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Um diese Zeit war es, daß Johannes, eines späten Nachmittags von einem Unbekannten sich besucht sah, gerade als er angefangen hatte, in des München« Philosophieprofessors Franz von Baader neue Schrift »Über das Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletarier zu den Vermögen besitzenden Klassen« sich zu vertiefen. Er empfand angesichts dieses Besuchers sofort ein äußerstes Mißbehagen, das unmöglich auf die unterbrochene Lektüre allein zurückzuführen sein konnte. Der Fremde stellte sich als Freund und Gesinnungsgenossen des Pfarrers Weidig vor, bat aber, seinen Namen verschweigen zu dürfen. Doch mit wie großer Geschicklichkeit jener ihn auch auszuforschen versuchte, Johannes ließ sich nicht aufs Glatteis führen: seine Unterredung mit Weidig wäre durchaus theoretischer Natur gewesen, sozusagen eine wissenschaftliche Untersuchung über das Wesen des Staates, wobei er, Johannes, aus Vergnügen am Disputieren vielleicht etwas zu weit gegangen, der Pfarrer aber von um so größerer Besonnenheit gewesen wäre. Wie er denn überhaupt nicht glauben könnte, daß ein so edler und frommer Mann der ihm zur Last gelegten hochverräterischen Umtriebe ernstlich fähig gewesen sein sollte. Als der Unbekannte sich endlich verabschiedet hatte, erinnerte sich Johannes des Mannes, der ihn und Weidig an jenem Novemberabend auf dem Seltersweg beobachtet hatte.
Eintönig gingen dem unglücklichen Pfarrer in seiner Zelle die Tage dahin, endlos, grau in grau, einer wie der andere. Die Tage und die langen Nächte. Als einen lebendig Begrabenen fühlte er sich. Die Besucher, die er bei sich sah, waren keine leibhaftigen Menschen. Waren die Särge, die sie an ihm vorübertrugen, nicht mit gefälschten Protokollen gefüllt? Die Worte, die er hörte, wurden nicht von Menschenlippen gesprochen, aber wie ähnlich klangen sie den Stimmen seiner Kinder! Der Wahnsinn umlauerte ihn. Dann ersehnte er die Hinrichtung, vor der ihm doch graute, seit er sie für heimlich beschlossen hielt.
Ende Januar 1837, zu welcher Zeit der Hofgerichtsrat Georgi den ersten Anfall ausbrechenden Säuferwahnsinns zu überstehen hatte, bestätigte der oberste Gerichtshof endgültig die Ablehnung der Anträge Weidigs, ihn vorläufig aus der Haft zu entlassen.
Als der Wärter am 23. Februar um halb acht dem Gefangenen die Wassersuppe bringen wollte, fand er die Zelle voll Blut und auf dem Fußboden die Scherben der Wasserflasche. Der Pfarrer Weidig aber lag röchelnd auf seiner Pritsche: er hatte sich an den Armen Schnittwunden beigebracht; er hatte auch etwas auf die weiße Wand geschrieben, mit Blut, das noch nicht trocken war.
Der erschrockene Wärter verschloß die Tür wieder und eilte zum Hofgerichtsrat Georgi, der sich um acht die Zelle öffnen ließ, den Tatbestand aufnahm und alsdann wieder fortging, um nach Ärzten zu schicken. Als diese um zehn Uhr erschienen, stellten sie fest, daß Weidig sich inzwischen noch durch einen neuen Schnitt in den Hals verwundet hatte und nun im Sterben lag. Was er mit seinem Blut an die Kerkerwand geschrieben, lautete: »Da mir der Feind jede Verteidigung versagt, so wähle ich einen schimpflichen Tod von freien Stücken.« Bei der Untersuchung der Leiche fanden sich an den Oberschenkeln Wunden und Narben, die anscheinend von Farrenschwanzhieben herrührten.
Die medizinische Fakultät der Freien Zürcher Hochschule aber erklärte auf Grund des gerichtsärztlichen Sektionsbefundes mit Entschiedenheit, daß der Gefangene unmöglich selber den Hals bis auf die Wirbelsäule sich habe durchsäbeln können...
Die von Weidig erhoffte große deutsche Revolution brach nicht aus, aber zur Abschaffung des geheimen Strafverfahrens hat nichts mehr beigetragen als sein schreckliches Ende, also daß er doch für eine gute Sache, wenn auch eine andere als er meinte, das Martyrium erlitten hat. Johannes aber, als er die Einzelheiten erfuhr, segnete in seinem Herzen den großen Kaiser, auf dessen Namen getauft zu sein, ihm oft ärgerlich gewesen war. Denn es war doch Napoleon, dem seine Heimat so frühe schon die Schwurgerichte verdankte, diesen Richterstuhl des unbefangenen Menschengefühls, des volkstümlichen Rechtsgefühls, vor dem auch der Fall des Pfarrers Weidig einen andern Ausgang genommen haben würde. Ja, die rheinischen Juristen hatten wohl recht gehabt, als sie – unbewußte Propheten – Anno elf zu Düsseldorf den »Fiedenskaiser« apostrophiert hatten: »Ihre Gesetze sind mächtiger als Ihre Waffen!« – Und es war nur innigst zu wünschen, daß die Bemühungen des gegenwärtigen preußischen Justizministers von Kamptz, in den Rheinlanden das französische Recht wieder zu beseitigen, scheitern möchten. Was man auch mit einiger Zuversicht hoffen dürfte, denn zu den Gegnern dieses Polizeischleichers, dem jedes Mittel recht war, gehörten die besten Männer der Provinz. Darunter auch der treffliche Fürst Joseph Salm-Reifferscheid-Dyck, dessen prächtiger Schloßpark für Johannes Wolf das Ziel so mancher einsamen Wanderung gewesen war.
In der Empörung und Erschütterung seiner Seele empfand Johannes als wohltätig, daß gerade um diese Zeit seine Fachstudien, die er nun bald abzuschließen gedachte, immer strenger ihn in Anspruch nahmen. Als er aber nach einem fleißigsten Jahr zu Weihnachten kurze Ferien sich gönnte, die er daheim bei den Seinen verlebte, brachen die hintangehaltenen politischen und sozialen Interessen um so stärker sich Bahn. Da hatten die Brüder dann manchen Strauß miteinander, denn der Kommerzienrat machte kein Hehl daraus, daß in seinen Augen nicht nur der Pfarrer Weidig, sondern auch »der heilige Graf Simon und der Vater Enfantin komplette Narren« gewesen seien, die ernst zu nehmen jeder Mann von einiger Welt- und Menschenkenntnis ablehnen müsse. Wenn aber die beiden Frauen sich geneigt zeigten, dem jüngeren Bruder beizustehen, zog der ältere nicht ungern sich zurück: Drei gegen Einen, das sei doch eine zu ungleiche Verteilung der Kräfte. – Als Gesamtergebnis derartiger Auseinandersetzungen, die manchen Abend füllten, ist zu verbuchen, daß der Kommerzienrat den Theorien Saint'Simons in nichts, seine Mutter ihnen in allem beipflichtete, weil sie darin die Praxis der ersten Christen wiederzuerkennen vermeinte, während Johannes mit seiner Schwägerin auf einer mittleren Linie sich zusammenfand: alle soziale Reform müsse bei den Kindern einsetzen, ja sie dürfe wesentlich auf die Kinder sich beschränken.
