Paul Langenscheidt
Blondes Gift
Paul Langenscheidt

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Aber ebenso rasch, als es gekommen, wich dieses erste Gefühl der Befreiung einem anderen. Das Bild des greisen Offiziers erhob sich vor ihm, ohne weiche, herzgewinnende Züge, aber groß und stolz, imponierend in seiner rücksichtslosen, unerbittlichen Makellosigkeit. Der war aufrecht geblieben, in guten und bösen Tagen, in körperlichem und seelischem Leid; aufrecht, als er als Krüppel sein Leben lang sich an den Rollstuhl gekettet sah, aufrecht, als sein einziger Sohn sich an dem Sarge seines Weibes die Kugel in den Schädel jagte, aufrecht, als sich der Enkel in nächtlicher Flucht für immer von ihm schied.

Und Rolf gedachte der Stunde, von der nur scheu und flüsternd gesprochen wurde, der Stunde, in der dieser Mann das Lächeln für lange verlernte. 1870 war's, im Oktober; in Frankreich standen zwei Roems im gleichen Regiment vor dem Feinde, der Großvater als Hauptmann, sein einziger achtzehnjähriger Bruder, das Nesthäkchen der Familie, als Fähnrich; aus dem Hörsaal von Lichterfelde war der junge Kadett ins Feld gezogen. Das zehnte Korps, zu dem das Regiment gehörte, belagerte eine der Vogesenfestungen. In der Zernierungslinie befand sich ein Hügel, auf ihm eine Meierei. Ihr Pächter stand in dem Verdacht, heimlich des Nachts Proviant in die Festung zu schaffen; denn jeden Abend räumte das Regiment den exponierten Posten, der nur tagsüber eine Beobachtung der Feste gestattete, um keine zwecklosen Verluste zu erleiden. Junge Soldaten, der Wein, eine unbedachte, verwegene Wette . . . Auch die Meiersleute auf dem Hügel hatten im Laufe der monatelangen Belagerung den jungen, frischen Fähnrich lieben gelernt, konnten schließlich nicht nein sagen, als er immer wieder um dasselbe bettelte. Und eines Nachts fuhr auf federlosem, hochbepacktem Marktwagen neben dem Pächter ein schlanker, hübscher Bursche in plumper Bauernbluse und Holzschuhen in die Festung ein. An seinen feinen, gepflegten Händen erkannten sie die Verkleidung und nahmen ihn fest. Der Chef der deutschen Belagerungstruppen, General von Voigts-Rhetz, schrieb selbst an den Kommandanten; er gab sein Wort als Soldat, daß keine militärische Aufgabe den Fähnrich von Roem in die Festung geführt habe, daß nur ein unbesonnener Knabenstreich vorliege, und bot die Auswechslung ganz nach den Wünschen des Kommandanten an. Der antwortete: »Ich selbst hab' einen Sohn in der Armee, und mein Herz blutet bei dem Gedanken, daß ihn ein gleiches Schicksal träfe. Allein ich bin Soldat und kenne meine Pflicht. Deutschland, das schon so viele junge Leben auf dem Gewissen hat, mag auch für dieses die Verantwortung tragen. Das Kriegsgericht hat gesprochen, morgen früh um neun wird der Spion erschossen. A la guerre comme à la guerre!!«

Eingeschlossen lagen zwei Briefe, – der eine, in dem der Fähnrich von Roem von seinem Bruder Abschied nahm, der andere, in dem er seinem Kommandeur gelobte, als braver Soldat zu sterben.

Und die Nacht ging vorbei und die Sonne stieg auf, eine helle, klare Oktobersonne. Draußen auf dem Hügel stand einsam, wie er es selbst erbeten, ein preußischer Offizier; Tränen rannen über sein totenblasses Gesicht. Weit hinter ihm, angetreten, das Regiment. Die Minuten krochen . . . Jetzt, – neun Uhr begann es von drüben zu schlagen. Ferner gedämpfter Trommelwirbel, Bajonette blitzten. Von dem Hügel zur Bastion hinauf wehte im Morgenwinde ein weißes Tuch, ein letzter Brudergruß. Der preußische Kommandeur hob den Degen: »Achtung, präsentiert das G'wehr!« Ein Griff, ein Schlag, und Totenstille . . . Von drüben, wie ein Hauch, die Salve . . . Und langsam senkte sich am Festungsturm für einen Augenblick die Trikolore.

Und im Geiste sah Rolf jetzt den alten Soldaten mit den weißen, dürftigen Strähnen über der Stirn und dem eisgrauen Blücherbart auf seinem schlichten Feldbett liegen, den Großvater, der noch im Tode Sieger über ihn geblieben, der ungebeugt, als Ehrenmann den letzten Kampf zur selben Zeit durchkämpft hatte, in der der Enkel den ersten Schritt zum Verbrechen getan. Und während Loni und Frau Roller sich gegenseitig immer wieder überschrien und in Träumen neuen Wohllebens schwelgten, ging Rolf still und unbemerkt auf die Diele hinaus; und hier im Dunkel, den Kopf an die kalte Wand gelehnt, weinte er einsam die heißesten Tränen, die in Menschenaugen brennen, die Tränen bitterer Reue.

Mit einmal fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er gar keine direkte Nachricht vom Tode seines Großvaters erhalten habe. Er war doch nun der letzte seines Geschlechts; ihm lag die Pflicht ob, den alten Recken würdig zur Ruhe zu geleiten. Und er trat zu dem Briefkasten, den er in seiner Bedrängnis, in der Furcht vor Mahnungen und Klagen seit Tagen nicht geöffnet hatte. Drucksachen, Rechnungen, Drohungen . . . Hier . . . ein großes, schwarzgerändertes Kuvert . . .

Er drehte das Licht an und zog die Anzeige heraus.

Er verstand nicht, was er las.

»Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß . . . mein inniggeliebter Mann, der Königliche Major a. D . . . Mathilde von Roem . . .«

Mathilde von Roem? Die gab's doch gar nicht . . . Mein geliebter Mann? Ja, was war denn nur . . .

Noch einmal, genauer blickte er in die Anzeige. Was stand dort noch in kleinerem Druck unter dem Namen? Mathilde von Roem, geb. Scholtz?

Wie ein Blitz schlug es in ihn ein. Sein Großvater hatte die Wirtschafterin geheiratet.

