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Es war im Hochsommer 1815, wenige Monate nach der Schlacht bei Waterloo, und der Nachmittag war unerträglich schwül. Jetzt, gegen sieben Uhr, war der Himmel gelbgrau und aus Nordwesten wälzte sich eine schwarze Wolkenmasse heran. Es begann zu blitzen, zu donnern, aber nur vereinzelt fielen schwere Regentropfen. Die Fenster des Gesellschaftszimmers im Jülicher Hof, der sich nun »Schwarzer Adler« nannte, denn das Städtchen war im Frühjahr preußisch geworden, standen weit offen, und die Herren, die an ihnen nach Kühlung schnappten, hatten sich's bequem gemacht. Nur J. P. Wolf, der einstige Maire, der nun ehrenamtlicher Bürgermeister war, hatte den Rock nicht ausgezogen, dessen Knopfloch, wie es hieß, auf ein schwarz-weißes Ordensbändchen wartete. Denn das neue Schulhaus, für das er persönlich tief in die Tasche gegriffen hatte, war unter Dach, und die Normalschule zu Coblenz hatte für den Herbst zwei tüchtige Lehrkräfte zugesagt. – Alles blickte auf den Marktplatz, gespannt, ob es der Kölner Postkutsche, die nun täglich fuhr, wohl gelingen werde, noch vor Ausbruch des Unwetters einzufahren ... J. P. Wolf vermutete, daß sein Schwiegervater, Pastor Pieper, der sich beim Predigen überanstrengt hatte und vor sechs Wochen nach Ems gereist war, um den Hals wieder auszubessern, mit dieser Post zurückkehren werde, und Frau Maria Magdalena war ins Pfarrhaus gegangen, den Vater dort mitzuempfangen. Jetzt brach ein Regen los, wie wenn alle Schleusen des Himmels auf einmal geöffnet würden, aber schon hörte man auch den Postillon sein heiseres Tätärä-tätätätä schmettern, und eine Minute später stand das triefende Gefährt vor dem Tore des Schwarzen Adlers, von Kellner und Hausknecht gelassen in Empfang genommen, von den hemdärmeligen Herren der Gesellschaft aber durch Zurufe und Winken mit Gläsern und Tonpfeifen so stürmisch begrüßt, daß die Gäule wohl nur dank ihrer Müdigkeit Haltung bewahrten. Wirklich entstieg dann auch Pastor Pieper dem Wagen, und im Blick auf den Wolkenbruch entschloß er sich, die Seinen daheim noch ein wenig warten zu lassen und zunächst in die »Gesellschaft« einzutreten. Man nahm Platz, und in der zunehmenden erfrischenden Kühle mit verdoppeltem Behagen trinkend und rauchend, erkundigte man sich lebhaft nach seinen Reiseerfahrungen und der Wirkung der Kur, Der Pastor schien zuerst zerstreut an anderes zu denken, dann aber begann er mit erhobener Stimme im Zusammenhang zu erzählen: er habe gestern in Köln etwas ganz Außerordentliches erlebt. Im Gasthof habe er gehört, daß der Reichsfreiherr vom Stein zusammen mit dem großen Dichter Goethe in Köln eingetroffen, wo ja auch Ernst Moritz Arndt jetzt ansässig sei. Und eine freundliche Fügung habe ihn alsbald die drei Männer finden lassen, wie sie in ernstem Gespräch miteinander am Domtorso gestanden, der ja nun, Gott sei Dank, nicht mehr französisches Militärmagazin sei. Sie seien aber alle drei viel kleiner gewesen, als er sich's gedacht, und der große Heide von Weimar habe gar nicht apollinisch ausgesehen, sondern ganz ehrbar und fast strenge.
Er, Pieper, habe sich unauffällig in ihrer Nähe gehalten, und als sie endlich weitergegangen, sei er ihnen gefolgt, die ganze lange Komödienstraße hinab. Als sie sich dann aber getrennt, und der teure Ernst Moritz allein zurückgegangen sei, habe er sich an diesen herangemacht, als Pastor und Verehrer sich zu erkennen gegeben und ihn ein Stücklein begleiten dürfen, wobei sie gar vieles miteinander besprochen hätten. Als er, Pieper, aber die Neugestaltung Europas berührt, wäre Arndt ganz in Rage geraten: Dieser Wiener Käsezuschnitt sei einfach monströs und nur von einem Kongreß zu verstehen, auf dem alles Ernstes die Frage verhandelt worden, ob es sich nicht empfehle, die Gesandtschaftsposten erblich zu machen. – Auch daß Arndt gemeint, Goethe sei wohl auf seine Weise gar nicht fern vom Reiche Gottes, habe ihm zu denken gegeben. Item: die ganze Begegnung sei doch eine köstliche Erinnerung für sein Leben. C. C. Windemann meinte, das sei freilich wahr, und