jeden Fall hätte ich niemals ein solches Doppelleben bei diesem Manne vermutet. Mysteriös.« Er blickte den anderen an, dessen uralte adlige Elfenbeinschläfen, als ob ein Schnittmesser sie geglättet und hauchdünn ausgeschabt hätte, in seltsamem Gegensatz zu den großen häßlichen Ohren standen, aus denen ein ölgetränktes Stück Watte wie zum Zeichen, daß er nicht hinhörte, ragte, und kehrte wieder zu der Betrachtung seiner Fingernägel zurück.
Der Alte drehte den Kopf nach ihm hin, wölbte die Hand um das rechte Ohr und fragte mit bellender Stimme: »Mysteriös? Was ist nicht mysteriös? Gehen Sie mir!« Er sah ihn verächtlich und mit schlecht verhohlener Langeweile aus den tiefen, funkelnden Augen an und schlug ein paarmal in plötzlichem Zorn auf die Platte des rötlichen Marmorkamins, an welchen er sich lehnte. »Oder kennen Sie irgend ein Leben, das ohne Mysterium wäre?«
Monsieur Le Roy wich erschrocken zurück. »Natürlich nicht«, sagte er eifrig. »Die Gnade –«
»Hören Sie auf!« schrie der Greis erbittert und stampfte mit dem Fuß. »Lauter Formeln, lauter Gemeinplätze, he! Oder wollen Sie leugnen . . . ach, aber wozu?« Er winkte abwehrend 193 mit der Hand und ließ sich in einen Kaminsessel fallen, stützte den Kopf auf die welke Faust und schloß erschöpft die Augen.
»Aber, ich bitte Sie, Monsignore!« flehte Le Roy ihn an. »Ich will doch nichts leugnen! Im Gegenteil. Deswegen bin ich ja hergekommen. Erklären Sie mir als der Seelenführer, den ich in Ihnen verehre . . .«
Ein Ausdruck von ehrlicher Hilflosigkeit in der Stimme des jüngeren Mannes hieß den Alten die Augen öffnen. »Was wollen Sie wissen?« fragte er kurz.
»Ob ich Schuld, vielmehr ob ich Mitschuld an diesen Ereignissen trage«, sagte Le Roy gequält.
»Welche Frage! Natürlich tragen Sie Schuld«, erwiderte der Greis. »Jeder trägt um den Nächsten Schuld. Sie um Belfontaine, andere wieder um Sie – ich denke zum Beispiel an Ihre Lehrer, die Ihnen das ›theologische Rüstzeug‹, wie man so unübertrefflich sagt, dieses rostige Eisen angeschient haben . . . und daran wieder haben die Schulen und an den Schulen die großen, gebenedeiten Heiligen Schuld: ein Dominikus, ein Ignatius – –« Er nahm das seidene Käppchen ab und klemmte die Lippe ein. »Dieser riesige Kreislauf von Torheit und Schuld, der uns miteinander verkettet . . .«
Der andere sah ihn befremdet an und wollte etwas erwidern, dann faltete er die Hände und hob sie vor die Brust. »Gewiß – doch abgesehen davon: Ich denke an meine persönliche Schuld, besser gesagt: Unterlassungssünde, Fahrlässigkeit oder Naivität, wie Sie es nennen wollen. Herr Belfontaine war doch mein Beichtkind«, fügte er tonlos hinzu. »Nein, wirklich, ich habe nicht das geringste von einem ›Pfarrer von Ars‹.«
Der Alte stieß ein gereiztes Lachen aus der eingesunkenen Brust. »Einem ›Pfarrer von Ars‹ wäre Belfontaine wohl schwerlich nachgelaufen.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Le Roy beunruhigt und ging hastig mit kurzen, weibischen Schritten im Zimmer auf und nieder. »Was für ein herrliches Stück!« rief er plötzlich und hob ungeniert einen Teller von dem Paneelbrett herunter, blies darüber, drehte ihn um und kratzte eifrig, wo er die Marke unter der Schmutzschicht vermutete. 194
Der Alte maß ihn mit wütenden Blicken. »Ich denke, wir sprechen von Ihrem Beichtkind«, sagte er außer sich.
Wie ein zur Ordnung gerufener Schüler stellte Le Roy den Teller mit leichtem Schmollen zurück und zuckte mit den Schultern. »Etwas Schönem kann ich nur schlecht widerstehen«, seufzte er melancholisch. »Und überhaupt bin ich leider kein Mensch, der von Grund auf ›Nein‹ sagen kann. Ich will auch nicht«, fügte er trotzig hinzu. »Ich verabscheue jede Art von Härte, von Strenge, von Unbiegsamkeit. Nein, nein, ich bin aus anderem Holz. Gewiß nicht aus jenem, das dazu dient, einen Asketen zu schnitzen. Ich bin verträglich, das ist es. Und deswegen habe ich eingewilligt, als mir Belfontaine seine Freundschaft antrug, obwohl ich fühlte, daß ich für ihn« – er stockte und suchte verlegen nach Worten – »gewissermaßen nur ein Ersatz für den . . . Pfarrer von Ars war; vielmehr für einen, für irgendeinen ›Pfarrer von Ars‹, dem er früher begegnet sein muß. Es gab da eine Enttäuschung in seinem übersichtlichen Leben, von der er mir andeutungsweise erzählt hat. Ich wurde nicht klug daraus.«
»Und statt des ›Pfarrers von Ars‹, mein Lieber«, sagte der Alte erbittert, »haben Sie ihm Ihre Sammlung tropischer Schmetterlinge und den Diderot angeboten.«
»Nein, nein, so war es auch wieder nicht«, erwiderte Le Roy, ohne beleidigt zu sein. »Er suchte wirklich nichts weiter in mir als einen Gesellschafter; einen Menschen, mit welchem man plaudern und vierhändig auf dem Klavier spielen kann . . . einen – Freund, wie es Dutzende gibt.«
»Und worüber haben Sie meistens geplaudert?« fragte der Greis gespannt.
»Nun, über Kunst und Literatur«, gab Le Roy ihm harmlos zurück. »Herr Belfontaine«, fuhr er schwärmerisch fort, »hatte ein bewundernswert feines und sicheres Stilempfinden, ein ästhetisches Urteil, dessen Instinkt einfach untrüglich war. Ich besaß da zum Beispiel in meiner Sammlung religiöser Porträts einen Venezianer, für dessen Echtheit ich meinen Kopf schlankweg verwettet hätte. Und was glauben Sie? Belfontaine sieht ihn sich an, stutzt, bittet um eine Lupe und prüft die Signatur des Gemäldes, nimmt ein Federmesser und schabt die Farbschicht 195 in der linken Ecke herunter – – aber, mein Gott, wenn Sie schlafen wollen, kann ich ja gehen . . .«
Le Roy blickte unschlüssig nach der Tür, hierauf nach dem Greis, der mit tiefen, röchelnden Atemzügen in dem Sessel eingenickt war. »Wie er aussieht! Schrecklich, so lange zu leben«, dachte der Kanonikus schaudernd und betrachtete mit einem Gefühl, das aus Ehrfurcht und Trauer gemischt war, die hektisch eingesunkenen Schläfen, den zahnlosen Kiefer, das scharfe Kinn und die lange, schnabelförmige Nase, die über den Lippenrand hing. »Kein bißchen Fleisch mehr. Nichts zum Verwesen. Das ist wenigstens auch ein Trost.« Er wandte sich seufzend dem Fenster zu, dessen Blick auf die Seine ging. Es dunkelte schon, und die Kathedrale, deren Glocken mit furchtbarer Sanftmut den Abend erzittern machten, spiegelte sich in dem Strom. »Schönheit!« dachte Le Roy, wie so oft, wenn die Türme ihr Filigranwerk zu einem Gebirge der Inbrunst und Andacht zusammenschoben. »Schönheit – sie ist es, die mich zum Diener der Kirche, zu einem ihrer Mysten gemacht hat. Nicht ihre moralische Schönheit; nicht jene, die erst auf den Totenmasken der Heiligen sichtbar wird – nein. Vielmehr, die Schönheit als Harmonie aller Maße, der Friede der Töne, die strömende Einheit der Farben, die klassische Vollkommenheit. Ah, welche Ruhe; mit welch vollendeter Anmut die Bäume sich über die Ufermauer in das gekräuselte Wasser neigen, als ob ihre Zweige noch einmal die Stützbogen dort an der Außenwand sich nachzuahmen bemühten. Nein, nicht bemühten: hier gibt es keine Bemühung, so wenig sich eine Pflanze bemüht, ihre Früchte reifen zu lassen. Gewiß, das Himmelreich leidet Gewalt – aber das liegt, wie jedermann weiß, auf einer ganz anderen Ebene und hat mit meiner Bewunderung für den Gleichklang von Kunst und Natur nicht das geringste zu tun. Dieser alte Aufrührer allerdings« – er drehte sich vorsichtig um und betrachtete wieder den schlafenden Greis – »mit seiner Bettelsacktheologie, die selbst vor den Kirchenlehrern nicht Halt macht, würde das nicht verstehen. Aber freilich: auch ich habe Belfontaine nicht, und er hat mich nicht begriffen, obwohl wir einander doch, wie man so sagt, vortrefflich verstanden haben; mich wieder versteht dieser Alte nicht, der möglicherweise Herrn Belfontaine 196 besser verstanden hätte als der geheimnisvolle Mathieu, von welchem er mir einmal erzählt hat, und wahrscheinlich wären erst dieser Mathieu und mein alter Konfrater im Einverständnis über Gott und die Welt gewesen.«
Mit einem Gefühl der Erleichterung, als hätte ihn diese Erkenntnis allen weiteren Grübelns enthoben und endgültig losgesprochen, gab sich Le Roy in durstigen Zügen aufs neue dem, was er eben als ›Gleichklang zwischen Kunst und Natur‹ bezeichnet hatte, hin. Sein flacher ebenmäßiger Geist, seine Gemütsverfassung, der alles Titanische widerstrebte, war selbst von der furchtbaren Kriegskatastrophe nicht wesentlich angerührt oder verändert, geschweige denn umgepflügt worden, obwohl er in jenen finsteren Jahren als Nachfolger des verstorbenen Pfarrers in dem »gottverlassenen Städtchen« zu pastorieren gezwungen war, dessen Einwohner ihren Bürgermeister als Franctireur hatten erschossen und eingescharrt werden gesehen – – Und wahrhaftig: sein kindlicher Glaube, der sich damals zu gleichen Teilen auf den Marschall Foch und Jeanne d'Arc gerichtet und von beiden dasselbe erwartet hatte, war nicht betrogen worden. Noch immer stellten sich ihm die Mängel des irdischen Daseins als etwas dar, das mit Hilfe der gesunden Vernunft und einer tätigen Menschenliebe vermeidbar gewesen wäre; ja, sein fröhlicher Pelagianismus scheute sich nicht davor zu behaupten, daß in der Schöpfung bereits ein fertiger Plan von der höchsten Wohlfahrt des Lebens, dem besten Staatswesen angelegt sei, den der Mensch mit seinen natürlichen Gaben zu erkennen imstande wäre. So wußte er auch mit dem Satan nichts Rechtes anzufangen und nahm ihn wie bei dem Brettspiel einen überzähligen Stein, den er respektvoll zur Seite schob, ohne ihn einzusetzen. Er pflegte ihn ›das Böse‹ zu nennen und hätte ihn weder als Geistererscheinung, noch in der Person des Fleisches, das er beherrschte, erkannt, sondern jene als physikalisches, vielleicht auch chemisches Lichtphänomen und diese als eine Ausfallserscheinung der anbetungswürdigen Reihe des Fortschritts zu höheren Zielen betrachtet. Mit Widerwillen, ja mit Entsetzen hatte er sich überwunden, das berühmte Werk jenes alten Mannes, der da vor ihm im Sessel lag, über ›die Teufelserscheinung im Leben der Heiligen‹ durchzulesen, worin sich 197 der Autor bemühte, den Nachweis zu erbringen, daß jeder dieser Kämpfe nichts andres als die erneute Begegnung des mystischen Leibes Christi mit dem großen Verführer sei, den zuerst einzelne Glieder, dann aber mit reifender Zeitenfülle die gesamte christliche Menschheit würde bestehen müssen. So wäre es irrtümlich, anzunehmen, daß von den Tagen der Urkirche an und den Kämpfen der Wüstenväter sich die dämonische Wirklichkeit verflüchtigt oder verringert habe; es könne vielmehr kein Heiligenleben ohne Satan vorgestellt werden, und zwar einen Satan, der nicht moralisch verstanden und nur als Metapher gedacht werden dürfe, sondern mehr und mehr als bestimmte Person, als dieser eine, in dieser Zeit und im Schnittpunkt koordinierter Wege, bis er endlich in der nackten Erscheinung des Antichrist seine Erfüllung fände – eine Erfüllung, die sich der Leser wie den Zusammenschluß zahlloser Bilder auf einem Filmband vorstellen müsse, deren jedes sich nur um ein weniges von dem vorigen unterscheidet. Dies sei denn auch der tiefere Grund, weshalb der vollendete Antichrist nur schwer erkannt werden könne; denn überall gegenwärtig wie Gott, sei er der Mehrzahl der Menschen bereits auf schreckliche Weise vertraut, ja zur lieben Gewohnheit geworden.
»Aber ich dächte doch«, hatte Le Roy, welcher das Buch bis zu dieser Stelle und nicht weiter gelesen hatte, zu seinem Verfasser geäußert, »daß der Satan als brüllender Löwe umhergeht und also mindestens unüberhörbar für jedes Menschenohr ist.«
Nun, niemals würde er, Jacques Le Roy, die fürchterliche Grimasse des Hohnes und der Verachtung vergessen, die dem Alten als schneidende Falte von der Nase zum Mundwinkel abwärts gelaufen und dort in Gestalt einer Kreuzspinne, schwarz und vielbeinig, sitzen geblieben war. »Richtig. Als brüllender Löwe«, hatte er schließlich erwidert. »Nur, daß die meisten ihn dann für einen Volksredner halten werden, einen Politiker höchstwahrscheinlich – – Sie inbegriffen, mein lieber Le Roy.«
Er inbegriffen. Das war keine Frage; denn behaupten zu wollen, es sei sein Charisma, etwas, als das, was es war, zu erkennen, wäre selbst dem Geschmeichelten komisch, wenn nicht als Verhöhnung erschienen. »Vestigia leonis« – er hatte sie niemals erkannt; weder vor dem Kriege, als seine Spuren von dem 198 Wüstensand jenes unaufhaltsam aus allen Ritzen rieselnden Hauses, das man Europa hieß, zugedeckt wurden; noch nachher, als man die Fugen wieder mit schlechtem Kleister verstopfte, mit Pulver, Haß und verfluchten Phrasen, die wie der Kaugummi der Matrosen unter der glänzend polierten Platte der Parlamentstische klebten. Und doch war er, war der gleißende Engel mit dem Verwesungsduft unter den Flügeln, der Welt noch niemals so nahe gewesen wie in den Augusttagen jenes Jahres, wo er mit löwenhaftem Triumph in sein eigenes Sternbild eintrat und den Glanz von Mächten und Fürstentümern auf seinem Antlitz versammelte; einen Glanz, der schon vorher wie Wetterleuchten an den Saalfenstern der Kasinos, der Spielhöllen und der Börsen vorübergewandert war und den Beteiligten zugewinkt hatte: vertraulich, mit geräuschlosem Blitzen, das dem erstickten Gelächter gleichkam, welches den fürchterlich starren Gesichtern einer zu Tode gekitzelten Menschheit aufgeprägt worden war . . .
Eine einzige große, zerplatzende Kugel, die einen Regen von falschen Sternen über den Himmel streute, war, wenn sich der gleißende Engel nun wieder zwölf Jahre zurück und an eines seiner geringsten, ihm gefeierten Feste erinnern wollte, das Zeichen zum Beginn jener Sache, welche die gute Gesellschaft von A ein ›Ereignis‹ nannte, gewesen – –. Und wahrhaftig hatte dieses Ereignis, indem es mit untrüglichem Wissen in das größere eingerollt war, seine Bezeichnung verdient. Zurück – zurück –! Als Mathias und Gitzler das alte, schmiedeeiserne Tor des Kasinogartens durchschritten hatten, das von zwei hohen Pappeln flankiert und, wie der Eingang zu einem Schlößchen, eine Allee zu eröffnen bestimmt war, an deren Ende der Obelisk seine Nadel scharf in den Himmel spießte, bemerkten sie, daß sich die Polonaise gerade aufgelöst haben mußte, und – während die Jugend immer noch schwärmte und in zerrissenen, von Gekicher und unterdrücktem Gelächter klirrenden Ketten umherzog – bereits in den Zustand der Zirkelbildung übergegangen war. Servierkellner, Platten mit scharfen Likören und Appetitbissen: Kaviar, Sardellen und überpfefferten Schinkenstückchen auf den gewinkelten Armen tragend, eilten zwischen den 199 schaukelnden Lampions wie aufgescheuchte nächtliche Vögel mit flatternden Schößen dahin und schienen, verführt von dem hellen Licht der unabgeblendeten Stocklaternen, in ihr Verderben zu laufen. Wo sie anboten, drehten sich Schnurrbartgesichter und hochgetürmte Frisuren, scharf abgesetzt, in den kalkigen Schein und glichen – von Puppenspielern geführt und an hüpfenden Fäden gezogen – sehr munteren Marionetten: »Bitte nach Ihnen!« »Darf ich Sie bitte bedienen?« »Aquavit? Aber nehmen Sie doch! Ihr Diener!« – – Ein unaufhörliches Wogen und Wirbeln, gebildet aus Ruckruck und Zickzack, aus dem Vor und Zurück, der Verbeugung, dem Kratzfuß und dem Aufspritzen schaumiger Phrasenkrönchen, ging unter den Laubdächern hin.
»Oh –!« machte der Pfarrer bestürzt und geblendet; zwei Kellner waren von rechts und links an ihn herangetreten, und während der eine das Windlicht hochhielt, bot der andere ihm die Platte an. Herr Gitzler griff rasch und hochmütig zu, nahm zwei Pappteller von dem Tablett herunter und belud sie mit allerlei Leckerbissen, welche Mathias noch nicht einmal dem bloßen Namen nach kannte.
»Sherry brandy? Kirschwasser? Aquavit?« schnarrte der Kellner mokant.
»Ich möchte . . .«, begann Mathias hilflos.
«Einen Wodka!« forderte Gitzler scharf und sah den Kellner herausfordernd an, der leicht mit den Achseln zuckte. »Natürlich nicht. Aber der Küchenchef will bei Horcher gearbeitet haben. Kommen Sie, lieber Mathias«, er faßte den anderen unter. »Gehen wir nach der Pagode. Dort gibt es einen sehr hübschen Sitzplatz, wo wir in aller Ruhe dieses . . . Maurerfrühstück verzehren können. Keinen Wodka! Ha! Keinen Wodka! Ein schöner Eindruck für unsere Gäste.«
Der Kellner war wie ein geprügelter Hund auf Seitenpfaden davongeschlichen, und Mathias blieb unwillig stehen. »Was soll das bedeuten, Herr Gitzler?« fragte er drohend und kalt.
Herr Gitzler wendete sich dem Priester mit ruhiger Zärtlichkeit zu; jeder Hochmut war von ihm abgefallen, seine Faunslippen, weich geöffnet, trugen den unbewußt reinen Ausdruck 200 eines gescholtenen Knaben. »Soll ich Sie heute abend beschützen – oder soll ich es lieber nicht?« fragte der Lebemann sanft.
Der Pfarrer schüttelte langsam den Kopf. »Nicht so, Herr Gitzler, nicht so«, sagte er mit der Würde des vollkommen Unberührbaren. »Nicht wie der Wolfshund das Schaf. Glauben Sie mir: mein Pelz ist nur außen, und rascher, als Ihnen lieb ist, könnte ein anderes Wesen die Krallen aus seiner Wolle strecken – dann nämlich, wenn mir die Weide bekannt ist, besser gesagt: der Jagdgrund, auf dem wir uns bewegen.«
»Nun – der Jagdgrund«, entgegnete Gitzler lebhaft, »ist seit fünfzig Jahren der gleiche. Die Kakteen des Fortschritts, das Zuckerrohr der landesüblichen Redensarten, das Dschungelgras unvorstellbarer Geilheit, und in den Lianen die alten, närrischen Papageien, denen der Schnabel bereits auf die Brust hängt, ohne daß sie es merken. Was könnte Sie da reizen, zu jagen? Allerdings in der Not frißt der Teufel Fliegen – und worauf Gott Appetit hat, müssen Sie besser wissen. Ich wäre aber nun wirklich dankbar, wenn ich die Pappteller da irgendwo niedersetzen und meinem ermüdeten Gaumen mit einem gepfefferten Bissen die Peitsche geben könnte. Doch, ich weiß es schon im voraus, daß mir alles wie Stroh schmecken wird.« Herr Gitzler wandte sich eilig einer kleinen Pagode zu, die von Weymutsfichten beschattet wurde und eine hölzerne Tigerbrücke, die über ein künstliches Wässerchen führte, als romantischen Zugang hatte. »Noch ist es zu früh für die Liebespaare und den Bäumchenwechsel der Ehegatten in diesem Venustempel«, sagte er, während sich sein Gesicht in schrecklicher Heiterkeit zu der Grimasse eines Wasserspeiers verzerrte, als wolle es sich erbrechen. »Überdies kommt der D-Zug aus Mainz erst später, wahrscheinlich sogar zu spät für unsere lebenden Bilder, obwohl meine Frau es durchgesetzt hat, daß ihr ›Gretchen am Spinnrad‹ die letzte Nummer in diesem – Varieté bildet. Sie hofft nämlich immer noch, daß ihr Geliebter ihre Ähnlichkeit mit der Sorma entdeckt; wenigstens um den Busen herum – oh pardon – ich vergaß . . .«
»Ihre Frau ist sehr unglücklich, lieber Freund«, sagte der Pfarrer gedämpft. 201
»Um so besser«, erwiderte Gitzler kalt. »Leid soll ja bekanntlich veredeln.« Sie gingen jetzt über den Brückenbogen, die Bohlen zitterten unter den Stiefeln, die leise klapperten. In der Pagode ließ Gitzler sich nieder, die Beine weit von sich gestreckt, zündete eine Zigarre an und schien in das Dunkel zu horchen; sein verfinstertes, leeres Gesicht, das mit allen Lüsten gesättigt und zugleich von ihnen verlassen war, lag wie unter Wasser: schon aufgelöst, aber mit funkelnden Zähnen zwischen dem Bartgestrüpp. Der Geistliche, leicht nach vorne geneigt, war unschlüssig stehengeblieben; von leisen, flachen Seufzern bewegt, die durch das Geäst seiner Glieder liefen wie der Wind durch die schleiernde Weide an dem perlgrauen Uferrand.
