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Ein Maurermeister, der noch in keine Fachschule gegangen war, hatte um Achtzehnhundert das Haus den Wünschen des Bauherrn gemäß erbaut und dabei, vielleicht so unbewußt wie ungewürdigt, ein feines Gefühl für Formen, Raum und Maße bekundet. Das Wohnhaus lag, ein wenig zurück, an der Hauptstraße, und wenn es zwischen den Nachbarhäusern, aus denen es in engster Verbindung hervorwuchs, wie ein König unter Hirten wirkte, so war das weder unbeabsichtigt, noch ungerechtfertigt. Denn in jenen wohnten Kleinbürger und in ihm wollte J. P. Wolf, der großmächtige Maire des Städtchens, hausen, den nach unverhofft frühem Aufstieg zu solcher Würde, obschon sie seiner Länge keine Elle zugesetzt hatte, niemand mehr »et Wölfche« nannte. Wußte man doch, daß zwischen ihm und dem Ersten Konsul nur noch der Präfekt stand. Ja, er war wirklich ein kleiner König und er sollte es sein, er sollte den Gemeinderat möglichst selten anhören. Daß ihm sein Amt nichts einbrachte, brauchte J. P Wolf nicht zu beunruhigen, für den in allen Dörfchen der fruchtbaren niederrheinischen Ebene ringsum auf hunderten von Stühlen die Weberschiffchen tagaus tagein unermüdlich hin- und herliefen. Es war aber um die Zeit, da das von alters her in dieser Gegend heimische Leinen, durch die bis an den Rhein vorgerückten französischen Zollgrenzen der westfälischen und schlesischen Konkurrenz glücklich enthoben, mit zwei neuen Todfeinden den Kampf aufnehmen mußte: Die Baumwolle, aus Holland durch den Seewind über die nahe Grenze geblasen, aus dem Wuppertale durch die niedrigeren Arbeitslöhne magnetisch angezogen, und die Seide, von Krefeld aus energisch vorgeschoben, suchten ihm arbeitwillige Hände abspenstig zu machen. Mit Weitblick und Erfolg hatte der Maire, nachdem er in jungen Jahren behend und doch gründlich in der Welt sich umgetan, auch wohl ein Weniges über die Stränge geschlagen, seine Tatkraft nun auch vor die Baumwolle gespannt, ohne der leinenen Überlieferung seiner Väter untreu zu werden. Sichtbarlich ruhte ein Segen auf seiner Unternehmung. Der glänzte als überlegene Heiterkeit auf dem glattrasierten, roten und rundlichen Antlitz des Dreißigjährigen, knisterte festlich in der gestickten Weste und der seidenen Halsbinde, die, durch eine goldene Nadel verbunden und gebändigt, ruhevoll vor dem hochragenden Samtkragen des dunkelblauen Rockes wogte, und umgab ihn mit einer Wolke von Sauberkeit und Wohlwollen – »Gnade bei Gott und den Menschen« wie sein Schwiegervater, der Pastor Pieper, meinte. Wie sollte er nun solchen Segen nicht auch durch die Behäbigkeit der neuen Behausung zum Ausdruck bringen, die sich aufsammelnden Schätze nicht würdig zu bewahren trachten? Nicht nur vor Rost und Mottenfraß, sondern auch vor Räubern, von denen noch immer einzelne Banden den niederrheinischen Bürger bedrohten.
Schwervergittert waren darum die Fenster des Kellergewölbes, die in Höhe der nachbarlichen Erdgeschoßfenster saßen und hinter denen in verdunkelter Kühle die vielen guten Weine lagerten, die besonderen Pfleglinge des Hausherrn. Die sollte ihm der »Schafsheinrich« nicht austrinken, wenn er wiederkäme! Denn auf die Nachtwächter war ja kein Verlaß! Das eine Mal, als »dat Studentche«, Damian Hessel, den die Holländer, Gott sei's gedankt, jetzt auf die Galeere geschickt hatten, ihnen zurief, sie sollten mitkommen und Soldaten werden, da waren sie ausgerissen, und das andere Mal hatte »dat Generalche«, das, Gott sei's geklagt, immer noch dem Arm der Gerechtigkeit sich zu entziehen wußte, sie geknebelt vor die Tür der einstigen Pastoratsscheune legen lassen, die jetzt als Schulhaus diente, wo dann am Morgen die frühesten der Buben den sonst so gefürchteten Hütern der Obstbäume Bedauern und Befreiung nicht versagten. Nein, auf die war kein Verlaß! – Und eine richtige Spitzbubenfalle, wie sie vor einem Vierteljahrhundert der misogyne Sonderling, der alte Graf Kessenich draußen auf Haus Duynburg sich eingerichtet hatte, ließ sich in das neue Haus doch nicht wohl einbauen. Der hatte neben dem Einfahrtstor, das täglich, sobald es anfing zu dunkeln, geschlossen und verrammelt ward, ein hochsitzendes Fensterchen geflissentlich unvergittert gelassen, darunter auf der Hofseite der tiefe Ziehbrunnen sich befand. Und jeden Morgen, den Gott werden ließ, mußte sein Diener und einziger Hausgenosse, der greise Ephraim, nachsehen, ob etwa ein Dieb im Brunnen läge. Was aber nie der Fall war, denn die Tücke des Fensters war so wenig Geheimnis geblieben wie die Armut des alten Herrn, dem die verpachteten Äcker nicht einmal Pferd und Wagen zu halten erlaubten.