Und während das Frohlocken der beiden Frauen immer von neuem anhob, durchlitt er den größten, tiefsten Schmerz seines jungen Lebens. Er ahnte, was diese Heirat zu bedeuten hatte, daß seine Freude, seine Hoffnung auf Rettung umsonst gewesen, – er wußte jetzt, warum die Scholtz ihm damals auf jede Weise die Flucht erleichtert hatte.

Aber Loni ließ ihm nicht lange Ruhe. Sie war wie im Fieber. Sie rief ihn ins Zimmer zurück, und während er vergebens versuchte, einige Bissen von den Butterbroten zu essen, die ihm Frau Roller gebracht hatte, überschüttete Loni ihn mit tausend Fragen: Wieviel der Major wohl gehabt, ob er sein ganzes Einkommen verzehrt habe? Das sei doch einfach unmöglich? »Pass' auf, Kleiner, der alte Knicker, der hat in seinem Rollstuhl geheckt. Da legen wir einen hübschen, runden Batzen, so an die zwei- bis dreimalhunderttausend, auf die Seite, und den Rest schlagen wir fidel auf den Kopf!« Dann wieder laute Klagen, daß sie noch immer nicht entbunden sei, daß das Kind sie verhindere, sich schon von dieser Stunde an auszuleben.

Und unter ihrem suggestiven Einfluß flackerte neu die Hoffnung in Rolf auf. Hatte er nicht Gespenster gesehen? War seine ganze Furcht nicht nur die Folge seiner grenzenlosen Abspannung? Hatte sich nicht des Großvaters Zorn hauptsächlich gegen sein Zusammenleben mit Loni gerichtet, und konnte nicht die Heirat, von der der Major gewiß erfahren, ihn wieder versöhnt haben? Daß er das ihm, dem Enkel gegenüber nicht zu erkennen gegeben, das fiel wohl nicht ins Gewicht; dazu war der Alte viel zu zäh und eigensinnig. Und auch die Ehe, die er selbst geschlossen hatte, bewies noch nichts; wie viele Greise dankten der jahrzehntelang bewährten Pflegerin durch eine stille Heirat, die ihr nach ihres Herrn Tode eine Stellung gab, die Zukunft sicherte! Mochte der Großvater ihr ruhig einen Teil seines Geldes vermacht oder eine Rente ausgesetzt haben, es blieb noch immer genug übrig. Kein Zweifel, so mußte es sein. Es war ja undenkbar, irrsinnig, zu glauben, daß ihn der Großvater enterbt habe; derselbe Mann, der so viel auf seinen Namen gab, der sich doch nicht verhehlen konnte, daß er mit einem solchen Schritte den Enkel geradezu ins Elend trieb. Blut war dicker als Wasser! Für den Major war der jahrhundertealte Name alles, der augenblickliche Träger nichts; um des Namens willen würde er dem letzten seines Geschlechts alles verzeihen, alles gönnen. Was wollten die herben Worte sagen, die ihm der Großvater damals in seiner Erregung gesagt? Und wenn er auf Rolfs Brief nicht geantwortet hatte, – sicherlich rang er damals schon mit dem Tode! Und endlich diese kahle, gedruckte Mitteilung aus dem Trauerhause, – war sie nicht gerade ein Zeichen, daß jene Frau ihm und dem Toten zürnte, weil sie ihr Ziel nicht ganz erreicht, weil der Major trotz allem in erster Linie für seinen Enkel gesorgt? Immer ruhiger, immer sicherer wurde Rolf. Er konnte sich nicht täuschen, jede Faser lehnte sich jetzt gegen eine andere Möglichkeit auf. Und dennoch steckte er hastig die Anzeige in die Tasche. Wozu Loni schon heute von dieser Heirat erzählen, sie unnütz erregen?

Die Uhr schlug elf. Aber noch immer ging Loni in unbezwinglicher Unruhe auf und ab; am liebsten hätte sie Rolf sofort in die Wohnung des Großvaters geschickt. Sie hatte Fräulein Scholtz zehn Jahre lang nicht gesehen, seitdem das Haus in Schöneberg, in dem sie gewohnt hatten, abgerissen worden war. Und dennoch sprach sie von ihr wie von einer Todfeindin. Wer konnte wissen, ob sie den alten, gelähmten Major nicht schon seit Jahren systematisch bestohlen hatte? Unter keinen Umständen sollte Rolf das Weib mit ihren Koffern aus dem Hause lassen! Wozu sei denn die Polizei da? Und Loni erging sich in verzweifelten Klagen darüber, daß diese Canaille alles beiseiteschaffen werde.

Und obwohl Rolf nur zu gut wußte, daß Loni die Lage nicht richtig beurteilen konnte, ließ er sich nur zu gern von ihr in seinen Hoffnungen weiter bestärken, lebte er sich von neuem in die Rolle des Erben ein. Er vergaß, was ihm der Tag gebracht hatte, vergaß, daß jetzt schon jeder Schutzmann in Berlin auf ihn als Urkundenfälscher fahndete. Und fast hätte er im wachsenden Gefühl seines guten Rechts dem Drängen seiner Frau nachgegeben und mitten in der Nacht sich Einlaß in das Trauerhaus erzwungen, als plötzlich Loni mitten im Reden abbrach und stöhnend auf einen Stuhl sank. Nach wenigen Augenblicken richtete sie sich wieder auf; dann aber verzerrte sich ihr Gesicht von neuem wie im Krampfe, und starr, mit großen entsetzten Augen blickte sie zu Rolf hinüber.

Er stürzte hinaus und holte Frau Roller, die schon zu Bett gegangen war und nun, halb angezogen, hinter ihm herbeieilte.

Als sie die ächzende Loni sah, glättete sich mit einem Schlage ihre besorgte Miene, und während sie sich ihr näherte, lächelte sie schon in dem Selbstbewußtsein der Frau, die, durch zahlreiche Wochenbetten abgehärtet, überlegen auf die Ängste der Erstgebärenden blickt.

Lonis schwere Stunde war gekommen.

Rolf wollte zur Hebamme und zum Arzt eilen. Aber empört wies ihn Frau Roller zurecht und verbat sich jede fremde Einmischung. Und auch Loni stimmte ihr entschieden zu; sie wollte niemand anders als die Pflegemutter um sich haben.

Sie entkleideten Loni und brachten sie zu Bett.

