Paul Langenscheidt
Blondes Gift
Paul Langenscheidt

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Mit fieberhafter Eile betrieb Rolf die Vorbereitungen zur Hochzeit.

Sie verzichteten auf kirchliche Trauung; er, weil er von Kindheit an eine unüberwindliche Scheu davor hatte, in der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, Loni auf Mutter Rollers Rat, die allerhand Schwierigkeiten hinsichtlich des geschlossenen Myrtenkranzes befürchtete.

Und an einem wundervollen Augustmorgen schrieb Loni unter die Trauungsurkunde zum erstenmal ihren neuen Namen: Helene von Roem . . .

*

Es war an ihrem Hochzeitsabend. Loni hatte die Nacht ganz durchfahren wollen, dem heißersehnten Süden entgegen.

Aber Rolf hatte nur bis Halle Fahrkarten genommen und telegraphisch im Hotel die zwei schönsten Zimmer bestellt, unter dem Vorwande, daß die lange Fahrt Loni zu sehr ermüden würde.

Sie hatten im Speisesaale des Hotels sich gegenüber gesessen, von Kellnern umgeben, die jedes vertraute Wort unmöglich machten.

Immer wieder schenkte er ihr den geliebten Sekt ein. Er hoffte, sie würde sich einen leichten Rausch antrinken, der sie ihre Zurückhaltung vergessen ließ; denn seitdem das Heiratsprojekt feste Gestalt angenommen, hatte sie sich ihm immer wieder unter den törichtsten Vorwänden entzogen und ihn in raffinierter Berechnung auf das Glück vertröstet, sie als sein angetrautes Weib in die Arme schließen zu können. Mit sehnender Ungeduld hatte er dieser Stunde entgegengeharrt. Und während er bald zu ihr hinüberblickte, bald mit ungeduldigen Augen in sein Glas starrte, wo langsam Perle auf Perle hochstieg, stockte, verging, sann Loni und sann, die Zigarette im Munde, wie sie ihn künftig in gleicher Abhängigkeit halten könne. Sie wußte ja aus so manchem Abenteuer ihres ungebundenen Lebens, daß nur das eine dem Weibe die Herrschaft sichert, die Kunst, stets beherrscht, sich niemals bis zum Rest auszugeben, sich immer ein Letztes, Geheimnisvolles zu bewahren. Und sie beschloß, auch in dieser ersten Nacht ihrer Ehe sich ihm solange zu versagen, als ihr nur möglich war.

Ein hochgewachsener, hübscher Kellner bediente sie. Mit einer Art ritterlicher Beflissenheit war er um die junge Frau bemüht, oder er stand abwartend im Rücken Rolfs und ließ keinen Blick von ihr.

Und sie ertappte sich auf dem Gedanken, daß sie diesen Menschen begehrte.

Beständig glitten ihre Augen zu ihm hinüber.

»Es ist zwölf, Loni . . . Wollen wir nicht hinaufgehn?« hörte sie Rolf leise fragen. Sie wandte sich zu ihm; ein Widerwille gegen den schmalen, knabenhaften Mann, der jetzt ihr Gatte war, stieg in ihr auf, und die Lust, ihn dort oben auf die Folter zu spannen, jetzt gleich, erwachte in ihr.

Sie ging ihm voran durch den Saal, die Treppe hinauf, in das tiefrote Prunkzimmer hinein und setzte sich in den Klubsessel an den Tisch, auf dem diskret unter dem roten Schirmchen die elektrische Lampe brannte. Durch die Tür konnte sie im Halbdunkel des Schlafzimmers die beiden mächtigen Betten sehn.

Der hübsche Kellner folgte ihnen mit einem Pikkolo, jeder einen Eiskübel mit Sekt in den Händen.