Daß hier das eigentliche Problem liege, das werde, meinte Johannes, schon durch das Wort selber bestätigt, denn »Proletarier« komme vom lateinischen »proles«, zu deutsch: Nachkommenschaft, und bedeute also wörtlich »Kinderbesitzer«. Das Proletariat sei mithin der Stand, der nichts besitze als seine physische Kraft. Wahrscheinlich werde die Maschine sich ja rasch vermehren, aber daß die Arbeiter noch rascher sich vermehren würden, halte er für gewiß. Die Aufgabe sei nun, nicht etwa die Vermehrung der Maschine künstlich zu beschleunigen oder die Vermehrung der Arbeiter – etwa nach dem grotesken Vorschlag des Hofrats Weinhold in Halle – künstlich hintanzuhalten, sondern dafür zu sorgen, daß möglichst wenige Proletarierkinder mit Notwendigkeit selber wieder Proletarier werden müßten. Dann werde bei zunehmender Industrialisierung die Arbeit stets den Arbeiter suchen, nicht umgekehrt, und das werde die Löhne und Lebensbedingungen der Arbeiter wesentlich verbessern.
Ohne Ausnahme jedem Kinde aber sei der gleiche Anteil an jeder geistigen und leiblichen Entwicklungsmöglichkeit zu gewährleisten, seine Ausrüstung für den Kampf ums Dasein und für den Kampf mit dem Dasein, seine Lebensstellung und Lebensleistung dürfe nur von seiner eigenen Begabung, nicht vom Geldbeutel seines Vaters abhängig gemacht werden, übrigens aber auch bei der Erziehung keines Kindes der weise Grundsatz der alten Griechen außer Betracht bleiben: wer nicht geschunden wird, der wird auch nicht erzogen. Ein Grundsatz, der freilich auch für die Erwachsenen zu Recht bestehe, denn wer sich nicht plage, der komme nicht weiter, weder innerlich noch äußerlich. Die Möglichkeit, auf solche Weise weiterzukommen, dürfe nun freilich auch keinem Fabrikarbeiter vorenthalten werden, weswegen der Akkordlohn, wo irgend er sich einrichten lasse, dem Zeitlohn vorzuziehen sei. Im übrigen, so löblich es sei, die Existenz auch des erwachsenen Arbeiters zu verbessern, allzuviel sei hier weder möglich noch zu versuchen ratsam, sintemal dem Unverständigen doch nicht zu helfen sei und der Verständige wisse, daß es auf Erden keinen Himmel gebe und daß auch der wohlmeinendste fremde Wille ihm wesentlich nicht über sich hinaushelfen könne. Die Uhr müsse eben ein Gewicht haben, wenn sie gehen solle, und das sehe für den einen so aus und für den andern so. Und wenn man nun auch keinem sein Gewicht unfreundlich erschweren dürfe, so solle man es ihm doch um Gottes willen auch nicht aus Sentimentalität künstlich erleichtern. Der gute Durchschnittsarbeiter würde, und mit Recht, sich völlig zufrieden fühlen, wenn er sein leidliches Auskommen habe und seinen Kindern ein Anrecht auf die guten und schönen Möglichkeiten des Lebens gesichert wisse, auf die Möglichkeiten, die für ihn selber ja doch nicht mehr in Betracht kommen könnten, weil ihm alle Voraussetzungen dafür feblten. Das gelte zum Beispiel auch für seine Beteiligung am politischen Leben, die vernünftigerweise doch nur auf einer schon in der Kindheit und Jugend gelegten ethischen und intellektuellen Grundlage möglich sei. Mit weiser Auswahl anerkannte der Kommerzienrat von solchen Theorien einige als richtig, zu andern schüttelte er den Kopf: das seien Utopien, ebenso wie der von manchen Arbeitern neuerdings erstrebte zehnstündige Arbeitstag. Zwölf Stunden sei auch nicht zu viel und selbst an vierzehn oder fünfzehn noch niemand gestorben. Das Unglück sei, daß es allzuviele »Arbeiter« gebe, die überhaupt nicht arbeiten wollten, die auch nicht zehn und nicht acht und nicht sechs und nicht vier Stunden wirklich arbeiten würden, ja, die nicht einmal andere arbeiten sehen könnten, worunter dann natürlich die Fleißigen mit zu leiden hätten. Jeder Fabrikant wisse davon ein Lied zu singen, und jeder Werkmeister habe mit solchen Faulpelzen zu tun, die, zumal Montags, frech oder gleichgültig bei jedem Anlaß ihm unter die Nase rieben: »Ech maach hüt net wirke!« – Und wenn dieser Professor von Baader in München behaupte, die sogenannten sozialen Fragen würden den Regierungen noch einmal mehr Kopfzerbrechen machen als die politischen, so liege das jedenfalls noch in weitem Felde. Auch müsse man sich hüten, die Bedeutung der Fabrikarbeiter hierfür zu überschätzen: in ganz Preußen gebe es bis jetzt nur wenig über vierhundert Dampfmaschinen von zusammen noch nicht achttausend Pferdekäften. Daß aber das Handwerk, dessen goldenen Boden man jetzt so gern gegen die Fabrikarbeit ausspiele, auch da, wo ihm die Dampfmaschine noch keine Konkurrenz mache, nicht gerade auf Rosen gebettet sei, gehe daraus hervor, daß vor einigen Jahren von den rund tausend Tischlermeistern in Berlin über sechshundert ihre Gewerbesteuer nicht hätten bezahlen können. Es sei eben eine unvollkommene Welt und Preußen ein armes Land, und die wirtschaftlichen Verbesserungen dürften nicht künstlich einigen Ständen zugewendet werden, sondern würden bei zunehmendem Wohlstand naturgemäß auf alle sich verteilen, gemäß dem preußischen Wahlspruch »Jedem das Seine.«
Dagegen gab der Kommerzienrat ohne weiteres zu, daß das Gewicht an seiner eigenen Lebensuhr nicht allzu schwer sei. Aber daß er dieses Jahr achtundfünfzig Taler Steuern zahlen solle, sei Unrecht und er werde gegen solche Einschätzung Berufung einlegen. Er habe erst vor kurzem gelesen, daß der Höchstbesteuerte in Preußen hundertvierundvierzig Taler zu zahlen habe, da seien dann für ihn achtundfünfzig natürlich doch viel zu viel.