Dann traf Frau Roller die Vorbereitungen, von denen das Wohl und Wehe jeder Kreißenden abhängt. Sie sicherte die leichte Geburt, indem sie alle Schlösser aufschloß und jeden Besen entfernte, damit keiner über ihn schreiten konnte; sie legte eine Axt unter Lonis Bett, um zu verhindern, daß ihr das Herzblut entfloß, – kurz, sie tat alles, was Erfahrung und Überlieferung ihr vorschrieb. Im übrigen sah Frau Roller den kommenden Ereignissen mit großer Ruhe entgegen. Sie hatte an diesem Morgen vor dem Kaffee dreimal genießt, und das bedeutete Glück. Der Tod des alten Majors hatte dies günstige Omen ja schon bestätigt, also würde auch die Geburt ohne Zwischenfall verlaufen.

Und die lange Schmerzensnacht begann, in der das sündigste Weib zur Heiligen sich verklärt.

So oft aber der Krampf nachließ, mit dem ein kleines, schwaches Menschenkind hinausstrebt in die Welt, um seinen Weg durch Lachen und Weinen, Freude und Jammer zu gehen, rief Loni Rolf zu sich, mahnte sie immer dringender, verzweifelter: »Geh – geh, eh' es zu spät ist!« Vor dem blassen, schweißüberrieselten, in seiner Hilflosigkeit doppelt lieblichen Antlitz, in das die goldig-feuchten Strähnen des Haares wie wirre Seide hinabfielen, erlahmte sein Widerstand; aber er konnte sich doch nicht entschließen, sie in ihren Schmerzen zu verlassen. Erst als der Tag sein fahles Licht in das Zimmer zu werfen begann, als immer noch die angstgehetzten, graubraunen Augen ihn verzweifelt, fast irre anstierten, als Loni stets von neuem drängte: »Tu's, Rolf, tu's doch, wenn du mich liebhast!« bis wieder ein Anfall ihr das Wort abschnitt, da gab er überwunden nach.

Und so ging er im Morgengrauen, vor Ermüdung taumelnd, zitternd vor Kälte durch die noch stillen Straßen, um bei dem heimgegangenen Großvater Hilfe aus seiner Not zu suchen.

*

Als Rolf die Tauentzienstraße hinabgegangen war und den Wittenbergplatz kreuzte, um die Untergrundbahn zu nehmen, faßte einer der am Halteplatz wartenden Chauffeure an seine Mütze. »Guten Tag, Herr von Roem!«

Rolf blickte ihn an, – es war Karl, der Riese mit dem schwarzen, wehenden Schnurrbart und den stahlgrauen Augen, der in Lichterfelde bei ihm in Stellung gewesen war.

Rolf hatte sich Lonis dringenden Bitten im Grunde nur gefügt, um sie zu beruhigen; denn er sah nicht klar, wie er in der Eichhornstraße auftreten sollte. Er konnte sich doch unmöglich da hinsetzen und als ein zweiter Alberich den Nibelungenhort bis zur Eröffnung des Testaments hüten. Und das ehemalige Fräulein Scholtz, die jetzige Witwe seines Großvaters, durfte sich sicherlich in ihrem Recht glauben, wenn sie ihm die Tür wies, sobald er in ihren Räumen den Herrn zu spielen begann. Was wollte er also dort? Sich Beleidigungen aussetzen, sich lächerlich machen?

Und doch, – dort in dem altmodischen Schreibtisch in der Wohnstube, den Rolf so deutlich vor Augen sah, lagen stets Hunderte und Tausende; der alte Soldat, der jeden Kaufmann für einen Betrüger hielt und keiner Bank sein Hab und Gut anvertraute, bewahrte dort sein Geld und seine Papiere. Das Geld, das jetzt den Enkel vor dem Elend rettete!

Das Geld, – er mußte, mußte das Geld haben, das in der Sekunde ihm zugefallen war, in der sein Großvater die Augen schloß! Er brauchte nicht erst zu bitten, sich zu demütigen, er konnte sich sein Eigen nehmen, rücksichtslos, über diese so unerwartet aufgetauchte Witwe hinweg!

Und jetzt, wo er den Chauffeur vor sich sah, stand sein Plan fest.

Er wußte, der Mann kannte seine Verhältnisse genau. »Karl,« sagte er, »alter Freund, kommen Sie mal ein wenig beiseite. Sie sind mir wie vom Himmel gesandt. Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Jawohl, Herr von Roem«, antwortete der Chauffeur.

»Hören Sie zu«, fuhr Rolf fort. »Mein Großvater ist am Montag gestorben. Ich bin sein einziger Erbe; ich weiß, was in dem Testament steht und wo es liegt. Aber es existiert noch ein älteres, das kurz vor meiner Hochzeit verfaßt ist, damals, als er mit mir verknurrt war, und das mich auf Pflichtteil setzt. Ich hab' nun allen Grund, zu fürchten, das neue, rechtsgültige wird unterschlagen; ich muß es also in die Hand bekommen. Wollen Sie mir helfen?«

»Jawohl, Herr von Roem,« wiederholte der Mann, der Rolf nur Gutes zu danken hatte und sich innerlich in seiner Schuld fühlte, »das wird gemacht. Natürlich, soweit es nicht strafbar ist.«

»Sie sollen nichts tun,« erwiderte Rolf, »als nach der Eichhornstraße fahren, das Auto in Gang halten und mich, sobald ich wieder herauskomme, wie der Teufel nach meiner jetzigen Wohnung, Spichernstraße, zurückbringen. Sie sollen eine königliche Belohnung haben.«

Der Chauffeur zögerte nicht länger. Er öffnete den Schlag. »Bitte steigen Sie ein, Herr von Roem«, sagte er entschlossen. Er stellte den Motor ein und fuhr los.

Vor der Haustür in der Eichhornstraße wartete ein leichter, offener Lastwagen.

Oben im zweiten Stock, wo das blanke Messingschild den schlichten Namen von Roem trug, stand die Tür offen. Zwei Männer kamen Rolf mit Kränzen, die auf einer Stange aufgereiht waren, entgegen. Sonst kein Mensch.

Er trat leise näher. Vom Sarge war nichts mehr zu sehen.

Aber dort, geradeaus, über den dunkeln, schmalen Korridor hinweg, auf dem noch immer Dutzende von Kränzen lagen, – die Wohnstube, wie er sie seit Kindheit kannte, die ehrwürdigen Möbel, der Schreibtisch mit seiner verschlossenen Jalousie . . . Unter ihr, links, im oberen Kasten, pflegte das Geld zu liegen.