Geruch von Jasmin und Syringen drang in stoßweisen Wellen wie Weihrauch aus der schwingenden Schale der Frühlingsnacht in den offenen Pavillon; unter Akazien und Götterbäumen bemerkte man einzelne Gruppen festlich gekleideter Menschen, welche von einem Strom des Entzückens wie Gondeln dahingetragen und ohne Ruder, nur durch den Antrieb ihrer geselligen Süchte, gelenkt zu werden schienen . . . und ein von Mondlicht getränkter Himmel warf gleichsam ihr Spiegelbild in geballten, langsam treibenden Wolken zurück, deren Ränder von Silberstaub flimmerten und eine trügerische Verwandlung der Materie in Licht versprachen. Junge Mädchen, Leda und Schwan in einem, wenn die Luft ihr Gefieder aus Dummheit und Spitzenröcken blähte, kreischten wohlerzogen mit gierigem Lachen zwischen jedem Satz, den sie sprachen, auf; dazwischen dröhnte, sorgsam geölt, der Baß jener alten Silene, die sich Väter und Großväter nannten; flüsterte, wie die verbuhlte Luft über blühenden Blumenbeeten, das Bettgeheimnis der jungen Frauen, und schepperte, ausgeleierten Schellen an ehrbaren Haustüren ähnlich, das Räuspern und Hüsteln der alten Damen, die unter beständigem Fingerspiel den Spitzenschal um die Agraffe zogen, welche den Ausschnitt der beinernen Brüste mit Brillanten oder Granaten verdeckte, und die ungemein heiter schienen. Jetzt näherte sich ein Schwall von Stimmen der kleinen Holzpagode, und das scharfe Corpsstudentenorgan eines Gerichtsassessors setzte sich schneidend ab.
»Sehen Sie diese bezwickerte Fratze aus zusammengedrücktem 202 Quark?«, flüsterte Gitzler, von Wut geschüttelt, und sah zu Mathias auf. »Das ist der Gerichtsassessor Hunnäus und neben ihm die Kröte im Vollbart mit den aufgeblasenen Backen der Gymnasialdirektor Gelinde, der sich seit dreißig Jahren nachzuweisen bemüht, daß Homer überhaupt nicht gelebt hat. Man nennt ihn daher auch den ›Astabschneider‹, weil er nämlich den Ast, auf welchem er sitzt, abzusägen versucht. Und der jetzt gerade sein Taschentuch zieht, ist Herr von Heyl, unser Kreisrat, dessen Frau, die ›singende Laura‹, uns nachher mit einigen Liedern und Arien beglücken wird. Über die beiden Damen da vorne will ich nichts weiter sagen, als daß sie zu jung verheiratet sind: die Blonde, na, das sehen Sie ja, und die Alte mit einem Gatten, der zwölf Jahre jünger als sie und ein gescheiterter Architekt mit Künstlerkravatte ist. Arme Teufel . . . sehr arme Teufel, sie alle . . .« Er beschrieb mit dem rechten Arm einen Kreis, und der Kopf der Zigarre, die er zwischen den Fingern hielt, schien die Menschen, welche sein Wort soeben getroffen hatte, in ein magisches Feuerrad einzuschließen, das ihr Schicksal besiegelte. »Und doch ist jeder von ihnen einmal ein frommes Kind gewesen«, setzte Gitzler, fast wider Willen hinzu und blickte das unbewegte Gesicht des Geistlichen traurig an. »Es ist ein Jammer . . .« Sein Arm sank herunter, die Zigarre entfiel der Fingergabel und löschte unter der Schuhsohle aus, die Gitzler darüberschob. »Ach, schweigen wir – –! Übrigens habe ich eben den Tafelgong läuten gehört.«
Sie strebten nicht lange danach dem lichterhellen Kasino zu; vor ihnen her ein Rudel von Menschen, deren Rücken, gewetzt von Erwartung, etwas merkwürdig Tierhaftes hatten, das sie gleichzeitig unterdrückten; kleine Stockungen bildend, Wirbel und Strudel, in welche schließlich auch Gitzler und sein Begleiter gerieten. Eine Dame, es war Frau Belfontaine, streifte den Pfarrer am Ärmel und drehte den Kopf nach ihm hin. »Welches Glück!« rief sie unbekümmert und arglos, »meinen Tischherrn nicht selber suchen zu müssen. So geht es mir nämlich gewöhnlich seit meiner Tanzstundenzeit. Oder – haben Sie mich am Ende nur gefunden und garnicht gesucht?«
Der Pfarrer lächelte ihr zufrieden, mit sanfter Heiterkeit zu. »Nein, denken Sie: ehrlich gesagt, kann man Sie wohl nur 203 finden, ohne gesucht zu haben.« Sein Blick ruhte freundlich und merkwürdig innig auf ihrem leicht enttäuschten Gesicht; dann fuhr er fort, seine Hand ausstreckend, als locke er eine Taube: »Ich meine, so ähnlich wie jenes Schriftwort, das von der ewigen Weisheit sagt: ›Wer mich findet, findet das Leben und schöpfet Heil von dem Herrn.‹«
»Und das läßt Du Dir ohne Erröten sagen?« fragte Herr Belfontaine, welcher Mathias inzwischen mit leichter Verbeugung begrüßt und vergeblich versucht hatte, bei dem Pfarrer einen Händedruck anzubringen.
Sie begann jetzt gleichfalls zu lächeln, doch ohne die leiseste Spur einer Verwunderung; vielmehr mit einer Natürlichkeit wie frisch betaute Blumen sie haben, wenn sie das Sonnenlicht trifft. Ihre Stirnlöckchen schimmerten wie bronziert und schienen sich den vom Lufthauch bewegten, leise zitternden Lämpchen einzeln entgegenzuheben; ihre Augen standen erwartungsvoll offen, das zarte Wangenoval mit der jungen, ungebrochenen Linie umschloß und behütete ein Gesicht, aus welchem die etwas zu große Nase über den streng gezeichneten Mund von kindlichem Rosarot vorsprang, und zwischen den leicht geöffneten Lippen milderten kleine, milchweiße Zähne jenen Eindruck von unangebrachtem Hochmut, den man Elisabeth fälschlich vorwarf, indem man das Mißverhältnis von Form und natürlicherweise mangelnder Reife damit verwechselte.
Herr Belfontaine blickte von einem zum andern. Sie verstehen sich. Oh, wie sich beide verstehen! dachte er eifersüchtig. Obwohl doch Elisabeth keine Spur von dieser üppigen Gitzler hat, dieser Ehebrecherin, sondern ein Kind ist – ein unbegreifliches Kind. »Komplimente bereits vor der Suppe?« fragte er, sich zu geselliger Laune und verbindlichem Lächeln zwingend. »Ich bin erstaunt, mein lieber Herr Pfarrer, über den Frauenblick, den Sie besitzen; denn, was Sie behaupten, ist wirklich wahr: meine Frau hat die Anlage, weise zu werden, wie ich zum Beispiel die Anlage hätte – –« Er hörte Herrn Gitzler mißtönend lachen und sein eignes Organ sich entfremden; ja, wie ein Gefäß beim Topfschlagen scherben und in wertlose Stücke springen. »Die Anlage«, fuhr seine Stimme fort, sich gleichsam 204 zu Ende trällernd, »zu einem Eremiten. Aber trotzdem muß ich nun leider gehen und meine Tischdame suchen.«
»Wer ist es denn?« fragte Elisabeth harmlos.
»Die Zweitschönste«, gab ihr Herr Belfontaine mit einem Blick auf den Pfarrer zurück. »Frau Gitzler nämlich.« Er winkte Elisabeth zu und tauchte in der verlorenen Herde der Menschentiere unter, die sich mit schlecht verhohlener Eile zur Futterstelle drängten . . .
In der Küche gruppierte sich schon der Zug der gravitätischen Kellner, welche mit dampfenden Schüsseln und angespannten Gesichtern das Zeichen zum Einmarsch erwarteten, und vor den hohen, bis auf die Erde reichenden Fensterflügeln hauchten asiatische Ziergartenbüsche ihr Vanille-Aroma, den Zimtgeruch und den Duft ihres rötlichen Holzes, dessen Ruten der Regen durchsüßt und zu schnellerem Wachstum aufgepeitscht hatte, mit den lauwarmen Windstößen aus. Dazwischen schaukelten, gleichfalls erregt, von buhlerischen Händen und geisterhaft hauchenden Lippen, die kleinen Papierlaternen; ein Schein, zu schwach, um bleiben zu können, doch stark genug, um den nächsten Umkreis mit seinem Licht zu erfüllen, durchflackerte ihre Hüllen und erhob sie für diesen Augenblick weit über Sterne und Mond. Während sie sich am Kasino häuften und die Hauptallee durch den flimmernden Strom ihrer erleuchteten Leiber einer Milchstraße gleich machten, verloren sich ihre siderischen Bälle in der blauschwarzen Gartentiefe gleich einzelnen Planeten, die aus dem Dunkel tauchten und das Dunkel noch unergründlicher machten, als es vorher gewesen war.
»Schwöre mir –«, flüsterte eine Stimme im Schatten der Sykomoren, welche den ältesten Baumbestand des Gartens darstellen mochten, und ein Frauengesicht, so blaß wie die Blätter der überhängenden Blütentrauben, wandte sich tränenfeucht in die Höhe und suchte angstvoll ein anderes, das unwillig abgedreht war.
»Schwören!« sagte ein Mann brutal mit lang hinrollendem ›r‹. »Schwören, und immer nur schwören. Ich habe es endlich satt. Diese Schwüre und deine verrückten Ängste, deine Gier, deine unersättliche Liebe, jawohl, zum Teufel – auch die. Laß mich los, die Hände weg, sag ich dir, oder es war das letzte Mal, 205 daß ich gekommen bin, hörst du? Wozu überhaupt dieses Telegramm, das mich hierher gehetzt hat? Ich melde mich krank, man verschiebt die Premiere, der Theaterarzt kommt, ich markiere Blinddarm, und alles, bitte, wozu? Weil meine Freundin nicht abwarten kann, bis ich ihr wieder am Busen hänge; weil sie schlecht geträumt hat; weil ihre Migräne mein Kommen notwendig macht. Nein, widersprich nicht – so ist es. Ich kenne dich ganz genau. Für ein paar lumpige hundert Mark glaubst du das Recht zu haben, einen Künstler zu tyrannisieren. Dieser Schauspielunterricht ist eine Qual, unbegabt wie du bist. Keine Tränen mehr, wenn ich dich bitten darf! Ich bin daran gewöhnt. Wie du aussiehst – schrecklich! Richte dich her und geh in den Speisesaal. Man wird dir deine Kopfschmerzen glauben, ich garantiere dafür. Rasch, rasch. Hier liegt ja dein Bracelet.« Mit einer rohen Bewegung zog er es über ihr Handgelenk und streichelte ihr gewohnheitsmäßig, schon völlig abwesend, über den runden, heftig zitternden Arm. »Am besten fahre ich wieder nach Hause, denn wo, zum Teufel, soll ich mich lassen, bis der letzte D-Zug aus Mainz hier angekommen ist? Wären wir so verblieben, wie es verabredet war – aber du wolltest ja nicht.«
»Nein, warte noch, Oskar, um Gottes willen –!« Ein jäher, wilder Schrei der Verzweiflung zerriß den schluchzenden Mund der Ärmsten; dann warf sich Frau Gitzler aufs neue dem Schauspieler an die Brust. »Es geschieht ein Unglück, wenn du jetzt gehst. Du weißt ja noch nicht – –«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Schauspieler kalt. »Du bringst dich um, willst du sagen. Und wenn auch das mich nicht rühren sollte, so trägst du als letztes Mittel ein Kind von mir unter dem Herzen.«
Seine Freundin sah ihn entgeistert an. »Du ahnst es also?« stammelte sie und nahm ihre Hände fort.
»Was soll ich ahnen?« fragte er drohend.
»Daß ich wirklich ein Kind erwarte«, sagte Frau Gitzler stumpf.
»So? Meinen herzlichen Glückwunsch«, versetzte er, außer sich. »Aber was geht das eigentlich mich an, wenn Gitzlers ein Kind bekommen? Dergleichen soll ja mitunter passieren, wenn man verheiratet ist.« 206
Die Frau griff sich krampfhaft an beide Schläfen und krallte die Finger tief in das dichte, blauschwarz glänzende Haar; es war offensichtlich, daß diese Gebärde ihrer Vorstellung einer Tragödin entsprach, obwohl sie hinwieder vollkommen echt und aus dem Innersten eines Geschöpfes, dessen Leiden jedes Maß überstieg, soeben entsprungen war.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, fuhr der Mann mit höhnischer Stimme fort: »Oder willst du mir etwa vormachen, he – –« Er mäßigte seine wilde Begierde, die Frau ins Gesicht zu schlagen, sie zu würgen, mit einem Hagel von Tritten unter die Erde zu stampfen, und sagte in leichterem Tonfall: »Mach dich nicht lächerlich, bitte. Im Grunde ist das die beste Lösung, die wir beide uns wünschen können. Du kehrst jetzt ganz natürlicherweise in dein früheres Leben zurück und behältst, ob das Kind tatsächlich von mir oder deinem Mann ist, eine schöne Erinnerung. Der Herr Gemahl wird entzückt von ihm sein; ein Paar neue Ohrringe sind dir gewiß und später – nun, später . . . [kommt Zeit, kommt Rat, hätte er fast gesagt]. Später wird man ja sehen, was aus unserer – Liebe geworden ist. Helene?« fragte er schmeichlerisch und griff ihr unter das Kinn. »Nimm Vernunft an!« sagte er unbehaglich. »Wozu diese Totenmaske? Du bist doch verheiratet. Also. Was kann dir schon geschehen?«
Ein furchtbares Zittern, das seine Berührung in der Unglückseligen ausgelöst hatte, lief über ihr Gesicht. »Er wird mich töten«, flüsterte sie. »Ich weiß es ganz genau.«
»Töten? Wer wird dich töten?« fragte der Mann gereizt.
»Gitzler«, sagte sie, toll vor Angst, und umklammerte, langsam niedersinkend, wie eine Ertrinkende seine Knie, während er sich vergeblich von ihr zu lösen versuchte.
»Daß du es dir nicht einfallen läßt, mir noch einmal zu schreiben oder nach Mainz zu kommen«, knurrte der Schauspieler wütend.
Helene lachte irrsinnig auf. »Du weißt noch nicht alles«, sagte sie girrend und legte die Hände über den Schoß, der plötzlich gewölbt zu sein schien.
Eine panische, sinnlose Furcht erfaßte den Verführer. »Was weiß ich nicht?« fragte er feige. 207
»Daß mein Mann schon seit Jahren nicht mit mir verkehrt«, sagte sie unheimlich nackt.
»Wie . . . was . . . nicht mit dir verkehrt?« wiederholte er blöde und fühlte mit Schrecken, wie seine Zunge erlahmte. Sie nickte, das gespenstische Lachen durchgeisterte aufs neue ihr tränennasses Gesicht. »Dann hat also Gitzler auch ein Verhältnis«, meinte der Mann erleichtert, »und wird dir nichts vorwerfen können.«
»Nein – Gitzler hat kein Verhältnis«, sagte sie ausdruckslos. »Er lebt wie ein Mönch und liest in der Nacht. Buddha, die Heilige Schrift, Astronomisches, was weiß ich. Er schreibt auch«, fügte sie noch in leicht verachtendem Tonfall hinzu, »und übt sich im Sanskrit.«
Der Schauspieler biß auf die Unterlippe und blickte sie ratlos an. »Nun«, sagte er dann verzweifelt und zynisch, »so wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als daß du diesen perversen Mönch zu seinen Pflichten bekehrst. Seit wann bist du schwanger?« forschte er roh. »Ich hoffe, es reicht noch hin, bis – na, ja«, endete er verlegen. »Schließlich ist er dein Mann und darf dich nicht sitzen lassen.«
Wieder lachte Helene leise und zog mit scheinbar verliebter Bewegung seinen Lockenkopf zu sich hin.
»Oder – fällt es dir denn so schwer«, fragte der Schauspieler eitel, »ihn für mich einzutauschen?«
Er fuhr zurück, ein heftiger Schlag traf ihn mitten in das Gesicht; dann sah er Helene davonstürzen, stolpern und, ohne auf die Wege zu achten, über den Rasen laufen. Sie riß, erblindet von Scham und Tränen, die Büsche wie eine Mänade blindwütig auseinander und fühlte mit scharfer, tödlicher Lust ihren Nacken von ihnen gepeitscht; ihre Hände bluteten, ihre Wangen waren von Dornen zerkratzt, ihre Haare, mit Blättern und Ästchen durchflochten, glichen in ihrer verwahrlosten Fülle einem zausigen Rabennest.
»Oskar«, wimmerte sie entsetzt und blieb wie ein verlaufenes Kind mitten auf einem Rasenfleck stehen, der von abgeblühten Magnolien umgeben und fast vollkommen dunkel war. Keine Antwort. Sie hob die Hände zum Mund und leckte die Wunden aus; ihre Tränen vermischten die salzige Feuchte einer 208 betrogenen Liebe mit dem süßlichen Blutgeschmack, der aus der Tiefe ihres ratlosen Herzens zu strömen schien, das nun bar der geringsten Hoffnung und ganz ohne Ausweg war. Keine Hoffnung? Kein Ausweg zum Entschlüpfen? Sie wand sich wie ein Tier in der Falle, das bereit ist, das eigene Glied durchzubeißen, wenn nichts anderes übrigbleibt. »Doch!« sagte sie dann sonderbar wild und preßte in einem jähen Entschluß die Hände gegen die Brust. »Das ist die Rettung. Ja. Ja.« Sie schloß die Augen, hinter den Lidern sah sie das Bild, das sie suchte: den D-Zug aus Mainz, der sich näherte . . . langsam – mit riesiger Lokomotive, die ihre blendenden Lichter dem Lauf des Schicksals voranschob, während das gleichmäßig dumpfe Geräusch der rollenden Räder den schrecklichen Schmerz in ihren Adern beruhigte, ihn einlullte, ebnete und zermalmte und ihr das Gefühl der Kindheit zurückgab, wo sie als kleines, behütetes Mädchen an dem grasüberwucherten Bahndamm wohnte und die Lichter der fahrenden Züge über ihr Bett huschen sah. Eine brennende Sehnsucht nach diesem Lager und seiner kristallenen Reinheit überfiel die Verlorene; gleichzeitig überkam sie eine ausgelassene Freude, das Fieber des Falken, der in der nächsten Sekunde von dem Handschuh in den azurenen Grund des Himmels abstoßen wird.
Sie raffte die Röcke und rannte weiter. »Rasch, rasch – noch ein Glas Champagner«, sagte sie vor sich hin. Der festlich erleuchtete Speisesaal, dessen Flügeltüren weit offenstanden, warf den milden, fürstlichen Schein seiner Kerzen in breiter Lichtbahn auf die Terrasse und weiter hinaus auf den Irrgang der Wege, die mit fein gesprenkeltem Kies beworfen und von Gräberbuchs eingefaßt waren. Als Helene näherkam, hob sie die Arme mit enthusiastischer Geste empor und ließ dann, einen Schatten bemerkend, ihre Hände flatternd heruntersinken, wobei sie sich unwillkürlich bemühte, den Eindruck zu erwecken, als nestele sie an den Kämmen, welche sich losgelöst hatten.
»Frau Gitzler? Sind Sie es?« fragte die Stimme, die zu dem Träger des Schattens gehörte, und Herr Belfontaine, ihre Verwüstung bemerkend, trat höflich auf sie zu. »Ich bin im Bilde«, sagte er rasch und sah, wie Helene zusammenfuhr und das 209 zerrissene Spitzenplastron ihrer Bluse zu ordnen versuchte. »Ihr Gatte teilte mir vorhin mit, daß Sie Migräne hätten und frische Luft schöpfen wollten, bevor Sie zum Essen kämen. Sehr schade, aber ich kenne das. Genieren Sie sich nicht.«
»Nein – jetzt geniere ich mich nicht mehr«, flüsterte sie zurück und zog eine aufgegangene Welle ihres mächtigen blauschwarzen Haares bis auf die Schulter herunter; die Nadeln klirrten, die ganze Flut stürzte nach und umgab das gepuderte zarte Gesicht wie ein düsterer Heiligenschein. »Gut muß ich aussehen – wirklich«, sagte sie fast kokett. »Aber glauben Sie: jedes Haar tut mir weh, wenn ich es aufgesteckt habe.«
Herr Belfontaine blickte sie unschlüssig an. »Schön. Doch was machen wir nun?« fragte er merkwürdig ungeschickt und trat willenlos auf sie zu; der süße, befremdende Duft ihres Leibes, der sich in Wohlgerüchen gebadet und dann auf der schrecklichen Flucht in den Tod mit Schweiß übergossen hatte, drang lockend auf ihn ein. »Helene«, flüsterte er, über sich selbst entsetzt.
Sie bebte zurück, ein unendlicher Blitz, der aus Lust und Grauen gemischt war, durcheilte ihre Augen. »Wie weit ist das Essen?« fragte sie rasch.
»Eis. Früchte. Nachtisch«, sagte der Mann mechanisch.