ein so bedeutendes Erlebnis habe gewiß von den Anwesenden keiner gehabt. Und nachdenklich schwiegen alle. Da aber richtete sich der achtundneunzigjährige Herr Henricus ten Bompel in seinem gepolsterten Sessel, den ihm die Gesellschaft zum neunzigsten Geburtstag verehrt hatte, ein wenig auf, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der welken Rechten nach seiner Gewohnheit die mächtige Nase, und sagte, indem er die vergnügten Äuglein von einem zum andern wandern ließ: Ja, er habe eine ebenso köstliche Erinnerung, das könne er doch wohl sagen. – Und alle blickten gespannt auf den alten Herrn und wunderten sich der Rede, denn sie wußten, daß die letzten sieben Jahrzehnte seinem Gedächtnis fast restlos entglitten waren, und daß seine Kindheit und Jugend arm und hart gewesen ... Er aber begann zögernd und umständlich zu erzählen, wie er Anno dreißig als Junge in seiner Vaterstadt Wesel eines Tages am Rhein geangelt habe, und wie dann, von einer Abteilung preußischer Soldaten erwartet, ein Schiff angekommen sei. Dem wären ein Paar Offiziere entstiegen, die hätten einen schlanken, ganz jungen Menschen zwischen sich geführt, der über die Maßen fein und erschrecklich blaß ausgesehen hätte. Dem hätte der flattrige Rheinwind die Mütze vom Kopf geweht. Da aber sei er, Henricus, der Mütze nachgesprungen und habe sie endlich auch eingeholt und flugs dem jungen Menschen zurückgebracht, worauf dieser ihn aus seinen großen blauen Augen gar traurig angeblickt und mit einem müden Lächeln: » merci, mon ami!« gesagt habe. Und alsbald habe erfahren, daß der junge Mensch niemand anders gewesen als der Kronprinz in Preußen, den sie ja nun wohl den Alten Fritz nennten und der zu jener Zeit wegen versuchter Desertion von seinem Herrn Vater, dem König, gefangen gesetzt worden sei. Und: merci, man ami! habe er gesagt. Er höre es noch, und sehe noch die traurigen und trotzigen blauen Augen und es sei doch nun schon so lange her und der Alte Fritz sei am Ende wohl gar schon gestorben oder doch dem Tode so nahe wie er, Henricus.
Das hätte sich der amerikanische Farmerssohn Benjamin Thomson, der in englischen Diensten gegen die Unabhängigkeit Amerikas kämpfend Oberst, und in München, wo er nebenbei den Englischen Garten anlegte, Armenpfleger großen Stiles und Kriegsminister gewesen und zum Grafen Rumford geworden war, – das hätte er sich nicht träumen lassen, daß er wenige Jahre, nachdem er im Frieden eines Pariser Vororts sein wechselvolles Leben beendet, dem Knopfloch eines preußischen ehrenamtlichen Bürgermeisters am Niederrhein zu einem Ordensbändchen verhelfen werde. Und zu einem wohlverdienten. Denn die Hungersnot, die infolge der schrecklichen Mißernte des Jahres 1816 zu einer Zeit ausgebrochen war, da die junge niederrheinische Industrie, durch keine Kontinentalsperre mehr geschützt, schwer daniederlag, indessen die so lange aufgespeicherten und nun unter den Herstellungskosten in den Handel gegebenen englischen Fabrikate ungehemmt ganz Deutschland überfluteten – die Hungersnot hatte J. P. Wolf in seinem Bereich mittels Rumfordscher Suppen tatkräftig und wirksam bekämpft. Auch die Mönche des vor fünfzehn Jahren erst aufgehobenen Klosters, das inmitten des Städtchens lag, hätten sich's nicht träumen lassen, daß in ihrem verwaisten Refektorium vier mächtige Kessel aufgestellt würden, in deren jedem der Bürgermeister täglich für mehr als zweihundert Menschen eine Suppe kochen ließ, die aus Wasser, je zehn Pfund Erbsen, Grütze und Gerste, vierzig Pfund Erdäpfeln, sechs Pfund Fleisch und drei Pfund Salz bestand, und von der die Portion anderthalb Stüber, nach heutigem Geld sechs Pfennig, kostete. Wer wollte, durfte sein Näpfchen gleich an Ort und Stelle auslöffeln, aber die meisten zogen vor, die billige Kost daheim am weißgescheuerten Tisch zu verzehren, wo sie ihren Nährwert durch ein Gebetlein und etwa noch durch ein Stück Holländerkäse erhöhen konnten. So sah man denn auf allen Wegen Kindertrüppchen, deren blankgeputzte Blechkannen lustig in der Sonne glitzerten, und J. P. Wolf erhielt den Roten Adler.