Und vor den Stätten seiner Jugend verließ Rolf wieder der Mut. Durfte er sich jetzt schon als Erben betrachten, sich das Geld ohne weiteres aneignen? Mußte nicht erst festgestellt werden, ob überhaupt ein Testament im Hause oder bei Gericht niedergelegt war?

Doch Lonis Bild trat ihm jäh vor Augen, mit dem angstvollen, fast irren Blick, mit den vom Schmerz verzerrten, blassen Lippen, die immer nur: »Geh, eh' es zu spät ist!« flüsterten. Nein, er hatte heilige Pflichten, hatte sein Weib zu lieb, um wie ein geprügelter Hund wieder nach Hause zu schleichen, mit feigem Herzen, mit leeren Händen. Er wollte, durfte nicht schwach sein. Daheim stand der Hunger vor der Tür, der Gerichtsvollzieher kehrte in einigen Stunden wieder, nichts war vorhanden, was das Kindchen zu seiner Wartung brauchte. Hatte er vorgestern, gestern Mut genug gehabt, bei Wilhelm Große, bei Salomon Loob, – warum nicht heut? Und war es nicht wie ein Wink des Schicksals, daß er die Wohnung offen gefunden, daß gerade in dieser Minute die Kränze zum Kirchhof geschafft wurden? Wozu die kostbaren Sekunden verrinnen lassen? Jeden Augenblick konnte jemand kommen.

Nichts regte sich. Nur aus weiter Ferne klang es ihm verzweifelt ins Ohr: »Tu's, wenn du mich liebhast . . .«

Und mit einmal straffte sich sein dürftiger Körper, spannten sich die Sehnen, ballten sich ihm die Hände.

Dort drüben, auf dem Vorsetzer vor dem weißen Kachelofen, lag allerhand Gerät: Schaufel, Feuerzange und anderes. Mit leisen Schritten ging er quer durch den Raum, nahm einen Schürhaken, trat zu dem Zylinderbüro und schob das Eisen in die Spalte.

Ein Heben, ein Biegen, das Schloß hält . . . Noch einmal, stärker, rücksichtsloser, erbitterter . . . Ein kurzes, lautes Knacken, ein momentanes Zurückprallen . . . Vorwärts! Ihm ist, als schiebe sich die Klappe von selbst hoch, als öffne sich freiwillig der schmale Kasten dort oben links. Er faßt hinein. Die alte Ledertasche, blaue, braune Scheine, mit peinlichster Sorgfalt geordnet. Hastig steckt er die Tasche zu sich. Noch einmal . . . Er greift Goldrollen, stopft sie mit gekrallter Hand, gewaltsam in den Mantel hinein.

Da horch . . . Ein leises, flüchtiges Geräusch hinter ihm, wie ein Seufzer, wie unterdrücktes Entsetzen . . .

Er wendet sich.

Eine Frau im grauen Haar, – das Weib, das ihn so oft als Kind gemartert! Und schon stürzt sie wie eine Löwin auf ihn zu; laut gellt ihr Ruf durch den Raum, durch das Haus. Mit beiden Händen umklammert sie ihn, sucht sie ihn festzuhalten, ihm das Geld zu entreißen; eine Rolle bricht, klirrend tanzt das Gold über den Boden. Und immer wieder die schrillen, markdurchdringenden Hilfeschreie . . .

Unter der Wucht der wütenden Frau weicht Rolf zurück, biegt er sich weit nach hinten. Ein Schwindel befällt ihn, um ihn her tanzen die Möbel; der Hals ist ihm wie zugeschnürt, in den Ohren saust das Blut. Seine Hand greift rückwärts nach einem Halt, trifft auf den Schürhaken, der auf der Büroplatte liegenblieb. In sinnloser Angst wirft Rolf sich wieder vor, hebt er das Eisen und schmettert es auf die Stirn des Weibes, einmal, zweimal.

Blut spritzt.

Taumelnd gibt ihn die Frau für einen Augenblick frei. Er gleitet ihr unter den Händen fort, zur Wohnung heraus, im Sprunge an den Männern vorbei, die neue Kränze zu holen kommen, die Treppe hinab. Aber hinter ihm her jagt der Alarm: »Halt' ihn! Halt' ihn!«

Er schwingt sich in das Auto, das fast vom Fleck weg die Straße hinabrast.

Und schon stürzen die beiden Männer aus dem Flur, brüllend, drohend . . . Mit roten Gesichtern und flammenden Augen eilen sie hinterher. An der nächsten Ecke springen sie in ein dort haltendes Auto.

Und die Jagd beginnt.

Rolfs Wagen schnellt unter der Faust seines Lenkers vorwärts, wie ein edler Renner unter dem Sporn des Reiters sich bis zur letzten Faser streckt. Potsdamer Brücke, das Schöneberger Ufer entlang . . . Der eisige Nordwind reißt Rolf den Hut vom Kopf, er achtet es nicht.

Ein Schutzmann zu Pferde taucht in gemächlichem Schritt aus der Genthiner Straße auf. Hinten winken, schreien sie wieder. Der Reiter wird aufmerksam, versucht sich dem Auto entgegenzustellen; aber das Pferd steigt kerzengerade und bricht scheuend aus.

In Rolf ist eine unnatürliche Ruhe, die Starre der bis zum Reißen gespannten Nerven, die die Minuten zu Stunden dehnt und doch wie Sekunden vorüberschießen läßt. Er kniet auf dem Sitz, das Gesicht seinen Verfolgern zugewandt. Langsam beginnen seine Augen in höhnischem Glanze zu leuchten; immer wieder lacht er auf, abgebrochen, des Sieges sicher; und je länger die wilde Jagd währt, desto tückischer grinst er die zornfunkelnden Gesichter hinter ihm an.

Und unter der furchtbaren Spannung beginnt sein Geist nachzugeben; er hüpft und springt jetzt in dem Wagen umher, führt förmliche Tänze auf, hebt die Fäuste und schüttelt sie, jauchzt und überhäuft die Gegner mit heulenden Schimpfworten.