»Gut, bringen Sie eine Flasche Champagner und zwei Gläser für uns heraus. Die freie Luft ist mir angenehmer als dieser stickige Speisesaal mit seinen Theaterkerzen.« Sie lachte ihm nahe in das Gesicht. Ihre kurze, gewölbte Oberlippe zog sich so weit in den Winkel zurück, daß das Zahnfleisch unverschämt bloßlag; ihre Augenlider schlossen sich halb über den glitzernden Äpfeln, die schon gebrochen waren, zertretenen schwarzen Jettperlen ähnlich, die keinen lebendigen Glanz mehr geben, und die gespenstige Frechheit des Todes, wie sie das Antlitz von frisch Gehenkten kurz nach der Hinrichtung zeigt, überzog ihre ganze Erscheinung. »Los, los! Beeilen Sie sich, sonst ist das Essen vorbei. Ich warte neben dem Schwanenhäuschen zwischen den Trauerweiden. Wissen Sie, wo das ist?« Plötzlich, ein hauchdünnes Zögern in der Haltung des Mannes bemerkend, kam Helene aus der unendlichen Ferne noch einmal zu sich zurück. »Nein«, sagte sie hochmütig. »Lassen Sie nur. Ich gehe 210 lieber sofort nach Hause. Schicken Sie nur die Bedienung mit meiner Garderobe. Es ist ein weinroter, seidener Mantel – die Frau weiß schon Bescheid.«
Im Sprechen nahm sie ihr Haar zusammen und stieß mit der Fußspitze nach den Kämmen, die auf dem Kiesweg lagen. »Bitte –.« Herr Belfontaine bückte sich und reichte ihr Kämme und Nadeln hin, während Helene Gitzler, nun wieder vollkommen Dame, von dem erleuchteten Gartenpfad fort und in das Dunkel zurücktrat, um ihre Frisur zu ordnen. »Gehen Sie! Aber so gehen Sie doch!« sagte sie ungeduldig. »Ich fange schon an zu frieren.«
»Ich gehe«, erwiderte Belfontaine heiser. »Aber Sie warten auf mich neben dem Schwanenhäuschen . . . Helene?« Sie gab keine Antwort, er faßte brutal ihre Handgelenke und riß sie zu sich heran. »Ich muß dich sprechen«, flüsterte er. »Hörst du? Noch heute.«
»Ach, eilt es denn so?« fragte sie unbeteiligt.
»Du verstehst mich nicht.«
»Nein?«
»Helene – ich muß dich etwas fragen«, sagte Belfontaine überstürzt.
Ihr bleiches, abgewandtes Gesicht kehrte sich Belfontaine langsam zu und glich nun dem einer keuschen Göttin, die sich dem Flehenden hinzugeben nur um den Preis seines Lebens gewillt ist; doch lag ein Übermaß von Gewährung bereits in ihrem Blick. »Frage mich», sagte Helene sanft.
»Nein. Nicht so. Nicht mit zwei Worten. Es ist zu schwierig. Nur ganz allmählich kann ich dahinterkommen . . . Nur, wenn du mir hilfst, verstehst du?« Er zitterte jetzt so heftig, daß die Zunge ihm nicht mehr gehorchte und die Zähne mit leichtem Beben gegeneinanderschlugen.
»Dir helfen?« Ein schmerzliches Lächeln überflog ihre schönen Züge; sie redeten nun einander wie Liebende oder Geschwister an: das ›Du‹ gebrauchend, völlig entblößt von jeder Gesellschaftsform. »Gut, also. Ich warte. Aber vergiß nicht den Sekt.« Sie nickte ihm wie eine Erscheinung aus Geisterreichen zu und tauchte in die Büsche; ihr bläuliches Kleid wurde hier und dort noch von dem tastenden Lichtschein der Papierlaternen, wie 211 blasser Krokus von schwärmenden Bienen, getroffen und verschmolz, obwohl sie nun zögerte und sich der saugenden Stunde hinhielt, immer rascher mit allem umher; zuletzt war es körperlos, fiel auseinander und glich einer kraftlosen Ätherblüte ohne Fruchtboden, Griffel und Staub . . .
Herr Belfontaine riß sich gewaltsam los und ging in das Haus zurück; was er nun tat, geschah unter Zwang und trug die Merkmale eines Menschen, der im Banne der Mondsucht handelt. Ein Kellner, Schweiß auf den plumpen Zügen, eilte an ihm vorbei in die Küche; er hielt ihn an, warf ein Geldstück auf sein abserviertes Tablett und befahl mit lebemännischem Lächeln Flasche und Gläser zu sich heraus; das starre, angehaltene Lächeln lag noch auf seinem Gesicht, als er schon unterwegs war, um das Schwanenhäuschen zu suchen.
Dieses Gebäude, im Grunde nichts andres als Nistplatz und Futterstelle der Vögel, deren Mythologie die galante Zeit in kitzelndem Schauer als Gleichnis tiergöttlicher Wollust verstand, war ein kreisrunder, offener Rokokotempel, den der Erbauer mit Wandbildern hatte verzieren lassen, welche die Sage von Leda und Zeus nach alten Gemälden kopierten; doch weil hier der künstliche kleine Bach, über den die verschiedenen Brücken der Parkanlage führten, einem ausgemauerten Becken entsprang, das fast die gesamte Grundfläche einnahm und nur einen schmalen Umgang freiließ, der mit geschweiften Bänken besetzt war, hatten sich überall feine Sprünge in den feuchten Wänden gebildet, Flecke und Aderwerk, welche dem Fleisch der Leda und dem weit entfalteten Vogelgefieder etwas bestürzend Lebendiges gaben; ja, dieser Verfall schien gerade die Wirklichkeit dessen zu steigern, was nur stümperhaft dargestellt war, und ihm den Atem der großen Mutter, welche, indem sie zerstört, wieder formt und neue Reize erfindet, geheimnisvoll einzuhauchen. Das Brunnenbecken, von Kalmus und fetter Wasserpest überzogen, machte mit seinen beklemmenden Dünsten und der gärenden Pflanzendecke den Eindruck von tiefer Vergessenheit; von etwas Stehendem, Ausgelebtem, das traumhaft in sich zurücksinkt und an sich selber erstickt. Doch murmelte unter der Decke noch immer der lebendige 212 Mund des Rohres, welcher das Becken speiste; und zerriß ein Schwanenfuß, wenn der Vogel, von draußen einbrausend, sein Gefieder wieder zusammenlegte, um langsam niederzugehen, die schleimige Oberfläche, so überraschte der kleine Teich mit dem Aufblitzen seines Wasserspiegels und erwies den Zeugungsgrund dieses Schoßes als vollkommen ungetrübt . . .
Indem sich Belfontaine näherte – bald mit der Sicherheit eines Tieres, das nur den ererbten Instinkten seiner Gattung zu folgen braucht, bald wieder in sich selber gehemmt und verwirrt durch die Möglichkeit einer Wahl, nach rechts oder links zu gehen – tauchte vor seinem inneren Auge das Wingerthäuschen auf, wie er es, von dem Blinden begleitet, an seinem Tauftag gesehen hatte: ein kalkweißer Würfel, doch, ähnlich dem, das er suchte, mit Schildereien verziert – antikischen Putten, die Fruchtgirlanden in ihren Händen hielten und Blumenkränze trugen; er roch von neuem den zarten, fast schon berauschenden Duft der künftigen Rebenblüte und fühlte den heiligen Hochzeitsjubel des Hohen Liedes aus seinen Lenden bis in die Ohrmuscheln steigen: ein helles Brausen, das anschwoll und abnahm und aus der Ohnmacht, die es zurückließ, einen süßen Schwindel gebar, eine Verflochtenheit aller Sinne, von Tönen und Gestalten durcheilt, welche das Merkmal der Phantasmagorien: rätselhaft überwirklich zu sein, allesamt an sich trugen, doch gleichzeitig miteinander vertauschbar und daher täuschende waren . . .
Belfontaine stieg dem Lauf des Gewässers, dem Uferrand folgend, entgegen. Schon troff die Luft von den ersten Liedern der zahlreichen Nachtigallen, die, im Gebüsch des Bachbettes nistend, auf den untersten Zweigen des wilden Ginsters und der verwucherten Schößlinge saßen, welche Blutbuche, Schneeball und Ahorn hier ausgetrieben hatten, und ihr silbernes Schluchzen schien sich dem Gurren der Turteltauben zu mischen, welche vom Libanon kamen, von Balsambergen, aus Zimtgehölzen und aus Granathainen. Der Flieder duftete. Nicht der Flieder, sondern Arabiens Essenzen: »Ja, Narde, Safran, Kalmus und Zimt und allerlei Weihrauchsträucher.« Eine Frau [war es Sulamith oder Helene?] winkte ihm aus den Büschen zu und schwebte vor ihm her. Die Turteltaube, von ihr gelockt, saß flatternd auf ihrer Schulter und vergrub den weichen, zärtlichen Schnabel in 213 der Wendung des bräunlichen Halses, der nach ihm umgedreht war. Helene, Sulamith, Salomos Braut, und Sulamiths kleine Schwester, die noch keine Brüste hatte. Ja, Sulamiths kleine Schwester, ein Elfenbeintäubchen am hellblauen Samtband auf ihrem Herzen tragend: »Ruh dich aus bei mir, Heiliger Geist«. Sie war es: Elisabeth, die ihn liebte. Helene, die ihn versuchte, und Sulamith, Salomos Braut, die mit dem Gesetzeslehrer vermählt war und seine Vorfahrin wurde. Sie waren es alle. Alle in einer und eine in allen zugleich. Das Wingerthäuschen in seinem Weinberg, und in dem dunklen, duftenden Garten der Schwanenpavillon. Er tauchte auf, er verschwand, um aufs neue vor seinem Blick zu erscheinen; seine Hände, die auf dem Türgriff dieses Phantomes lagen, waren feucht von Myrrhe und Schweiß . . .
Nun machte das Bachbett die letzte Windung, bevor es wieder zum Ursprung kam, und zog sich wie eine glänzende Schlange durch den Rasenfleck vor dem Schwanenrondell, das von Trauerweiden eingefaßt war und im Herbst, mit Zeitlosen übersät, einer Unterweltslichtung glich – der Asphodeloswiese des Reiches, aus dem keine Wiederkehr ist. Unter dem Bogen der Weiden schimmerte etwas Helles. »Helene?« rief Belfontaine leise. Und noch einmal: »Helene?« Vor seinen langsam verschleiernden Augen zitterte, wie von innen bewegt, das Antlitz der Wirklichkeit: das Wasser unter den Flören der Zweige, welche ihr Bild in ihm suchten, bebte und brachte winzige Zauberkreise, an den Rändern immer wieder gebrochen, und die seltsame Fata Morgana eines Frauenbusens hervor, der sich atmend bewegte, senkte und hob und in der Bewegung verging. Beim Näherkommen entdeckte der Mann, daß drei Schwäne, dicht zusammengedrängt, über dem Wasser schwammen, dessen Spiegel von ihren rudernden Füßen unermüdlich erregt und gebrochen wurde, während er gleichzeitig aus der Weiße ihrer Brustfedern Licht empfing. Sie schienen ein einziges Wesen zu sein und in der Verbindung von Glanz und Flaum eine riesige Blüte zu bilden, eine glatte, seidig gespannte Wölbung von Art der Seerosenblätter, wenn sie vollkommen offen sind. Eine Sinnlichkeit, so schlechthin, daß sie sich selber schon wieder aufhob, um gleichnishaft zu werden, ging von dem Anblick der Vögel aus und 214 hüllte sie in das Geheimnis der Liebesgöttin ein – in ein Geheimnis, das zu ergründen jetzt Belfontaine lockender dünkte als jenes, das er ursprünglich zu enträtseln versuchte, und dessen Geistigkeit, allzu spröde für diese gewagte Begegnung, bereits an der Vorstellung einer Berührung mit dem Schleier der Göttin zerriß.
Wie ein Trunkener eilte er über den Rasen; die Vögel, aufgescheucht von dem Klirren der Gläser in seinen Händen, hoben gereizt ihre Hälse und stießen, während sich ihre Flügel zu halber Höhe entfalteten, ein leises Zischen aus – diese Töne, aus Zorn und Erregung gemischt, ließen Belfontaine bis in das Mark erbeben und machten ihn der Natur jener Tiere, welche jetzt ihre Geschlechtszeit hatten, mit voller Stärke teilhaftig. Er eilte auf den Pavillon zu, dessen Inneres nur durch die Öffnung erhellt war, die sich zugleich dem Ausgang des Wassers wie dem Einflug der Nistschwäne preisgab, und tastete an der Rückwand des Schwanenpavillons nach der unsichtbar eingelassenen Tür, die, ohne Klinke, mit jedem Windstoß nach innen flügelte. Sie wich zurück. Der stechende Dunst, den der überall auf den Bänken haftende Vogelkot durchdringend verbreitete, nahm Belfontaine die Luft, und die Bindehaut seiner Augen, die sich bemühten, das Dunkel gleichsam zurückzusaugen, fing, unerträglich gereizt, sofort zu tränen an. Er setzte Flaschen und Gläser zur Erde, taumelte gegen eine der Bänke und versuchte dann, fast ohne Hoffnung, sich hinter dem Schutzgitter seiner Hände im Finstern zurechtzufinden. Endlich gelang es ihm. Jene Helle, die unter dem Schleier der Weiden geleuchtet und ihm den Weg zu dem Pavillon in Gestalt der drei Schwäne gewiesen hatte, filterte sich allmählich durch seine sparrenden Finger, und Belfontaine sah – sich genau gegenüber, doch scheinbar so unendlich entfernt wie auf umgedrehten Vergrößerungslinsen – die Gruppe der Bäume, das grünliche Wasser und die tierische Seerosenblüte; allmählich aber verlor dieses Bild, das draußen wie unter Mondregen lag, an Deutlichkeit und schien seinen Glanz dem Innern des Pavillons abzugeben, der langsam dämmerte und vage Umrisse ohne Inhalt hervorzubringen bemüht war. Gleichzeitig mischten sich Atemzüge und ein unbestimmbares Rauschen in die Herankunft der Formen. 215 Dieses Rauschen konnte von einem Mantel, von der verborgenen Wasserquelle oder von jählings gesträubtem Vogelgefieder rühren; es nahte sich Belfontaine mit der Eile und auf den wütenden Füßen einer schrecklichen Traumkreatur, schlug peitschende Flügel um sein Bewußtsein und hackte in sein Fleisch. Die brütenden Schwäne. Er stieß einen panischen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr hatte, und warf sich gegen die Wand.
Im nächsten Augenblick lag eine Hand mit scheuem, sich gleich wieder lockerndem Druck auf seinem Schulterblatt. »Ich bin es. Still doch. Fürchten Sie nichts – der Pavillon ist leer«, sagte die schüchterne Stimme des Pfarrers, entfärbt, aber vollkommen klar. »Frau Gitzler hat mich gebeten, an ihrer Statt herzukommen und Ihren Wunsch entgegenzunehmen; Ihre Frage, Ihr Anliegen . . . was es auch sei. Sie deuteten es nur an. Ich fürchtete fast, Sie verfehlt zu haben, und warte schon lange auf Sie. Sie haben wohl einen Umweg gemacht«, sagte der Priester und wiederholte: »Ich warte schon lange auf Sie.«
Für die Dauer einiger Atemzüge weigerte sich Herrn Belfontaines Hirn, an dem Eindruck, den Augen und Ohren ihm vermittelten, teilzunehmen. Dann war es, als ob ein saugender Wirbel von unerhörter Gewalt seine Sinne bis auf den letzten schnalzenden Tropfen mit sich hinunterzöge und ihn zurückließe als ein Wesen, dessen Eindrücke nicht über Nerven und Blut, sondern unabhängig von ihnen in sein Bewußtsein drangen, wo sie wieder neue Erkenntnisorgane, Taster und Fühler schufen, welche sich einwärts bogen und die Bilder der Welt auf die Innenfläche einer hohlen Metallkugel warfen. Noch hielten seine entsetzten Ohren das vermeintliche Rauschen des Vogelgefieders, hielt seine schaudernde Haut die Berührung mit dem eingebildeten Federflaum fest, und während schon seine Erfahrung die Dinge ihres Traumleibs entkleidete, blieb ihm das Schwanenhemd Melusinens wie an klebrigen Händen haften. Es war leer. Doch gleich jenen Wassernixen, welche, wenn einer sie ihrer Hülle und damit ihrer Freiheit beraubt hat, immer wieder zurückkehren müssen, tauchte Helenens Gestalt aufs neue in seinem Inneren auf; durchdrang es, weil sich kein Widerstand der Wirklichkeit ihm entgegensetzte, und kam auf die Außenseite der Kugel, die sich wie eine schillernde 216 Blase allmählich von ihm entfernte und gleichsam seine ganze Person aus allen Häuten schälte. In ihrer feuchten, mondenen Weiße stand sie da und hob die Arme empor, um ihre Haare zu ordnen. Sie war die Schwanenblüte, war Leda und zugleich die nackte Frau in dem Landhaus, das er gesehen hatte; sie verschmolz mit den lasterhaften Dryaden, deren Brustwarzen bohnenförmige Perlen und deren künstlich gedrehte Locken bronzierte Metallfäden waren; zuletzt aber war sie nichts anderes mehr als der farbig zerfließende Schimmer auf seiner Gartenkugel, der über dem deutlich gezeichneten Weg in die Vergangenheit lag; war das schwimmende und verschwebende Abbild von Gräsern, Blüten und Bäumen; Spiegelbild eines grünenden Hauptes und die Klage, die jenem entströmte: »Ich habe keine Lust mehr«; das Geheimnis, welchem er nachgeforscht hatte, als er ausging, um »die Natur der Natur« in der Trauer des Fleisches zu suchen, in seiner Urschuld, in seinem Zwang und seiner Gesetzlichkeit. Dies Geheimnis – es war schon bereit gewesen, sich mit Händen greifen zu lassen und ihm den Schoß zu öffnen; ja mehr noch, ihn auf dem Grund dieses Schoßes mit dem Zwillingsgeheimnis der Urschuld: dem der Sünde, vertraut zu machen, der Sünderfreundschaft, der Sünderliebe, die den Priester mit Ehebrechern und Huren wie mit seinesgleichen verband. Er hätte teilgehabt. Welch ein Gedanke: teilgehabt an dem Geheimnis des Pfarrers um den Preis, ein eigenes zu verlieren, das vollkommen wertlos war; das ihn absonderte von dem Tisch der Fresser, ohne ihn der Gesellschaft des Priesters dadurch teilhaftig zu machen; ja, das nicht einmal erwähnt werden durfte, da es unter dem Beichtsiegel lag – – dieses mystische, lächerliche Bewußtsein, seit seinem Tauftag nicht mehr gesündigt, nicht Ehebruch, Unzucht, nicht Wucher, Erpressung oder sonst ein Laster getrieben zu haben, das den Bindestoff abgibt für Mann und Weib . . .
Eine Enttäuschung, so scharf und brennend wie der Vogelkot, welcher den alten Tobias hatte erblinden lassen, und der nun von neuem auf Boden und Bänke, auf die Futterstelle, den Nistplatz und den Beckenrand wie ein ätzender Regen herunterzufallen schien, ergriff diesen hübschen Menschen im Frack und raubte ihm den Verstand. 217
»Sie haben mir also nachspioniert«, sagte er außer sich. »Zuerst Frau Gitzler, dann mir.«
Die furchtbare Stille, welche Herrn Belfontaines Worten ohne jeglichen Nachhall folgte, öffnete sich wie ein Abgrund; aber der Strahl des Entsetzens, der ihn unverzüglich erhellte, zeigte dem Lästerer eine Stätte, die ihm schon lange vertraut war, ohne daß er es wußte. Es war ausgesprochen; es gab kein Zurück mehr aus diesem dämonischen Krater der Worte, dessen Felsenwände ihn rings umstanden und dem Höllengelächter in seiner Brust weder Echo, noch Antwort boten. Gut also. Sehr gut. Vortrefflich. Nichts Besseres konnte geschehen. »Ich will ehrlich sein«, sagte Herr Belfontaine und zügelte seine Wut. »Auch ich habe – Ihnen nachspioniert, und nicht erst seit drei Tagen.« Er starrte erwartungsvoll in das geneigte, jeden Ausdrucks bare Gesicht des Priesters, dessen Fläche, wie sie da aus dem Dunkel ohne Markierung hervorkam, einer wehrlosen Hostie glich. »Aber seit ich mich ganz ausdrücklich mit dem Geheimnis befasse, vielleicht auch mit der – Verfehlung, Herr Pfarrer, die Sie solchen Erpressern, wie jenen Bauern aus Ihrer alten Gemeinde in die Hände geliefert hat, fühle ich gleichfalls eine Bedrohung; etwas, das mich umlauert, verfolgt und mit falschen Auskünften narrt . . . Hören Sie?« fragte er heftig nach der unbewegten Gestalt hin, die sich auch jetzt noch nicht rührte. »Wie Sie wollen. Auch ohne Ihr Ja oder Nein werde ich fortfahren müssen. Ich sagte eben, daß man mir nachstellt. Jawohl: man belauscht meine Selbstgespräche, umschleicht mich, entschlüpft mir, beobachtet mich und beginnt dann in neuer Gestalt das unverschämte Spiel. Herr Gitzler, Herr Mösinger, Gully selbst, diese elende Kreatur. Alle das gleiche. Fast kaum unterschieden. Nur soviel wie die Figuren in einer Schnellsehtrommel, wenn sie um eine halbe Bewegung beim Umdrehen weiterlaufen. Ein Blitz, und hui – der Erste ist weg, doch der Zweite setzt schon die Geste fort, die der Erste begonnen hatte. Andere tauchen wie Wasserleichen mit blauen Gesichtern auf und sind nur bedeutungsvoll durch den Zufall, der sie nach oben geschwemmt hat: die Walfischforelle, die ich nicht eher erkenne, bis sie zwei Schritte vor mir steht, und die Kindermann, deren getrübter Geist mich mit dem toten 218 Gauner verwechselt, den Sie gestern begraben haben. Sie alle scheinen im Bunde zu stehen und in den rasenden Kreis zu gehören, der Einen aus ihnen allen macht. Und das Schlimmste: während ich sie vergeblich zu unterscheiden versuche und mich bemühe, Ihre Funktion in diesem Spiel zu erkennen, werde auch ich von Ihnen erkannt und von mir fortgezogen. Ich verliere mich oder werde verloren – so lächerlich das auch klingt. Entsetzlich: ich habe kein Zeitgefühl mehr und glaube mich meiner Zukunft in Träumen zu . . . erinnern; ich sehe mir selbst auf den Rücken, während ich mir enteile. Gestatten Sie: Lazarus Belfontaine – –« Er schwankte, drehte sich theatralisch um seine eigene Achse und schlug mit dem Kopf an die Wand. Dann brach wie ein Hurrikan jenes stumme, fürchterliche Gelächter, das ihn schon lange erfüllte, aus seiner gepeinigten Brust.