Ging man solchergestalt im Sozialen verschiedene Wege, so war man diesmal im Politischen von ganz besonderer Einmütigkeit, wie denn eben um diese Zeit die Gebildeten der ganzen Nation von einer und derselben Woge der Entrüstung und des Zornes ergriffen wurden, die an keines der vielen deutschen Vaterländer Grenze Halt machte. Solche allgemeine Empörung galt dem unerhörten Verfassungsbruch des neuen Königs von Hannover, der die Gewissen vergewaltigte und die Widerstrebenden entrechtete und verfolgte. – Im Sommer war Wilhelm IV. von England kinderlos gestorben. Mit seinem Leben hatte die hundertdreiundzwanzigjährige Personalunion zwischen England und Hannover ihr Ende erreicht. Denn nach englischem Staatsrecht fiel die englische Krone der achtzehnjährigen Tochter Viktoria seines verstorbenen Bruders Eduard zu, nach deutschem die hannöversche seinem sechsundzwanzigjährigen Bruder Ernst August. Dieser sehr dunkle Ehrenmann, der auf der Schule nur im Religionsunterricht einige Empfänglichkeit gezeigt, ein annähernd richtiges Deutsch nie erlernt und in einem bewegten Leben den ihm verliehenen Titel eines Herzogs von Cumberland diesseits und jenseits des Kanals in Verruf gebracht hatte, wollte »Monarch im guten alten deutschen Sinne« werden und lediglich vom Berliner Politischen Wochenblatt sich beraten lassen, das seit 1831 für Absolutismus und Christentum focht. Er stieß daher am 1. November 1837, wenige Monate nach seiner Thronbesteigung, das Staatsgrundgesetz um, das vier Jahre vorher, sogar vor Metternichs reaktionären Augen Gnade findend, eingeführt worden war. Statt dessen stellte er die Verfassung von 1819 wieder her, ein übles Zweikammersystem, darin die erste Kammer stets jede fortschrittliche Entwicklung im Keim erstickt hatte. Am 18. November unterzeichneten, von ihrem Gewissen getrieben, die »Göttinger Sieben«, die Professoren Albrecht, Dahlmann, Ewald, Gervinus, Jakob und Wilhelm Grimm und Wilhelm Weber, den Protest gegen den Verfassungsbruch des Königs. Sie wurden kurzerhand ihres Amtes entsetzt, Dahlmann, Gervinus und Jakob Grimm sogar gezwungen, binnen drei Tagen das Land zu verlassen. Und der rachsüchtige Tyrann suchte auf jede Weise zu verhindern, daß sie irgendwo in Deutschland Amt und Brot wiederfänden, was ihm nun freilich mißlang. Dieses Ereignis goß, wie Dahlmann später schrieb, wieder frisches Lebensblut einträchtiger vaterländischer Überzeugung in die Adern Deutschlands. – Zunächst wurden allenthalben Geldsammlungen für die Geschädigten veranstaltet. Der alte Salomon Heine zu Hamburg, der Oheim des Dichters, steuerte Tausend Mark Blanko bei, aber Herr von Rochow, der preußische Minister des Innern, erteilte den zu ihrem Landsmann, dem Professor der Jurisprudenz Albrecht, sich bekennenden Bürgern von Elbing einen strengen Verweis: es gezieme dem Untertan nicht, an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner (des Untertans) beschränkten Einsicht anzulegen, – und der Prinz Wilhelm von Preußen fragte noch nach Jahr und Tag den jungen Savigny, ob er etwa der Sohn des Mannes sei, der die Infamie begangen habe, für die Göttinger Professoren Geld zu sammeln.
Als aber in Wien Kaiser Ferdinand der Gutmütige – er hatte dem Attentäter, der vor einigen Jahren ihn als Kronprinzen angeschossen, eine lebenslängliche Pension erwirkt – von den hannoverschen Händeln hörte, fragte er seinen allwissenden Metternich: »Bitt' schön, wo liegt denn dies Hannover?«
Schon im Frühjahr 1836 hatte sich, wenn auch kein Käufer, so doch ein Mieter für Haus Duynberg gefunden. Da war Pinchen eines Nachmittags in die Fabrik gelaufen: Die Mutter ließe bitten, der Vater möchte doch sofort mitkommen, eine fremde Dame wäre da und wünschte dringend ihn zu sprechen. Der Kommerzienrat hatte sich durch solche Botschaft ein wenig beunruhigt gefühlt und unterwegs hatte die Kleine in aller Unschuld ihn dazu auch noch recht neugierig gemacht: Vor dem Hause hielte ein wunderschöner Wagen, auf dessen Bock neben dem Kutscher noch ein Mann säße und beide hätten weiße Handschuhe an und sähen viel stolzer aus als Anton und wären auch viel feiner angezogen. Als sie dann die hohe Treppe hinanstiegen, erkannte der Kommerzienrat am Wagenschlag das fürstlich Salmsche Wappen und wunderte sich, denn zwischen den kleinen Industriestädtchen der Landschaft und Schloß Dyck bestand keinerlei Verkehr.
Fürst Josef Salm-Reifferscheid pflegte, sofern er nicht in seinem Winterpalais zu Paris oder auf Reisen war, in seinem niederrheinischen Stammschloß einer gelehrten Passion sich hinzugeben, deren Seltsamkeit ihm den unverdienten Ruf eines Sonderlings eingebracht hatte: er sammelte, züchtete und erforschte Kakteen und sollte auf diesem etwas entlegenen Gebiet ein wahrer Doktor Allwissend sein. – Entlegen war auch sein Schloß. Wenn man auf der Landstraße nach Düsseldorf fuhr und etwa den halben Weg zurückgelegt hatte, sah man in einiger Entfernung ein dunkles Waldquadrat, wie eine steilwandige grüne Insel mitten in den niedrigen bunten Wellenzügen des Flachlandes, die ringsum an einigen Stellen unabsehbar, an andern von sehr fernen Wäldern beufert waren. Das war der Schloßpark. Aber kein Turm noch Giebel verriet den prächtigen Herrensitz, den er in sich barg.