In sausender Fahrt am Lützowufer entlang . . . Einen Augenblick halten sie hinter ihm, um einen patrouillierenden Schutzmann aufzunehmen. Herkulesbrücke, Lützowplatz, im immer gleichen, höllischen Tempo . . . Aber unerbittlich, wie angekettet, bleiben ihnen die Verfolger auf den Fersen.

»Schaffen wir's?«

Im schneidenden Wind verweht ein: »Ja.«

Kurfürstendamm . . .

Rolf greift in den Mantel; er zieht das Portefeuille heraus, entnimmt ihm einige Hundertmarkscheine und steckt sie Karl, der mit zusammengebissenen Zähnen vornübergebeugt am Steuer sitzt, in die Tasche der Lederjacke.

Plötzlich, – ein Knall wie ein Schuß. Dort hinten ist ein Pneumatik geplatzt. Flüche, Verwünschungen schallen herüber. Karl lacht kurz und grimmig auf. Und wieder tanzt und brüllt Rolf wie im Fieberwahn; hätte er eine Waffe, er würde sie niederknallen, einen nach dem anderen, mit fester Hand, jeder Schuß ein Treffer, – diese Hunde, die jetzt wie Rasende sich aus dem Auto werfen, mit aller Kraft ihrer Beine hinter ihm herjagen.

Karl biegt um die Ecke, die Nürnberger Straße hinein, geradeaus in die Spichernstraße.

Gerettet!

Doch in dem Augenblick, als das Auto, in allen Fugen bebend, hält und Rolf hinausspringt, sieht er die Verfolger wieder auftauchen, hört er ihr Triumphgeheul . . .

Und schon ist Karl die Kaiserallee hinab verschwunden.

Rolf jagt die Treppen hinauf, öffnet die Tür, stürzt in die Wohnung hinein, wo ein Schrei nach dem anderen die Räume durchgellt, wo Loni noch immer auf ihrem Schmerzenslager sich windet und krümmt.

Und vor den Augen der ihn fassungslos anstarrenden Frauen schiebt er die Brieftasche unter Lonis Kissen, stopft er das Gold hinterher, hastet er wieder hinaus, die Treppe hoch, in den Dachboden hinein.

Dort oben läuft ein langer, finsterer Gang die einzelnen, durch Latten getrennten Verschläge entlang. An seinem Ende, da, wo von Staub bedeckt allerhand Gerümpel umhersteht, eine eiserne Bettstelle, Koffer, Kinderwagen, ganze Stapel Tapeten, führt eine schmale Leiter zur Dachluke hinauf.

Von unten stürmen sie hinter ihm her, verteilen sie sich in den Stockwerken. An jeder Tür wird geläutet, gefragt, in allen Zimmern gesucht.

An Rolfs Wohnung läutet der schnauzbärtige, behäbige, jetzt atemlose Schutzmann, den das Auto aufgenommen hat.

Frau Roller öffnet.

»Ist jemand hier eben hineingekommen?«

Die Frau schwankt keinen Moment. »Nein, Herr Wachtmeister«, sagt sie mit voller Entschiedenheit.

Der Schutzmann blickt sie durchbohrend an. »Alles auf«, kommandiert er schnaufend.

Aber ein fast unmenschlicher Schrei durchschneidet die Luft.

Der Beamte sieht durch die geöffnete Tür das junge, gefolterte Weib; Tücher liegen umher, auf Stühlen steht eine Zinkwanne mit leicht rauchendem Wasser, daneben am Boden ein Waschkorb mit Kissen.

Und immer wieder das herzzerreißende Wimmern.

Der Schutzmann weicht zurück; er hat Weib und Kind daheim, er weiß, was diese Stunde an Sorgen und Schmerzen birgt.

Und als er hinaustritt, bringen schon zwei Männer Rolf die Treppe hinunter; oben auf dem Dach hinter dem Schornstein haben sie ihn gefunden. Er wankt, er wird fast getragen; sein Kragen ist von zornigen Fäusten zerrissen, sein Haar von Kalk und Spinnweben bedeckt.

»Waren Sie hier in der Wohnung?« fragt ihn der Schutzmann.

Keine Antwort.

Ein rüder Stoß in die Rippen.

»Lassen Sie das Schlagen«, wehrt der Beamte. Und zu Rolf: »Wo ist das Geld?«

Rolf bewegt mit tückischem Blick die Lippen, aber kein Wort ist zu hören. Die zwei Männer, die ihn halten, drehen ihm heimlich fast die Arme aus. Endlich, kaum verständlich, die Antwort:

»Fortgeworfen.«

»Wo?«

Wieder das verbissene Schweigen. Dann, zwischen knirschenden Zähnen:

»Unterwegs.«

Der Schutzmann wird erregt. »Sie lügen!« sagt er scharf. »Wo ist das Geld geblieben?«

Ein stolzes Leuchten blitzt in des Gehetzten Augen auf. Bedrängt, gequält und geschlagen, mit zerfetzten, schmutzbedeckten Kleidern, fühlt er sich doch als ein Held. Ein Held, der mit der Kraft des Willens das Unmögliche getan, in letzter Stunde sein Lieb, sein Alles gerettet, ein Held, der sich geopfert, sich selbst das Urteil gesprochen, den Kranz des Siegers um die Stirn. Die Treue hat er bewährt, die Treue wird nun sein Dank sein. Wie ein Gebet liegt der Name seines Weibes auf seinen Lippen, wie ein Gebet wird auch in alle Zukunft sein Name in ihrem Herzen klingen. In langen Wellen sieht er ihr blondes Haar im Winde wehen, ein Gruß für ihn, ein Gruß der Liebe . . .

Doch wie ein Nebel legt es sich über seine Augen. Das blonde Frauenhaar erlischt, wird grau, wird weiß. Und in dem weißen Haar springt und rieselt es wie glutrote Rubinen, dampft's unter blinkendem Eisen, quillt es und strömt über Boden und Wände, unaufhörlich, in wilden Wogen . . . Tausend Stimmen heulen: »Mord!« tausend Hände umkrallen ihn und schleifen ihn auf das Feld hinaus, zur Richtstatt . . . Und drüben, am grünen Rain, steht Loni, nackt, in Sonnenglanz gebadet, und neben ihr ein fremder, trotziger Mann mit schwarzen, stechenden Augen, – Mandi . . . Und sie lacht und küßt ihn und wirft sich auf ihn zu unerhörter Brunst, während die Henker ihn auf das Rad flechten . . . Er möchte schreien, wimmern, flehen, doch der Knebel im Munde erstickt jeden Laut. Und jauchzend hört er ihre Stimme: »Herrgott, wird er mich lieben! Drei Jahre in einsamer Zelle, drei Jahre ohne Weib . . .«

Unter der Qual des Fiebers stöhnt er auf.