Denn Rolf hatte sich in seinen Träumen seit Wochen den Abschluß seines Hochzeitstages als ein Symposion der Schönheit, ein Bacchanal der Freude ausgemalt. Hätte er Zeit und Mut genug gehabt, er hätte das Schlafzimmer mit blühenden Rosen überschüttet; aus weiter Ferne hätten zarte Weisen in ihre Einsamkeit hinüberklingen, eine Flut von abgeblendeten Lichtern den Raum in mystisches Helldunkel hüllen müssen, seiner Königin zu Ehren. Aber in der nackten Wirklichkeit zerrannen alle diese Träume vor seiner Unbeholfenheit, und nichts blieb, als dieser Kellner, der wie ein Graf aussah und ihn erdrückte, und zwei Flaschen Sekt, von denen Rolf jetzt nicht wußte, wer sie trinken sollte.

Ungeduldig hieß er die Sektkübel hinstellen. Dieser Mensch in seinem Hochzeitsgemach, der mit berechneter Langsamkeit dicht neben Loni die Gläser ordnete, fiel ihm auf die Nerven. Zornig herrschte er ihn an. Und einen letzten, stummen, verständnisvollen Blick mit Loni austauschend, verschwand der andere.

Rolf goß seiner jungen Frau ein, trat an sie heran und küßte sie. »Bist du ganz glücklich, Lieb?« fragte er in unterdrückter Bewegung.

Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Es war doch alles in allem ein öder Tag«, sagte sie nachdenklich. »Viel Staat konnten wir nicht machen mit Mutter Roller und dem in aller Eile ausgeborgten Kanzleionkel als Trauzeugen.«

Er war erstaunt, mit einmal sie so sentimental zu sehn. »Vater und Mutter sind tot,« antwortete er gepreßt, »und den Großvater hab' ich um deinetwillen . . .« Er brach ab, er fürchtete, sie verletzt zu haben. »Von deinen Eltern hab' ich überhaupt nie etwas Sicheres erfahren«, fuhr er schnell fort. »Das ist doch wohl ein Unsinn, daß einer deine Mutter totgeschlagen hat?«

In ihren Augen stieg ein böses Glimmen auf. Sie nahm es ihm übel, daß er so leichthin von dem schrecklichen Ende ihrer Mutter sprach, aber sie wußte jetzt auch, wie sie sich dafür rächen, ihn heute abend quälen konnte; und es reizte sie zugleich, nun, wo sie sein Weib geworden, ihm zu zeigen, aus welcher Tiefe sie emporgestiegen. Ihr war, als ob sie ihn und nicht sich selbst damit demütigte.

Hastig goß sie ihr Glas hinab. »Soll ich dir das erzählen?« fragte sie lauernd.

»Aber gewiß«, erwiderte er, froh, daß sie über seine Worte hinweggegangen war. Und doch bangte ihm vor ihrem Bericht, der sein Glück verzögerte. Ihre Eltern waren ihm völlig gleichgültig, er begehrte nur sie, seine Loni, sein Weib.

Er trat hinter sie und zog verwegen die Kämme aus dem Haar, daß es lang hinabwallte.

»Laß das«, sagte sie barsch, vom Weine erregt. »Setz dich doch hin, du nimmst einem die Ruhe.«

Und gehorsam verfügte er sich in den hohen Klubsessel ihr gegenüber, in dem er fast verschwand.

Sie beugte sich vor und stützte die Arme auf den Tisch.

»Ich weiß genau Bescheid«, begann sie, mit der tiefen Falte auf der Stirn. »Die Roller hat es mir jahrelang immer wieder erzählt. Die hat das ja alles von Anfang an mit erlebt.«

Wirklich, die Roller hatte dem Kinde das erzählt, immer wieder mit neuen Details, immer abgerundeter, plastischer, bis Loni diese Geschichte ihrer Eltern liebgewann, sich nicht mehr satt hören konnte an der blutigen Tat, die ihr das Gruseln über den Rücken jagte, bis sie selbst Wort für Wort, Zug um Zug die Tragödie im Gedächtnis behielt und nun auch ihrerseits im Geiste sie ausschmückte, hinzudichtete, die Effekte steigerte.