»Nun dachten Sie wohl, ich redete irre?« fragte Herr Belfontaine endlich erschöpft und trocknete sich die Stirn.
»Nein«, sagte der Priester. »Nein, oh nein.« Er ließ sich auf eine der Bänke nieder und verbarg das Gesicht in den Händen.
Herr Belfontaine nahm sich wieder zusammen und schob sich in den Schultern zurecht, legte die Arme hinter den Rücken und sah auf den andern herab. »Gut«, fuhr er fort. »Also nehmen wir an, ich sei nicht verrückt geworden. Dann ist entweder alles nur Zufall oder . . .«
»Es gibt keinen Zufall«, sagte der Pfarrer leise. »Sonst wäre ich nicht hier.«
»Sie sind hier, weil Frau Gitzler Sie wohl oder übel hierhergeschickt hat, Herr Pfarrer; weil Sie fragten, warum und wohin mein Kind?, weil Sie beauftragt sind, jedem Sünder von Berufs wegen nachzugehen«, sagte Belfontaine triumphierend. Eine schamlose Freude, sein Herz zu entblößen und den Priester zu zwingen, bis auf den Grund seiner Zerstörung zu sehen, bemächtigte sich seines Geistes und ließ ihn eine Begegnung ahnen, die an Lusterfahrung bei weitem jene, die ihm entgangen war, übertraf, und seine zerfleischten, wie mit dem Schwert jäh abgehauenen Sinne gleich Gorgonenhäuptern, ergänzte. »Oder irre ich mich, und der Heilige Geist hat Sie plötzlich hierher geblasen?« 219
»Belfontaine«, sagte der Pfarrer beschwörend, »sprechen Sie bitte nicht weiter!«
»Doch, doch – da Sie nun einmal hier sind, werde ich weitersprechen. Stört Sie das etwa? Nun trösten Sie sich. Auch Sie haben mich gestört. Sie haben mein Tête à Tête mit Helene – pardon: mit Frau Gitzler, gestört.« Er wartete wieder vergeblich auf eine Geste des Pfarrers, aber weniger noch: schon ein Zucken und Zittern hätte ihm vollauf genügt. »Und Sie begreifen natürlich nicht, was das für mich bedeutet«, setzte er fast widerstrebend seine Enthüllungen fort. »Ganz abgesehen von ihren Reizen, die ich zunächst überhaupt nicht suchte – – nein, nein, ich habe ihr Fleisch nicht gesucht, ihre weiße, widerlich süße Haut, ihre moosigen Haare und ihre schweren, ewig vibrierenden Schenkel, über denen die Röcke sich spannen . . . ganz abgesehen von all diesen Dingen, die freilich selbst einen Eunuchen würden verrückt machen können, habe ich anderes von ihr wissen – oder erfahren wollen.« Sein Atem stockte, als ob ihm die Kehle von der Würgefaust eines Riesen plötzlich zusammengepreßt und abgedrosselt würde; sein Puls ging in harten, stoßweisen Schlägen wie über körnigen, trockenen Sand . . . dann ließ der furchtbare Druck wieder nach, und mit dem neugewonnenen Atem stieß Belfontaine die Worte hervor: »Ich wollte von ihr in Erfahrung bringen, was Sie und diese Frau Gitzler miteinander verbinden könnte. Welch ein Geheimnis teilt sie mit Ihnen? Und worin gründet ihr Vorzug, mit Ihnen befreundet zu sein?« Er horchte eine Weile ins Dunkel und fuhr dann mit hastiger Stimme fort: »Wenn ich das wüßte, wären mir wohl auch andere Dinge klar, nach denen ich jetzt noch vergeblich taste, um sie zusammenzuschieben. Denn sie bedeuten alle das Gleiche – ich fühle das ganz genau: der Besuch jener Bauern, das Kreuz des Mathieu, Ihre Armut . . . und Ihre Einsamkeit«, fügte er leise hinzu.
»Ich bin nicht einsam, Herr Belfontaine«, sagte der Pfarrer endlich. Im gleichen Augenblick trieb eine Wolke von hundekopfähnlicher Bildung, deren Ränder bis dahin den Mond bedeckt und sein gegengöttliches Licht durch die Schleier der stofflichen Lüge gefiltert hatte, fort . . . und der Pavillon sättigte 220 sich mit dem Schein, der von dem Leib einer kalten Diana, ihrer eisigen List und der Mordgier der silbernen Todespfeile seinen Ausgang zu nehmen schien.
»Nicht einsam«, echote Belfontaine und preßte, während sein Hirn sich entleerte, um einer schwindelerregenden Klarheit und Ruhe Platz zu machen, eine Hand auf das getroffene Herz, dessen Wunde nicht ausströmen sollte. Sofort, als zöge ein furchtbares Gift die zerrissenen Adern zusammen, kehrte gleichsam das Blut auf dem Wege um und ergoß die stürzende Lebenswelle in Becken und Geschlecht. Er fühlte die Erde. Sie war ihm nah und trug ihn, wie eine Geliebte das Gewicht des Mannes erträgt. Er stand. Oh, wie fest und gut er nun stand, wie einfach und sicher gegründet war dieses neue Gefühl. Nichts würde ihn jetzt mehr erschüttern und aus der Bahn werfen können, dachte Herr Belfontaine dankbar, oder das Gleichgewicht stören, welches ihn, wie einen Schwimmer der Auftrieb, aus den finsteren Wirbeln hinausgetragen und ihn in den vollen Besitz all seiner Kräfte gesetzt, ja, ihm andere Kräfte hinzugewonnen und die alten gereinigt hatte. Jeder Muskel gehorchte ihm, jeder Gedanke war ohne Bodensatz, leicht und frei; gefügig und zugleich fest genug, um jede beliebige Bindung nach den Gesetzen, besser: den Launen eines noch nicht begonnenen Spiels ohne Schwierigkeit einzugehen . . . Herr Belfontaine verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand; sein Rücken fühlte durch Tuch und Leinen ihre weiche, unregelmäßige Bildung, den roh beworfenen Muschelkalk, jeden Kratzer und jede winzige Schale, und gab diese Eindrücke dem Gehirn wie die Anfänge einer Welterfahrung mit kindischer Freude weiter.
Ich bin neu geboren. Wiedergeboren, fühlte Belfontaine ohne Erstaunen und tat seit langem zum ersten Mal einen tieferen Atemzug. Seine Lungen, noch eben zusammengepreßt wie durch salzige Meeresfluten, entfalteten sich und füllten sich auf; der insgeheim erwartete Schmerz blieb jedoch vollkommen aus. »Es ist so. Ich habe meine Vernunft, Gott sei Dank, wiedergefunden und darf das Äußerste wagen«, sagte er sich befriedigt und wiederholte mit ruhiger Stimme: »Nicht einsam. Wirklich nicht einsam? Das hieße doch, daß Sie Freunde 221 haben, die nicht nur Ihre Gedanken bevölkern, Ihr Mitleid erwecken und Ihre Sorge: Beichtkinder, Glieder Ihrer Pfarrei oder Mitwisser Ihrer Fehler, sondern solche, welche Sie lieben können, wie man sonst nur das eigene Fleisch und Blut, einen Bruder zum Beispiel, liebt.«
Sein Blick, der den Priester von neuem suchte, traf mit dem Wandgemälde zusammen, das die Umarmung des göttlichen Schwanes mit der badenden Leda zeigte. Halb zurückgesunken, mit klaffenden Knien und ausgebreiteten Armen, empfing die Erwählte das schreckliche Tier, welches schon über ihr war; doch drückte ihr Antlitz weniger Furcht, als einen sonderbar leichten Spott über den plumpen Vogel aus, dessen entfaltete Schwingen dazu geschaffen schienen, den einwärts gesetzten Füßen das Gleichgewicht zu verbürgen; es spiegelte, dieses glatte Gesicht, zugleich die Erwartung der Lust und deren Verachtung wider; zuletzt aber auch jenen schmerzlichen Hohn, mit welchem das überwältigte Fleisch den eigenen Abgott empfängt.
Beunruhigt, ohne zu wissen warum, glitt Herrn Belfontaines Aufmerksamkeit von dem Gemälde wie von allzu gefährlichen Felswänden ab und rann in der stillen Oase der priesterlichen Erscheinung zusammen, in Augen, die einer kühlen Zisterne, und Lippen, die einem Brunnenmund glichen, der sich unaufhörlich bewegte. Betete er? Herr Belfontaine neigte sich zu ihm herunter und forschte mühsam, als ob er selber den Mund voller Wasser hätte: »Was sagen Sie? Sprechen Sie bitte lauter. Sie haben also solch einen Freund? Oder gar mehrere? Wie?« Während er fragte, wurde ihm klar, daß ein ununterbrochener Strom von Namen dem geheimnisvoll flüsternden Antlitz entquoll, welches ihm Antwort gab. Er kannte sie. Aber sie waren ihm fremd, unaussprechlich fremd, diese Freunde des Priesters mit den eigentümlichen Namen: Linus und Kletus, Klemens und Xystus, Kornelius, Cyprian und Laurentius, Chrysogonus, Kosmas, Damian. Tote Namen in toten Sprachen, dachte Herr Belfontaine fast verächtlich, welche in jeder Minute über den Erdball gingen und also allen gehörten, die sich bemühten, sie nachzuplappern und ihnen einen tieferen Sinn, eine Bedeutung abzugewinnen wie dieser Arme 222 da. Nun wurde er wirklich von Mitleid ergriffen, von dem lauwarmen, flachen Mitleid des Spießers, den keine Erkenntnis beschwert.
»Das sind also Ihre Freunde, Herr Pfarrer?« fragte er gönnerhaft.
»Das sind meine Freunde, Herr Belfontaine«, erwiderte der Priester und blickte ihn aus unendlicher Ferne mit kühler Traurigkeit an.
»Und sonst? Ich meine: wie unser einer? Solche aus Fleisch und Blut?« fragte Herr Belfontaine. »Aber nennen Sie jetzt nicht nur Arme und Sünder. Arme Sünder«, witzelte er. »Denn sehen Sie: Heilige, Sünder und Arme sind doch schließlich nur Abstraktionen. Aber Herr Gitzler, zum Beispiel, ist eine Wirklichkeit, he!«
»Eine Wirklichkeit?« fragte der Priester langsam. »Ich soll Ihnen meine Wirklichkeit nennen, mit der ich zusammenlebe?« Eine glühende, plötzliche Hitze streifte Herrn Belfontaines Stirn. Es war genau die gleiche Empfindung, welche ihn vorgestern angerührt hatte, als der Priester sagte: »Geben Sie acht, ich habe das Allerheiligste bei mir«; als Herr Belfontaine den Wankenden stützte und sich anstemmte gegen die doppelte Last, welche ihm auferlegt war. Nun stemmte er sich wieder von neuem und fühlte, daß mit ihm der Boden sich stemmte und aufbäumte gegen das furchtbare Wort, das bis in die Hölle dringt; vor welchem, wie mit der Springwurz berührt, die Riegel der Unterwelt fallen und das Siegel der Sprache schmilzt. Wirklichkeit. Donnerwort, das er gesucht und wieder geflohen hatte, und das ihm nun mitleidslos aufgedrängt wurde wie Simon von Cyrene das Kreuz, an welchem später mit vollem Gewicht die Frucht der Erkenntnis hing. Herr Belfontaine bebte feige zurück. Erkenntnis der Wirklichkeit: wollte er sie? Und jetzt? Und aus diesen Händen?
»Nun gut, Herr Belfontaine«, sagte der Priester ohne die Stimme zu heben. »Aber beantworten Sie mir zuvor nur eine einzige Frage.«
Er bückte sich, hob einen Kieselstein auf, der ihm zu Füßen gelegen hatte und warf ihn gedankenlos, ohne zu zielen, auf die verwucherte Wasserfläche. Das kleine Geräusch des 223 getroffenen Spiegels und der winzige Aufblitz, welcher dem Wurf, bevor noch der Ton verklungen war, folgte, schien Frage und Antwort im Reich der Natur bereits vorweg zu nehmen, zumindest aber, sie vorzubilden und um den Ausgang zu wissen, bevor er entschieden war.
»Nun?« forschte Belfontaine atemlos und umklammerte die Lehne der Bank, auf welcher Mathias saß.
»Glauben Sie an die Gottheit Christi?« fragte der Pfarrer einfach.
Eine tiefe, mystische Stille folgte den Worten des Priesters. Nur ein Brausen von unendlich entfernten, stürzenden Wasserfällen war in Herrn Belfontaines Ohr; gleichzeitig schien dieses mächtige Rauschen jeden anderen Laut aus der Luft zu nehmen und die Materie des Raumes, sein Echo und seine Begrenzung, in sich hineinzusaugen, bis endlich ein neues Gebilde entstanden und ein Wasserkörper mit sphärischen Wänden, die sich unaufhörlich von neuem erbauten, an die Stelle des alten getreten war.
»Antworten Sie, Herr Belfontaine!« Die Stimme des Priesters, gedämpft, aber deutlich, war dem Rauschen wie Chrysam beigemischt worden, wie ein Hauch, wie Katechumenenöl, das die Kraft der Reinigung hat. »Glauben Sie an die Gottheit Christi?« fragte er noch einmal.
Herr Belfontaine zuckte betroffen zurück. »Sie überfallen mich«, stammelte er, »wie mit der Blendlaterne. Natürlich –« Er hatte fortfahren wollen: »glaube ich an die Gottheit Christi.« Aber er konnte es nicht. Mit voller Gewalt sprang die Wahrheit ihn an und war, wie ein reißendes Tier, Körper an Körper mit ihm. Schon fühlte er ihren versengenden Atem, ihre wilde Entschlossenheit, jeder Lüge in seiner Kehle zuvorzukommen, und endete deshalb: »Natürlich – nicht. Wahrhaftig, daran glaube ich nicht. Kein vernünftiger Mensch –« Er stockte von neuem und schloß: »Kein vernünftiger Mensch kann heute noch behaupten, er glaube an einen Gott im Fleisch wie Jupiter oder Apoll. Welche Lästerung, jenen erhabenen Geist mit dem unaussprechlichen Namen in einem Menschensohn anzubeten, der seinen Speichel mit Erde vermengt, um Blinde sehend zu machen! Welches Ärgernis, Gott Gestalt 224 zuzuschreiben, einen Rumpf und unreines Eingeweide, in dem die Verwesung gärt. Nein, niemals! Scheußlicher Kinderglaube, der mit Händen und Füßen am Boden kriecht, um jeden Gegenstand abzutasten und in den Mund zu stopfen. Erbärmliche Vorstellung eines Gottes, der dem Zweifler befiehlt, seine Fingerspitzen in die Wundmale seines ›verklärten Leibes‹, wie die Kirche das nennt, zu legen, um an der Berührung mit Schorf und Bein seines Daseins gewiß zu werden! Das Dogma der Auferstehung, Herr Pfarrer, worauf Ihre Frage gründet, ist die abgeschmackteste Ausgeburt einer enttäuschten Hoffnung, die nicht nur jede Vernunft beleidigt, sondern jegliches religiöse Gefühl, das Gott im Geiste verehrt. Wäre das Christentum das geblieben, was seinem Stifter vorgeschwebt hat –«
»Sie wissen also, Herr Belfontaine, was seinem Stifter vorgeschwebt hat?« fragte der Pfarrer ruhig.
Diese Gelassenheit und der Umstand, daß der Priester den Strom seiner Lästerungen mit einer so nebensächlichen Frage wie dieser unterbrach, brachte Belfontaine außer sich. »Mindestens glaube ich wohl zu wissen, was ihm nicht vorgeschwebt hat«, schrie er wie ein Verrückter und ballte krampfhaft die Fäuste. »Dieser unermeßliche Zug des Jammers, der seiner Vergötzung nachgefolgt ist und eine blutige Mythologie aus seinen Worten gemacht hat, die allerdings heute unter den Hieben der Wissenschaft wieder zerschellt. . . . Dieser Zug des Jammers, sagte ich eben: Einsiedler, die ihr Geschlecht verstümmeln und sich wie rasende Mithrasjünger das Fleisch aus den Lenden geißeln; Töchter, die ihre Väter verleugnen und Märtyrerinnen von solcher Art wie Felicitas oder Perpetua, welche ihr neugeborenes Kind zu verlassen imstande gewesen ist und ihr Leben auf den gesenkten Hörnern wilder Kühe geendet hat – welche Wut der Entrückung, welch düstere Härte, welche peinliche Barbarei! Selbst ein Franziskus, ein Franz von Sales und eine Elisabeth beherbergen diesen Keim der Empörung gegen Ordnung und Menschlichkeit. Menschlichkeit – –«, wiederholte er stöhnend und streckte die Hände aus. »Ist es denn wirklich zu viel, was ich von Ihnen verlange? Helfen Sie mir!«
»Das kann ich nicht«, sagte Mathias müde. »Es gibt keine 225 Hilfe ohne den Glauben. Selbst Christus bindet daran seine Allmacht – und ich, der schwächste von allen Priestern . . . »bitte, verschonen Sie mich«, sagte er rührend einfach und senkte seine Stirn.
»Sie wissen noch nicht, worum ich Sie bitte«, erwiderte Belfontaine rauh. »Kein Wunder und keine Totenerweckung: steh auf und wandle, sei sehend, sei rein, Lazarus, komm heraus –« Er erschrak bei der Nennung des eigenen Namens und blickte den Geistlichen an. »Scherz bei Seite«, sagte er gleich darauf mit unnatürlichem Lachen. »Ich will keinen Hokuspokus von Ihnen wie irgend ein dummer Bauer. Ich will Ihre Freundschaft. Sonst nichts.«
Der Geistliche schauderte fröstelnd zusammen; seine Haltung drückte unendliche Trauer und gleichzeitig eine Müdigkeit aus, die sich so absichtslos darbot, daß jeder andere ihn geschont und sich erbarmt haben würde. Der Verzweifelte aber, der sich jetzt heftig an seine Schulter geklammert hatte, verfolgte ihn, ohne inne zu halten, mit wilder Eintönigkeit.
»Oder – bin ich Ihnen noch immer nicht sündig genug, Herr Pfarrer, damit Sie bei mir essen und trinken und ein Stündchen mit mir verplaudern könnten? Mein Gott, ich habe ja selbst bis heute von alle dem nichts gewußt. Ich habe sieben Jahre hindurch tatsächlich zu glauben – geglaubt. Aber es war ein Irrtum, und ich . . .« Seine Mundwinkel bogen sich abwärts, dann sagte Belfontaine kalt: »Ich bin ein Israelit geblieben. C'était plus fort que moi.« Er ließ die Schulter des Geistlichen los und fuhr in zynischem Tonfall fort: »Doch schließlich – darüber ließe sich reden. Nehmen Sie mir den Glauben ab, anstatt mich, wie ein zu ersäufendes Tier, in ihn hinunter zu stoßen.«
»Nehmen Sie mir den Glauben ab –«, dröhnte es in den Ohren des Priesters, der nun sein Gesicht in den Händen verbarg, um dem Antlitz Luzifers auszuweichen; der seine Ohren angsterfüllt zuhielt, um seine Stimme nicht hören zu müssen, seinen tödlichen Hohn, sein entsetzliches Lachen, mit welchem er jede Bemühung wie ein Echo begleitete. Aber selbst in dem schützenden Dunkel seiner gesalbten Hände begegnete er ihm. Er sah ihn. Tausendfältig vervielfacht in einer blökenden Menge, 226 sah er den Hirt dieser schrecklichen Herde, welche ihr Haupt zu dem Heiligen aufhob und ihm die Füße leckte. Ihr starrer Nacken, die finsteren Augen, das geile Maul und das Horn der Hybris, das ihre Stirnen bekrönte . . . dieses Antlitz der Hölle, bereits gerichtet, bevor es verurteilt war: »Tu ein Zeichen!« rief es in allen Sprachen. »Verwandle diese Steine in Brot! Verbiete, dem Cäsar Steuern zu geben! Errichte das Reich dieser Welt.«
»Sie wollen nicht?« fragte Belfontaine düster. »Sie – Sünderheiland lehnen die Bitte nach einfacher Menschlichkeit ab?«
»Was heißt das – einfache Menschlichkeit?« fragte der Priester zitternd; im gleichen Augenblick war sein Gesicht von Tränen überströmt. »Jerusalem! O, Jerusalem!« sagte er liebevoll. »Als ob es ohne den Menschensohn etwas wie Menschlichkeit gäbe!«
»Gut – zeigen Sie mir diesen Menschensohn, damit ich an ihn glaube!« rief Belfontaine hochmütig aus. »Doch nicht auf den Wolken des Himmels oder in sonst einer Pose abscheulicher Vielgötterei. Den natürlichen Menschen – !«
Er prallte zurück. Das Antlitz des Priesters, vor schweißiger Blässe wie das eines Toten leuchtend, schien gleichsam in Stücke zu springen. »Hier! Hier!« Er nestelte seinen Rock auf und riß ein Sterbekreuz in die Höhe, dessen Korpus aus abgescheuertem Silber von dem spöttischen Mondlicht betastet und neugierig bloßgelegt wurde. »Da ist er – der natürliche Mensch. Ein Wurm und kein Mensch – dieser Mann der Schmerzen, betrachten Sie ihn genau. Keine Schönheit ist an ihm und keine Gestalt, außer der Sünde, mein Kind.«
»Fort!« keuchte Belfontaine wie besessen. »Fort, fort mit Ihrem gekreuzigten Gott, der Vernunft und Sinne verhöhnt. Aus den Augen mit diesem Zerrbild des Menschen, das jeder Grieche beschämen könnte. Ich sage Ihnen: fort!«
Der Geistliche barg das Kreuz an der Brust. »Und doch, Herr Belfontaine«, sagte er ruhig, »wurden Sie einmal aus freiem Willen auf den Tod dieses Menschen getauft. Sie tragen sein unauslöschliches Siegel, das Feuer und Wasser nicht tilgen; das den Himmel himmlischer und die Hölle –«, er schauderte wieder zusammen, »die Hölle . . . höllischer macht. Sie sind kein ›natürlicher Mensch‹ mehr, lieber Herr Belfontaine. Sie 227 sind wiedergeboren – so oder so. Ihr Schicksal vollzieht sich mit Gottes Schicksal; an dem Leib seines Sohnes oder am Leib des ewigen Widersachers, in dessen Fleisch er mit tausend Gliedern, die das unauslöschliche Siegel tragen, hinabgewuchert ist. Auch das Geheimnis der Hölle ist Gottes Geheimnis, mein Freund. Auch sie . . .«, die Stimme des Priesters brach, »ist ein Mysterium der Liebe und darum ewig wie jene – – ewig, mein armer Freund . . .«
»Freund!« wiederholte Herr Belfontaine eisig. »Ersparen Sie sich dieses Wort. Ich will es nicht mehr. Oder besser: ich will es nicht mehr von – Ihnen.« Er atmete aus und fuhr klanglos fort: »Sie sagten: wiedergeboren. Ich bin es. Aber Sie ahnen nicht, woher ich es eigentlich bin.«
»Ich ahne es«, sagte der Priester trostlos und tastete nach der Tür. »Doch bedenken Sie, daß auch jetzt noch der Vater in Ihrem Gesicht die Züge des Sohnes sucht. Sein Eifer umfängt selbst die unterste Hölle, und ihre Flammen sind Liebesflammen, die der Verdammte als neuer Prometheus vom Himmel herunterreißt. Das macht sie so fürchterlich. Gottes Liebe und Gottes Hölle heben einander nicht auf. Aber erst beide zusammen ergeben Gottes Gericht.«
Herr Belfontaine öffnete ihm den Ausgang, indem er den leichten Tapetenflügel des Pavillons mit den Schultern gegen das Strauchwerk drückte. »Es komme über mich!« sagte er ruhig. »Ich werde mich nicht entziehen.« Die Tür schlug mit schleifendem Ton zurück, und Belfontaine war allein.