Sie führen ihn nach der Wache schräg gegenüber. Von neuem forschen sie ihn aus, herrschen ihn an, versuchen ihn zu vernehmen. Er spricht kein Wort. Sie bringen ihn zum Polizeipräsidium; dort redet ein alter Kriminalwachtmeister gütig mit ihm, wie ein Vater zum Sohn. Auch jetzt blickt Rolf stumm, wie versteinert zu Boden; nur ab und zu lacht er verstohlen auf. Man schafft ihn nach Moabit in das Untersuchungsgefängnis. Tage, Wochen vergehen. Ein Landgerichtsrat läßt ihn sich vorführen, immer und immer wieder. Er hebt selbst alles hervor, was die Tat in milderem Licht erscheinen läßt; er ermahnt ihn, sich zusammenzunehmen, nicht zwecklos zu simulieren, sich durch ein offenes Geständnis das Herz zu erleichtern, seine Strafe zu verringern. Rolf sieht den Richter nur verstört an, wie ein Kind, das die Rute fürchtet. Und er bleibt stumm.

Der Gerichtsarzt kommt. Auch er geht freundlich, teilnehmend mit ihm um; er las ja in den Akten, was alle die anderen ausgesagt haben, die Verletzte, die Verfolger, die Polizei, er weiß, wie unfaßlich Rolf gehandelt hat. Er sagt ihm, daß seine Nerven zusammengebrochen seien unter der Last der Sorge, der Überraschung bei der Tat, bei der Flucht; er würde gesunden, er müsse aber auch das seinige dazu tun. Es sei ja doch alles nicht so schlimm . . .

Mit blöden Augen starrt Rolf ihn an. Immer wieder sieht er dasselbe Bild vor Augen . . . Drüben, am grünen Rain die nackte Loni, bei ihr ein fremder Mann . . . Und sie wirft sich auf ihn zu unerhörter Brunst, und jauchzend hört er ihre Stimme: »Herrgott, wird er mich lieben . . .«

»Sagen Sie,« drängt ihn der Arzt, »was hat Sie bloß zu Ihrer Tat getrieben?«

»Blondes Gift, Herr Medizinalrat«, antwortet Rolf flüsternd, mit stockender Stimme, als verrate er ein tiefes, entsetzliches Geheimnis. Und auf jede neue Frage, immer leiser: »Blondes Gift . . .«

Der Gerichtsarzt stellt seinen Antrag.

Und Rolf wird auf sechs Wochen der Irrenanstalt zur Beobachtung überwiesen.

*

Wald und Flur im ersten Frühlingssonnenschein. Ein schmuckes Torhäuschen mit zierlichem Gitter nimmt Rolf auf; im Hintergrunde und zu beiden Seiten stattliche, freundliche, scheinbar freiliegende Gebäude; die hohen Mauern, die um die Höfe laufen, doppelt hoch durch den unsichtbaren Graben, der innen rings um ihren Fuß sich hinzieht, sind nicht von hier aus zu erblicken.

Vor einem abseits liegenden Pavillon machen sie halt. Rolfs Begleiter läutet. Ein Drücker knirscht im Schloß; sie treten ein.

Das »feste Haus« für geisteskranke Verbrecher und Untersuchungsgefangene . . .

Drinnen überall Licht und Luft, offene Türen, zwanglose Gruppen auf breitem Korridor. Hier Skatspieler, sorgsam Buch führend, obwohl sie kein Geld besitzen, dort andere am Dame- und Schachbrett; die meisten rauchen, alkoholfreie Getränke stehen auf den Tischen, der Lohn für freiwillig geleistete Arbeit. Drüben in der Ecke spielt ein junger, blasser Mensch in sehnsüchtigen Tönen auf seiner Geige; Gitarren und andere Instrumente hängen neben langen und kurzen Pfeifen an den Wänden umher. Nirgends Fesseln und Zwangsjacken, von denen die Phantasie des Volkes schaudernd träumt.

Willenlos läßt Rolf sich führen. Er weiß nicht, wo er ist, weiß nicht, was sie von ihm wollen, was seiner wartet; er sieht und hört nicht, was um ihn geschieht, ist seiner selbst sich kaum bewußt.

Ein-, zweimal täglich kommt der Arzt, immer gut zu ihm, immer von neuem bemüht, ihn aufzurütteln.

Wieder vergehen Tage, Wochen. Und allmählich beginnt Rolf seine Umgebung zu erkennen.

Ein großes, helles Zimmer; grau und weiß abgesetzte Wände, drei bis zur hohen Decke reichende Fenster, in ihrem Oberteile zurückgekippt, um frische Luft hereinzulassen. Der Fußboden nackt, sauber hergerichtete Betten, Nachttische, Stühle und Schemel. An dem einen Fenster ein Papagei, der krächzend die Stangen seines Käfigs auf und ab klettert. Vier Männer hausen hier mit Rolf, vier kranke Männer . . .

Der eine, eine stolze Erscheinung mit wallendem, rotem Bart, blickt ihn mißtrauisch an; es ist ein Meteorologe, dessen Arbeiten selbst aus diesem festen Hause den Weg in die Wissenschaft finden.

Am Fenster steht der zweite, ein dreißigjähriger, stattlicher Mann mit blondem Schnurrbart, und starrt, aus der Shagpfeife qualmend, verbissen auf die Rasenfläche, die sich von der roten, sonnenbeschienenen Mauer grell abhebt; ab und zu, sobald er sich unbemerkt glaubt, sieht er sich vorsichtig um, greift in die Tasche und holt ein Stückchen Brot heraus, das er am Munde sich abgespart hat; mit hastigen Händen formt er aus der Krume einen Drücker, der ihm die Tore der Freiheit öffnen soll.

Ganz hinten, vor seinem Bett, sitzt unbeweglich ein hinfälliger Greis und murmelt, den Kopf wiegend, in unverständlichen Lauten immer dasselbe; nur wenn ein anderer das Zimmer verläßt, hält er inne, sagt er leise: »Adieu . . .«; und dann beginnt wieder das schreckliche, eintönige Lallen, das Wiegen des weißen Kopfes.