Schlimmer war ein anderer Hunger, von dem freilich die überwiegende Mehrheit des Volkes, durch die Jahrhunderte zu knechtischer Ergebenheit allem Hochgeborenen oder Hochgestellten gegenüber erzogen, nicht allzuviel verspürte: der Hunger nach staatsbürgerlicher Freiheit, den das letzte Viertel des achtzehnten Jahrhunderts geweckt und den Napoleon zu stillen begonnen hatte. Wohin er gekommen war, da hatte er mit den alten Privilegien aufgeräumt und Freizügigkeit und eine schnellere und billigere Rechtsprechung eingeführt. Da gab es keine ständisch eingekasteten »Untertanen« mehr, sondern nur noch »Citoyens« mit gleichen Rechten und Pflichten, und mit einer angenehmen Überraschung hatte am Niederrhein sogar der Bauer und Kleinbürger von den französischen Beamten sich als Menschen behandelt gesehen. Denn so wollte es der große Kaiser, dessen Schatten beständig hinter ihnen stand. Gewiß, er war ein Despot. Aber solchen Despotismus, voll Einsicht, Kraft, Folgerichtigkeit, reich an demokratischen Grundsätzen und überreich an Organisationstalent, den konnte man sich allerdings gefallen lassen. – Hätte man in den Rheinlanden nach Napoleons Sturz die Wahl gehabt, man wäre wahrscheinlich ganz gerne wieder deutsch, sicherlich aber nicht preußisch geworden. – »Da haben wir aber in eine arme Familie hineingeheiratet!« sollte der Bankier Schaaffhausen in Köln ausgerufen haben, als er hörte, daß die Einverleibung der Rheinlande in Preußen zur Tatsache geworden. – So trat dann hier, wo ihm keine dynastische, einzelstaatliche Tradition im Wege stand, der Gedanke der deutschen Einheit frühe neben das Verlangen nach vermehrter staatsbürgerlicher Freiheit. Und immer wieder sprach Görres in seinem Rheinischen Merkur es aus: »Ganz Deutschland ruft nach einem Kaiser.«
Obwohl es ihn als französischen Maire ja eigentlich nichts anging, hatte I. P. Wolf 1807 das Zukunftsversprechen des preußischen Staatskanzlers Hardenberg mit Freuden begrüßt: »Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung!« Inzwischen hatte das deutsche Volk Gut und Blut für die Befreiung der deutschen Lande von der Fremdherrschaft geopfert. Aber in Berlin dachte man nicht daran, jenes Versprechen einzulösen. Man hatte durchaus erreicht, was man wollte, nun sollte der Befreiungskampf nicht in Freiheitskampf »ausarten«. Waren denn mit den französischen Heeren nicht auch die Ideen der französischen Revolution endgültig besiegt? Ihr Sohn und Erbe, der »Usurpator« war glücklich beseitigt, und die Legitimität derer triumphierte, die er »erbliche Esel« und deren Väter schon Friedrich der Große »erlauchte Trottel« genannt hatte. Der große französische Tyrann erwartete auf St. Helena den Tod, da durften die vielen kleinen deutschen Tyrannen um so kräftiger wieder aufleben, und schmunzelnd oder enttäuscht betrachten, wieviel »Seelen« sie auf dem Wiener Kongreß eingeheimst hatten. Mochte solches nun wenig oder viel sein – in jedem Fall versuchten die meisten, von einer Art Größenwahnsinn befallen, eine Erhöhung ihrer Würde durchzusetzen. Ward ihnen diese versagt, so legten sie sich mindestens aus eigener Machtvollkommenheit innerhalb des eigenen Höfchens und Ländchens das Prädikat »Königliche Hoheit« bei, auch wenn sie nur simple Herzöge waren. – Schon 1814 war in Kassel Landgraf Wilhelm, »der Siebenschläfer«, der jahrzehntelang seine Landeskinder als Soldaten ans Ausland verkauft, und den Napoleon 1806 verjagt hatte, als Kurfürst festlich wieder eingezogen, jubelnd begrüßt von allen Bedientenseelen seiner Untertanen. Und das Erste, was er – symbolisch nicht nur für Hessen – als Landesvater unternommen hatte, war die Wiedereinführung von Zopf und Perücke gewesen .... Das gute Beispiel aber, das der treffliche, 1811 hochbetagt entschlafene Großherzog Karl Friedlich von Baden seinen Standesgenossen gegeben, als er die wie Bayern und Württemberg, so auch Baden von Napoleons Gnaden angebotene Königskrone abgelehnt hatte, weil seine Einkünfte für eine königliche Hofhaltung zu gering seien und er sie nicht auf Kosten seiner Untertanen steigern wolle – dieses gute Beispiel schien auf jene wenig Eindruck gemacht zu haben. Die Schwaben atmeten auf, als im Herbst 1816 Friedrich II., von Napoleons Gnaden König von Württemberg das Zeitliche segnete. Denn dieser prachtliebende Gernegroß hatte sein schönes Ländle weidlich ausgesogen und seine Untertanen in der Furcht des Herrn gehalten, wie er denn schon als Herzog sich die besten Herzen dadurch entfremdet hatte, daß er den Söhnen der Handwerker und Kleinbauern das Studium der Theologie verschloß. Übrigens verfügte er, wovon manche durch ihn enteignete Landesherrlichkeit in Schwaben ein Lied zu singen wußte, über weit mehr Verstand und Energie, als man sich dessen angesichts der ungeheuren Rundungen seiner Leiblichkeit versehen konnte, nur daß er jene vortrefflichen Gaben lediglich seinem dynastischen Ehrgeiz, seiner Genußsucht und seinen Günstlingen zugute kommen ließ. Doch wie schwer er auch sein Volk