Unter dem Bilde des seligen Maire fand der Kommerzienrat seine Frau im Gespräch mit einer hochgewachsenen Dame, deren regelmäßiges, frisches Gesicht mit den mandelförmigen und langbewimperten braunen Augen, den über der scharfgeschnittenen Nase leicht sich berührenden dunklen Brauen, unter vollem und schneeweißem Haupthaar eigenartig vornehm und anziehend wirkte. Es war Frau Cato van Bornevelde aus dem Haag, der Fürstin Salm durch deren ersten Gemahl, den Pariser Chirurgen Pipelet, verschwägert. Sie wünsche, erklärte Frau van Bornevelde, in Rücksicht auf widrige Familienverhältnisse eine Reihe von Jahren außerhalb ihres Vaterlandes, aber nahe an dessen Grenze zu hausen, und zwar keineswegs allein, sondern mit der kleinen Erziehungsunternehmung, auf die sie in Ermangelung eigener Kinder sich eingelassen habe. Von der Fürstin sei sie auf Haus Duynberg aufmerksam gemacht worden, dessen Lage und Räume sie in der Tat für geeignet halte, und wenn sie mit dem Herrn Kommerzienrat als dem Vertreter der Besitzerin handelseinig werde, gedenke sie das alte Nest alsbald mit halbflügger Brut fröhlichster Art zu füllen. Die zwölf annähernd gleichaltrigen holländischen Jungen, die sie zu betreuen habe, seien soeben im Begriff, in das einzutreten, was man in Deutschland so hübsch Flegeljahre nenne – übrigens zwar wilde, aber grundbrave Kerlchen, unbemittelte Waisen bester Herkunft, die zusammenzubringen ihr nicht wenig Mühe gekostet habe. In Erziehung und Unterricht verfolge sie ganz bestimmte Pläne. Es handle sich darum, die Entwicklung der Knaben von frühauf so zu beeinflussen, daß sie zum späteren Verwaltungsdienst in den Kolonien eine gleichsam natürliche Veranlagung mitbrächten. – Hinzu komme dann noch ein holländischer und ein deutscher Hauslehrer, hinsichtlich welcher Persönlichkeiten sie nicht ohne Ansprüche, bisher aber vom Glück begünstigt gewesen sei, und ihre alte Dienerin Antje, die sie schon als junge Frau nach Indien begleitet habe, denn Jongheer van Bornevelde sei Assistent-Resident auf Sumatra gewesen und, wie auch ihre beiden Kinder, dort gestorben. – Was sie sonst noch an Dienerschaft benötige, beabsichtige sie ihrer neuen Heimat zu entnehmen. Nachdem in den nächsten Wochen der fürstliche Landauer noch einige Male sowohl vor Haus Duynberg wie auch vor der Wolfschen Treppe gehalten hatte, war man handelseinig und die Handwerker des Städtchens schmunzelten, denn sie hatten alle Hände voll zu tun. – Und einige Tage vor Pfingsten zogen vier ungefüge und fremdartige Reisewagen, deren Erbauer gewiß schon vor vielen Jahrzehnten für immer Feierabend gemacht hatten, gemächlich an den Jagdgründen des Herrn Jeanbon vorüber, um ihre teils lebendige, teils in Körbe, Kisten und Bündel verpackte Fracht vor dem Hause abzuladen, dessen Herrn ein dunkles Schicksal die Heimkehr verwehrt hatte. Frau van Bornevelde machte einige Besuche, aber ein richtiger Verkehr kam nur zwischen ihr und der Kommerzienrätin zustande, ein Verkehr, aus dem sich mit der Zeit eine nahe Freundschaft entwickelte. Auch zwischen Haus Duynberg und Schloß Dyck wurden freundschaftliche Beziehungen unterhalten, denn die Holänderin teilte die Passion des gelehrten Fürsten für Kakteen und hatte eine glückliche Hand in der Pflege dieser seltsamen Blumenwesen. So oft ihr hierin eine merkwürdige Beobachtung oder schwieriger Versuch gelungen war, oder eine besonders seltene und schöne Blüte sich erschlossen hatte, hißte sie gegen Mittag auf dem Dachreiter, von dem aus Fräulein Antoinette einst die Sterne beobachtet, und den man von Schloß Dyck aus sehen konnte, ein weißes Fähnlein auf, und meist fuhr dann schon nach wenigen Stunden der Fürst bei ihr vor, um lernend oder erläuternd sich die Merkwürdigkeit anzusehen. Im Städtchen beschäftigte man sich viel mit Haus Duynbergs neuen Bewohnern und bald waren die abenteuerlichsten Gerüchte im Schwange, die sowohl die vergangene wie auch die gegenwärtige Existenz der Frau van Bornevelde mit krausen Phantasien umrankten. Mal sollte ihr Mann als Sklavenhändler, mal als Seeräuber ein riesiges Vermögen zusammengebracht, mal nie existiert, mal sie ihn umgebracht haben, und die Flaggenzeichen nach Schloß Dyck machten die Holländerin den einen als Spionin verdächtig – denn man wußte ja, daß der Fürst eine Französin zur Frau hatte und seine Winter in Paris verlebte – während die anderen in ihr trotz ihren weißen Haaren eine heimliche Geliebte des Fürsten vermuteten. Da aber die beiden Hauslehrer, die als »außerordentliche Mitglieder« in die »Gesellschaft« eintraten, sich dort als umgängliche und verständige Männer erwiesen, auch über die Dame, ihr Schicksal und ihre Absichten ohne alle Geheimnistuerei im Gespräch jedem Rede und Antwort standen so gut sie konnten, beruhigten sich die Gemüter allmählich. – Von diesen Hauslehrern war der holländische Mynheer van den Bleek entschieden der interessantere: ein Mensch mit zu langen Armen und zu kurzen Beinen, aus dessen bartlosem, roten und von einem unaufhörlichen Mienenspiel belebten Antlitz zwei immer freundliche Kinderaugen unschuldig in die Welt sahen. Aber man merkte bald, daß diese harmlose und ein wenig komische Hülle einen außerordentlichen Geist und Willen barg, eine Persönlichkeit, die, wenn sie statt ins Wissenschaftliche und Schulmeisterliche etwa ins Politische oder Militärische geraten wäre, vielleicht die Welt erschüttert hätte. Die Herren der »Gesellschaft« in ihren politischen Ansichten zu beeinflussen, darauf schien er freilich keinen Wert zu legen, im Gegenteil als Ausländer bewußt sich zurückzuhalten. Nur als die preußische Regierung 1837 den Erzbischof von Köln, Clemens August von Droste-Vischering, gefangen in die Festung Minden bringen ließ, weil er seinen Geistlichen verboten hatte, gemischte Ehen einzusegnen, es sei denn gegen das bedingungslose schriftliche Versprechen, daß die Kinder sämtlich katholisch werden sollten, da vertrat Mynheer van den Bleek entschieden, ja fast leidenschaftlich die überraschende Auffassung, daß dieses der Anfang nicht des Sieges, sondern der Niederlage des Staates sein werde. Durch die Aufhebung der Klöster und die Verteilung ihrer Güter während der Napoleonischen Kriege sei die katholische Kirche zwar äußerlich ärmer, der Katholizismus aber innerlich reicher und stärker geworden. Und entschiedener noch als in der protestantischen hätten bei den Gebildeten in der römischen Kirche sowohl die freiheitlichen Ideen wie die Gleichgültigkeit im letzten Vierteljahrhundert in ihr Gegenteil sich verwandelt. Ideen aber könnten nur durch Ideen besiegt werden und nicht durch Gewalt, und nichts sei in solchem Kampf gefährlicher, als Märtyrer zu machen. Der in einem Mindener Bürgerhaus inhaftierte Erzbischof werde der Regierung gewiß noch viel mehr Kopfschmerzen verursachen, als der unbotmäßig amtierende ihr verursacht habe. Und die königliche Kabinettsorder, wonach der preußische Beamte am Rhein, wenn er eine Katholikin heirate, seine Kinder evangelisch werden lassen müsse, sei unhaltbar.
