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Es war sozusagen noch während des Bauens, daß I. P. Wolf mit seiner Frau Maria Magdalena das neue Haus bezog. Aber gegen einen nächtlichen Angriff Jan Bosbecks erschien es hinreichend gesichert, und daß bei Tage noch allerlei Handwerker in ihm ihr Wesen hatten, hinderte die junge Frau nicht, in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1800 den sehnlichsten Wunsch ihres Mannes zu erfüllen so gut sie konnte. Das Kindlein, durch dessen Erscheinen das neue Haus erst die rechte Weihe erhielt, war, was erste Kinder immer sein sollen: ein kräftiger Stammhalter, der noch im selben Herbst von seinem Großvater, dem Pastor Pieper, auf den Namen seines längst verstorbenen andern Großvaters Friedrich Wilhelm getauft ward. Der liebe Junge gehe mit dem Jahrhundert, hatte der Pastor ausgeführt, aber er solle nicht mit ihm vergehen, sondern zum mindesten in Söhnen und Enkeln noch die folgenden Jahrhunderte bereichern. Das Kindlein brüllte hierzu, aber Frau Maria Magdalena bewahrte die väterlichen Worte in ihrem Herzen. Sie zog sich frühzeitig zurück und im Dämmerlicht der winzigen Flamme, deren Docht auf dem Öl des Nachtlichtchens schwamm und deren Schein an der weißen Zimmerdecke sich sacht bewegte, lauschte sie behaglich mal auf die sich nähernden und wieder entfernenden Hufschläge eines verspäteten Pferdes (wobei es sie vergnügte, deren Klang und Rhythmus mit der Zunge nachzuahmen) mal auf die Atemzüge des kleinen Schläfers an ihrer Seite, mal auf die Lieder, die gedämpft zu ihr drangen. Denn ihr Gatte, der Maire, saß noch lange, die Rheinweinflasche in bequemer Nähe, an seinem schönen Erardschen Piano und sang mit den letzten Gästen ein Lied nach dem andern, aber keines so oft wie das, was er vor allem liebte:
Freut euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht!
Pflücket die Rose,
eh sie verblüht!
Nach zwei Jahren genas die junge Frau eines zweiten Kindes. Wieder war es ein Knabe, ein winziges, zartes Kerlchen, das die roten Haare und den großen häßlichen Mund, der in späteren Jahren ein allzu entwickeltes Gebiß nicht verbergen konnte, von seinem Großvater Wolf geerbt hatte. Er ward von seinem Großvater Pieper auf den Namen seines noch Mädchenkleider tragenden Oheims, des jüngsten Bruders seiner Mutter, Johannes und – nicht ohne einiges Sträuben des geistlichen Herrn – auf den des großen Napoleon getauft und ließ sich in seinem Schlummer nicht stören, als kurz nach Mitternacht die Sturmglocke das Tauffest beendete. Es hieß, ein Teil der »Neußer Bande«, unter »Schlaumännches« persönlicher Führung sei im Anzug. Noch war's diesmal nur blinder Lärm. Der alte Bote Schrey, der mit seinem Planwägelchen soeben von Düsseldorf zurückgekehrt war und in einer Fuhrmannskneipe verdächtige Kerle von dem Anschlag reden gehört haben wollte, mußte sich getäuscht haben. Er wurde ohnehin alt und war immer seltener ganz nüchtern. Und der Maire, der lange nicht einschlafen konnte, erwog, ob ihm nicht die Konzession zu entziehen sei.