Noch schienen Worte wie »Gottes Gericht« als Schwerter aus feurigblauem Ozon in der gesättigten Luft zu stehen, die sich allmählich verflüchtigte, während der Umriß dieser Begriffe sich aufzulösen begann. Wie Waffen in alten Votivkapellen verloren sie ihre Schärfe; ihre Schneide beschlug sich, Rost überzog sie, die Feuchtigkeit in den rissigen Wänden machte sie untauglich. Schon sank der ganze Raum in den Zustand einer gärenden Metamorphose zurück und verlor, sich erweichend und pflanzenhaft werdend, die Beziehung zu jeder Sprache: er gab kein Echo mehr, keinen Schall, sondern erstickte, außer dem Schmatzen, mit dem die Fäulnis tiefer und 228 tiefer in sich zusammenrückte, jeden anders gearteten Laut. Selbst Leda lächelte nicht mehr spöttisch, sondern erwartete ihre Gottheit mit blind geöffnetem Schoß. Ihr Leib, von kleinen Sprüngen durchzogen, schien sich in zitternden Atemzügen zu heben und zu senken; er wurde lebendig, indem die Zerstörung ihr Werk an ihm vollbrachte, und wölbte sich nachgiebig, ehe noch die tragischen Dioskuren und die schöne, verlorene Helena ihr Dasein in ihm begannen. Der Zurückgebliebene, der sie nun ansah und sich in dieser stummen Betrachtung gleichsam mit ihr vermählte, sie in Besitz nahm, schauend umarmte und förmlich mit ihr verschmolz, erzitterte vor Glück. »Wie ein Siegel drücke mich auf dein Herz«, flüsterte er blasphemisch, »auf deinen Arm wie ein Siegel. Stark wie der Tod ist die Liebe doch. Wie die Hölle so stark ist die Liebe.« Ein heftiges Brausen näherte sich und schien Belfontaine Antwort zu geben; es glich bald dem Schwirren eherner Pfeile, bald war es von klatschenden, schweren Schlägen wie der Hinzug äonischer Flügelrosse, von der Geißel Apolls, untermischt. Dann verdunkelte sich der Eingang des Tempels, und zwei einander begattende Schwäne drangen wie eine riesige Wolke, vor Liebeswut rasend, mit vorgestreckten, stimmlos erstarrenden Hälsen ein und zerbrachen den Wasserspiegel. Das Männchen, während sich sein Gefieder wie eine Spindel zusammenlegte, drückte die Schwänin nieder und war schon im nächsten Augenblick über sie weggeglitten, die immer noch eifernd hackte und bebte; nicht lange danach umspielten sie beide einander und zogen ruhig ihre sanften Kreise, liebkosten mit ihren Schnäbeln den Rücken des Gefährten und drängten, nebeneinander schwimmend, in einer zweiten, stilleren Einheit liebevoll Leib an Leib.
Herr Belfontaine sah entrückt auf sie nieder und horchte mit geronnenem Lächeln nach draußen in die Nacht.
»Helene! Wo bist du? Helene? Helene?« rief eine Männerstimme von fern, die unaufhörlich den Ort ihrer Herkunft, wie beim Blindekuhspielen, wechselte und den Weg zu dem Pavillon nahm. Die Schwänin, als ob ihr Name genannt sei, richtete sich empor. In dem Luftzug, der durch die geöffnete Tür drang, sträubten sich ihre Nackenfedern und stellten sich einzeln auf. Die Arme tastend von sich gestreckt, betrat Herr Gitzler den 229 kleinen Tempel und blieb vor Belfontaine stehen. »Wo ist sie?« fragte er hastig. »Wo ist Ihre Tischdame? Reden Sie doch! Sind Sie ihr nicht begegnet?« Im Sprechen stieß sein Fuß an die Gläser, die auf dem Boden standen. »Was ist das?« murmelte er verloren und hob Flasche und Gläser empor.
»Nein«, sagte Herr Belfontaine laut und deutlich. »Ich habe sie vergebens gesucht und nach ihr Umschau gehalten. Sie wird nach Hause gegangen sein. Fragen Sie doch den Pfarrer einmal, eben war er noch hier.« Er nahm Herrn Gitzler die Flasche ab, schlug ihren Hals an dem Beckenrand auf und füllte die Kelche: »Prost! Ich hatte eine Besprechung mit ihm. Wir sind nicht zum Trinken gekommen.«
Herr Gitzler stürzte den Inhalt des Glases, ohne abzusetzen, herunter und warf es gegen die Wand. »Wissen Sie, wieviel Uhr es jetzt sein mag?« fragte er unruhig und fügte hinzu: »Soviel ich weiß, kommt der D-Zug aus Mainz um 10.45. Helene erwartet noch eine Bekannte und ist unmöglich vor ihrer Ankunft und den lebenden Bildern nach Hause gegangen . . .« Er unterbrach sich und blickte verstört Herrn Belfontaine in die Augen. »Aber sie ist auch nicht da«, sagte er wie ein Kind.
Herr Belfontaine drehte den Fuß seines Glases gleichmütig hin und her. »Haben Sie denn schon überall, ich meine: im ganzen Garten gesucht?« fragte er unbeteiligt. »Und in den Sälen? Was tut man jetzt? Wie weit ist unser Programm?«
»Française, Quadrille . . .« erwiderte Gitzler. »Hernach wird die singende Laura eine Arie zum besten geben und der Gerichtsassessor Hunnäus einen Mundart-Vortrag vom Stapel lassen. Dann kommen Rheinländer, Walzer und wieder eine Arie, hierauf die vierzehn lebenden Bilder und am Ende das Feuerwerk.«
»Mein Gott«, sagte Belfontaine achselzuckend, »dann kann Ihre Frau doch inzwischen einmal nach Hause gegangen und wiedergekommen sein. Wahrscheinlich hat sie ein Kopfwehpulver für ihre Migräne genommen und ist auf dem Weg zurück.«
»Nein, nein«, widersprach der andere heftig. »Sie hätte sonst ihren Mantel verlangt. Aber er hängt noch da.«
»Oder – schon wieder, Herr Gitzler«, sagte Belfontaine, endlich berührt von der Aufregung dieses Menschen. »Kommen 230 Sie! Fragen wir einfach die Garderobenfrau, ob Ihre Gattin zwischendurch fort war und wiedergekommen ist.«
»Sie haben recht«, sagte Gitzler rasch, »wir fragen am besten die Frau.«
Sie verließen eilends den Schwanentempel und strebten, fast überstürzt, dem Hauptgebäude zu. Weil die Nacht nun wirklich gekommen war und der letzte verdämmernde Tagesrest, noch abgewandt, zögerte, sich in die Arme der Hoffnung zu stürzen, um im Verlöschen bereits hinüber in neue Helle zu fließen, traten die funkelnden Lichterreihen der Windleuchten und Papierlaternen mit trockener, klarer Härte in ihrer Bestimmung hervor; sie trugen den schnurgeraden Charakter rational verlaufender Wege und führten, obwohl dem Spiel der Erfindung in einigen, gleichsam verlorenen und hingestreuten, Lampionen Rechnung getragen war, wie Marschkolonnen zum Ziel.
»Glauben Sie«, fragte Herr Gitzler plötzlich und blieb vor dem Hauptportal stehen, »daß es nur ein Entweder-Oder gibt? Ich meine«, erläuterte er mit befremdender Eindringlichkeit, »daß ein Mensch nur dies oder das tun kann, rechts oder links gehen, immer gehalten von den Schranken der Überlegung?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Der Mensch kann alles. Er hat, die unendliche Wahl. Aber wir wundern uns immer wieder, wenn unsere Rechnung nicht stimmt. Ja, eigentlich finden wir dann erst sein Handeln unmoralisch. Und doch wurde weiter gar nichts gekränkt als die Eitelkeit unsrer Vernunft.«
»Schön, schön«, sagte Belfontaine ungeduldig und ging Herrn Gitzler voran . . .
Die Garderobe, das Reich der alten Rosine, die früher Souffleuse an kleinen Theatern und später die Frau eines kasperlhaften Perückenmachers gewesen war, erschien auf den ersten Anblick vollkommen menschenleer. Eine abgedämpfte, schiefhängende Lampe, deren schadhaftes Glühstrümpfchen flackernd verzuckte, baumelte an der Decke und warf ihren unzulänglichen Schein auf die beladenen Kleiderständer, welche fast überquollen und herausgeputzt waren mit Umhängen, 231 Mänteln, Spitzenschals, Straußenfederboas, dazwischengestellten seidenen Schirmen und vereinzelten riesigen Damenhüten, auf denen die Bälge exotischer Vögel sich wie unter Semiramis' hängenden Gärten mit versteinerten Augen wiegten. In dem unbestimmten, diffusen Licht hatten sie, parfümiert und gebügelt, auch eine schauerlich tiefe Verwandtschaft mit den ausgetragenen Haderlumpen in Manasses Althändlerladen und boten wie sie den grotesken Anblick einer fühllosen Schar von Gespenstern, die still für sich weiterleben, während schon ihre früheren Träger in Asche zerfallen sind. Ja, mehr noch: ihr geduldiges Warten hatte etwas von abgelegten, der Auferstehung harrenden Hüllen, die jederzeit bereit sind, sich wieder mit Fleisch und Blut anzufüllen, sich von gepreßten Brüsten zersprengen und ihre Nähte von üppigen Schultern und Armen dehnen zu lassen. Inzwischen vertrieben sie sich die Zeit, indem sie einander berührten, ihre Wohlgerüche: Moschus und Ambra, Jasmin, Heliotrop, Centifolie, vermischten und dem Auge das laue Unterweltspiel einer lesbischen Liebe gaben; sie verrieten die Reize und Mängel ihrer Besitzerinnen und taten in kleinen, belanglosen Zeichen deren Erlebnisse kund. So spielten sie die Gesellschaftskomödie der Sinnlichen, wie der Kalten, der Geizigen, wie der Verschwenderin, der Ehebrecherin, wie der Keuschen, der Geschwätzigen und der Stummen auf spukhafter Ebene weiter; entschleierten gleichsam den Spuk dieses Lebens und träumten es von sich fort . . .
Aus dem Hintergrund kam ein verlorenes Murmeln, dessen Ursprung nicht zu bestimmen war. Es glich dem Raunen, Rieseln und Rauschen einer unversieglichen Quelle, welche zugleich beruhigt und ermüdet, während sie immerfort wachbleibt – gespeist von etwas, das nicht sie selber, doch ihrem Wesen verwandt ist und es beständig erneut. Endlich entdeckten die beiden Männer, woher dieses Murmeln kam. Hinter der hölzernen Schranke, auf welcher die Kleidermarken und ein paar abgerissene Blöcke mit Eintrittsbilletten lagen, saß, halb überdeckt und verborgen von elegantem Plunder, unter welchem sich ihre gekrümmten Finger an einem Rosenkranz unermüdlich von Perle zu Perle schoben, die Garderobenfrau. Sie betete, während ihr Mund sich bewegte, und ihr vogelhaft 232 kleiner, eisgrauer Kopf von einer flaumigen Federboa verächtlich gestreichelt wurde. Sofort, als sie die Herren bemerkte, wechselte ihr Gesicht von dem Ausdruck einer unvorstellbaren Abwesenheit zu reiner Bereitschaft herüber. Es wurde demütig, ohne gemein, und gegenwärtig, ohne bewußt und aufdringlich zu werden; vielmehr lag die gleiche innere Spannung, die es beim Beten durchdrungen hatte, auch jetzt noch auf ihren Zügen. Sie ließ den Rosenkranz ohne Bedauern in ihre Tasche gleiten – mit der erhabenen Gleichgültigkeit eines Menschen, dessen inneres Leben von außen so oft unterbrochen wurde, daß es zuletzt jede Störung in sich hineinnehmen kann, ohne irgendwie Schaden zu leiden.
»Rosine«, sagte Herr Gitzler und beugte sich über die Schranke, »haben Sie meine Frau im Lauf dieses Abends gesehen? Hat sie etwas für mich hinterlassen? Oder ist sie noch einmal hier gewesen, um ihren Mantel zu holen und bereits wiedergekommen?«
»Gewiß war sie hier, Herr Gitzler«, sagte die Alte freundlich. »Aber nicht um den seidenen Mantel zu holen, sondern das Gretchenkostüm für das letzte lebende Bild.« Herrn Gitzlers plötzliche Blässe bemerkend, fügte sie noch hinzu: »Ja, ja – ich habe mich auch gewundert, denn es war ja noch viel zu früh. Nun, unsereiner«, sagte sie schlicht, »macht sich da weiter keine Gedanken, wenn die Damen etwas Besonderes wollen, das ist man ja gewohnt. Solche Wünsche kommen und gehen wie Kopfweh – es kann ja auch sein, daß Frau Gitzler noch etwas ändern wollte, der linke Puffärmel hat bei der Probe den Oberarm geschnürt. Richtig«, ergänzte sie ganz erleichtert nach Art der alten Leute, die sich freuen, wenn ihr Gedächtnis, das sie noch eben im Stich ließ, wieder zurückgekehrt ist, »Frau Gitzler sagte, ehe sie ging: Rosine, sagte sie, wenn mein Mann oder Herr Belfontaine nach mir fragen, so richten Sie ihnen bitte aus, ich wäre zu den lebenden Bildern ganz bestimmt wieder da.«
»Und inzwischen –?« fragte Herr Gitzler in einem Tonfall, dessen Bedeutung der Sache durchaus nicht entsprach.
». . . ist sie nach Hause gegangen und näht sich dort ihr Kostüm«, ergänzte Herr Belfontaine.
»Aber nein. Ich habe telephoniert«, gab Herr Gitzler mit 233 leichter Verlegenheit zu. »Zwar ist das Mädchen ganz unzuverlässig und scheint bereits geschlafen zu haben, bevor es zum Apparat kam, denn es fragte nur, wie und was.«
»Nun, dann bleibt also wirklich nichts Besseres übrig, als daß Sie auf sie warten«, sagte Herr Belfontaine. »Kommen Sie mit mir zum Billardzimmer, ich habe Lust auf eine Partie. Außerdem hört man den Singsang dort nicht, was gleichfalls ein Vorzug ist.«
»Nein – gehen Sie nur«, sagte Gitzler nervös. »Vielleicht, daß ich nachkommen werde, wenn mir der Sinn darnach steht.« Herr Belfontaine wandte sich brüsk von ihm ab und ging achselzuckend hinaus; der andere setzte sich quer auf die Schranke und zog das eine Bein in die Höhe, verschränkte die Hände über dem Knie und blickte nach der Uhr an der Wand, einem heftig geschnitzten, hölzernen Häuschen, dessen Kuckuck mit lautlos geöffnetem Schnabel und ausgebreiteten Fittichen den hastigen Pendel voranzutreiben und den Augenblick zu erwarten schien, wo er wieder sein eifriges Rufen herunterschnarren konnte.
»Noch dreißig Minuten«, sagte Herr Gitzler, »dann kommt der D-Zug aus Mainz.«
»Erwartet der Herr noch jemand?« fragte die Alte höflich. »Die Uhr geht übrigens vor.«
»Ja, ich – das heißt, meine Frau erwartet noch eine Bekannte«, sagte Herr Gitzler gereizt. »Ich selber warte auf meine Frau. Meine Frau auf ihre Bekannte. Wir beide auf den D-Zug aus Mainz. Jeder wartet auf jeden . . .«
»Und der da oben auf uns«, sagte die alte Rosine mit verblüffender Einfachheit.
Herr Gitzler drehte den Kopf zu ihr hin und musterte sie erstaunt. Der Gedanke, sie könnte außer dem Arm, den man mit Garderobe belud, und der Hand, die die Messingmarke dafür in mechanischem Gleichmaß ausgab, noch etwas anderes sein, war ihm bisher nicht gekommen.
»Er hat mich auch das Warten gelehrt«, fügte sie leise hinzu.
Herr Gitzler betrachtete sie noch immer mit großer Aufmerksamkeit. »Nun ja, das Warten ist Ihr Beruf«, erwiderte er und hielt ihr Gesicht, dieses gewöhnliche, alte Gesicht, an welchem 234 durchaus nichts Besonderes war, mit saugenden Blicken fest. »Schreckliche Vorstellung«, sagte er dann mit einem gewissen Sadismus, »stundenlang sitzen und warten zu müssen, bis andere Leute sich ausamüsiert und übergegessen haben. Wird man denn da nicht einfach verrückt vor lauter Langeweile?«
»Langeweile? Wo denken Sie hin, Herr Gitzler!« sagte die Alte ruhig. »Es gibt immer genug zu tun. Eine Dame bittet um ihren Schal, eine andere will einen Knopf angenäht, eine dritte das Mieder aufgeschnürt haben, eine vierte kommt, um sich heimlich ein bißchen auszuweinen . . . wie das im Leben so ist.«
»So, so«, sagte Gitzler. »Dann allerdings –. Und wenn einmal gar nichts Besonderes los ist, fangen Sie an zu beten?« fragte er würdelos.
Die Alte schüttelte ihren Kopf. »Ach nein – das ist anders. Geben Sie acht, ob ich es richtig erkläre. Beten tue ich eigentlich immer; das fängt man nicht da und dort an, und hört es da und dort auf. Wenn ich warte, bete ich; wenn ich bete, warte ich auch zugleich. Glauben Sie mir: das ist ein und dasselbe; alles andere, wissen Sie, kommt und geht, als wär es nicht dagewesen . . .«
»Also sind Sie mit Ihren Gedanken eigentlich immer fort?« fragte Herr Gitzler ironisch.
»Nun ja – und erst recht, seit mein Enkelkind tot ist«, fügte sie ruhig hinzu, nicht anders, als habe sie ihm erzählt, ihr Gehör sei schlechter geworden, oder sie hätte vom Winter her das Reißen in den Gliedern.
»Oh«, machte Herr Gitzler hilflos und suchte nach einer Phrase, doch fiel ihm nichts Passendes ein. Blitzschnell durchwühlte er sein Gedächtnis und erinnerte sich, daß das tote Kind von ihrer ledigen Tochter stammte, die in die Großstadt gegangen und seitdem abwesend war. Jetzt meinte er auch die Erklärung für Rosinens Ruhe zu haben und sagte mit der gefühllosen Kälte des Reichen gegen den Armen, den er ebenso abgestumpft glaubt wie sich selbst: »Sehr traurig. Doch sehen Sie, liebe Frau, eigentlich ist es für alle das Beste, wie es gekommen ist, was? In Ihrem Alter zieht man kein Kind auf –«, erläuterte er verlegen, weil die Blicke der Frau wie die einer Sybille durch 235 ihn hindurchzugehen und ihn zu richten schienen. Sie bewegte lautlos die dürren Lippen; dann, ohne das Gesicht zu verziehen, sagte sie einfach: »Es ist auch das Beste. Denn, sehen Sie, früher hab ich allein für meine Tochter gebetet. Nun betet der Kleine mit. Und wenn wir genug gewartet haben, kommt meine Tochter nach Haus.« Es wurde nach ihren Worten eine Zeitlang vollkommen still. Nur aus der Ferne drang Ballmusik, unterstrichen durch den schmetternden Anschlag der fröhlichen Walzertakte, in welchen sich eine bacchantische Menge unaufhörlich drehte und wiegte. Gelächter wie von anderen Sternen perlte und fiel durch unendliche Räume, und in den dumpfen, stampfenden Rhythmen schienen Myriaden von Welten zu bersten und eine neue, noch unsichtbare, sich grenzenlos aufzuerbauen. »Nur eine Weile«, sagte die Alte und schloß damit ihre Betrachtungen ab, »nur eine ganz kleine Weile – dann ist auch ER wieder da.«
»ER?« fragte Gitzler verständnislos, »wen meinen Sie nun damit?«
Sie wurde der Antwort enthoben, denn nach kurzem heftigen Klopfen öffnete sich die Tür, und ein Kellner stand auf der Schwelle. »Herr Gitzler – ich suche Sie überall«, sagte er außer Atem. »Ist der D-Zug aus Mainz schon da?«
Der andere schrie ihm erregt entgegen: »Was meinen Sie . . . hat meine Frau gesagt . . . Wo ist sie, um Gottes willen?«
»Keine Ahnung, Herr Gitzler«, gab ihm der Kellner in erschrockenem Ton zurück. Den Ausdruck rasenden Zornes in Gitzlers mühsam beherrschtem Gesicht und gleichzeitig dessen Verzweiflung bemerkend, setzte er ratlos hinzu: »Ich führe nur meinen Auftrag aus. Vielmehr, ich greife ihm vor.« Eine seltsame Mischung aus Furcht und Neugier überflog seine groben Züge. »Frau Gitzler sagte mir: diesen Brief geben Sie meinem Mann nicht eher, bevor der D-Zug aus Mainz hier durchgekommen ist.«
»Brief? Was für einen Brief? So reden Sie doch, Mann!« fauchte ihn Gitzler an.