Durch diesen Mynheer van den Bleek nun war Frau van Bornevelde zur Beschäftigung mit Kant gekommen, der ihr ein höheres Leben erschloß, wie denn seine Strenge und Klarheit ihrem eigenen Wesen gemäß war. Durch Kant erlebe sie, äußerte sie einmal zur Freundin, an sich selber das unscheinbare aber starke Wachstum, das sie an ihren Kakteen beobachte, und die Erlösung ihres Selbst, welche die Liebe ihr vorenthalten und die Mutterschaft nicht lange genug ihr gewährt habe, wie denn auch Kant ihr bestätige, daß sie für die schwerste und dunkelste Frage ihres Lebens die richtige Antwort gefunden habe. Ein andermal wieder konnte Frau van Bornevelde von Menschen, Einrichtungen und Verhältnissen, zumal der holländischen Kolonien, mit so viel Bitterkeit und Schärfe sprechen oder im Blick auf ihre Knaben, die mit augenscheinlicher Liebe an ihr hingen und aufs beste gediehen, zu so harten, ja unbarmherzigen Erziehungsgrundsätzen sich bekennen, daß Frau Anna erschrak und bei sich dachte, sofern auch solches etwa eine Wirkung des Königsberger Philosophen sei, wolle sie ihrerseits doch lieber sich an ihren guten Seminardirektor und den alten Pestalozzi halten. Jene aber sei wirklich zuweilen selber wie ein grauer und stachlichter Kaktus, von dem man hoffen müsse, daß er seine Blütenwunder mit der Zeit immer reichlicher hervorbringen lerne. Darin freilich pflichtete sie der Holländerin bei, daß in der Erziehung von Knaben nichts weniger übersehen werden dürfe, als etwaige Anzeichen einer schofelen oder grausamen Gesinnung, nur daß sie auch hier mehr als jene der Ansteckungsfähigkeit des Guten vertraute. Über Mädchenerziehung zu verhandeln, gaben nicht nur Frau Annas kleine Nöte mit Pinchen und der zarten Regine, sondern auch die Briefe des öfteren Anlaß, die Frau van Bornevelde von einer Freundin in Wiesbaden erhielt, der sie eine junge Malaiin zu erziehen gegeben hatte. Sie wisse immer noch nicht, meinte Frau van Bornevelde dann wohl, ob es richtig gewesen sei, die kleine Odinda mit nach Europa zu nehmen. Damals habe sie unter dem Eindruck gehandelt, das Kind einerseits vor dem sicheren Untergang zu retten, andererseits ein schweres Unrecht an ihm wieder gutmachen zu sollen, und zu beidem keinen anderen Weg gesehen. Aber es sei ja nun doch so, daß es sich als äußerst schwierig, ja fast als unmöglich erwiesen habe, Kinder jenes liebenswürdigen Volkes in Europa seelisch zu akklimatisieren, und so müsse sie oft befürchten, den Untergang der Kleinen durch solchen Versuch nur verlangsamt, vielleicht dazu noch vergrausamt zu haben. Ihre Freundin, die selber lange Jahre in Niederländisch-Indien gelebt, sei zwar für die übernommene Aufgabe außerordentlich begabt, aber jeder Brief zeige doch nicht nur neue Schwierigkeiten, sondern auch, daß Erzieher und Zögling bei aller äußeren Harmonie in zwei getrennten Welten lebten und zumeist aneinander vorbeifühlten. Oft beruhige sie sich mit dem Gedanken an einen gewissen Fatalismus ihrer Freundin, die dafür halte, daß jedes einzelne Menschenleben im Guten wie im Bösen nach ewigen und unabänderlichen Gesetzen sich vollenden müsse, und die also, was sie etwa noch Unerwartetes an der kleinen Odinda erleben würde, nicht werde verbittern können. Oft aber beunruhige sie der gleiche Gedanke, weil solcher Fatalismus auf einen Erzieher doch vielleicht narkotisierend wirken und also die nötige Tatkraft und Strenge lähmen möchte, und sie könne nicht leugnen, daß es ihr lieber wäre, in den Berichten über die mehr symptomatisch als sachlich bedeutsamen Schwierigkeiten das resignierende Wort »Schicksal« nicht so oft lesen zu müssen.
Anfänglich sei es ihr, die unbeschadet aller grundsätzlichen Strenge doch nie daran gedacht habe, sich von ihren Knaben anders als »Mutter« nennen zu lassen, auch ein wenig befremdlich gewesen, daß die Freundin der Kleinen die Zärtlichkeit solches Namens vorenthalte und sich »Tante« anreden lasse. Aber vielleicht sei dies doch nicht von ungefähr geschehen, sondern in unbewußter Vorausahnung der kommenden Dinge. Vorläufig nun dürfe man ja hoffen, daß die, wie sie schätze, jetzt Achtjährige doch noch zu einem guten Ziel gelange, als welches ihnen beiden die Rückkehr nach Sumatra zu irgendwelcher Förderung der Eingeborenen, mit der ja die holländische Regierung doch nun wohl bald beginnen werde, das erwünschteste, die Ehe mit einem Europäer aber das bedenklichste erscheinen wolle. Übrigens werde ein Fatalist geneigt sein, zu glauben, daß über der Odinda ein freundlicher Stern stehe, die als kleines Kind schon dem gräßlichsten und unerbittlichsten Boten des Todes spielend in die Arme gelaufen, von ihm aber unversehrt dem Leben zurückgegeben worden sei. Dieses Wunder nun habe sich solchergestalt zugetragen.
Einige Zeit nachdem durch eine auf Sumatra nicht unerhörte Härte, sie wolle nicht sagen des Assistent-Residenten, ihres Mannes, aber doch seiner Verwaltung, die kleine Malaienfamilie um den letzten Büffel gebracht worden und bis auf die einzige Odinda dem Verderben anheimgefallen sei, habe sie, Frau van Bornevelde, in einem entlegenen Teil des Gartens vom Liegestuhl aus in Gedanken oder vielleicht auch ohne Gedanken zugesehen, wie die höchstens anderthalbjährige Odinda versucht hätte, eine Rasenböschung hinaufzuklettern, auf halber Höhe jedesmal wieder unsicher werdend und mit lautem Gelächter herabrollend. Plötzlich sei ein Aussätziger oben auf der Böschung erschienen, einer jener Unglücklichen, die, von allen gemieden, flußabwärts in der Verborgenheit ihr armseliges Dasein fristeten, das Leben wagend, wenn sie in der Ansiedelung sich blicken ließen. Der habe, sie auf ihrem Liegestuhl nicht gewahrend, sich auf die Erde gelegt und, ein freundliches Grinsen im zerstörten Antlitz, der kleinen Volksgenossin mit ermunterndem Zuruf die Hände hingehalten. Odinda habe auch ihre Händchen hineingelegt, bevor sie, Frau van Bornevelde, den Schreckensschrei noch habe ausstoßen können, auf den hin jener das Kind sofort losgelassen habe und alsbald spurlos verschwunden sei. Odinda sei, diesmal aber weinend, den ganzen Hang heruntergekugelt, doch habe weder der Absturz, noch die Berührung des Aussätzigen irgendeine Folge gehabt. – So wolle sie hoffen, daß die junge Malaiin auch gegen die Gefahren des europäischen Lebens gefeit sei, und das Wagnis ihrer Verpflanzung so oder so zum Guten ausschlagen werde.
Als Frau van Bornevelde mit ihrem Völkchen in Haus Duynberg sich einnistete, hatte sie die beiden übereinanderliegenden Turmgemächer, die durch ein Wendeltrepplein in unmittelbarer Verbindung standen, zu Krankenzimmern eingerichtet. Denn sie meinte, daß das viele Licht da oben und der freie Ausblick der Seele wohltätig sein und die Genesung beschleunigen werde, weswegen man die vermehrten Unbequemlichkeiten der Pflege wohl in Kauf nehmen dürfe. Aber es dauerte lange, bis der erste Kranke sich einfand. Das war der kleine Elias Meulenhoff, der im Frühjahr 1839 von einem tückischen und langwierigen gastrischen Fieber befallen ward. Doktor Latschert schüttelte den Kopf: »Wenn nur keine Komplikationen eintreten!« sagte er, Frau Anna aber, da sie eines Tages die Freundin besuchen wollte und sie als Krankenpflegerin tätig fand, dachte in ihrem Herzen, daß der stachlichte Kaktus da wieder einmal ein schönes Blütenwunder hervorgebracht habe, denn keine Mutter hätte des eigenen Kindes liebevoller und behutsamer warten können. Ja, sie fand, daß Frau van Borneveldes Angesicht einen neuen Ausdruck gewonnen habe, der es verschöne und verjünge.