*

»Meine Mutter,« begann sie, »wo die herkam, das weiß ich nicht. Für unsereins gibt's keine Stammbäume, wie für die Pferde und Hunde. Sophie hieß sie. Mit Fünfzehn war sie Kindermädchen in Berlin, mit Sechzehn in der Fabrik. Erst der Werkmeister, dann einer nach dem andern, bis sie schwanger war; die Charité, ein totes Kind, Hunger und Not, – die Straße, die Sitte, das Arbeitshaus. Und wieder aufs Pflaster, wieder die Wache und Rummelsburg . . .«

Und bald in abgerissenen Worten, bald sich hineinwühlend in das leidvolle Schicksal der Mutter, berichtete Loni mit fast wollüstigem Behagen weiter, so wie die Kinder mit seligen Augen von den sechs gemordeten Frauen des Ritters Blaubart, der menschenfressenden Hexe in Hänsel und Gretel, der in glühenden Pantoffeln tanzenden Stiefmutter Schneewittchens erzählen.

*

Eines Nachts fand Sophie einen Mann in ihrem Torweg schlafend, einen Riesen, mit breiten Schultern und mächtigen Händen. Eben bog eine Patrouille um die Ecke. Sie weckte ihn und nahm ihn mit zu sich hinauf. Als sie Geld von ihm forderte, sah er sie verblüfft an: dann, ohne ein Wort, schlug er sie auf ihr Bett nieder.

*

»Loni,« sagte Rolf schüchtern, »es ist schon spät, Lieb.«

Loni antwortete ihm nicht. Immer wieder tastete ihre Hand nach dem Glase, während er selbst kaum von dem Weine nippte: er wollte mit klarem Kopf, nur von seinem Glück berauscht, diese Nacht bis zur Neige auskosten.

Und unbeirrt fuhr Loni fort.

*

Der Mann war Adolf Reiß, ihr künftiger Vater. Er arbeitete als Heizer in einem Elektrizitätswerk. Wieder kam er zu Sophie, immer häufiger. Jähzornig war er, im Trunke maßlos rüde: aber Sophie empfand ihm gegenüber keine Furcht, sie war ja Schläge gewöhnt. Auch er hatte gefunden, was er suchte. In ihrer stumpfen Willenlosigkeit wurde sie ihm bald unentbehrlich: er nahm sie zu sich, und als das Revier sich hineinmischte, meldete er eines Tages, ohne sie zu fragen, ihr Aufgebot an. Vier Wochen später war sie seine Frau.

Sie zogen in dasselbe Haus im hohen Norden Berlins, in dessen Keller Mutter Roller damals, ehe sie nach Schöneberg zog, als Waschfrau wohnte.

Eine Küche unter dem Dach, daneben eine Kammer. Schon nach kurzer Zeit erwartete Sophie ein Kind. In den langen Monaten der Schwangerschaft wurde sie ihrem Manne über; die Schläge, die bisher die Liebesstunde kündeten, wurden nun ihr tägliches Brot. Und eines Tages erzählte ihr eine Nachbarin – vielleicht war es sogar die Roller, mit der Sophie sich angefreundet hatte – mit schlecht verhehlter Schadenfreude, daß Adolf, ihr Mann, es mit der »roten Liese« halte. Das war eine Dirne, die bessere Tage gesehn hatte, blutjung, mit feinen Gelenken.

Jetzt wußte Sophie, warum ihr Mann seit kurzem immer später heimkehrte. Zum ersten Male raffte sie ihren Mut zusammen und stellte ihn zur Rede. Niemals hatte er sie so zugerichtet; drei Tage mußte sie zu Bette liegen, bis er sie mit neuen Hieben hochjagte.

Einige Wochen darauf kam ein Geheimer in die Stube der »roten Liese«, als Adolf sie gerade im Arm hielt. Und kurz entschlossen führte er sie zu sich hinauf in die Kammer.

Wieder wollte Sophie sich auflehnen; dann, als sie seine funkelnden Augen sah, wich sie zurück. Sie hatte auch ihren Stolz, sie mochte sich nicht vor der roten Liese schlagen lassen.