»Da ist er«, sagte der Arme zitternd und kramte mit der Umständlichkeit des ehrbaren kleinen Mannes einen Kasinoumschlag heraus, welcher Herrn Gitzlers Namen in 236 Bleistiftlettern, schräg über das ganze Blatt hinfahrend und es gleichsam zerreißend, trug.
Der Empfänger nahm ihn wortlos entgegen und brachte ihn an sich wie einen Raub, indem er die Faust darum schloß und ihn zerknitterte. »Hier«, sagte er hastig, entlohnte den Mann und bedeutete ihm zu gehen; dann legte er den mißhandelten Umschlag behutsam auf die Schranke, glättete ihn ausführlich und öffnete ihn mit dem Taschenmesser, wobei die Korrektheit, mit welcher er nun jede Bewegung vollführte, in schrecklichem Gegensatz stand zu dem Inhalt, der ihn erwartete. Bevor Herr Gitzler das Briefblatt ganz überflogen hatte, brach ein Stöhnen aus seiner Brust. »Rosine . . . ein Unglück – kommen Sie mit mir – – vielleicht erreichen wir noch den Zug an dem offenen Übergang.« Er meinte die Stelle, wo, ehe der D-Zug das Weichbild des Städtchens berührte, der letzte Feldweg geschnitten wurde; eine Kreuzung ohne Glocke und Schranke – und Rosine begriff sofort. Ihr magerer Körper schnellte empor und gewann seine Spannkraft wieder; holzig und dürr wie ein Wurzelstock, aber wie dieser mit riesigen Kräften bis in die letzte Faser gefüllt, hatte sie plötzlich etwas von Kobold und Alraune: eine Hilfsbereitschaft, die ihrer Natur von jeher eingeboren und ihrem innersten Wesen so zugehörig war wie das Süße dem Pastinak. Sie raffte, was ihr gerade einfiel, mit zwei, drei Griffen zusammen und stopfte Verbandmull, ein Fläschchen mit Jod, Schere, Nadel und Zwirn in ihre Henkeltasche.«
»Laufen Sie immer nur hinter mir her – ich weiß den kürzesten Weg«, sagte sie zu Herrn Gitzler, indem sie den Abstand von Herrn und Magd auch jetzt nicht verleugnete. Kurz darauf wischte ihr zwergischer Schatten an der Kasinomauer vorüber, welche nicht enden wollte. Sie schlug den Weg nach dem Kirchplatz ein, auf welchem das Gras, das den dunklen Basalt von Jahr zu Jahr mehr überdrängte, zusammen mit einigen Federnelken, in voller Blüte stand. Diese winzige Welt, die Herr Gitzler mit schmerzhaft geöffneten Sinnen bemerkte, lag wie gestochen im Mondlicht da und hatte, obwohl ihre Gegenwart nur wenige Tage betragen mochte, etwas von ewiger Dauer und Unvergänglichkeit. Die Turmuhr der Kirche, dem Mond abgekehrt, war vollkommen dunkel; auf ihrem Zifferblatt maß 237 der Zeiger, von keinem menschlichen Auge berührt, eine verlorene Zeit – wäre er auch aus gespenstigem Unsinn mit jedem Herzschlag von Ziffer zu Ziffer und also von Stunde zu Stunde gesprungen, so hätte er niemanden täuschen oder verwirren können. Selbst die Glocke, die eben halb elf schlug, sank für das Ohr, das sie irgendwo mit schreckhafter Spannung befragen mochte, in uferloses Meer; ihren nächsten Anschlag, so schien es fast, würde sie auf dem Grunde tun, in einem Vineta, dessen Bewohner noch unter dem älteren Eismond wohnten und zwischen den offenen Scheitelnähten das magische Auge trugen . . .
Von dem Kirchplatz lief eine schmale Gasse zu dem tiefer gelegenen Roßmarkt hinunter, der von Platanen umsäumt war. Ihre mangelhaft beschnittenen Kronen traten im Schein der fünf Gaskandelaber wie mit Gift übergossen hervor; das Grün war so scharf und die Dunkelheit der fleckigen Borke so bitter, daß gegen ihr gesteigertes Dasein die dahinterliegenden Häuser gleichsam in Asche zerfielen. Trotzdem waren sie ganz entleiblicht und standen offen wie Träume, die keine Grenze haben: man konnte sich einbilden, ihre Wurzeln und die weißen, tastenden Fasern zu sehen, die unter dem taghellen Buckelpflaster mit den Zehen im Wasser spielten. Jeder zweite Platanenstamm trug einen Reif, an welchem zur Zeit der Pferdemärkte die Gäule festgemacht wurden – einige Tage später würden auch Belfontaines Eisenschimmel, welche das Los ihm zuführen sollte, hier angebunden werden; sie würden froh mit den Hufen stampfen, die Köpfe aus dem Hafersack heben und sein Schicksal mit reißenden Flügelschlägen hinaustragen über Raum und Zeit. Im übrigen war dies für lange Jahre der letzte Pferdemarkt, den das Städtchen in seinen Mauern sah: bald würde Roß um Roß requiriert und den Schlachtfeldern zugeführt werden . . . zuletzt fast mechanisch und unbesehen, ohne daß irgendein Täuscher ihnen Pfeffer unter den Schwanz gerieben oder ihr Fell durch allerlei Spritzen und Bürsten geglättet hätte. Vielleicht lag die Ahnung des Kommenden bereits wie Pferdegewieher und spukhaftes, helles Trompetengeschmetter in der eingefangenen Luft, welche die schärfsten und stechendsten Dünste des Städtchens hartnäckig aufbewahrte: Geruch der Lohe, der Lederriemen, des verbrennenden Hornhufs, der 238 aus der Schmiede, und des alten, träge rinnenden Blutes, der aus den düsteren, roten Mauern der verwinkelten Abdeckerei drang, an den sich der jüdische Schlächterladen mit dem Zionsstern auf dem Fensterglas anschloß, eine Barbierstube und der Eingang zu dem früheren, großen Ghetto, das sich mit einem barocken Portal von eigentümlicher Schönheit fast fürstlich eröffnete. Es hieß das Marstor, doch war seine Füllung freilich nur schlechtes Holz, ein Scheunentor, dessen Flügel zurückgeschlagen waren und den Einblick auf einen Hof gewährten, vielmehr auf einen offenen Durchgang, der nur zur Zeit der Märkte geschlossen und, während man ihn mit Fässern und Tischen, Stühlen und Tritten bestellte, in eine Schenke verwandelt wurde, wo nach dem Abschluß ihrer Geschäfte die Bauern, Metzger und Makler lärmend zusammenkamen. Diesem Eingangstor gegenüber erhob sich ein zweites Portal, das dem ersten genau entsprach und zur Zeit der Viehmärkte gleichfalls verbolzt und verrammelt wurde. In dieser Nacht aber waren die Flügel wie üblich zurückgeschlagen, und als Gitzler, während ihm schon Rosine durch das Marstor vorausgeeilt war, unwillkürlich den Kopf hob, sah er zum erstenmal mit Bewußtsein den starrenden Helmbusch über dem Panzer, das Schwert und den mächtig gebuckelten Schild, welche, aus rötlichem Sandstein gehauen, den Türbogen – spielerisch fast und nicht ohne Anmut – bekrönten; diese leeren Requisiten des Krieges, der selber unsichtbar war, indessen die Rüstung mehr und mehr anschwoll, die er bald ausfüllen würde; den vagen Umriß, der sich verstärken und körperhaft werden sollte, saftig und prall wie die Frucht an dem Baum, wenn ihr Wachstum vollendet ist – –.
»Laufen Sie! Laufen Sie!« drängte Rosine. »Wir schneiden ein Stück von dem Ghetto ab und rennen durch den ›Bazar‹; dann kommen wir an der Stelle heraus, wo ein Weg zu dem Graben herunterläuft; wir überqueren das Bachbett am Steg und werden kaum fünf Minuten danach an der offenen Wegkreuzung sein – da, wo die Bornheimer Landstraße umbiegt und das Ecklersche Anwesen liegt.«
Herr Gitzler, als reiße ihn etwas zurück, blieb wie angewurzelt stehen. »Zum Teufel!« brüllte er plötzlich und schüttelte die Fäuste, »ich komme nicht weiter mit. Ich will nicht . . . will 239 nicht . . . will nicht, Rosine«, knirschte er wie besessen. »Mag sie allein in die Hölle fahren. Sie war ja immer allein.«
Ohne etwas zu erwidern, packte Rosine sein Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. »Geben Sie acht, dieser Flohmarkt hier –«, sie meinte den ›Bazar‹ –, »zieht sich mit seinem verdreckten Gerümpel, das nachts über draußen bleibt, bis zu dem Tor; man kann sich Arme und Beine brechen, wenn man aufgelegt dazu ist. Da – schauen Sie nur: ein verrostetes Bett, der Potschamber steht gleich daneben.« Ärgerlich schimpfend bewog sie ihn, über mehrere Stühle zu steigen, die mitten im Wege lagen; sie manövrierte ihn an Kommoden, über zusammengerollte Lumpen, die Löbchen Bär mit bescheidenem Stolz als ›Smyrna-Imitationen‹ ausgab, und alten Messingleuchtern vorüber, trat mit dem Fuß einen Spirituskocher samt mehreren Töpfen zur Seite und gewann den Pfad zu der Schwemme hinunter, als habe sie ihn soeben gebahnt oder unter dem ältesten Bauschutt dieser Siedelung ausgehoben.
Von dem Graben herauf schlug ihnen der Dunst des stehenden Wassers entgegen; die schwere, süßliche Luft der Fäulnis, die das Wasser bebrütete und seine Fruchtbarkeit von dem Maß der Verwesung abhängig machte. Im Hochsommer würden die armen Gärten, zwischen denen der Weg sich jetzt hinzog, und welche sich, wie schon erwähnt, bis zum Ufer des Grabens erstreckten, diesen Duft mit dem reinen, starken Geruch der frisch begossenen Kräuter besiegen: der Pimpinelle, des Borretsch, des Dill und der würzigen Petersilie; mit dem Atem der Goldraute und des Phlox, die kaum der Pflege bedürfen, der Calendula, welche dem Menschen treu bleibt und sich von selbst in die Erde sät, und der wuchernden Fülle der Flatterrosen, in deren unveredeltem Grundriß sich das Geheimnis der mystischen Rose am deutlichsten widerspiegelt. Sie alle würden die Wasserlilien, den Tang, das Mädesüß und die fetten, schlaffen Sumpfdotterblumen wie alte Sünden vergessen machen und das unbeständige menschliche Herz den Frieden der Fleißfrüchte lehren. Aber noch herrschte der Graben vor und vermischte sich in der vibrierenden Sphäre, womit es ihm immer gefiel; er saugte den Dunst des Roßmarktes an, den Blutgeruch aus der Abdeckerei und den muffigen, zähflüssig rinnenden 240 Hauch aus jenen ewigen Lumpenbazaren, deren Habe vom Fußtritt des Kriegsgotts beiseitegeschleudert wird. Ja, mehr noch: mit zufriedenem Schmatzen verlegte er seinen Grund immer tiefer und floß durch Vineta hin; seine Wasser schienen das Zifferblatt der Kirchturmuhr überschwemmt zu haben und ihren Glockenmund auszufüllen, damit er nicht tönen konnte . . .
Auf dem Grabensteg angelangt, blieben Herr Gitzler und Rosine noch einmal stehen. »Diese Luft hier –«, sagte er keuchend und preßte die Hand auf das klopfende Herz. »Ich ersticke, es ist keine Redensart – merken Sie es nicht auch?«
Sie sah in sein qualvoll verzerrtes Gesicht mit dem geöffneten Mund. »Gleich wird es besser«, tröstete sie und wies mit der Hand voran. »Dort hinten hören die Gärten auf, und wir kommen zur Bornheimer Straße. Sehen Sie doch –.« Indem sie vorauslief, deutete sie auf ein helles Band, das hinter Bohnenstangen und Reisern von ferne sichtbar wurde; bald überdeckt und bald völlig verschwunden, trat es plötzlich – fast unvermittelt hervor und begrenzte mit klarem, nüchternen Bogen den Ostrand der schlafenden Stadt. Weil der Gartenpfad hier in die Krümmung der großen Chaussee hineinlief, wurde er von der Biegung der Straße wie ein Bach von der Flußmündung aufgenommen, welche ihm eine Niederung ausspart und ihn zur Regenzeit teilnehmen läßt an Fülle und Fruchtbarkeit; an dem Wesen des Stromes, der ihn empfängt und ihn gleichsam mit einer fließenden Flora und lose nistenden Vogelwelt einlädt, seinem Vorbild sich anzugleichen. Die letzten Krautgärten mündeten hier mit größerem Blumenreichtum; kleine Rasenrondelle und Geißblattlauben waren unbekümmerter angelegt worden, und der rührende Prunk jener Muschelkalkzwerge, Rehe, Gipsbüsten, Vasen und Putten, welche damals die Gärten der kleinen Leute mit falschem Anspruch verzierte, grüßte zu einem Landhaus herüber, dessen Rebenpergola ringsherum von lebensgroßen Marmorfiguren: Silenen und Nymphen, bevölkert war, welche wie aus der Erde gestiegen und diesem alten, römischen Boden samt Weizen, Welschkorn und Weinstock entsprungen zu sein schienen. Dieses Anwesen, das dem Besitzer einer großen Sektkellerei und mehrerer auserlesener Lagen in dem oberen Rheingau gehörte, wurde im 241 Volksmund »Ecklers Schlößchen« oder kurzweg »das Schlößchen« genannt; es stand das halbe Jahr über leer und hatte, obwohl ein Gärtner den Park und die Blumenanlagen pflegte, Gelegenheit, einem tiefern Gesetz als dem menschlichen Willen zu folgen und eine Mythologie zu bilden, welche ihm angestammt war. So wurde es Eigentum der Natur, der Phantasie und der dunklen Süchte, deren Sehnsucht es immer umspielte: seine Rosen pflegten alljährlich geplündert, seine Mauern überklettert zu werden; seine Trauben wurden von Drosseln und Staren, seine Nüsse von Zigeunern geerntet, deren flüchtige kleine Lagerfeuer ihren Schein in den hohen, schmalen, bis auf den Fußboden gehenden Fenstern im Spätherbst spiegelten.
Hier schien das Ende der Bürgerwelt, die sich aus Eigentümern erbaut, und der Anfang des Grenzenlosen zu sein; ja, daß an der Flanke des Ecklerschen Schlößchens, wo ein Feldweg den Bogen der Landstraße schnitt, die D-Züge donnernd und rauschend das Geleise erzittern machten, verstärkte nur die unendliche Lockung, die seine Mauern umgab, sie dehnte, verrückte und ihnen unmerklich, während das Tosen der Züge sie geisterhaft durcheilte, den Charakter erschütterter Luftgebilde und Echostellen gab. Denn nicht einmal die Natur, o nein, besser gesagt: die Verwandlung, die Verwesung und die Veränderlichkeit war in Wirklichkeit dieses Hauses Herrin – sondern das reine Nichts; Medusa, deren geronnenes Lächeln die Fenster mit schillerndem Schleim überzog und die Säle mit Stille kalkte; die leere Lüge, der farbige Schein und die Täuschung der unermeßlichen Tiefe in Belfontaines Gartenkugel: Medusa, die mit Helene verschmolz; die Schönheit mit der Lüge und beide mit dem Tod.
Dies war der luziferische Ort, dicht über dem Höllenkrater, wo sich im Absturz die Fittiche Satans fast zärtlich entfaltet hatten; wo sich immer wieder die Schwanenflügel einer verführerisch finsteren Gottheit um das fallende Opfer schlugen, und wo auch Herr Gitzler, er fühlte es deutlich, die Verlorene finden mußte . . . Aber gleichzeitig wußte er, eisig erstarrend, daß sie bereits nicht mehr war. Entsetzlichster aller Gedanken: weder in seinen Sinnen, noch in der hämmernden Tiefe seines fleischlich erregten Herzens hatte sie Wirklichkeit. Sein 242 Vorstellungsvermögen ließ von ihr ab, die Tastorgane griffen ins Leere und wurden erinnerungslos. Sie war nicht, oder sie war nicht mehr; vielleicht war sie niemals gewesen. Jene plötzliche Heiterkeit, fern aller Reue, mit welcher Helene den Tod gesucht und ihn schon vor der Vernichtung des Leibes als ein Merkmal empfangen hatte, teilte sich Gitzler nun gleichfalls mit und machte ihn schwerelos. Von jeder Verantwortung freigesprochen, wurde er auf flüchtige Weise von neuem ihr Gefährte und umarmte die silberne Fata morgana eines entleiblichten Geistes, während Helene noch litt.
Das Schattengitter des Gartentores zeichnete seine heiteren Stäbe auf dem Ätherblau ihres Kleides ab, ihre Hände hielten sich krampfhaft an dem rostigen Eisen fest. Das Gesicht lag im Dunkel, die volle Kehle spannte sich, rückwärts gebogen, wie die Brücke vom Leben zum Tod; doch war schon, wie bei Gespenstern, die das Haupt vor sich hintragen müssen, keine Verbindung mehr.
»Jesus, Maria«, sagte sie laut und vollkommen willenlos; diese Worte, nur untereinander verbunden, standen so isoliert in dem Raum, daß man glauben konnte, ihre Konturen im Dunkel verharren zu sehen.
Sehr weit entfernt, aber hart und deutlich, schlug das Läutewerk nun den nahenden Zug, kurz hintereinander, an; sein Geräusch, das Herrn Gitzlers Ohren erfüllte, war der Wirklichkeit noch vorweg genommen, eingebildet und aus dem Gedächtnis an frühere Laute geformt; aber schon trafen die äußersten Ränder mit den Schwingungen jener Wellen zusammen, die ihm die Luft jetzt entgegentrug: unaufhörlich, in immer dichteren Stößen, in denen sich dem Vibrieren der Erde das klagende Singen der Schienen vermählte, während die Sprache der Kolben und Räder zwischen ihm und seiner entfremdeten Gattin noch die einzig gemeinsame war. Er bemühte sich, ihren Namen zu rufen; doch selbst dem einfachen, wortlosen Schrei versagte sich seine Zunge. Seine Arme, als ob sie mit Blei gefüllt und ohne Gelenke wären, hingen ausgependelt nach unten. Was nun geschah, vollzog sich so rasch, daß er nachträglich glaubte, den Ablauf der Dinge von seinem Ende her rückwärts geträumt und ihre Stelle von jenem Punkt aus, der sich 243 knirschend, kreischend und brüllend in seine Sinne eingebohrt hatte, mathematisch bestimmt zu haben. Ein pygmäisches Wesen, nicht Mensch und nicht Flamme, wohl aber beides in einem, raste mit weit entfaltetem Tuch von der Wegkreuzung auf die Schienen und flackerte, als ob ein Windstoß es auszulöschen kämpfte, vor dem unwiderstehlich nahenden Schicksal besessen hin und her; in das Funkenstieben, den Rauch und das Schleifen des gewaltsam bremsenden Zuges wurde die Todgeweihte geschleudert, die gleichsam nur wie ein Nachtmahr über das Auge des Zuschauers wischte und schon wieder verschwunden war. Mit keuchender Lunge und zitternden Flanken blieb die Lokomotive stehen, als habe ein Riese – es war Rosine – sich ihr entgegengeworfen und ihr Brust an Brust Einhalt geboten.
Überall schlugen die Fenster herunter, die Reisenden beugten sich schreiend und rufend in das jählings zerrissene Dunkel, und eine Laterne schwankte wie trunken den Schienenweg entlang. »Ein Mensch –! Ein Mensch!« hörte man rufen, und gleich darauf: »Weiterfahren!« Zwei gellende Pfiffe – wie lange danach, hätte Herr Gitzler später nicht annähernd sagen können –: dann setzte der Zug sich mit heftigem Seufzen von neuem in Bewegung, und über der leeren, finsteren Fläche der zurückgelassenen Äcker erbaute sich eine mystische Höhle mit fließenden Wolkenrändern, die von innen erleuchtet war. Man sah einen Mann mit gebücktem Rücken, welcher sich, eine Laterne tragend, sehr ruhig über etwas neigte, das eine Frau, deren mildes Gesicht von einem Kopftuch beschattet wurde, in ihrem Schoße hielt. Der Mann, ein Alter mit grauem Haar, war in Betrachtung versunken; seine Hand, die das Licht emporhielt, blieb über dem tiefen Geheimnis stehen, das die Frau ihm entgegenhob . . . .
Aus weiter Ferne betrachtet, war hier unendlicher Friede. Kein Ton. Kaum eine Bewegung – oder nur so geringe, daß man glauben konnte, einem Gemälde gegenübergestellt zu sein; doch schien diese Szene als reine Erscheinung jede Art von Bewertung von sich zu weisen und – wie in Belfontaines Gartenkugel der rötliche Kiesweg mit seinen Rändern – ihren Ursprung unfaßbar weit rückwärts verlegt, ihre Maße verkleinert und ihren Umriß so blendend verschärft zu haben, daß sie der 244 Netzhaut nicht mehr bedurfte, um sich den tieferen Schichten der Wahrnehmung einzutragen, vielmehr zu den ältesten Bildern der Seele von selbst in Beziehung trat. Ja, wenn man diese Erscheinung auf ihren Standort hin prüfte, so schien sie in dem gleichen Verhältnis von Nähe und Ferne zu stehen wie, von dem Innern des Pavillons aus, die grünliche Schwanenblüte – nur, daß jetzt Licht und Dunkel vertauscht und der Pavillon gleichsam hinausgestülpt war, so daß von seinem begrenzten Fenster jene unbestimmte Vision den Charakter einer Geburtenhöhle empfing; einer Grotte und eines mystischen Schoßes, aus dem von jeher das tiefe Geheimnis der Wiedergeburt entsprang und zu dem es zurückkehren mußte.