plagte, noch viel schwerer plagte ihn sein Bauch, der, als er schon längst weder in der alten noch in der neuen Welt seines Gleichen hatte, immer noch wuchs und wuchs und wuchs. In einem grünseidenen Netz, dessen Gurte die königlichen Schultern drückten, mußte Friedrich II. diesen ungeheuren Bauch vor sich herschleppen, der ihn langsam und sehr wider Willen zum Akrobaten ausbildete. Und der, ach oft genug, ganz anders wollte, als sein königlicher Inhaber. So Anno Acht auf dem Fürstentag zu Erfurt wo »Württembergs geliebter Herr« als Schwiegervater des lustigen Königs Hieronymus von Westfalen selbstverständlich nicht fehlen durfte. Die in starken Riemen hangende Karosse hatte ihn angenehm auf das Schlachtfeld von Jena gewiegt, das Napoleon dazu ausersehen, mit dem Zaren und den deutschen Fürsten Hasen zu jagen. Zu solchem Zweck mußte der Württemberger, der übrigens ungeachtet seiner Schwerfälligkeit ein gewaltiger Nimrod war, allerdings den Wagen verlassen. Aber dabei revoltierte der Bauch. Mit elementarer Gewalt sein Netz zerreißend brach er sich den Weg ins Freie. Und nur den vereinten Kräften des Kammerherrn und des Leibjägers gelang es, das Ungetüm zu bändigen und die königlichen Massen diskret in den Wagen zurückzuverladen, der dann auch ohne neue Sensation oder Beschädigung die Majestät behufs Rehabilitierung in Erfurt wieder ablieferte. – Von nicht weniger heiterer Eigenart als diese mißratene Hasenjagd waren die Minuten, in denen die königliche Seele und der königliche Bauch für immer von einander Abschied nahmen. Schon mehrere Nächte hatte der Leibarzt Dr. Froriep am hochgewölbten Krankenlager seines Königs gewacht. Er wußte, daß seine ärztliche Kunst dem Ende so nahe war, wie das Leben seines Patienten. Nun gedachte er, sich ein wenig auszuruhen, wozu ein anscheinend höchst bequemer Sessel einlud, von dem aus er das Antlitz des Sterbenden im Auge behalten konnte. Daß er, indem er behaglich sich niederließ, eine Spieluhr im Innern des Sessels in Betrieb setzen würde, das konnte er wirklich nicht wissen, auch nicht, auf welche Weise etwa man solche Musik wieder verstummen machen könnte:
Blühe, liebes Veilchen,
blühe noch ein Weilchen,
werde schöner noch!
Unbefangen spielte die Uhr das heitere Liedlein zu Ende. Aber dann zeigte sich leider, daß die Majestät seine freundliche Aufforderung in den Wind geschlagen und sich dahin zurückgezogen hatte, wohin ihr der Bauch nicht folgen konnte.
Der dürftige Philister aber, dem dieser Friedrich als Herzog von Württemberg einst das Kaiserdiplom von Frankfurt nach Seligenstadt gebracht, und der inzwischen als Franz II. 1806 die lange Reihe der deutschen Kaiser ruhmlos genug abgeschlossen, der hockte in Wien im Schatten Metternichs auf dem österreichischen Kaiserthron, mit seiner groben und bellenden Stimme betriebsam und dünkelhaft in alles sich einmischend, ohne Größe in seinen Lastern wie in seinen Tugenden. Mißtrauisch und kleinlicher Rachsucht voll, organisierte er persönlich die Qualen der Staatsgefangenen auf dem Spielberg, die gegen die österreichische Herrschaft in Oberitalien unglücklich genug sich verschworen hatten, und, für die andern Kronenträger ein nicht zu übertreffendes Vorbild, ließ er als »der gute Kaiser Franz« von seinen Untertanen wie ein unleidlicher Familienpapa sich die Hand küssen, die nur die Rute zu führen wußte.
Auch der in heiliger Allianz ihm und dem Zaren verbrüderte dritte Friedrich Wilhelm von Preußen erkannte als seine Aufgabe, mit allen Mitteln »die gute alte Zeit wiederherzustellen«. Noch hatte man in der preußischen Rheinprovinz der Königlichen Kabinettsorder vom 22. Mai 1815 vertraut, die die baldige Bildung einer an der Gesetzgebung mitarbeitenden Repräsentation des Volkes verheißen hatte, und I. P. Wolf, der Bürgermeister, bedauerte nichts mehr, als daß die Geringfügigkeit seines Städtchens ihm verbot, sich den Kollegen von Köln, Trier und Koblenz anzuschließen, als sie den König im Sommer 1817 nachdrücklich an dieses Versprechen erinnerten, wodurch sie sich freilich nur eine ärgerliche und hochmütige Zurechtweisung zuziehen sollten. Denn der hohe Herr hatte vorerst Wichtigeres zu tun: er gedachte die dreihundertste Wiederkehr des Wittenberger Thesenanschlagtages dadurch zu feiern, daß er in seinen Landen als summus episcopus Reformierte und Lutheraner zur »Union« zusammenschloß, in welcher er dann allmählich überall die neue, von ihm selbst verfaßte Agende einzuführen beabsichtigte, nicht ahnend, daß er durch beides, Union und Agende, manche gläubige Seele in Gewissensnot bringen, auch Jahrzehnte hindurch unter der streitbaren Geistlichkeit die unfruchtbarsten Kampfe wachrufen werde. – Doch soll nicht verschwiegen sein, daß in manchen Landesteilen der alte Zank durch die Union tatsächlich begraben worden ist. – Pastor Pieper wählte einen Mittelweg, indem er, den Heidelberger Katechismus freilich beibehaltend, seine ursprünglich reformierte Gemeinde hinfort eine »evangelisch-christliche« nannte.