Und während sie unter mühsam verschluckten Tränen auf sein Geheiß das Abendbrot für die beiden bereitete, hörte sie von nebenan aus der Kammer jeden Laut der Liebesleute.

Seitdem ging die »rote Liese« da oben aus und ein. Wehe Sophie, wenn sie sich über sie beklagte! Und allmählich gewöhnte sie sich an sie, war sie froh, wenn alles in Ruhe verlief.

*

Die Uhr schlug halb eins.

»Willst du nicht zu Bett gehen, Loni«, fragte Rolf schüchtern. Diese endlos lange, hundertmal dagewesene Geschichte quälte ihn bis zur Verzweiflung.

»Ich kann noch nicht schlafen,« antwortete sie ungeduldig, »bei dieser Hitze . . . Ich mach' es mir leicht.«

»Soll ich dir helfen, Lieb?«

Sie schüttelte den Kopf, riß die Bluse auf, zog sie aus und warf sie auf einen leeren Stuhl.

Seine Hände krampften sich zusammen. Wie sengendes Feuer ging es ihm über die Haut.

Sie spähte durch die Wimpern zu ihm hin. Und sie lächelte.

Doch noch einmal beherrschte er sich mit aller Kraft. Es galt ja nur Minuten der Verzögerung, bis sie sein war, sein werden mußte; und gerade die unbezwingliche Selbstsucht gab ihm die Kraft, sich geduldig zu bescheiden, nichts zu verderben.

*

Und eigensinnig erzählte sie weiter.

Loni wurde geboren. Es kamen schlechte Zeiten, der Lohn sank auf drei Viertel, auf die Hälfte. Sophie wußte nicht mehr, woher sie das Geld zum Leben nehmen sollte.

Eines Sonnabends kam der Vater fluchend heim; er war entlassen. Er fand nichts Neues, oder er wollte es nicht finden. Und als die Not ins Haus kam, als es bald nichts mehr zu essen gab, hatte Sophie es auszubaden.

Und eines Morgens ging sie in aller Frühe aus. Unter ihrem Umschlagtuch trug sie ein Stück des Hausrats fort, das sie nicht wiederbrachte. Und immer leerer wurde die Stube.

Ihr Mann hatte ja stets den Schnaps geliebt: aber jetzt, in seiner Langeweile, lernte er regelrecht trinken. Sie borgten ihm wohl in der Kneipe, oder die »rote Liese« steckte ihm Geld zu.

Kam er dann trunken nach Hause, so blieb er stumm, mit versiegelten Lippen: nur ab und zu ließ er ein Brummen hören, wie ein Bär, der im Winterschlaf gestört wird. Schwieg auch Sophie, so begann er sie anzustieren, langsam die Ärmel aufzustreifen, während sie immer blasser, immer kleiner wurde: sprach sie aber hastig, wie im Fieber, nur um ihn bei guter Laune zu erhalten, so grinste er ihr ins Gesicht, lauernd, bis das harmlose Wort fiel, das er mißverstehen konnte, mißverstehen wollte. Dann stand er auf, immer ohne ein Wort, faßte nach ihr, schleuderte sie wie ein Bund Flicken in die Ecke. Und er schlug auf sie ein, mit langen, regelmäßigen Schlägen, wohin es traf, mit aller Kraft.

Als aber eines Abends wieder kein Groschen im Hause war und er seine Frau fast umgebracht hatte, machte sie sich am nächsten Morgen auf und ging fort. Als sie nach zwei Stunden wiederkam, hatte sie Geld.

Den Tag darauf ging sie wieder. Und so bald alle Tage.

*

Loni redete jetzt mit müder Zunge.

Rolf kniete neben ihr hin und sah mit stummer Bitte zu ihr auf. Und unter dem beklemmenden Eindruck ihrer Erinnerungen, angesichts ihres ihm nicht mehr zweifelhaften Bestrebens, ihn hinzuhalten, stieg ein ungeheurer Schmerz in ihm hoch, als lohne es sich überhaupt nicht, das Leben zu leben.