Daß die beiden hohen und breiten Steintreppen, die der Maire von rechts und links zur schweren Haustür emporführen und vor dieser eine balkonartige Plattform bilden ließ, späteren Bürgermeistern ein Stein täglichen Anstoßes werden sollten, das freilich konnte er nicht voraussehen, und wenn er's gekonnt hätte, würde er sie doch angelegt haben. Einmal, weil Jan Bosbeck, der Schändliche, den Gott strafe, dieser Jan Bosbeck, dessen Bande nach vollbrachtem räuberischen Überfall in geschlossener Ordnung unter dem Gesang der Marseillaise abzuziehen pflegte, jetzt wenigstens den gefürchteten Rennbaum nicht gegen die Haustür sausen lassen konnte, sintemal ihm der Platz zu wuchtigem Anlauf gefehlt hatte. Dann aber auch, weil der Maire erkannte, daß er von keiner Stelle aus so stattlich zu einer wohlgesinnten Bürgerschaft werde reden können, wie von der Plattform dieser Treppe, die ganze Wirkung des Hauses hinter sich. Und nicht nur er, sondern – wer weiß – vielleicht auch der eine oder andre hohe Gast seines Hauses. Napoleon freilich, als er an dem heißen Nachmittag des 11. September 1804 mit seinen Mamelucken und großem Gefolge das Städtchen durchflog, dachte nicht daran, seinen achtspännigen Reisewagen an dieser Treppe oder sonst wo halten zu lassen. Aber 1810 hat Ladoucette, der Präfekt des Roer-Departements, von ihr aus zu den Bürgern gesprochen, die unter Freudentränen einander umarmend sich selig priesen, Untertanen des großen Friedenskaisers zu sein, den ein protestantischer Pfarrer in der Eifel soeben als »die Liebe und das Vergnügen des Menschengeschlechtes« gefeiert hatte ... Zu denselben Bürgern, die mit ebenso ehrlicher Begeisterung einige dreißig Jahre später den vierten Friedlich Wilhelm von Preußen an derselben Stelle stehen sahen und dem gänzlich unkriegerischen Herrn durch ein kräftiges »Heil dir im Siegerkranz« huldigten. Diesen hohen Tag seiner Stadt und seines Hauses freilich, wie so manchen späteren, sollte der Maire leider unter seiner Sandsteinplatte draußen auf dem Friedhof verschlafen.
In bedauerlicher Ermangelung eines Familienwappens ließ I. P. Wolf über der Haustür aus Stein gemeißelt die römische saugende Wölfin anbringen, was dem überaus züchtigen Sinn seiner Hausfrau Maria Magdalena, der Tochter des Pfarrhauses schräg gegenüber am Marktplatz, peinlich genug war, von ihrem Vater, dem Pastor Pieper, aber durchaus gutgeheißen ward, weil er die Antike schätze und weder an der menschenfreundlichen Wölfin, noch an seinem Schwiegersohn den mit Recht gefürchteten Schafspelz wahrzunehmen vermöge.
Den durch solches Bildnis hervorgerufenen Eindruck klassischer Strenge verstärkte der breite, niedrige Giebel, der, durch zwei Stockwerke von der Haustür getrennt, und getragen von zwei glatten, flachen, die Wand aufs schönste gliedernden Pilastern, aus dem schwarzen Schieferdach herauswuchs. Inmitten dieses Giebels saß ein kreisrundes Fensterchen, aus dem, so oft in beruhigender Ferne die französischen Waffen gesiegt hatten, die Trikolore wehte, aus dem aber seit 1815 alljährlich an Königs-Geburtstag eine mächtige schwarz-weiße Stange herausschaute, die Trägerin einer gleichfalls schwarz-weißen Fahne von so ungeheurer Länge, daß, wer auf der Treppenplattform stand, ihren Saum beinahe greifen konnte. Von der Rückseite des Hauses gingen zwei wesentlich niedrigere Seitenflügel aus, zwischen denen ein gepflasterter Hof lag, und die an ihren Enden im rechten Winkel sich verbanden, ein großes, schmiedeeisernes Tor überbauend. In diesen Seitenflügeln befanden sich außer Pferdestall, Gärtner- und Kutscherwohnung das Kontor, die Wiegekammer und zahlreiche Lagerräume für die Erzeugnisse der Hausweber, die ringsum im Lande für I. P. Wolf arbeiteten.
So war das Haus beschaffen, das um Achtzehnhundert erstand und das, als es den Wohnansprüchen der Nachkommen längst nicht mehr genügte und die Industrie die Einwohnerzahl des Städtchens verzwölffacht, die Zahl der städtischen Beamten aber unter der preußischen Regierung sich verdreißigfacht hatte, um Neunzehnhundert durch die Brüder Elias und Abraham Schlesinger aus Köln erworben und durch einen Umbau von verblüffender Kühnheit in ein Warenhaus »großen Stiles«, wie sie sagten, verwandelt ward.