Aber das Wartburgfest der deutschen Studenten im Oktober desselben Jahres, daran auch sein Schwager Johannes teilgenommen, machte den Bürgermeister doch bedenklich. Diese akademische Jugend in ihrem schönen Freiheitsrausch ging ihm entschieden zu weit, und mit seinem Schwiegervater, dem Pastor, hielt er es für eine unziemliche Nachahmung Luthers, daß jene bei solcher Gelegenheit nicht nur einen hessischen Zopf, einen österreichischen Korporalstock und einen preußischen Ulanenschnürleib, sondern, um gleichsam den Geist der Autorität selber mitzuverbrennen, eine Anzahl verhaßter Bücher den Flammen überantwortet hatten. So des Staatsrechtslehrers von Haller berüchtigtes Werk »Die Restauration der Staatswissenschaften« (das dem Zeitalter den Namen verliehen hat), darin es hieß, daß in monarchischen Staaten schlechterdings kein Raum für den Begriff des Patriotismus, und Vaterlandsliebe schon deswegen unstatthaft sei, weil die Person des Monarchen ein ausschließliches Anrecht auf alle derartigen Gefühle der Untertanen besitze. So den Code Napoléon und die Schriften des übelsten aller Berliner Geheimräte, Schmalz, deren eine, die ihm den Roten Adlerorden eingebracht, zugunsten der Fürsten dem Volke alles und jedes Verdienst um die Befreiung des Vaterlandes von der Fremdherrschaft absprach. Auch den »Kodex der Gendarmerie« des hochwohlgeborenen Herrn von Kamptz, der durch seine Spione des freimütig-frommen Schleiermacher Predigten nachschreiben und verdächtigen ließ, später Ernst Moritz Arndt um seine Professur gebracht und endlich als preußischer Justizminister die unwürdigste aller exzellenten Streberbrüste mit Erfolg dem Schwarzen Adler dargeboten hat. – Daß der Student Maßmann statt dieser Bücher einen Haufen Makulatur mit leidenschaftlichen Worten den Flammen überantwortet, ließ zwar auf eine höchst verständige Sparsamkeit schließen, und daß er selber die Bücher gar nicht gekannt, sondern sie erst während der folgenden Monate studiert hatte, um sein Gewissen zu beruhigen, war freilich komisch genug, machte aber im Grunde die Überheblichkeit nur um so schlimmer. – Da hatte dann Johannes in den Ferien einen schweren Stand, sowohl dem Schwager wie dem Vater gegenüber, wenn auch beide ihn gerne von den Einzelheiten jenes Festes erzählen hörten. So von dem Durcheinander des Festmahls, wie man hungrig und des langen Wartens müde, zuletzt die Küche gestürmt und die einzelnen Tische mit wahllos geraubten Speisen versorgt hätte, also, daß der eine nur die Würste, der andere nur das dazu gehörige Kraut, ein dritter nur die Kartoffeln und ein vierter nur den Festbraten erhalten. Und wie dieser Riesenbraten, den ein langer Student vor den begehrlichen Händen der andern hoch über seinem Haupt dahingetragen, plötzlich samt der Tunke aus seiner Schüssel mitten auf den Tisch der Professoren und Ehrengäste gesprungen sei – nicht ohne jammervolle Beschädigung der Uniformen und Staatsröcke...
Im allgemeinen konnten ja weder der Pastor noch der Bürgermeister gegen die Ziele der Burschenschaft, wie Johannes sie ihnen enthüllte, viel einwenden: »teutsche Art und teutschen Sinn beleben, teutsche Kraft und teutsche Zucht erwecken« – das war doch gewiß nur löblich. »Die vorige Ehre, Macht und Herrlichkeit des teutschen Volkes wiederherzustellen« – nun ja, vielleicht war das ein Traum, dann aber doch ein schöner. Daß Johannes dabei »dem verderblichen Weltbürgersinn Krieg bis aufs Messer« ansagte, erschien dem Schwager freilich übertrieben, in dessen Augen höher als die Nation die Menschheit stand. Gab ihm übrigens hierin nicht der große Schiller recht? Und gern übertönte er dann mit seiner schönen Stimme den schwärmenden Studenten!