Er würgte seine Bewegung hinab. »Hör' auf, Loni,« bat er noch einmal, »es ist zu schrecklich. Erzähl' mir morgen den Rest. Es ist ein Uhr, wir müssen früh auf.«

Sie rührte sich nicht. »Ich bin gleich zu Ende«, antwortete sie hartnäckig, obwohl ihr das Sprechen Mühe machte.

Resigniert setzte er sich wieder in seinen Stuhl, hörte er ihr zu.

Inzwischen, erzählte Loni, spielte sich noch etwas anderes ab. Die »rote Liese« hatte einen Freund, der sie heiraten wollte. Ihr imponierte Adolf Reiß mit seinen Riesenkräften ja wohl mehr, aber er war doch gebunden. Und so bat sie ihn Tag für Tag, sie aufzugeben, und fesselte ihn damit doch nur um so mehr an sich. Jeden Moment konnten die beiden Gegner mit dem Messer aneinandergeraten. Vielleicht hoffte sie das; Frauen lieben es, wenn Blut um sie fließt. Und immer wieder dasselbe zu Adolf: »Ja, wenn du die Frau nicht auf dem Halse hättest . . .« An Scheidung, die nur für die Reichen ist, dachten die beiden nicht. Und als die Sache nicht vom Fleck kam, begann sie ernsthaft mit dem anderen zu liebäugeln.

Eines Abends geschah es dann. Er konnte sich die Tat nicht überlegt haben, durch die er keinen Schritt weiterkam, im Gegenteil die »rote Liese« für immer verlor. Es mußte eine Art Wahnsinn sein. Darum richteten sie ihn dann auch wohl nicht hin.

*

Rolf konnte vor Ungeduld und Qual nicht mehr sitzen. Er sah, wie Lonis Gesicht unter der Wirkung des Weins immer blasser und abgespannter wurde, und ihm war, als ob die ganze erträumte Poesie seiner Hochzeitsnacht langsam im Elend ihrer Jugend erstickte.

Er ging zu ihr hin und legte den Arm um sie. Und während sie sprach, glitten seine zitternden Hände an ihr entlang.

*

An diesem Abend wartete Sophie endlos lange auf ihren Mann. Sie wußte nicht, was tun. Sollte sie zu Bett gehen? Um elf hatte sie noch der Mutter Roller, die auf einen Moment heraufkam, weil sie Licht bei Sophie sah, ihr Leid geklagt: Wenn er es übelnahm, daß sie zur Ruhe gegangen, schlug er sie halbtot. Aber vielleicht schlug er sie erst recht, wenn sie aufblieb. Er war schon die letzten Tage wie ein wildes Tier die ganze Nacht in der Küche auf und ab gelaufen, hatte bald ein Scheit Holz, bald das kleine Hackbeil aufgenommen, es langsam hin und her geschwungen und stumm wieder fortgelegt.

Die Minuten krochen: der letzte Laut verstummte in dem Riesenhaus. Zwei Uhr! Mit schwerem Seufzer erhob sich Sophie und ließ das brennende Licht auf der Kochmaschine stehen. Dann legte sie sich angekleidet auf ihren Strohsack: das Bett war längst verpfändet. Und allmählich fielen ihr die Augen zu.

Ein furchtbarer Lärm weckte sie. Sie hörte die Tür zum Gange hinaus zuschlagen, daß der Kalk von den Wänden rieselte, ihren Mann in die Küche stolpern, gegen den Tisch prallen, der krachend zusammenbrach, lange herumsuchen und endlich an der Kammertür entlang tasten. Dann kam er herein und fiel wie ein Stein auf das Stroh, quer über Sophie. Mit einem Fluch mühte er sich wieder auf, packte er sie im Dunkeln, hob sie hoch und warf sie krachend zur Seite.

Sie regte sich nicht; sie hoffte, der sinnlos Betrunkene würde sie wieder vergessen und einschlafen.