Der vierte, ein kleiner, polnischer Jude, mit schwarzem, von silbernen Fäden durchzogenen Bart und riesiger Glatze, stürmt von morgens bis abends hin und her, fuchtelt mit den Händen wild in der Luft herum und redet in fiebernder Hast, laut, ohne Pause, ohne Ermüden. Hört er auch nachts nicht auf, so erhält er Veronal; dann fällt er für einige Stunden, bis der Tag graut, in einen von wilden Träumen erfüllten Schlummer.

Sie alle vier waren einst dem Gesetz verfallen.

Der Meteorologe, der Rotbart, hat mitten im Liebeskampf sein Weib erdrosselt, um nicht die Sorge für das kommende Kind zu tragen.

Der Raucher am Fenster mit blondem Schnurrbart, der immer heimlich an dem Drücker aus Brotkrume arbeitet, hat eines Abends beim fröhlichen Geplauder dem Bruder und dessen Frau das Messer ins Herz gepflanzt, so oft man ihn nach dem Grunde fragt, antwortet er, unwillig sich abwendend: »Der Vogel sang mir zu laut!«

Was der Greis begangen, das wissen nicht einmal die Pfleger mehr, das liegt in den Akten begraben, seitdem Generationen von Kranken und Ärzten an ihm vorübergezogen sind, teilnahmlos sein Wiegen, sein Lallen, sein »Adieu!« angehört haben.

Und endlich der polnische Jude, – mit seinen ewig fuchtelnden Händen hat er einst ein kleines, liebliches Mädchen, den Sonnenschein seiner Eltern, verschleppt, überwältigt, gemordet. Jetzt hält er sich für ein Weib, dem der Leiter der Anstalt Gewalt angetan; und angstvoll wartet er auf die Geburt des Kindes, der Frucht des Verbrechens, das an ihm begangen ist . . .

Tag um Tag in Eintönigkeit, Tag um Tag und Nacht um Nacht ein langsames Wiederaufleben, wie nach schwerer, erschöpfender Krankheit.

Und eines Morgens, vier Wochen nach seiner Einlieferung erwacht Rolf mit klarem Hirn.

Seine Genossen sehen, wie er mit aufgerissenen Augen sie anstarrt.

Der polnische Jude schießt auf ihn los; »Sind Sie Doktor? Sind Sie Professor? Sind Sie aus Polen?« Und schon ist er weiter, rastlos redend und gestikulierend.

Der Raucher am Fenster steht auf, streicht sich den blonden Schnurrbart und blickt zu Rolf hinüber; er war in gesunden Tagen Farbenfabrikant, und dieser Beruf ist seine einzige Erinnerung geblieben; daneben beherrscht ihn der Wahn, daß er sein Vermögen in Monte Carlo verspielt hat. »Ich bin vollständig gesund«, sagt er grimmig, ohne sich Rolf zu nähern. »Die Croupiers in Monte sind schwarz und weiß, mit lila Gesäß. Der Reichskanzler hat ein gelbes Kuvert; so oft er das zeigt, sind's tausend Mark für mich, – gelb ist die Farbe der Bestechung.«

»Wenn das Genie ins Tollhaus gesperrt wird, so muß es verrückt werden«, brüllt der Meteorologe verzweifelt.

Neugierig blickt, von dem plötzlichen Lärm angezogen, ein alter, dicker Mann in das Zimmer, ein Falstaff, mit langen, grauen Stoppeln um das Kinn. Sein Gesicht strahlt, beständig knickst er auf der Schwelle. »Mit Gott!« sagt er liebreich, in überquellender Güte, »mit Gott! Nein, wie ich mich freue . . .«

Rolf kümmert sich nicht um die ihn Bedrängenden.

Mit fiebernder Ungeduld erwartet er heut den Arzt, eilt er ihm weit entgegen.

»Verzeihung, Herr Doktor,« stammelt er mit flehenden Augen, »hat niemand nach mir gefragt?«

Der Arzt blickte ihn überrascht an. »Leider nein«, antwortet er dann bedauernd. Und als er Rolfs enttäuschten Blick sieht, sagt er ihm warm, wie sehr er sich über seine Besserung freut.

Doch Rolf hört kaum auf seine Worte; langsam beginnt die Sehnsucht in ihm zu wühlen, ihm das Herz zusammenzuschnüren.

Sein Weib, seine Loni!

Jetzt ist sie schon längst gesundet, so schön, so schlank, so stolz wie einst . . . Warum kommt sie dann aber nicht? Hat sie ihn nicht mehr lieb, ihn ganz vergessen?

»Der Geheimrat ist schuld«, unterbricht der polnische Mann, der sich Weib glaubt, den Arzt, indem er sich rücksichtslos zwischen ihn und Rolf drängt. »So oft er mich untersucht, fühl' ich, wie das Kind wächst. Mit seiner bitteren Medizin muß er's mir abtreiben . . .«

Rolf schiebt ihn hastig beiseite. »Seien Sie barmherzig, Herr Doktor«, bittet er. »Ich will fort, ich bin gesund!«

»Noch vierzehn Tage müssen Sie Geduld haben, Herr von Roem«, antwortet der Doktor ihm freundlich. »Sechs Wochen verlangt das Gesetz.«

»Und dann?«

»Dann sollen Sie hier heraus.«

»Herr Doktor!« Ein jubelnder Aufschrei.

»Kommen Sie, Herr von Roem,« fuhr der Arzt gütig fort, »setzen Sie sich einmal zu mir her.« Und mit schonenden Worten suchte er ihn aufzuklären, zu trösten. Drei Wochen hat Mathilde von Roem gelegen, zum Glück hat die Frisur die Schläge gemildert. »Sehen Sie,« fährt er fort, »was nun einmal geschehen ist, kann keiner mehr ungeschehen machen. Aber daß eine ganze Reihe von Momenten zu Ihren Gunsten spricht, daran ist ja kein Zweifel, und das wird mein Gutachten auch nachdrücklich hervorheben.«

Um Rolf dreht sich das Zimmer, eine unsägliche Freude erfüllt ihn. Er glaubt dem Arzt ohne weiteres, er wundert sich über nichts, es ist ja doch alles so gleichgültig, jetzt, wo die Freiheit ihm winkt. Kaum hört er darauf hin, was der Doktor noch weiterspricht. Nur ein Gedanke erfüllt ihn: Er hat die Tat im Wahne begangen, niemand darf ihn dafür verantwortlich machen; und nun ist er gesundet, nun liegt das Leben wieder im Sonnenglanz vor ihm; noch vierzehn Tage, und Loni ist sein, für immer . . .