Der kleine Elias war, wie seine mütterliche Pflegerin, eine seltsame Mischung von Weichheit und Herbheit, ja Härte: Als Schüler mit mehr Eifer und Ehrgeiz, denn mit rascher Auffassungskraft begabt, als Kamerad zuverlässig, aber keiner ganz nahen Freundschaft fähig, die zarteren Regungen seiner Knabenseele nur der geliebten Geige anvertrauend, die er meisterlich spielte. Die war es auch, die ihn mit dem Krankenlager versöhnte: so oft Doktor Latschert es irgend erlaubte und dann immer so lange bis Frau van Bornevelde ernstlich Feierabend gebot, ließ er seine Phantasien durchs offene Fenster hinausfliegen, wodurch die Vogelkehlen im Duynberger Park sich ihrerseits zu vermehrtem Fleiß angeregt fanden, also daß die alten Mauern in allen ihren Jahrhunderten noch nie von so viel Wohllaut umflossen gewesen waren.
Und Doktor Latschert, der der Frau van Bornevelde den schleichenden Hinzutritt der befürchteten Komplikationen nicht verhehlte, legte seinem Patienten zuletzt keinerlei Beschränkung mehr auf, bis dann spät an einem lauen Juniabend, als die Geige des kleinen Elias gerade die erste Nachtigall wachgerufen hatte, der Tod den Fiedelbogen auf die Bettdecke und den bleichen Knabenkopf in Frau van Borneveldes Arme sinken ließ.
Längst hatten Herr Schlüpjes und Pastor Kranevoß dem kleinen Elias die letzten Dienste erwiesen, längst hatte ein neuer Zögling den leeren Platz eingenommen, längst ging das Leben in Haus Duynberg seinen gewohnten Gang, als im Sommer 1840 Frau van Bornevelde selbst plötzlich erkrankte. Kommerzienrats waren mit Kind und Kegel in Rothenfelde, weil Doktor Latschert für die zarte Regine Solbäder verordnet hatte. Am Tage nach ihrer Heimkehr schon kam Antje und überbrachte die Bitte um Frau Annas baldigen Besuch. Die Kranke fühlte sich gerade heute so frisch und habe so vieles auf dem Herzen – wenn sie gegen Abend ein Stündchen miteinander verplaudern könnten, so würde das ihre Genesung beschleunigen. Antje selber sah traurig und müde aus und schien die Krankheit ihrer Herrin sehr ernst zu nehmen.
Frau van Bornevelde lag in dem obern der beiden Turmzimmer, darin man sich fast in Höhe des Dachreiters befand, von dem aus Antoinette die Sterne beobachtet hatte. Ihr Bett stand auf einer kleinen Erhöhung, so daß sie, ohne sich aufzurichten, durch das offene Fenster die unendliche Niederung überblicken konnte, mit der Seele oft die Heimat suchend, darin eben jetzt hinter Herrn Jeanbons Jagdgründen die Sonne zum Untergang sich anschickte. Mit ihren mandelförmigen braunen Augen, die klar und lebhaft wie in gesunden Tagen, aber von einem neuen Lichte durchleuchtet waren, blickte sie der Eintretenden lächelnd entgegen, indem sie versuchte, sich ein wenig aufzurichten. Die Kommerzienrätin erschrak über den raschen Verfall des Antlitzes, aus dem mit der Farbe des Lebens alle Strenge gewichen war, obwohl die Linien sich verschärft hatten, und nachdem sie der Kranken die Hand gegeben und ein paar freundliche Worte mit ihr ausgetauscht, nahm sie neben dem Bett Platz, so daß sie das Fenster voll Abendsonne im Rücken hatte. Über und neben ihr floß die Fülle der roten Glut auf das Krankenlager. Frau van Bornevelde lächelte: »Leben und Sterben verbinden sich dicht, selig beruhend im ewigen Licht,« zitierte sie leise. Frau Anna widersprach nicht, Worte zu machen war ihr nicht gegeben. Sie empfand sofort, daß jene mit dem Leben abgeschlossen hatte, und so freudig sie ihrerseits den Forderungen des eigenen, hellen Lebenstages sich hingab und so dankbar sie seines Reichtums genoß – es war doch etwas wie leiser Neid, was in ihrem Herzen sich regte, und sie schämte sich dessen.
Frau van Bornevelde begann von den schönen Tagen und schöneren Nächten zu sprechen, die sie jetzt erlebe. So voll Wunder sei diese schlichte Landschaft, mit der dunklen Nähe und der lichten Ferne, und die Weite dieses Himmels, und in diesen stillen Nächten erst habe sie Muße gefunden, die Wahrheit des Kantschen Wortes ganz zu erleben – sie blätterte in dem Buch, das sie beim Eintritt der Kommerzienrätin aus der Hand gelegt hatte, und las: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwäglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.« – Sie schwieg eine kleine Weile und sah still ins Weite. Dann sagte sie, daß sie oft stundenlang den kleinen Elias auf seiner Geige phantasieren höre, der ja in diesem Zimmer gestorben sei. Dieser freundliche Spuk, der von einem ernstlich so genannten dadurch sich unterscheide, daß er nicht errege und verwirre, sondern tröste und beruhige, sei ihr ein Versprechen, daß auch das grauenvolle Gespenst ihres dreifachen Mordes – ja, sie sage das bei voller Klarheit des Geistes: dieses dreifachen Mordes, den sie, Frau Cato van Vornevelde, begangen und an den sie in beständiger Trauer aber ganz ohne Reue zurückdenke – daß das Gespenst dieser furchtbaren Tat sie in ihrem letzten Stündlein nicht verwirren und erschrecken werde.
Die Kommerzienrätin meinte, sie wollten doch lieber von freundlicheren und wirklicheren Dingen sprechen, als von Gespenstern, und wenn ihr Besuch in dieser schon abendlichen Stunde die Kranke zu sehr aufrege, wolle sie ihn abbrechen und morgen vormittag wiederholen. Aber Frau van Bornevelde ergriff ihre Hand und bat inständig, sie möge doch ja bleiben, denn gerade um über diese dunklen und gräßlichen, aber sehr wirklichen Dinge mit ihr zu sprechen, habe sie sich ihren Besuch erbeten. Sie sei keineswegs erregt, sondern so ruhig wie immer, aber es würde ihrer Seele wohltätig sein, wenn sie, bevor sie diese schöne und leidvolle Erde verlasse, einem Menschen in Rede und Gegenrede mündlich sich aussprechen dürfe, statt ihr trauervolles Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Sie wisse aber sonst niemand, von dem sie solchen Freundschaftsdienst erbitten, oder auch nur ertragen könne. – Ja, es sei ganz wörtlich wahr: sie habe ihren Mann, den sie aus Liebe geheiratet, und ihre beiden Kinder, die sie in Liebe empfangen und geboren, in Liebe gepflegt und behütet habe, ermordet. Auch sei das keineswegs bildlich zu verstehen, sondern vollkommen sachlich: sie habe diese drei Leben an einem Tage mit klarer Absicht und in völliger Freiheit ihres Willens durch Gift vernichtet. Und so unendliche Schmerzen ihr die schreckliche Tat bis auf diese Stunde bereitet, Reue habe sie nie empfunden und Reue empfinde sie auch jetzt nicht. Ja, sie wisse, daß sie in der selben Lage heute wieder ebenso handeln würde ...