Plötzlich fiel in der Kammer ein dumpfer Hieb, als jage eine Riesenfaust mit aller Kraft die Axt in einen Holzstamm; dann klatschende Schläge, als ob nasse Wäsche ins Wasser schlug. Von Sophie kein Laut. Und schwer sank der Mann wieder auf das Stroh.

Allmählich kam die Morgendämmerung durch die kleine Dachluke und fand die Frau auf dem Rücken, die Arme wie zur Abwehr vor den zerschmetterten Kopf gehoben. Eine große, schwarze Lache reichte von ihr bis in die Ecke, wo das Handbeil lag. An der Wand saßen rote, langgezogene Spritzer, als habe dort einer mit blutigem Besen gefegt.

Endlich begann Adolf sich zu rühren, zu schnaufen, sich herumzuwälzen und aufzurichten. Dann saß er auf dem Stroh, grünweiß, in offenem Hemd und wirrem Haar, mit den blutgeröteten Augen auf sein Weib stierend, als verstände er nicht, was er da vor sich sah.

Draußen ging die Tür. Hastig trat er in die Küche hinaus. Die »rote Liese« war's. Einen einzigen Blick warf sie auf den Mann, dann blieb sie plötzlich stehen.

Eine Weile herrschte Totenstille. Dann sagte Adolf barsch:

»Die Frau ist in der Nacht gefallen, – Krämpfe oder 'n Schlag, 's scheint aus zu sein!«

Die »rote Liese« blickte ihm noch immer in das Weiße der Augen, »'s wird wohl ein Schlag gewesen sein«, sagte sie endlich, mit schlecht verhehltem Hohn.

Der Mann antwortete nicht; dann brummte er unsicher: »Verfluchte Zucht!« vor sich hin.

Die »rote Liese« trat vor und blickte neugierig in die Kammer. Mit einem Schrei wich sie zurück.

»Weg da,« herrschte er sie an, »steh hier nicht 'rum, setz Wasser auf!« Er packte sie am Arm, schob sie zum Herd und ging wieder in die Kammer, deren Tür er fest hinter sich schloß.

Während sie Feuer anmachte, wirbelten ihr die Gedanken durch den Kopf. Sie wollte möglichst lange hierbleiben, bis die Polizei kam, um alles zu sehen. Sie würde sagen, er habe sie gezwungen, ihm bei der Tilgung der Spuren zu helfen, sie mit dem Leben bedroht. Und im Geiste sah sie sich schon im feierlichen Saal des Schwurgerichts als Mittelpunkt der Verhandlung. Wie verzaubert kam sie sich in dieser Küche vor: Alles stand noch an seinem Platz, genau wie gestern, eine Weiberstimme keifte den Korridor entlang, draußen kreischten die Spatzen wie besessen, der Milchwagen läutete. Und fast gewaltsam mußte sie sich wieder erinnern, daß in der kleinen Kammer dort ein Mord geschehen war.

Nebenan hörte sie ein leises Knirschen. Sie spähte durch das Schlüsselloch. Adolf stand an der Wand und schabte mit seinem Messer den blutigen Kalk ab, den er mit der hohlen Linken auffing und durch die Dachluke hinauswarf. Immer wieder ging er an der Toten vorbei, hin und her, ohne einen Blick auf sie zu werfen.

Als gerade das Wasser aufkochte, kam er heraus. »Geh jetzt hinein und scheure auf«, fuhr er sie an. Aber es lag doch etwas Schwankendes in seinem Ton, etwas Scheues in seiner Haltung, was sie bisher noch nicht an ihm gekannt hatte.

Die »rote Liese« rührte sich nicht. »Es hat keinen Sinn,« sagte sie bestimmt, »der ganze Kopf ist ja ein Mus. Was drischst du denn auch so wüst auf sie los?«

Er blickte mit seinen leeren, vom Trunke entzündeten Augen zur Seite.