Aus unendlicher Tiefe stieg dieses Mysterium der Todesweihe empor und ging auf eisigen Götterfüßen Stufe um Stufe hinauf: zuerst die Füße des Seelenführers, dessen Herme der sonnendurchglühte Feldstein im Weizenacker war – –: »Hübsch, dieser Weg durch das niedrige Korn, in dem die Fasanenhenne brütete, und angenehm auf den heißen Steinen, die Hände am Boden, zu sitzen . . .« dachte damals Herr Belfontaine. Die Füße sodann des etruskischen Pan, verhornt und an ihre Verrichtung gefesselt, die Rebenkelter zu treten; daneben die plumpen Füße der Mutter, welche die Roggenspindel auf ihre Knie setzte: sie beide Hüter des trockenen Landes, dessen Lendenfeuer sie langsam schürten, bis die Natur ihrer selber überdrüssig geworden und bereit war zu der entsetzlichen Klage: »Ich habe keine Lust mehr . . !« Die Füße der Mondgöttin, jener Diana, welche gleicherweise das Schwanenhäuschen wie das Gehirn des von der Vernunft bis zur Verzweiflung Genarrten mit ihrem Licht erfüllte und ihn aussprechen ließ: »Ich bin wiedergeboren. Wiedergeboren – das ist es . . .« Zuletzt die Füße der schönen Leda, die als Helena in die Kugel zurücktrat, in die leere Lüge, den farbigen Schein und in die »Natur der Natur«. Sie alle, die Träger der Wiedergeburt zu dem trostlosen Leben des Hades gingen ein in diese zaubrische Höhle, auf welche nun Gitzler von ferne starrte: unfähig, sich zu nähern und unfähig sich zu entfernen, während der Zug schon den Bahnhof erreichte und das traurige Zeremoniell begann, das einen Menschen, der selbstmörderisch in das Gestränge der staatlichen Ordnung wie in 245 Hochspannungsdrähte gefallen war, weit eher, als ihn zu bergen, sich anschickte, ihn zu bestrafen, obwohl jetzt die Glocke des Fernsprechers dringend nach Arzt und Bahre verlangte.
»Halten Sie ruhig das Licht etwas tiefer«, sagte die alte Rosine zu dem Mann mit der Streckenlaterne. »Übrigens kommt sie jetzt zu sich und wird nur geblendet werden, wenn sie die Augen aufmacht. Sehen Sie –!«
Ihren einfachen Worten gab ein schmerzliches Ächzen Antwort, und das Haupt der Ärmsten, schrecklich zerstört wie das eines immer noch schönen, doch von der Pflugschar des Bauern zugerichteten Torsos, drehte sich hin und her.
»Ja, ja, meine Tochter – ich helfe dir schon. Gleich wird es besser werden«, beruhigte die alte Frau.
Helene sah sie entgeistert an und versuchte, sich aufzurichten. »Heim . . .«, sagte sie dann mit stöhnender Stimme. Und noch einmal: »Ich will heim.«
»Das sollst du auch, meine liebe Tochter«, erwiderte Rosine. »Aber du darfst dich nicht rühren, bis der Arzt mit dem Wagen kommt.«
»Was für ein Wagen?« fragte Helene. Ihr Atem, wie der eines sterbenden Vogels, fegte in immer kürzeren Zügen aus dem weit geöffneten Mund. Rosine gab keine Antwort, sondern trocknete still von Zeit zu Zeit das unaufhörlich quellende Blut von ihren Lippen ab und schob ihr das schwere Haar aus der Stirn, welche von Todesschweiß übertaut war, verlassen und eigensinnig zugleich, wie in sprödem Gefels ein Stein. »Muß ich . . . sterben?« fragte Helene plötzlich. In ihren seltsam verhärteten Augen schien sich der letzte Rest ihrer Kraft als Furcht versammelt zu haben; als eine wilde rasende Angst, wie das verwundete Tier sie hat, wenn es die helfende Hand des Menschen unter Hacken, Beißen und Schlagen von sich zu weisen sucht.
Die Alte drängte sie sanft zurück und wischte von neuem den Schweiß und das Blut von dem entstellten Gesicht. »Aber das wolltest du doch, meine Tochter?« fragte sie vollkommen ernst.
Helene sah sie erschrocken an. »Nein –«, keuchte sie. »Nicht mehr. Nur leben – Rosine. Ganz einerlei. Leben! Leben . . . 246 ach, hörst du?« Sie faßte krampfhaft Rosinens Hände und hielt sich an ihnen fest.
Die Alte beugte sich tief herunter und brachte ihren tröstenden Mund an das erkaltete Ohr. »Hör zu, meine Tochter«, flüsterte sie. »Ich verspreche dir, daß du lebst.«
»Daß ich – lebe?« fragte Helene zurück. Ihre Züge entspannten sich; grenzenloses und hingegebenes Staunen verbreitete sich allmählich über dem armen Gesicht. »Ist das wahr?«
»Das wird wahr, wenn du glaubst«, erwiderte die Frau.
»Glauben –«, sagte die Sünderin unruhig; ihre Augen, als ob sich das Grundwasser langsam und schwer aus der Tiefe höbe, füllten sich wieder mit panischer Furcht; mit einer Unrast, die überspielt von dem höhnenden Zucken und Zittern des zweiflerischen Verstandes und aufgepeitscht von dem letzten Ansturm der verebbenden Sinnlichkeit war. »Du meinst . . . an Gott. Nein, das kann ich nicht. Das ist zu schwer, Rosine.«
»Aber du bist doch getauft, mein Kind. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes –.« Während sie sprach, hob sie langsam die Hand der Sterbenden hoch und zeichnete ein Kreuz.
Helene bewegte den Kopf hin und her. Nein, schien sie deuten zu wollen. Nein. Nein. »Gott . . .«, murmelte dann die Selbstmörderin. »Zu weit, Rosine. Zu weit . . .« Ihre Züge begannen zu grimassieren; ein Ausdruck fürchterlichen Triumphes siegelte schon ihre Stirn. »Liebe . . . ach, schöne Liebe . . .«, lallte sie todestrunken. Ein Zwinkern, vulgär und Mitleid erregend, huschte um ihre Augen; dann bogen sich ihre Mundwinkel abwärts, und sie sagte wie ein schmollendes Kind, das nicht bekommen hat, was es sich wünschte: »Mutter –?« Nun sank sie ein wenig zusammen und schien, bevor der zerbrochene Leib sich anschickte, seiner Länge das Todesmaß zuzugeben, der Geborgenheit eines früheren Lagers noch einmal teilhaftig zu werden.
Die Alte faßte sie unter den Schultern und richtete sie empor. Diese Bewegung geschah ohne Mühe, mit einer magischen Leichtigkeit gleichsam, wie nur die äußerste Sammlung aller Seelenkräfte sie möglich macht, und vollzog sich mit der Gesetzmäßigkeit, welche den Retter bewegen mag, wenn er ohne 247 zu zaudern, kühl bis ins Mark, in ein brennendes Haus eindringt. »Wache auf, meine Tochter! Halte dich fest!« sagte sie laut und deutlich. »Da ist sie, die Mutter der schönen Liebe, nach der du gerufen hast. Wir sprechen mit ihr. Ich sage dir vor, du brauchst nur den Mund zu bewegen.«
Helene versuchte, sie zu verstehen; ihre Augen, in denen ein glotzendes Starren jedes Feuer ausgelöscht hatte, fingen an sich zu trüben.
Rosine betete. Eine Bewegung, die dem Zittern der Sehne glich, welche soeben den nie verfehlenden Pfeil in die Mitte der Gnade entlassen hatte, überlief ihre ganze Erscheinung. Dann begann ihr Mund wie von selbst zu sprechen: Worte, welche nur Nachhall waren und gleichsam als Echo mächtiger Rufe und Warnungsschreie erschienen, die ein gepanzerter Engel von draußen in sie hineingetönt hatte, um ihr durch qualmenden Rauch den Weg von Pforte zu Pforte zu weisen. Sie folgte ihnen. Sie tastete blind an den mächtigen Säulen der Sätze entlang, die glatt und schon abgegriffen von zahllosen Händen waren; alt und verläßlich, in ewiger Ordnung den Flehenden aufgerichtet: »Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit! Unser Leben, unsre Wonne, unsre Hoffnung, sei gegrüßt.«
»Leben . . Wonne . . . Hoffnung . . . .«, glaubte Helene zu stammeln, während auf ihren klaffenden Lippen die letzten Bewegungen zuckten.
»Zu dir rufen wir, elende Kinder Evas. Zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tale der Tränen. Wohlan denn, unsere Fürsprecherin – –!«
Wohlan denn –! Hier war die Pforte der Freiheit. Der Schoß der Wiedergeburt. Ein Säulenrücken. Zerreißende Helle . . .
». . . Wohlan, denn, Herr Belfontaine. Fangen wir an!« sagte Mösinger feierlich. »Bedenken Sie, wieviel Augen sich jetzt gegen den Himmel richten. Die Augen der Teilnehmer nicht allein – die Augen der Zaungäste und der Kellner, der Gassenkinder, der Bettler, der Mädchen, die an das Gitter laufen. Merveilleux –!« Ein Füllhorn zerplatzte und warf den krachenden Regen der Sterne in riesigen Bogen empor. 248
». . . Wohlan denn, unsere Fürsprecherin«, wiederholte die Garderobenfrau und ließ den Körper der Toten behutsam niedergleiten, »wende deine barmherzigen Augen zu uns, und nach dieser Verbannung zeige uns Jesum . . .« Zeige uns . . .! Farbige Feuerfontainen. Zeige uns! Kronen aus brennendem Gischt. Geschmeide aus Feengold. Silberne Speere aus Oberons Waffenkammer. Die hängenden Gärten aus dem Zweistromtal. Das Pfauenauge. Die tiefste Blüte in Laurins Rosengärten. Zeige uns . . . zeige uns! Sichelmonde über dem Scheitel Dianas. Ihr spitzes Geflimmer. Die rieselnden Perlen der Königin der Nacht. Zeige uns . . . zeige uns . . .!
»Kannst du auch sehen?« fragte Berta die kleine Elfriede, welche im Nachthemdchen neben ihr am Bodenfenster stand. »Da – eine Rakete! Jetzt kommen noch mehr. Rote, grüne und blaue. Warte, ich hebe dich hoch.« Sie versuchte, das Kind auf den Arm zu nehmen und ließ es gleich darauf ärgerlich wieder zur Erde hinab. »Es geht nicht. Du bist mir zu schwer. Gib acht, ich hole dir deinen Schemel. Dann stellst du dich darauf.«
»Nein, Berta, bleibe. Es knallt so sehr«, sagte die Kleine ängstlich.
»Du bist ein Hasenfuß. Schäme dich«, brummte die dürre Berta. »Dein Vater steht doch daneben und zündet die Lunten an.«
»Mein Vater –«, sagte das Kind entzückt und atmete heftig aus. »Ich weiß es. Er hat auch die Blumen gemischt, die aus dem Körbchen fallen.«
»Schon möglich«, erwiderte mürrisch das Mädchen. »Das hat er mir nicht gesagt.« Sie betrachtete wieder den festlichen Himmel, über den jetzt ein Garbenbündel im Auseinanderstürzen die Körner regnen ließ. »Sie verstehen es«, sagte sie wohlgefällig. »Aber dein Vater versteht es noch besser und muß deshalb Vorsehung spielen.«
Elfriede zuckte zusammen und starrte das Mädchen an. »Vorsehung spielen – –«, da war er wieder, dieser unverständliche Ausdruck, den die Oberin Maura angewandt hatte, als sie vorgestern neben dem Muschelkalkzwerg vor dem Gewittersturm saßen und die Gartenkugel wie immer glänzte, obwohl 249 sie jenen Zettel verbarg, den der Vater ihr anvertraut hatte. »Ist die Vorsehung in der Kugel drinnen?« fragte Elfriede gespannt. Ihre Worte gingen in dem Getöse der Pulverkräfte unter, die soeben eine neue Figur herausgeschleudert hatten: einen mächtigen Ball, in der Höhe zerplatzend und zahllose andere Bälle entlassend, welche heiter über den Himmel schwärmten und langsam zur Erde kamen. »Und in den anderen Kugeln auch?« fügte sie noch hinzu.
»In der Kugel? Was soll in der Kugel sein?« fragte das Mädchen zurück.
»Die Vorsehung –!«
»Was für ein närrisches Zeug! Du redest, wie du's verstehst. Gar nichts ist drinnen. Die Kugeln sind leer. Hokuspokus. Alles nur Schwindel und hinausgeworfenes Geld.«
»Aber mein Vater macht keinen Schwindel«, versetzte Elfriede zornig.
»Nun, nun – du brauchst mich nicht aufzufressen mit deinen kohlschwarzen Augen. Es ist, wie ich sage. Die Kugeln sind leer. Das wissen alle Leute. Was denkst du? Ein bißchen Rauch und ein Knall; ein Feuerchen, na, und schon ist es vorbei, ehe du wieder blinzelst.«
»Also wirklich – ganz und gar leer und nichts drinnen?«, fragte Elfriede enttäuscht.
»Nichts . . . außer der Mühe und dem Verstand, den die Menschen hineingesteckt haben.«
»Und wo bleibt der Verstand?«
Das Mädchen lachte; es war ein kurzes, unwirsches Schnarren, das anscheinend noch viel mehr verhöhnte, als diese kindliche Frage. »Der ist vertan wie das Geld und das Pulver und alle die Oh und Ah. Der ist überhaupt zu nichts anderem wert, als Trug und Blendwerk zu machen . . . Laß nur, davon verstehst du doch nichts«, sagte sie gleich darauf barsch.
Elfriede dachte angestrengt nach. »Aber die Vorsehung«, sagte sie dann mit seltsamer Hartnäckigkeit, »ist die Vorsehung auch ein Betrug?«
»Gott behüte, wie kannst du nur so etwas sagen!« versetzte das Mädchen erschrocken. »Die Vorsehung und unser bißchen Verstand ist wie die Sonne, Elfriede, gegen das Feuerwerk da.« 250
»Und wer macht sie?« fragte das Kind, wie schon früher, und war von der Antwort, die es sich damals selber gegeben hatte, auf trostlose Weise entfernt.
Die dürre Berta blickte Elfriede mit unverhohlenem Mißtrauen an. »Was du heute alles zusammenfragst«, sagte sie dann gepeinigt. »Wer soll sie schon machen? Der Vater im Himmel, das ist doch vollkommen klar. Aber nun laß mich in Frieden und sieh zum Fenster hinaus.«
Ihrer Ermahnung schien eine Fülle feenhafter Figuren zu Hilfe kommen zu wollen: Seesterne, Glockenblumen, Kristalle von unwahrscheinlicher Helle sprühten aus blauschwarzer Tiefe empor und verzischten hoch im Zenit. »Spielt mein Vater jetzt wieder Vorsehung, Berta?« fragte Elfriede laut. In diesem Augenblick warf sich die Fahne über das Firmament. Unter fernher kommendem Knallen und Knattern entfaltete sich ihr purpurner Körper, dessen Röte immer tiefer und stärker von stets erneuertem Zustrom gespeist und zu wellenförmigen Schwüngen, als ob ein Sturmriese ihren Griff in Händen hielte, getrieben wurde. Ihre Konturen, von laufenden Bändern flackernd und unscharf gezeichnet, warfen Flocken von Phosphorlicht aus; zerschlissen von äonischen Winden, die aus unermeßlicher Höhe zu fallen und ihre Ränder mit reißenden Zähnen zu zerfetzen und zu liebkosen schienen, verlor sie dennoch nicht ihren Umriß und ihre gewollte Form . . .
»Beiseite! Beiseite, Herr Belfontaine!« brüllte Mösinger wie besessen. »Das Wurfrad geht wieder an!«
Ein verloren gegebener Feuerwerkssatz, welcher nicht brennen wollte, hatte plötzlich zu leben begonnen, und das letzte Endchen der Zündschnur glimmte gefährlich auf. Die Brandhülsen brachen mit der Gewalt von Springbrunnen auseinander, und unfehlbar wäre Herr Belfontaine von der Brisanz ihrer Mischung betroffen und ernstlich gefährdet worden, wenn nicht eine Hand seine Schulter gepackt und ihn zugleich aus der Bahn geschleudert und festgehalten hätte.
»Pardon, meine Herren, daß ich als Fremder mich einzumischen wagte«, sagte eine beruhigende Stimme von angenehmer Färbung. »Ich beobachte schon eine ganze Weile Ihre Bemühungen.« Er verbeugte sich flüchtig: »Tricheur . . .« und trat, 251 wie um keinen Dank zu ernten, aus dem Lichtkreis zurück in das Dunkel, das ihn verborgen hatte.
Herr Belfontaine trocknete sich die Stirn. »Mein Gott – Herr Tricheur, wie kommen Sie hierher in den Garten?« fragte er überrascht.
»Das war die geringste Schwierigkeit«, sagte der andere freundlich. Seine Worte, die, während er Antwort gab und auch späterhin aus der Finsternis drangen, schienen in ihrem Tonfall ein Lächeln zu enthalten, das ihn unvergleichlich viel deutlicher machte, als der geistesgegenwärtige Zugriff, mit dem er sich eingeführt hatte. »Ich bin noch in jeden Garten gekommen, wenn es mich darnach verlangte.«
Herr Mösinger lachte entzückt auf seine meckernde Art. »Sieh da – ein Apfeldieb, der sich erinnert!!« rief er verständnisvoll aus. »Die ersten Sünden sind immer die besten. Habe ich recht oder nicht?«
»Aber ich bitte Sie – ein Geschäftsfreund«, sagte Belfontaine, sichtlich betreten. »Herr Tricheur aus Paris: der Vertreter von Paquet und Söhnen. Erinnern Sie sich nun?«
In Herrn Mösingers Augen blitzte es auf. »Aus Paris? Sie sprechen ein gutes Deutsch«, sagte er hochachtungsvoll.
»Pas du tout – ich habe ein Dutzend Jahre eine Niederlassung der Firma in Köln und später in Aachen geleitet«, erwiderte Tricheur. »Doch, was Herrn Belfontaines Frage betrifft, so war es wirklich nicht ganz so einfach, ihn zu Gesicht zu bekommen.
Glauben Sie, lieber Herr Belfontaine«, sagte er nach der Richtung hin, wo der andere seine Worte mit geschmeichelten Ohren aufnahm. »Sie sind schon lange im Mittelpunkt meiner Bemühung gewesen. Ein guter Kunde – nun ja, das besagt nichts. Ein eleganter Stil, eine Handschrift von eigentümlicher Prägung schon mehr. Darüber hinaus, verstehen Sie richtig, gibt es so etwas wie eine geheime Telepathie der Geister. Kurz und gut, ich wollte Sie kennen lernen und wartete lange auf Sie.«
Eine Welle leisen Gelächters, das diesen merkwürdig plumpen Sätzen ihr Gewicht und ihre Bedeutung wieder zu nehmen schienen, drang auf Herrn Belfontaine ein.
»Seit einer Reihe von Jahren habe ich nun den Vorsatz, Sie 252 im Frühling, wenn die Gelegenheit es irgendwie fügen sollte, persönlich aufzusuchen. Aber der Mai ist noch immer meinen Plänen nicht günstig gewesen; er ist mein Unglücksmonat – pardon, daß ich es hier erwähne – und tritt meinen Plänen aufs Haupt.«
Jene Welle, doch diesmal, als ob ein Wesen von lautlosen Krämpfen geschüttelt und gezwungen würde, seine Natur unverhüllt preiszugeben, kam wieder auf Herrn Belfontaine zu und rührte ihn sonderbar an.
»Aber es gibt keine Konstellation«, fuhr er dann leise und vorsichtig fort und schien jeden Satz, bevor er ihn aussprach, erst auf der Zunge zu prüfen, »die nicht zu durchbrechen wäre. Wenn ihre . . . Reinheit erst einmal getrübt ist – – doch das verstehen Sie nicht.«
Herr Mösinger hustete indigniert. »Sehr geistreich. Nur kann ich mich wirklich nicht rühmen, daß ich das ganz verstehe«, sagte er unzufrieden und fühlte sich rücksichtslos übergangen, ja vollkommen ausgeschaltet. »Aber das tut nichts. Ich muß jetzt nach Hause. Wie Sie sehen«, er wandte sich zu Tricheur, »trage ich keinen Frack und bin nur der Feuerwerker. Ein Drogist. Ein Chemiker ohne Examen«, wütete Mösinger gegen sich selbst und stürzte davon, um an anderer Stelle seinem Selbstgefühl Nahrung zu geben.
»Dieser Narr«, sagte Belfontaine ärgerlich und gleichsam um Entschuldigung für Herrn Mösingers Ausbruch bittend.
»Lassen Sie ihn nur laufen«, erwiderte Herr Tricheur, während von neuem ein deutliches Lächeln den Klang seiner Stimme färbte, und glitt auf Belfontaine zu. Die Windlaterne, in deren Schein das Feuerwerk angezündet und abgebrannt worden war, warf ihr Licht auf die leeren, verkohlten Hülsen, die ringsum am Boden lagen; auf die Holzgestelle, an denen die Sätze, geheimnisvolle Figuren enthaltend, noch eben befestigt gewesen waren; auf Asche und Zündschnur und auf die schwarzen, verklebten Reste der Feuerwerkskörper, die sich wie Hundekot von dem fahlen, zertretenen Gras abhoben oder wie abgefädelte Raupen von den verlassenen Griffeln der Raketen herunterhingen. In diesem Bannkreis standen Tricheur und Belfontaine nun einander zum erstenmal gegenüber – als Tricheur 253 nach französischer Sitte seine Hände leicht und fast ohne Druck auf Belfontaines Schultern legte, sich vorbeugte und ihn brüderlich auf beide Wangen küßte.