»Seid umschlungen Millionen,
diesen Kuß der ganzen Welt!«
Ja, er war ein Feuerkopf, dieser Johannes Pieper, dieser hochgewachsene blonde Jüngling von jetzt einundzwanzig Jahren, der immer für irgend etwas glühen mußte. Und da er für den Rationalismus seines theologischen Studiums schlechterdings nicht glühen konnte, sah es der Vater immer noch lieber, daß er sich als Burschenschafter für Deutschtum und Christentum, Freiheit und Vaterland begeisterte, als wenn er gar, wozu eine Neigung zuweilen erkennbar schien, mit pietistischen und sektiererischen Kreisen sich eingelassen und schließlich etwa noch bei dem leidenschaftlich frommen Weber Schlüpjes, dem Totengräber, Schrifterkenntnis gesucht hätte. Denn der hatte um diese Zeit gerade angefangen, in seinem blaugetünchten Häuschen beim Friedhof abendliche Gebetsversammlungen abzuhalten und aus der Offenbarung Johannis zu weissagen, was dem Pastor ein Greuel war. – Mit der Zeit kam es so weit, daß dem Vater etwas fehlte, wenn in einem Brief des Sohnes ausnahmsweise einmal nichts von den burschenschaftlichen Dingen zu lesen war. Und zum Geburtstag bereitete ihm die gute Pastorin mit einem Paar gestickter Pantoffeln, darauf schwarze, rote und goldne Perlenkaros miteinander abwechselten, eine noch weit größere Freude, als sie geahnt hatte. Er hoffe nur, sagte er lächelnd, daß seine Füße, umhegt von der Trikolore der deutschen Zukunft, nun auch nicht müde werden möchten, bevor seine Augen ein geeintes Deutschland, das gelobte Land seiner Sehnsucht, wenigstens von fern erblickt hätten. Nachdem aber im März 1819 Karl Sand, ein Jenenser Burschenschafter, in Mannheim den »Verräter« Kotzebue, den Possenschreiber, der dem Zaren Berichte über den preußischen Patriotismus lieferte und dessen »Geschichte des Deutschen Reiches« auf der Wartburg mitverbrannt worden war, ermordet oder, wie er meinte, »gerichtet« hatte, und Johannes von solcher abscheulichen Tat, sie gleichsam entschuldigend, annahm, daß Gott sie gewiß für Freiheit und Vaterland zum Segen gereichen lassen werde, da hielt der Pastor es doch für richtig, ihn zur Beruhigung für ein Semester oder zwei in den weniger aufgeregten Osten zu verbannen, damit er, den bisherigen Eindrücken entrückt, zu sich selber und zum Studieren komme. Eine verwandtschaftliche Beziehung der Frau Pastorin wies nach Königsberg, und so bezog Johannes mit dem Sommersemester 1819 die dortige Universität. Zwar eine Burschenschaft gab es auch hier, doch stand sie nicht in besonderem Ansehen, da sie im Gegensatz zu allen andern auch Juden aufnahm. Und Johannes versprach, sich ihr fernzuhalten.
Diese Juden der Königsberger Burschenschaft führten übrigens eines Abends, als im Familienkreis wieder einmal über die Wahl der Universität Rats gepflogen ward, zu einer Verstimmung zwischen dem alten Pastor Pieper und seinem Schwiegersohn, die nicht ohne Mühe von den Frauen wieder beseitigt ward. Der Bürgermeister hatte geäußert, daß, nachdem in den Befreiungskriegen jüdische Freiwillige zahlreich ihren Mann gestanden, die deutsche Burschenschaft sich jüdischen Studenten nicht verschließen dürfe. – Der Pastor erwiderte, er habe es stets für einen Fehler gehalten, daß man jene Freiwilligen angenommen, aber er sehe nicht ein, daß man eines ersten Fehlers wegen verpflichtet sei, einen zweiten zu machen. Er gönne dem so lange unterdrückten Volk gewiß jede vernünftige Emanzipation, und der abscheuliche Judensturm, der gerade jetzt in den Mainstädten mittelalterliche Gespenster heraufbeschwöre, betrübe ihn herzlich. Aber wenn er als Christ auch jeden Judenhaß und Verfolgung verurteile, als Deutscher hätte er doch gewünscht, Hardenberg wäre den Juden nicht so weit entgegengekommen. Man hätte sie doch auch als Ausländer gut behandeln, ihnen manche Freiheit gewähren und Ehre, Leben und Eigentum schützen können, statt sie unmittelbar in die Volksgemeinschaft aufzunehmen. Wozu natürlich auch wieder diese gottvergessenen Franzosen den Anstoß gegeben, indem sie jeden rheinischen Juden, wenn er nur den Bürgereid geschworen, als gleichberechtigten Staatsbürger anerkannt hätten. Was Wunder, daß daraufhin das heilige Köln, das doch 1424 seiner Juden so gründlich sich entledigt und seitdem diese Fremdlinge nicht mehr in seinen Mauern geduldet, jetzt schon wieder eine ganz ansehnliche jüdische Gemeinde habe. – Wolf war der Ansicht, daß jede Ausnahmestellung, möge sie nach oben oder nach unten hin liegen, verwerflich und auch gefährlich sei, weil sie zu Empörung oder Verfolgung aufreize. Schon deswegen müsse man den Juden, denen man dazu doch auch in Preußen an fortschreitender Intelligenz und Wirtschaft immerhin einiges verdanke, obwohl man sie bis vor einem Vierteljahrhundert noch sozusagen im Mittelalter gehalten habe, so rasch wie möglich die letzten Fesseln abnehmen. Die ihnen hier in den Rheinlanden von den Franzosen gewährten Staatsbürgerrechte zu bestätigen und sie doch zugleich von allen öffentlichen Ämtern, sogar von Advokatur und Geschworenenbank auszuschließen, das sei ein Unrecht und eine Dummheit. Auch das von Napoleon für den jüdischen Kaufmann vorgeschriebene obrigkeitliche »Moralitätspatent« müsse beseitigt und den Juden in jedem Betracht die völlige Gleichstellung eingeräumt werden. – Dann befürchte er, entgegnete Pieper, den Ausbruch einer Christenverfolgung, nicht einer blutigen zwar, aber einer permanenten, wobei er keineswegs in erster Linie an Ausbeutung und materielle Übervorteilung denke. Denn nicht nur, daß die Juden fortfahren würden, einen Staat im Staate zu bilden, sie würden auch in Reaktion auf ihre lange Unterdrückung mit Naturnotwendigkeit die Herrschaft an sich zu reißen suchen, und das werde ihnen auch, langsam vielleicht, aber sicher, gelingen. Eine Herrschaft, die bei der destruktiven, negierenden Tendenz des jüdischen Geistes den Deutschen um sein Eigentlichstes bringen werde. – Was denn das sei, dieses »Eigentlichste«, fragte der andere und der Pastor erwiderte: »Das Faustische, das Suchen nach dem, was jenseits der Dinge ist.