»Und sieh dir doch bloß die Dielen in der Kammer an,« fuhr sie ebenso gleichmütig fort, »die klaffen ja zollbreit. Da ist das Blut schon längst hineingelaufen. Das kriegen wir nicht mehr weg. Donnerwetter, hast du aber losgedroschen!« setzte sie noch einmal kopfschüttelnd hinzu. »Das hättest du auch ein bißchen schlauer anfangen können.«

Er stand am Herd, unschlüssig, was zu tun.

»Am besten ist's, du gehst zum Revier und sagst, ihr habt Krach gehabt, und da hat dich die Stinkwut gepackt. Genau wie im vorigen Jahr der Schlosser-Ede drüben im Keller, der zwölf Jahre Zuchthaus gekriegt hat. Sonst hacken sie dir am Ende die Rübe ab.« Mit neugierigem Grauen guckte sie auf sein breites Genick.

Er hatte sich auf den Küchenschemel gesetzt, die Arme hingen ihm schlaff herunter. Er stierte beständig auf seine Stiefel und kratzte abwechselnd mit dem einen die Blutspuren vom andern ab.

Das Wasser lief zischend über. Eine Fliege summte, irgendwo klopfte jemand einen Nagel ein. Sonst kein Laut.

»So geh doch,« sagte sie endlich ungeduldig, »was nutzt denn die Angst! Nun kriegt mich doch noch der Eisen-Heinrich. Der wird sich freuen. Vielleicht besuch' ich dich auch mal, wenn du nicht zu weit wegkommst. Aber warte, erst mach' ich dir noch einen feinen Kaffee: wer weiß, wann du den wieder so bekommst.«

Sie richtete den zerbrochenen Tisch hoch, stützte ihn auf das Fensterbrett, holze zwei Blechtassen und setzte sich mit dem rauchenden Kaffeetopf zu ihm. Schweigend bliesen sie in das heiße Getränk und nahmen ab und zu einen Schluck; es war fast gemütlich in diesem Raum, wie seit langem nicht.

Plötzlich näherten sich auf dem Gange schwere Schritte, mitten in einem dumpfen Geräusch, wie von einer erregten Menge.

Dann klopfte es kurz und scharf.

Sie sahen sich atemlos an.

»Aufmachen!«

Sie regten sich nicht.

*

Rolf schauderte zusammen, während er noch immer den Arm um Loni geschlungen hielt. Aus diesem Meer von Blut und Tränen reckte sich immer stärker das Begehren in ihm auf: krampfartig stieg es von seinen Füßen langsam in ihm hoch: die Knie zitterten ihm in wütender Gier, sein blondes Weib, das lächelnd durch Martern und Tod schritt, an sich zu reißen, unter Küssen zu ersticken.

Und während er mit knirschenden Zähnen sein Gesicht in ihr duftendes Haar grub, hörte er sie mit immer gleicher, schwerer, tonloser Stimme enden:

*

»Der Vater sprang auf. Er warf einen angstgehetzten Blick um sich, zum Fenster hin, das das Dach des Vorderhauses sehen ließ. Nirgends etwas, wohin er sich flüchten, sich verbergen konnte.

Die Liese erhob sich ruhig, trat an die Tür und öffnete. Polizeihelme blitzten.

Hinter den beiden Beamten stand die Frau, die unter der Kammer wohnte, in einiger Entfernung drängte sich spähend das halbe Haus. ›Die ganze Decke ist ein Blut‹, berichtete sie, triumphierend, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu sehen. ›Ich habe mir schon die Nacht so was gedacht: als ob die Decke 'runterkommen soll, so hat's gebummst. Wenn der die arme Frau nicht abgemurkst hat . . .

Aber schon waren die Beamten auf den Vater zugetreten. Der streckte ihnen ohne Widerstand die Hände entgegen, an denen im nächsten Augenblick die Fesseln klirrten.

Einer der Beamten ging in die Kammer und kam sofort zurück.