Auch in den benachbarten, zu Preußen gehörigen Landschaften stand eine hohe Obrigkeit dem Räuberbandenwesen ebenso rat- und hilflos gegenüber wie der Maire. Zwar verkündete der Minister Schulenburg am 7. Juli 1802, daß die preußische Regierung von der russischen die Erlaubnis erwirkt habe, die gefährlichsten Bösewichte, für die preußische Ketten und Kerker als zu schwach sich erwiesen, in die entferntesten sibirischen Bergwerke abzuschieben. Aber was half es, daß man alsbald achtundfünfzig nach und nach eingefangene Mitglieder rheinischer Banden diese weite und beschwerliche Reise antreten ließ? Das niedere Volk, seit Jahrhunderten der Willkür fürstlicher Landesväter preisgegeben, infolge der langen, bösen Kriegszeiten verwildert, auf tausendfache Weise Not leidend und ohne alle Möglichkeit, sich emporzuarbeiten, ergänzte den Bestand jeder dezimierten Räuberbande rasch und reichlich, darin auch fremde Landstreicher und fahnenflüchtige Soldaten zahlreich genug ihr Glück versuchten. Und wie am Niederrhein, so gedieh das Unwesen auch auf Hunsrück und Eifel, an Mosel, Main und Nahe, wo der »Schinderhannes«, dessen Persönlichkeit und Taten die Phantasie des Volkes ins Heroische steigerte, als eine Art »Gottesgeißel« sich umtrieb. Wie dieser seinen »Beruf« auffaßte, indem er die Reichen und Mächtigen schädigte, den Armen und Unterdrückten aber sich hilfreich erwies, darüber mußte I. P. Wolf, wenn er abends den Maire ausgezogen hatte und seiner Frau aus dem Kölner »Beobachter« vorlas, wohl selber oft herzlich lachen. Am meisten Vergnügen hatte ihm bereitet, was das Blatt von einer Begegnung des Räuberhauptmanns mit der berühmten schönen Tänzerin Cäcilie Vestris zu erzählen gewußt hatte. Die sei, von Paris nach Mainz unterwegs, für dessen Theater sie der dortige Präfekt verpflichtet habe, in Kirn an der Nahe abgestiegen. Das habe Schinderhannes erfahren und mit seinen Gesellen am andern Tag ihr aufgelauert. Er habe ihren Kutscher nach Kirn zurückgeschickt, einem seiner Räuber die Zügel übergeben, sich selber aber ganz manierlich zu der Schönen und ihrer Kammerfrau in den Wagen gesetzt und ihr versichert, sie brauche nichts zu fürchten, er wolle dem Präfekten nur einen Tort antun, indem er ihn ein wenig auf sie warten lasse und selber der Annehmlichkeit ihrer Gesellschaft vor jenem genieße. Sie solle ihm nur vertrauen und fröhlich sein, es werde ihr kein Haar gekrümmt werden und allzu lange werde er sie auch nicht aufhalten. – Indessen sei der Wagen in scharfem Trabe immer weiter und weiter gerasselt und habe endlich vor einer entlegenen und verwitterten Ruine gehalten, darin ein paar ganz wohnlich eingerichtete Gemächer und eine schön gedeckte Tafel die Räuber und ihre Gäste erwartet, auch ein hübsches Räubermädchen die Honneurs gemacht habe. Die schöne Cäcilie Vestris aber sei immer mehr aufgetaut und ganz vergnügt geworden. Endlich habe sie gar auf Bitten des Schinderhannes eine Probe ihrer Kunst gegeben, wofür der ihr eine nach seiner Versicherung »ehrlich erworbene« goldene Kette aufgenötigt. Nach wenigen Tagen habe Schinderhannes die beiden Frauen wieder durch den Wald fahren und ihrem aus Kirn zurückbeorderten Kutscher überantworten lassen, und seien sie dann auch ohne weiteren Schrecken und Abenteuer beim Präfekten in Mainz angelangt.
Aber der Maire empfand doch eine tiefe bürgerliche Befriedigung, als die Zeitung eines Abends behaglich und erbaulich berichtete, wie man diesem Erzbösewicht in Mainz den Prozeß gemacht, daß bei den letzten Verhandlungen die Eintrittskarte zum Gerichtssaal vierundzwanzig Franken gekostet, und wie man ihn und neunzehn seiner Spießgesellen am 21. Oktober 1803 vor vierzigtausend von nah und fern herbeigeströmten Zuschauern mittels der Guillotine vom Leben zum Tode befördert habe. Und seine Ahnung, daß nun den rheinischen Banden allen bald das letzte Stündlein schlagen werde, betrog den Maire nicht.