« – Der kosmopolitische Bürgermeister machte geltend, daß Christen und Juden doch zu demselben Gott beteten, daß die Christen den Juden doch den verdankten, nach dem sie sich nennten, der allen Menschen hätte helfen wollen, und daß es schließlich doch Gott gewesen sei, der die Juden über die ganze Erde zerstreut hätte, gewiß nicht ohne erzieherische Absichten für die Völker. – Das gab Pieper ohne weiteres zu, meinte aber, eben deswegen und weil nach der göttlichen Verheißung die Juden einst das Land ihrer Väter wieder innehaben sollten, müsse man sie als Fremdlinge und Gäste betrachten. Ihm wolle scheinen, Goethe habe das gottgewollte Verhältnis zwischen Deutschen und Juden sehr hübsch gekennzeichnet, wenn er in seinem »Faust« den lieben Gott sagen lasse:
»Des Menschen Geist würd' allzu leicht erschlaffen,
er liebt sich bald die unbedingte Ruh',
drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
der lebt und wirkt und muß als Teufel schaffen.«
Wessen man sich aber zu versehen habe, wenn dieser Geselle den Meister spiele, das zeige etwa die Stelle, wo Mephisto in Fausts langem Kleide den armen Schüler halb verrückt mache. – So hatte man hin und her verhandelt, bis Wolf den Pastor einer unchristlichen Intoleranz geziehen, worauf dieser ärgerlich ihm vorschlug, sich doch lieber gleich Levysohn oder Veilchenfeld zu nennen, der Name Wolf sei ihm ohnehin immer verdächtig gewesen ...
Solches Zankes ungeachtet war man darin einig, daß Johannes zunächst nach Königsberg gehn und dann in Bonn sein Studium beenden solle. Denn Bonn hatte den Sieg davongetragen in dem Streit, der unter den rheinischen Städten entbrannt war, als König Friedrich Wilhelm III. 1815 von Wien aus den Rheinlanden eine Universität versprochen hatte. Mainz, Trier, Bonn, Köln und Duisburg hatten geltend gemacht, daß ihre Hochschulen von den Franzosen zugrunde gerichtet seien, wobei die Duisburger betonten, daß die ihrige vom Großen Kurfürsten gegründet und immerhin noch nicht ganz tot sei. Koblenz und Düsseldorf hatten als ehemalige Residenzstädte Berücksichtigung zu verdienen geglaubt und der Fürst von Wied war nicht müde geworden, die Vorzüge Neuwieds zu beleuchten. Schließlich hatten Köln und Bonn sich in engerer Wahl gesehen. Goethe, dessen Rat man nun einholte, sprach sich für Köln aus, wo ihm 1815 »das schmerzvolle Denkmal der Unvollendung und die privaten Sammlungen altertümlicher Malerei« Eindruck gemacht hatten, wenn er auch keineswegs, wie die Brüder Boisserée sehnlichst gehofft, von der Antike zur mittelalterlichen deutschen Kunst bekehrt worden war. Auch Graf Solms, der preußische Oberpräsident von Jülich-Kleve-Berg und Köln, meinte, daß es an einem Orte dunkel sei, könne doch nicht als Grund gelten, daselbst kein Licht anzuzünden. Gleichwohl war 1818 die Entscheidung für Bonn gefallen, weil es kleiner sei als Köln, landschaftlich schöner gelegen und der alma mater eine sofort beziehbare Wohnung anzubieten habe. Die Universitäten zu Duisburg und Paderborn aber wurden gleichzeitig aufgehoben.
Auch als die Untat Karl Sands von der überwiegenden Mehrheit der Nation als Heldentat gefeiert und sein Bildnis wie das des alten Goethe auf Pfeifenköpfe und Tassen gemalt ward, blieb der Pastor bei seiner Verurteilung dieses feigen Meuchelmordes. Wenn Napoleon Bonaparte, meinte er, zur rechten Zeit durch ein mutiges deutsches Messer in die Hölle befördert worden wäre, das hätte Sinn gehabt, dem eitlen alten Skribenten in Mannheim dagegen hätte der Dolchstoß nur das Tor zu einer völlig unverdienten Unsterblichkeit erschlossen.
Inzwischen aber benutzte Metternich jene Untat und ihre Verherrlichung, die Fürsten des deutschen Bundes mit einer aus den akademischen Kreisen drohenden Revolution zu schrecken, die man auf jede Weise ersticken müsse, bevor sie zum Ausbruch komme. Er lud die deutschen Staatsmänner zu einer Beratung nach Karlsbad, und die hier gefaßten (letzten Endes auf die Beseitigung der liberalen süddeutschen Verfassungen zielenden) »Beschlüsse« zu schärfster Überwachung der Universitäten, Professoren und Studenten, der Schriftsteller, der Presse und des Buchhandels, brutal gemeint und brutal gehandhabt, haben jahrzehntelang jedes freie Wort geknebelt und eine Flut von Not und Bitterkeit, Jammer und Elend über Deutschland ausgeschüttet. Was alles Pastor Pieper freilich nicht voraussah, als er von jenen Beschlüssen annahm, daß sie seinem Sohn in Königsberg die Erfüllung der väterlichen Wünsche erleichtern würden.