Die Kommerzienrätin antwortete nicht. Ihr schwindelte. Konnte das noch Fieberphantasie sein? War es ausbrechender Wahnsinn? Oder – Wahrheit? Sollte sie Doktor Latschert rufen oder Pastor Kranevoß? Aber Frau van Bornevelde, die ihre Gedanken erriet, fuhr fort: Nein, zwischen ihr und dem guten Doktor sei alles im Reinen und mit dem Pastor wisse sie so wenig anzufangen wie er mit ihr. Sie bedürfe, um das ihr anvertraute göttliche Pfündlein, damit sie schlecht genug gewuchert habe, dem Unendlichen zurückzugeben, keines irdischen Maklers, aber wenn die Frau, die sie vom ersten Sehen an als Freundin empfunden, jetzt ihre Lebensbeichte anhören wolle, werde sie ihr noch jenseits des Grabes dankbar sein.
Die Kommerzienrätin drückte ihr schweigend die Hand und die Kranke fuhr fort, indem sie auf den schmalen Bogen des Sonnenrandes wies, der eben jetzt verschwinden wollte: so habe sie in ihren Mädchentagen in Scheveningen oft die Sonne ins Meer tauchen sehen und nie ohne den heißen Wunsch, in unbekannte Fernen ihr nachzueilen. Als dann Jongheer van Bornevelde in ihren Kreis eingetreten sei, habe sie dem tüchtigen Manne doppelt freudig die Hand gereicht, weil er ihr die Wunderwelt des fernen Ostens erschließen würde. Als Braut habe sie eines Tages einen anonymen Brief erhalten: ob sie denn nicht wüßte, woher der große Reichtum ihres Verlobten stammte. Sein Vater wäre ein Schurke gewesen, der in Verbindung mit einem deutschen Schurken und amerikanischen Helfershelfern hüben und drüben morsche Schiffe billig aufgekauft und solche, mit wertlosem Ballast verfrachtet, unter allerlei falschen Eigentümernamen bald bei diesem, bald bei jenem englischen Hause hoch versichert hätte. Von allen möglichen kleinen französischen und deutschen Häfen aus hätte man alsdann diese Schiffe in See stechen lassen, auch so oft sich irgend Gelegenheit geboten, die Unternehmung durch Mitnahme von Auswanderern stattlicher und gewinnreicher zu machen gesucht. Zuweilen zwar hätte man sich verrechnet, indem ein gänzlich seeuntüchtiges Fahrzeug nicht bei der ersten, sondern erst bei der zweiten oder dritten Reise zugrunde gegangen wäre und also die Versicherungssumme mit einiger Verspätung eingebracht hätte. Im ganzen aber wäre es doch die am besten prosperierende Reederei ihrer Zeit gewesen. Und als man dem sauberen Handel endlich auf die Spur gekommen hätte der Jongheer sich und sein Blutgeld rechtzeitig in Holland in Sicherheit gebracht, dem deutschen Spießgesellen noch ein Schnippchen schlagend. Dem hätte man dann in Emden den Prozeß gemacht, aber nicht allzuviel nachweisen können, zumal er ein frommer Mann und Kirchenältester gewesen, der beteuert hätte, von dem Holländer hinters Licht geführt worden zu sein. – Diesen Brief habe sie nach einigem Zögern ihrem Verlobten gegeben, der ihn überflogen und alsdann zerrissen habe. Anonyme Briefe, so habe er sie belehrt, nähme man nicht ernst und übrigens möchte er wohl den Reichtum sehen, der, sofern man ihm auf den letzten Grund ginge, nur aus ganz und gar sauberen Quellen stamme. Wie es denn überhaupt in der Welt ganz anders aussähe als hinter ihrer klugen Stirn und in ihrem unschuldigen Herzen. Sein seliger Vater wäre, wie er von der seligen Mutter wüßte, ganz zweifellos ein Ehrenmann gewesen, aber wenn wirklich nicht jedes einzelne Geschäft, das jener in seinem arbeitsreichen Leben abgeschlossen, der allerstrengsten Moral entsprochen haben sollte, so stünde es doch keinesfalls dem Sohn zu, hierüber zu Gericht zu sitzen und der Schwiegertochter noch weniger. Sie wollten vielmehr des väterlichen Erbes miteinander als gute Haushalter genießen und vergangene Dinge, die aufzuhellen ohnehin in keines Menschen Macht läge, auf sich beruhen lassen.
Am meisten habe ihr davon eingeleuchtet, daß man anonymen Briefen nicht zu viel Wert beimessen dürfe und im ganzen habe sie sich über diese Sache im Blick auf die tüchtige und zuverlässige Art ihres Verlobten nicht allzu viele Gedanken gemacht. Sie sei eben erst siebzehn Jahre alt und noch ein rechtes Kind gewesen. – Unmittelbar nach der Hochzeit seien sie an Bord gegangen und ein halbes Jahr später, nachdem sie sich in Buitenzorg von der langen Seereise erholt und ein wenig an das Klima gewöhnt gehabt habe, nach Oranjezon weitergereist, wo sie ...
Hier ward leise an die Tür geklopft und auf Frau van Borneveldes »Kom binnen!« erschienen die freundlichen Kinderaugen und die Mimik Mynheers van den Bleek, des Hauslehrers: ob es angenehm sei, wenn die Knaben ihr Abendlied auch heute wieder im Hofe sängen. Einige Minuten später erscholl es durchs offene Fenster:
Wilt heden nu treden voor God den Heere,
Hem boven al loven van herten seer,
End' maken groot sijns lieven naemens eere,
Die daer nu onsen vijant slaet terneer.
Ter eeren ons Heeren wilt al u dagen ^
Dit wonder bijsonder gedenken toch;
Maeckt u, o Mensch! voor God steets wel te dragen,
Doet ijder recht en wacht u voor bedrog.
D'arglosen, den boosen, om ijet te finden,
Loopt drieschen en brieschen gelijck een Leeu,
Soeckende wie hij wredelijck verflinden
Of geven mocht een doodelijcke preeu.
Bid, waket end' maket, dat g'in bekoring
End' 't quade, met schade, toch niet en valt.
U vroomheijt brengt de vijand tot verstoring,
Al waer sijn rijck nog eens soo sterck bewalt.
Das altniederländische Dankgebet des Adrianus Valerius. 1625
In wörtlicher Übersetzung von Karl Budde. Aus: Goldscheider, Gloria Viktoria. C.H.Becksche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck), München 1916.
Wollt heute nun treten vor Gott den Herrn,
Ihn über alles loben von Herzen sehr,
Und machen groß seines lieben Namens Ehre,
Der da uns unseren Feind schlägt darnieder.
Zu Ehren unsers Herrn wollt all eure Tage
Dieses Wunders besonders gedenken doch;
Befleißige dich, o Mensch, vor Gott stets eines guten Betragens,
Tut ein jeder recht und hütet euch vor Betrug!
Arglose, der Böse, um etwas zu finden,
Läuft drohend und brüllend gleich einem Löwen,
Suchend, wen er grausamlich verschlingen
Oder geben könnte einen tödlichen Streich.