»Da bin ich . . .«, flüsterte er, »mein vielgeliebter Freund. Erkennen Sie Ihren alten Lehrer aus Orléans immer noch nicht?«
Einen Augenblick lang war es Belfontaine, als ergösse sich ein glühender Strom zum Schmelzen gebrachter Metalle in sein Inneres, wo er gerinnend erstarrte und ohne Sprünge und Blasen vollkommen fest in sich ruhte; dann schlugen wie eilige, kleine Hämmer die folgenden Worte Tricheurs die Gußform seines bisherigen Lebens ab und entließen ihn als ein neues Geschöpf von härterer Substanz.
»Oh gai – vive la rose!« sagte der andere heiter.
»Oh gai – Franc cavalier!« fuhr Herr Belfontaine wie verabredet fort und lachte stürmisch hinaus. »Wahrhaftig –«, sagte er überwältigt, während, wie bei einem Brettspiel, dessen Steine er überblickte, sich Grandpierre Zug um Zug neu erbaute, jeden Zweifel einengte, schachmatt setzte und schließlich identisch war mit der fraglos gewonnenen Partie. »Grandpierre – ist es denn möglich?« murmelte er entzückt. Gleichzeitig wußte er ganz genau, daß er es tatsächlich war. Es war sein Gesicht: jenes stumpfe Oval, dem die hohen, bogenförmigen Brauen etwas Gelangweiltes gaben, sobald sich die flachen Lider über die Augen senkten; es war die große, nicht unschöne Nase mit dem kühn verlaufenden Bug: die lange Oberlippe des Mundes, in dessen feuchten, klaffenden Winkeln sich alle Laster der Hölle versammelt zu haben schienen und von dem aus sie über das weibische Kinn wie Spüllicht herunterliefen. Auch sein Haar, diese fette, dunkle Substanz, welche sich über die ganze Erscheinung wie ein flaumiges Fell hinzog und selbst in den Ohren, zwischen den Fingern und auf dem Handrücken wucherte, war noch das gleiche geblieben. Ohne Grau und ohne Verlust seiner Fülle, schien es mehr ein Merkmal des ganzen Menschen als ein gesonderter Teil seiner Körperlichkeit zu sein, und ebenso zeitlos wie dieses waren Gesicht und Gestalt des Herrn Grandpierre – oder mußte man sagen: Tricheur? –, mit welchen sich auch die schärfste Beschreibung ebensowenig deckte, wie sich das wirkliche Antlitz des 254 Menschen mit seinem strömend gespiegelten Bildnis in einem Flußbett vergleicht. Am besten hätte Herrn Grandpierre eine Schilderung sichtbar gemacht, die nur aus Verneinungen bestand; die ihn aussparte und aus dem Untergrund eines höchst empfindlichen Stoffes sein Gegenbildnis hervorbrachte, wie der Lichtstrahl das Negativ. Nicht alt und nicht jung, nicht fett und nicht mager, wäre er wohl den meisten Menschen nicht im mindesten aufgefallen – es sei denn, daß das träge Gefühl eines gesteigerten Wohlbehagens wie eine Bestätigung ihrer selbst sich ihnen mitgeteilt hätte, während feiner gebildete Kreaturen die Schmeichelei einer unauffällig zur Schau getragenen Schwermut von ihm empfangen hätten; einer Trauer, die weniger Geist und Herz, als das Eingeweide erwärmt und gleichfalls eine Bruderschaft stiftet, aus welcher die Eitelkeit Nahrung zieht, ohne dabei den eigenen Wert in die Waagschale werfen zu müssen. Die Gewißheit, nicht auf sich selbst reduziert und der Wahrheit seines innersten Wesens in einem noch so kleinen Bezirk ernstlich verpflichtet zu werden, hätte jeden Menschen berauscht; dazu kam für Belfontaine noch die Süße einer Jugenderinnerung, die er nun in dem blitzenden Blinzeln des Freundes verführerisch aufleben sah und mit dem gleichen Zucken und Zwinkern der Augenlider erwiderte, das keine Erläuterung braucht.
Sofort war der niemals zuvor empfundene Zustand einer grellen Heiterkeit da. Sie durchbohrte ihn, blendete ihn wie ein Spiegel, der starkes Licht reflektiert hat und es spielerisch auf die Netzhaut eines von seinem Vorhandensein noch Ahnungslosen lenkt, ohne daß der Betroffene weiß, aus welcher Richtung es kommt. Es war keine Freude, es war kein Friede, kein Lächeln – nichts, was ihm freistand, zu geben oder zu nehmen. Es war die Raserei eines Hundes, der blind vor Entzücken an seinem Herrn mit hängender Zunge emporspringt und ihm nach den Händen schnappt. »Ich bin glücklich«, stammelte Belfontaine, »Sie wiedergefunden zu haben. Ich bin sehr glücklich. Doch sagen Sie mir: wie soll ich Sie eigentlich nennen? War ›Tricheur‹ nur ein Scherz, und Sie heißen Grandpierre – oder ist Grandpierre noch niemals Ihr richtiger Name gewesen?«
Der andere blickte ihn zaudernd an. »Ist das wirklich so 255 wichtig?« fragte er leichthin. »Und wenn ich noch einen – dritten Namen als eigentlichen hätte? Einen Siegelnamen gewissermaßen . . .« Er verfärbte sich, trat in das Dunkel zurück und wälzte sich in Staub.
»Herr Grandpierre! Um Gottes willen – was ist?« rief Belfontaine erschrocken. »Wo sind Sie? Was ist Ihnen zugestoßen? So antworten Sie mir doch!« Ein lautes Knirschen, mit Stöhnen vermischt, ein gurgelndes Zischen, als ob sich ein Wesen vergeblich bemühte, Worte zu bilden oder um Hilfe zu rufen, drang aus der Finsternis auf ihn ein und ließ ihn vor Schreck erstarren. Unschlüssig, ob er sich fortbegeben oder unverzüglich zugreifen sollte, verharrte Belfontaine wie gelähmt, als nicht lange danach Herr Grandpierre wieder zum Vorschein kam, sichtlich erschöpft, doch ohne den Anschein einer Veränderung.
»Verzeihen Sie diese dumme Geschichte«, sagte er, während ihm seine Stimme noch immer nicht ganz gehorchte und seine Zunge das lispelnde Zischen nicht überwunden hatte. »Solche Anfälle pflegen bei mir in Abständen wiederzukehren. Nichts Gefährliches. Aber sie sind der Grund, daß ich das Lehramt aufgeben mußte und, nicht einmal allzu ungern, Weinreisender geworden, man könnte auch sagen: Verführer mit Provisionen bin.« Er klopfte sorgfältig alle Spuren einer seltsam symmetrischen Schmutzzeichnung von der hellgrauen Weste ab und fuhr fort: »Ich liebe diesen Beruf, obwohl meine früheren Freunde einen Absturz in ihm erblicken. Bah, man gewöhnt sich. Nur nirgends verweilen! Immer ein anderer Kerl! Was aber Ihre Frage betrifft, mein lieber Herr Belfontaine: bleiben wir ruhig bei ›Tricheur‹. So habe ich mich bei Ihnen zu Hause vorgestern angemeldet, um keinen Verdacht zu erregen, denn ich mußte ja fürchten, daß Ihrer Gattin der Name ›Grandpierre‹ vertraut war und was sich damit an galanten Streichen und Abenteuern verband.«
»Meine Frau«, sagte Belfontaine hemmungslos, »ist noch vollkommen unerweckt.«
»Um so besser«, erwiderte Herr Tricheur mit faunischem Behagen, umfaßte Belfontaine, preßte ihn an sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, welche von den Latrinenwänden 256 einer südlichen Hafenstadt abgelesen und ohne jede Veränderung wiedergegeben waren. ». . . sagt man bei uns in Marseille«, fügte Tricheur hinzu. Herr Belfontaine blickte ihn zweifelnd an. »Sie verstehen mein Patois nicht mehr!« rief Tricheur mit gespieltem Bedauern. »Höchste Zeit, daß Sie wieder vertraut damit werden. Wie geht es Ihrem Französisch?«
»Ich spreche nicht schlecht. Doch es fehlt mir an Übung.« Herr Belfontaine blickte sich vorsichtig um. »Bst, hören Sie! Wenn das Los gewinnt, das ich neulich einem gewissen Gully unbedacht abgekauft habe, gedenke ich eine Reise zu machen – zuerst nach Paris – dann in die Provinz – an die Loire . . . aber reden Sie nicht darüber! Meine Frau nämlich hat von dem Los keine Ahnung und wird, wenn mein Gefühl mich nicht trügt, bei der Ziehung davon überrascht . . .«
Es sollte ihn wirklich nicht trügen und bestätigte sich, als er und Tricheur bereits eine Woche abgereist waren, obwohl Herr Belfontaine in der Eile versäumt hatte, das Versteck seines Loses Elisabeth mitzuteilen . . . Elfriede nämlich, die mehr und mehr zu Ausbrüchen unbegreiflichen Jähzorns, die von Schwermut abgelöst wurden, neigte, hatte nach einem Streit mit der dürren, geistesbeschränkten Berta die Gartenkugel in Stücke geworfen und das Los zum Vorschein gebracht. Die Summe, die es gewinnen würde, deckte sich wirklich im ungefähren nachher mit jenem Betrag, den Elisabeth ihrer Erbschaft entnommen und ihrem Gatten gegeben hatte, damit er sich erhole. Von dieser Reise und ihren auch später niemals geklärten Zusammenhängen sprach man noch lange in A. – –, und selbst die Ereignisse, welche sich später mit Naturgewalt überstürzten, vermochten sie aus dem Gedächtnis der Menschen nicht vollkommen zu verdrängen. Hinzu trat, daß eine Verbindung persönlicher Schicksalsfügung mit dem Ablauf der Weltgeschichte die Erinnerung an Herrn Belfontaines Reise ins Allgemeine erhob: er wurde von dem Ausbruch des Krieges in Frankreich überrascht und am 1. August interniert. Als er später verschollen blieb, mutmaßte man, daß er bei einem Fluchtversuch erschossen worden sei: ein Gerücht, dessen Mosaik sich aus vielen versprengten Steinchen zusammensetzte, die sich, sobald man sie schob und rückte, ohne Fuge und Naht ergänzten und deren Farben, je größer der Abstand wurde, von dem aus man sie betrachtete, ineinanderzufließen schienen . . . 257
Nur der Heilige und Elisabeth – –. In der Stunde, die über Herrn Belfontaines Schicksal für weitere sieben Jahre entschied, standen sie beide: Mathias und Elisabeth Belfontaine, in der samtverhangenen Fensternische jenes Kasinozimmers, das »Kinderspielsälchen« hieß, während von ferne der Abschiedslärm, das schrille Entzücken, mit dem die Gesellschaft ihre Befriedigung kundgab, und Brausen – dem eines Bienenstocks ähnlich – zu ihnen herüberdrang.
»Warten wir noch eine Weile, bis der Ansturm abgeebbt ist«, sagte Elisabeth leise. »Rosine ist noch nicht zurückgekommen, und die Wirtin plagt sich vergeblich, die richtigen Mäntel zu finden.« Sie seufzte und blickte Mathias an, der gedankenlos eines der kleinen Tambourine ergriffen hatte, welche aufgestapelt am Boden waren, und das Bällchen hochspringen ließ. »Ich habe alles getan, wozu Sie geraten haben«, sagte sie schmerzlich sanft. »Beten, Fasten und Almosengeben, die Betrachtung der Dornenkrönung – aber . . .«, sie hob die Schultern, und mit dem Anschein vollendeter Hilflosigkeit faltete sie die Hände und hielt sie vor die Brust.
Der Geistliche gab keine Antwort, sondern war von dem Tanzen des Bällchens völlig in Anspruch genommen und an das Auf und Nieder der Murmel wie ein spielender Knabe entrückt. Elisabeth schwieg mit klopfendem Herzen; der harte, eilige Aufschlag der Celluloidkugel schien das Echo seines krampfhaften Pochens zu sein. »Sie haben nicht mehr getan als befohlen?« fragte er endlich, den Blick noch immer auf das hüpfende Bällchen gerichtet.
»Doch –«, sagte Frau Belfontaine, dunkel errötend, und wandte den Kopf zur Seite.
Der Geistliche setzte das Tambourin hart auf das Fensterbrett nieder. »Ich verbiete Ihnen –!« sagte er scharf, mäßigte dann seine Ungeduld und fragte milder: »Was war es? Nachtwachen – oder?«
»Auch Nachtwachen – ja.«
»Und . . .? Lassen Sie«, brach er kurz darauf ab. »Ich brauche es nicht zu wissen. Ihr Ungehorsam genügt schon allein, um alles zu entwerten.« 258
Elisabeth blickte erschrocken auf. »Aber ich fühlte mich angetrieben«, flüsterte sie entsetzt.
»Angetrieben – so ist es. Wir alle fühlen uns angetrieben und treiben blindlings dahin. Sie sollten gehorchen und sich beschränken – der Bußgürtel ist nur ein Zeichen des Hochmuts, wenn er das Herz nicht zerfleischt. So werden Sie Ihrem Gatten nicht helfen. Begreifen Sie das nicht?« Er sah einen Augenblick stumm vor sich und sagte dann fast unhörbar: »Diese Art wird nur ausgetrieben durch Fasten und Gebet.« Ein Zittern durchrann seinen Körper, und Mathias wiederholte noch einmal: »Durch Fasten und Gebet.«
»Welche – Art?« Elisabeth schauderte gleichfalls. Eine furchtbare Müdigkeit überfiel sie und lähmte ihr Gefühl.
»Nichts. Aber was wollten Sie außerdem wissen?« fragte ihr Seelenführer. Seine Hand, die soeben noch fest geballt war und die Fingerknöchel hervortreten ließ, entspannte sich wieder, griff nach dem Bällchen und warf es in die Luft.
Die junge Frau sah ihn flehentlich an. »Was soll ich anfangen?« fragte sie rauh; eine Leidenschaft, die ihrem Wesen sonst fremd und nicht in den Sinnen beheimatet war, durchbebte ihre Stimme.
»Durchaus nichts anderes als bisher«, erwiderte Mathias. »Nein«, sagte er plötzlich barsch und entschieden. »Weniger noch und mehr. Sie lassen alle Übungen fort, haben Sie mich verstanden? Keine Betrachtung mehr – hören Sie?« fragte er trocken und kalt.
»Ja«, sagte Elisabeth, starr vor Enttäuschung. »Keine Betrachtung mehr.«
Der Geistliche blickte sie prüfend an. »Sie versprechen mir, daß Sie gehorchen werden?«
»Ich verspreche es«, murmelte sie. »Auch wenn ich es nicht begreife«, fügte sie stockend bei.
»Begreifen. Hier geht es nicht um Begreifen«, sagte Mathias ruhig. Seine Stimme war wieder sanfter geworden, er legte das Kinderbällchen zurück und trat auf Elisabeth zu. »Hier geht es einzig darum, daß Sie glauben. Blindlings. Von keiner Hoffnung und keinem Versprechen gestärkt – außer dem, das der Glaube selbst in sich trägt wie das Senfkorn den ganzen Baum. 259 Alles andere« – langsam hob er die Hand – »ist ohne ihn nichts nütz. Wenn Sie beten, beten Sie um den Glauben. Wenn Sie glauben, betet der Glaube in Ihnen und wird Hügel und Berge versetzen. Der blinde Glaube . . .«
Die Isle St. Louis war nun vollkommen dunkel geworden. Das Wasser gluckste mit immer dem gleichen, niemals ermüdenden kleinen Ton gegen das Bollwerk der Kaimauer an und schien etwas sagen zu wollen, das stets von neuem verlorenging; eine Botschaft, die mit zinnernem Löffel ein Kind aus dem Strom schöpfte, fast bis zum Mund hob und dann aus der schräg gehaltenen Schale wieder verschüttete. Der alte Seineschiffer Guillaume, der seinen leise schaukelnden Kahn an einem Uferpflock angekettet und an dem eisernen Dorn des Balkens eine Laterne aufgehängt hatte, bemühte sich, einen Brief zu entziffern, dessen Zeilen er mit dem Finger entlang fuhr, während sich seine verrunzelten Lippen wie zum Pater noster bewegten; aber kaum an dem Satzende angekommen, kehrte er wieder zum Anfang zurück – den Mund voller Nägel gleich einem Bastler, der etwas zusammenschlägt; doch weil er die Teile nicht finden konnte, welche Kante an Kante gehörten, nahmen die Stifte in seinem Mund um keinen einzigen ab. Etwas weiter zurück von dem Uferrand versuchte ein Haus, an dessen Fassade die Aufschrift »Hôtel« von oben nach unten in verwaschenen Buchstaben lief, vergeblich einzuschlafen; schon waren seine Augen geschlossen, als wieder ein Fenster erleuchtet wurde und kurz darauf erlosch. Ein anderes aber löste es ab . . . verdunkelte sich . . . doch im nächsten Stock flammten zwei neue auf. Eine wandernde Bildersprache, die bald wie in abendländischen Schriften von links nach rechts ging; bald, wie es schien, von rechts nach links wie der Urtext der Bibel gelesen werden mußte; von unten nach oben, von oben nach unten, vollendete Babylon.
Die schöne, damals der halben Welt bekannte Spionin Yvette Carnelles saß, beide Ellbogen aufgestützt, vor einem Tisch, den chiffrierte Blätter haufenweise bedeckten, und versuchte sie zu entziffern. Sie bebte vor Ungeduld, während ihr Haar [dieses berühmte rostbraune Haar französischer Königinnen, dessen 260 Fülle später nach ihrer Erschießung die Soldaten Locke um Locke als Andenken plünderten] glanzlos verwirrt in die Stirn fiel, und stieß ab und zu ein gereiztes, ängstliches Fauchen aus. In einer Stunde schon ging ihr Zug; bis dahin mußte das Konvolut dechiffriert und wieder mit feinen Stichen in die Brusttasche dieses Menschen dort, der seinen Rausch auf dem Eisenbett ausschlief, ordentlich eingenäht sein. Der arme Narr, dieses hübsche Frätzchen mit den eitlen, kleinen Koteletten; es kostete ihn wohl den Hals. »Verwünscht –!« Sie stieß ein Absinthglas um, das auf der Kante gestanden hatte, und trat mit dem Fuß danach. Der Schlafende stöhnte, sein Mund stand offen, der nackte Körper, wie hingeschleudert von der Wut des Dämons, der ihn mißbraucht und wieder verworfen hatte, lag entsetzlich armselig da. Sie erhob sich und deckte ihn sorgfältig zu, damit er nicht erwache; einen Augenblick lang durchzuckte sie der widersinnige Wunsch, ihm das Bettlaken in den Mund zu stopfen oder ihn an den Schultern zu rütteln und den Schlüssel von ihm zu erpressen, der sich gutwillig nicht ergab . . .
Über ihr, in dem Dachgeschoß, lag mit zerrissenem Herzen ein Mensch im Priesterrock auf den Knien und las bei dem Schein einer blakenden Kerze, die er nach alter Gewohnheit auf den Hals einer leeren Flasche gesetzt und auf den Stuhl gestellt hatte, in seiner Ordensregel. Er war soeben dem Leibe nach aus China zurückgekommen und sollte auf Befehl seiner Obern eine Missionsschule übernehmen und zur Ausbildung junger Patres herangezogen werden. Er verstand nicht . . . Ein Mann, den der Mißerfolg wie sein Schatten begleitete; unfähig, mehr als die Leitung einer kleinen Station zu haben und Findelkinder um sich zu sammeln, denen er mühsam genug das Stehlen abgewöhnte. Nein, er verstand nichts – außer dem Umgang mit Söldnern und christlichen Banditen, die er abwechselnd voreinander beschützte und die ihm seine hölzerne Kirche und das lächerlich kleine Missionsgebäude vor dem Zugriff der Heiden behütet hatten, als ringsumher alles verwüstet wurde, und das Mutterhaus – traurig, darum zu wissen – in Flammen aufging wie schlechtes Papier. Wieder versuchte er zu begreifen und fühlte mit Schrecken, daß Asien sein Denken verwandelt hatte; ja, daß diese brennende, tiefe Glut, welche ihn, wie 261 der Wind das Feuer von Halm zu Halm, so von Mensch zu Mensch trug, jede andere Art, sich verständlich zu machen, vollkommen ausgemerzt hatte. Er konnte nicht sprechen, will sagen: er konnte es nicht mehr. Er, welcher jahrelang nur dem Brausen verborgener Wasser gefolgt war, ohne sie zu verstehen – immer gefaßt, ihren jähen Hervortritt mit der Schöpfkelle stummer Bereitschaft demütig aufzufangen, dieser Kelle, welche den Jangtsekiang mühelos fassen würde – er zitterte vor dem Gedanken, seinen Schülern das plumpe Schema einer Bekehrung entwickeln zu müssen, das mit den Gesetzen der Logik spielte und doch nichts verdeutlichen konnte . . . Beunruhigt schlug er das Buch zu, in dem er gelesen hatte, erhob sich schwerfällig von den Knien und bemerkte, indem er den Rock ablegte, wieder das eigentümliche Schwimmen, das jedem Malaria-Anfall vorausging und ihn veranlaßte, nach Chinin in der Reisetasche zu suchen. Er nahm eine größere Dosis als sonst und fühlte schon bald seine Ohren ertauben und ein Meeresrauschen ihr Muschelgewinde vertraut und schrecklich beleben. Im Entschlummern wurde dem Missionar eine mystische Blüte gezeigt, auf deren Grund sich das Wort »Espérance« aus Staubfäden bildete, und deren Blätter von reinstem Weiß mit einer Inschrift gezeichnet waren, die rings um die erste lief. Diese zweite Inschrift entzifferte er nur unter großen Mühen. Er folgte ihr immer wieder geduldig um das würzig duftende Blütenrund und ging ihren leisen, melodischen Tönen wie einem Vogelruf nach. Es dämmerte schon, und das Chaos der Dinge, welche Taubstummen glichen, die sich mit Gesten einander verständlich zu machen suchten, deren Anblick dem unbeteiligten Auge als Drohung erscheinen mußte, als scheußliche Faxen, gespenstische Schläge und wütend geknebelte Schreie –, war auf dem Höhepunkt angelangt, als sich endlich die einzelnen Laute zum Wort zusammenfanden.
Dieses Wort, dem Schoß der Hoffnung entstiegen, und mächtig wie sie, hieß:
Lisieux.