Aber in der Stadt der reinen Vernunft lebte zu jener Zeit ein höchst unvernünftiger Heiliger, Schönherr mit Namen, dem schon, als er noch auf der Universität zu Rinteln Philosophie studiert hatte, durch eine himmlische Offenbarung das Geheimnis des Lebens enthüllt worden war. Eine Offenbarung, an der und von der er hinfort zehren sollte: Alles Leben sei auf zwei Grundwesen zurückzuführen, ein tätiges männliches, das Feuer, und ein leidendes weibliches, das Wasser. Ihre gegenseitige Berührung und Ergänzung sei das Wort, und so sei alles durch das Wort geschaffen. Aus der Verbindung des Urlichtes mit dem Urwasser sei Luzifer hervorgegangen, der aber seine Aufgabe: gleichsam als Kanal das Licht auszuströmen und weiterzuleiten, verkannt oder doch nicht erfüllt, vielmehr selbstsüchtig die Edelkräfte des Lichtes für sich behalten und mißbraucht habe. Als dann der Mensch entstanden, habe Luzifer ihn verführt und ihm das Blut verfinstert, wodurch die große Finsternis und Schatten des Todes sich ausgebreitet, die erst Christus durch sein für die Menschen vergossenes Blut aufgehellt habe. So gebe es nun unter den Menschen Lichtnaturen und Finsternisnaturen, die einander bekämpften und gleichsam auffräßen. – Schönherr trug und gebärdete sich wie ein Prophet, und es hatte lange gedauert, bis die Königsberger Straßenjugend an seine Erscheinung sich gewöhnt hatte. Aber er fand viele Anhänger, und als einer der eifrigsten stand ihm seltsamerweise der fromme und milde Pastor Ebel von der Altstädtischen Gemeinde zur Seite.
Um die Zeit nun, da Johannes Pieper nach Königsberg kam und als Pastorssohn und Theologe Zutritt in das gastliche Ebelsche Pfarrhaus fand, hatte Schönherr gerade einen neuen Weg zur restlosen Vollendung seiner Lichtnatur entdeckt, und zwar in der äußersten Askese, einen Weg, auf den Ebel ihm nicht folgen wollte. Diese Weigerung führte zur Spaltung des Kreises. Ebel sah sich bald im Mittelpunkt eines neuen, zumeist aus Damen der Aristokratie bestehenden, von denen manche sogar noch zu ihm hielten, als er später, ein Opfer niedrigster Denunziation, in den sogenannten Muckerprozeß verwickelt wurde und trotz erwiesener Schuldlosigkeit sein Pfarramt nicht wieder aufnehmen durfte. Schönherr aber glaubte in dem glühenden Studenten vom Niederrhein einen Schüler und Erben seiner Wahrheit zu erkennen. Leidenschaftlich schloß Johannes sich ihm an. Aber es geriet ihm zum Verderben. Sein einfacher Sinn verirrte sich auf den krausen Gedankengängen seines Meisters. Immer verworrener wurden seine Briefe in die Heimat und immer seltener. Endlich blieben sie ganz aus. Und dann erfuhren die Eltern das Entsetzliche: Ihr Johannes war zu der seligen Gewißheit gelangt: Wenn er achtundzwanzig Tage jeder Nahrung sich enthalte, dann werde in ihm der neue Mensch geboren. Und am dreiundzwanzigsten Tage war er an Entkräftung gestorben.
Von nun an fand man, daß Pastor Pieper »sonderbar« werde. Und am Ostersonntag, da die ganze Familie im Wolfschen Hause beisammen war, erklärte er plötzlich, er müsse es sagen, es drücke ihm sonst das Herz ab. Als er gestern nach der Predigt in seine Sakristei eingetreten sei, habe er dort sich selber sitzen sehen, die aufgeschlagene Bibel vor sich. Er sei von hinten an den Sitzenden herangetreten, der unbeweglich mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf eine Stelle gewiesen. Da habe er, der Pastor, sich über jenes Schulter gebeugt und Jesaja am Achtunddreißigsten gelesen: »Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben!«
Als die Pastorin in der Frühe des Sonntags Quasimodogeniti erwachte, lag ihr Mann tot in seinem Bett. Der alte Doktor Kükes stellte Gehirnschlag fest, und die betrübte Gemeinde nahm statt der Predigt mit dem vorlieb, was der Hauptlehrer Freundgen ihr aus den »Stunden der Andacht« vorlas.
Des Pastors Enkel aber, der rothaarige Primaner Johannes Wolf, der jetzt in Kleve zu Füßen derselben Lehrer saß, die einst seinen unglücklichen Oheim Johannes Pieper unterrichtet hatten, schrieb seiner Mutter, der Großvater habe in seinem letzten Brief von den sanft tötenden Pfeilen der Artemis gesprochen, deren er einen innig ersehne.