Betet, wachet und machet, daß ihr in Verführung
Und das Böse nicht fallet!
Eure Frömmigkeit bringt den Feind zur Zerstörung,
Wäre auch sein Reich noch einmal so stark bewallt.
Als der letzte Ton verklungen war, pries Frau van Bornevelde die freundliche Fügung, die gerade dieses stärkende Lied ihr heute noch einmal und in dieser Stunde dargeboten. Dann nahm sie ihre Erzählung wieder auf: Von der märchenhaften Schönheit der Residentschaft Oranjezon und von ihrem dortigen Leben, auch von den Schrecknissen ihres einzigen Wochenbettes habe sie ja schon des öftern erzählt, und gewiß habe die Freundin längst gemerkt, daß ihre Ehe nicht glücklich gewesen sei. Sie wolle darüber auch heute nur sagen, daß sie unsagbar gelitten habe, und sich darauf beschränken, das zum Verständnis ihrer Tat Notwendige noch auszuführen. Ja, das könne sie wohl sagen: ihr Leben in Oranjezon sei nicht eine Hölle auf Erden, sondern etwas viel Schlimmeres: eine Hölle im Paradies gewesen, und nichts als die hilflosen Augen der Zwillinge hätte sie darin festgehalten. Der Jongheer sei in der Tat ein tüchtiger Mann und Beamter gewesen, aber von einer Habgier und Grausamkeit, die nichts Menschliches mehr gehabt habe. Sie wisse wohl, daß sie selber durchaus keine besondere Liebe zu den Eingeborenen empfunden, sondern deren Armseligkeit ganz gelassen als etwas Selbstverständliches betrachtet habe. Ihr Mann aber sei wie ein Teufel mit ihnen Verfahren und habe die Rechtlosen auf jede Weise ausgesogen und gequält. Und wie dumpf und stumpf jene auch, der Unbarmherzigkeit ihrer europäischen Herren gewohnt, alles über sich hätten ergehen lassen – zuletzt sei doch die Luft so voll Haß und Verzweiflung gewesen, daß ihr das Atemholen schwer und das Leben unerträglich geworden sei.
Die Kranke hielt inne und schien sich zu besinnen, ob sie etwas vergessen habe. Dann fuhr sie fort: Ja, gewiß, in den ersten Jahren als ihr Mann noch einige Zärtlichkeit für sie empfunden, o, da habe sie ihn oft und unter Tränen gebeten und beschworen, von seiner Unmenschlichkeit abzulassen. Anfangs habe er dann wohl gelacht und gesagt, sie solle sich doch nicht in seine Regierungsgeschäfte einmischen, er wisse selber sowohl, was der Staat von ihm erwarte, wie auch, was er sich und seinen Söhnen schuldig sei. Wenn er erst daheim im Ministerium sitze, könne er nichts mehr zurücklegen. Die Eingeborenen seien nichts Besseres gewöhnt und nicht anders im Zaum zu halten, auch bestreite er durchaus, daß er in allen diesen Dingen anders verfahre, als die anderen Assistent-Residenten. Und mit der Zeit hätten ihre Bitten und Vorwürfe nur dahin geführt, daß er sich immer mehr von ihr und den Zwillingen abgewendet und hart und trotzig sich immer ausschließlicher seinen sogenannten Regierungsgeschäften hingegeben habe. Sie aber habe vergeblich immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, wie sie mit ihren Kindern ihn verlassen könne, um schließlich einzusehen, daß dies ganz unausführbar sei. Mit solcher Einsicht sei eine große Müdigkeit über sie gekommen und sie habe nur noch ganz mechanisch dahingelebt wie ein Tierchen.
Da sei ein Offizier nach Oranjezon versetzt worden, ein Deutscher, den nach den Befreiungskriegen das Garnisonleben nicht mehr befriedigt und ein abenteuerlicher Sinn in die Ostindische Kompagnie und nach Sumatra geführt habe, wo er sich in den Kämpfen gegen den letzten Sultan von Palembang hervorgetan und zum Rittmeister aufgestiegen sei. Der habe alsbald begonnen, ihr den Hof zu machen, was ihrem Mann so gleichgültig gewesen sei wie ihr selber. Durch den Schleier ihrer hoffnungslosen Müdigkeit habe sie, wie alles andere, so auch ihn und sein Werben nur ganz undeutlich wahrgenommen, als etwas Fremdes und Fernes, das sie nicht berühren könne und worüber nachzudenken sich nicht lohne. Im Lauf der Zeit habe es sich gefügt, daß er mit ihr Deutsch getrieben und sie deutsche Bücher miteinander gelesen, was ihr, wenn auch weder Trost noch Hilfe, so doch ein flüchtiges Vergnügen gewährt habe. Und da sei es denn eines Tages beim Lesen von Werthers Leiden über ihn gekommen, obschon die drei Hauptpersonen dieses Buches mit den drei Hauptpersonen in Oranjezon gewiß nicht eben viel gemeinsam gehabt hätten, und leidenschaftlich habe er ihr seine Liebe ausgesprochen. Ihr sei gewesen, wie wenn sie nun das letzte Restchen Erdenfreude vor sich versinken sehe, aber sie habe sich das nicht anmerken lassen, sondern enttäuscht und kalt und ein wenig gelangweilt sich derartige Ausbrüche verbeten. Das müsse ihn über die Maßen gereizt haben, denn er habe daraufhin, alle Selbstbeherrschung verlierend, gedroht: sie solle sich's wohl überlegen! Er sei nicht gewohnt und nicht gesonnen, sich von oben herab behandeln zu lassen. Noch habe nur er Beweise, daß ihr Mann sich der Unterschlagung von Staatsgeldern schuldig gemacht habe. Aber es koste ihm nur einen Brief, so würden übers Jahr in ganz Holland die Spatzen von den Dächern pfeifen, welcher Schuft als Assistent- Resident Seine Majestät in Oranjezon vertreten habe. Nach solcher Drohung sei der Rittmeister, ohne eine Antwort abzuwarten, fortgestürmt. – Sie habe alsbald gewußt, daß jener nicht lüge, übrigens aber innerlich sich von diesem neuen Elend kaum berührt gefühlt. Immerhin habe sie für ihre Pflicht gehalten, sich zu dem zu bekennen, der nun einmal ihr Mann war, und ihm den ganzen Auftritt zu erzählen. Er habe ihr vorgeworfen, dem Rittmeister offenbar weiter entgegengekommen zu sein, als es für die höchstgestellte Dame von Oranjezon schicklich gewesen sei. Über den Vorwurf der Unterschlagung auch nur ein Wort zu verlieren, halte er für unter seiner Würde. – Einige Tage später hätten drei Malaien im Walde den Rittmeister, der ein passionierter Jäger gewesen, an einen Stein gelehnt tot aufgefunden, augenscheinlich während des Frühstückens von einem malaiischen Pfeil durchbohrt. Der Assistent-Resident habe den drei armen Kerlen den Prozeß gemacht und alsbald den einen von ihnen wegen Ermordung eines königlich niederländischen Offiziers henken lassen, ohne seiner Ausrede, durch eine alte Malaiin zu der Mordtat angestiftet worden zu sein, irgendwelche Bedeutung beizumessen.