Zum erstenmal hebt Rolf die dunklen Augen voll zu dem Arzte auf; und inbrünstig-schlicht, aus tiefster Seele, sagt er:

»Ich möchte so gern zu meiner Frau . . .«

Aber der Farbenfabrikant hat den Doktor in ausbrechender Wut an der Schulter gepackt: »Am Bahnhof haben sie mich erwartet, eine grün-weiße Dame, die mit den Augen winkt; grün-weiß sind die Freimaurer, die wollen mich töten, sie zeigen mir rote und blaue Zettel. Rot-blau sind in Monte die Klosettfrauen, bei uns die Generäle.«

In dem Bemühen, mit Hilfe der Pfleger den Mann von sich abzuschütteln, hat der junge Arzt Rolfs Bitte ganz überhört.

»Tapfer müssen Sie bleiben,« fährt er daher fort, »nicht wieder nachgeben! Es ist ja auch alles andere besser, als hier begraben zu sein. Und wenn Sie Glück haben, kommen Sie mit einem Jahr davon.«

Langsam, totenbleich richtet sich Rolf auf. »Mit einem Jahr?« stottert er. Seine Zähne schlagen hörbar aufeinander.

Der Doktor sieht sofort den Fehler, den er begangen. Er hat in den Akten gelesen, daß Rolf Jurist ist, und daher geglaubt, jener wisse, was ihm bevorsteht.

Er faßt sich blitzschnell. »Und wenn Sie milde Richter finden,« setzt er zuversichtlich hinzu, »dann kommen Sie wohl ganz frei.«

Noch immer steht Rolf vor ihm, ohne einen Tropfen Blut im Gesicht, das Grauen in den weiten, erloschenen Augen. Dann plötzlich wankt er und sinkt auf einen Stuhl zurück.

Wie ein Blitz stürzt der rotbärtige Meteorologe auf ihn zu. »Mein Geld will ich haben!« schreit er verzweifelt. »Ich muß doch bis morgen mein Werk herausgeben. Zum Teufel, Herr, wo sind die fünf Milliarden von 1870, wo haben Sie die gelassen?«

Von diesem Tage an spricht Rolf kein einziges Wort mehr, in ewig gleichem, stumpfem Hindämmern. Er verläßt das Bett überhaupt nicht; alles Zureden des Arztes und der Pfleger ist vergeblich. Nur als sie ihn vierzehn Tage später in das Untersuchungsgefängnis zurückbringen und Arzt und Pfleger in ehrlicher Teilnahme von ihm Abschied nehmen, reicht er ihnen schweigend die Hand.

Auch in der Verhandlung bleibt er stumm. Der Pflichtverteidiger, ein junger Referendar, nimmt sich des Angeklagten nach Kräften an; er sucht mit allen Mitteln dessen guten Glauben bei der Aneignung des Geldes hervorzuheben, den Angriff als eine Tat momentaner Geistesstörung zu erklären. Auch der Arzt bemüht sich, in seinem Gutachten zu retten, was zu retten ist. Aber Mathilde von Roem, sein Opfer, belastet ihn um so schwerer. Sie schildert sein ganzes Leben, seine Jugend in den schwärzesten Farben; auf eine Frage des Vorsitzenden erklärt sie: Das hinterlassene Vermögen betrage fünfhunderttausend Mark. Sie sei Vorerbin und Rolf in gutem Sinne enterbt, so daß er nach ihrem Tode wohl in den Genuß der Zinsen, nie aber in den Besitz des Kapitals komme; das falle nach seinem Ableben an Wohltätigkeitsanstalten. Es sei also fremdes Geld, das er sich angeeignet habe. Ihr Gatte habe den Enkel ausdrücklich darauf hingewiesen, was ihm bevorstehe; die Schilderung von Rolfs nächtlicher Flucht aus dem Hause des Großvaters macht sichtlichen Eindruck auf die Geschworenen.

Das Plädoyer des Staatsanwalts ist vernichtend: In voller Überlegung sei der tückische Plan entworfen, die günstige Zeit gewählt, das Auto zur Flucht bereitgestellt. Der Angeklagte habe von der zweiten Ehe des Majors durch die Todesanzeige gewußt, habe sich sagen müssen, was dieser Schritt nach seiner Flucht für ihn bedeutete. Er machte sich auf, seine Großmutter zu erschlagen, an dem Tage der Beisetzung seines Großvaters, in derselben Stunde, in der sein Weib in Kindesnot vergebens nach ihm schrie. Er war sich klar, er stahl fremdes Geld; er war sich bewußt, als er mit dem schweren Eisen auf die schwache Frau im grauen Haar einschlug, daß sie seinen eigenen Namen trug. Er hat es verstanden, die Beute von Tausenden mit erstaunlichem Geschick beiseitezuschaffen, obwohl er fast auf frischer Tat ertappt wurde. Und keinen Augenblick hat der Angeklagte hier in diesem Saale auch nur eine Spur von Reue gezeigt. »Nicht die Tat an sich kennzeichnet den Verbrecher, sondern die Gesinnung; und wenn je von einem geborenen, skrupellosen Verbrecher die Rede sein kann, so hier, diesem verlorenen Menschen gegenüber, der sein reiches Muttererbe in wenigen Monaten vergeudet, der keinen Pfennig des gestohlenen Geldes zurückgegeben, der nicht den Mut gehabt hat, für seine Tat einzustehn, sondern in plumpester Weise den wilden Mann zu spielen versuchte. Auch der Vertreter der Anklage hat ein Verständnis für menschliche Fehler, für irrende Leidenschaft; »aber hier, meine Herren Geschworenen, steht ein Mensch vor Ihnen, der um gemeinen Vorteils willen den Mord geplant, die Hände in Verwandtenblut getaucht. Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben, – bewahret sie . . .«

Sie sprechen ihn des schweren Diebstahls und der gefährlichen Körperverletzung schuldig und billigen ihm mildernde Umstände zu. Das Gericht erkennt auf eine Gefängnisstrafe von einem Jahr, auf die ihm die Untersuchungshaft mit zwei Monaten angerechnet wird.

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