›Donnerwetter,‹ sagte er zu dem andern, ›das nenn' ich ganze Arbeit.‹«

*

Loni schwieg. »Lebenslänglich hat er bekommen«, setzte sie dann hinzu. »Mich nahm die Roller in Pflege und päppelte mich auf. Einen Vormund haben sie mir gegeben, einen Pastor, der sich sein Lebtag nicht um mich gekümmert hat.« Sie erwachte plötzlich und schüttelte sich. »Bis Vierzehn die Schule, drei Jahre Putzmachen, dann . . . dann das Mascotte . . . und endlich Herr Rolf von Roem . . .« Nervös lachte sie auf. »Halb zwei, – ich bin todmüde. Ich schlafe hier gleich auf dem Sessel ein.«

Verdutzt sah er hoch. Sein Gesicht glühte, seine Augen flimmerten, als sei er es, der zuviel getrunken hatte. Fester und fester umklammerte er sie.

Sie wehrte ihn ab, nachlässig, wie man ein lästiges Insekt von sich wegscheucht.

»Sei doch lieb, Loni«, flehte er, halb von Sinnen, »'s ist unser Hochzeitstag . . . unser Hochzeitstag . . .«

Und als sie sich ihm noch entschiedener widersetzte, blitzte ein Gedanke in ihm auf. Er wußte mit einmal, wie er sie willfährig machen konnte.

»Denk', was du Mandi alles gewährt hast«, stammelte er mit gepreßter Stimme. »Denk', ich hätte die Peitsche in der Hand, bände dich auch mit deinem Haar an den Pfosten des Bettes. Nur die Hälfte von dem sollst du mir geben, was sein war . . .«

Er sah, wie sie fahl wurde. Und plötzlich stieß sie ihn mit aller Kraft vor die Brust.

»Mandi . . .«, sagte sie dabei durch die Zähne. Nur das eine Wort. Aber eine Welt von Verachtung sprach aus diesem Namen gegen den Gatten, der sich mit jenem zu vergleichen wagte.

Ohne einen Laut erhob sie sich, ging sie vor ihm her in das gemeinsame Schlafgemach. An Ihrem versteinerten Gesicht sah er, daß er das Falscheste getan, was er tun konnte, daß er für heute das Spiel verloren.

Und stundenlang starrte er in das Dunkel, schlaflos an ihrer Seite, mit seiner Enttäuschung ringend.

*

Sie reisten die alte Heerstraße der Flitterwochenpaare, nach Florenz und Rom, über die Riviera, Paris und Ostende zurück.

In diesen wenigen Wochen wandelte sich Loni mit der erstaunlichen Anpassungsfähigkeit des Großstadtmädchens äußerlich völlig zur Weltdame: aber sie gab sich nicht die mindeste Mühe, auch in ihrem Denken und Fühlen sich ihrem jungen Gatten anzuschmiegen.

Vor den Denkmälern der Vergangenheit, den Meisterwerken der Kunst behauptete sie vor Langeweile zu sterben: eine einzige fesche Kokotte war ihr weit interessanter, als alle klassischen Statuen und Gemälde Italiens zusammen. Sie hatte von fast nichts eine Ahnung, und was sie kannte, warf sie bunt durcheinander. Dabei freute sie sich über sich selbst wie ein Kind und wollte sich über ihres Mannes Entsetzen totlachen.

»Bloß dumme Menschen kennen alles«, erklärte sie schnippisch. »Ich weiß das eine, daß ich hübsch bin. Und das genügt mir.«

Einmal nur, als sie in der Galerie Borghese vor Correggios Danae stand, zeigte sie sich aufmerksam, und es bereitete ihr sichtliche Freude, sich von Rolf die Liebesabenteuer des Göttervaters erzählen zu lassen. Sie zerbrach sich freilich den Kopf, warum Zeus ausgerechnet als Schwan die Leda mit ihrem Ei beglückt hatte, und erklärte dies für eine nach jeder Richtung hin ausgefallene Idee. Besser gefiel ihr schon die Wolke, in der er der Io nachgestiegen war, und die sie mit dem Inkognito der Offiziere in Zivil verglich. Bei dem Stier der Europa sagte sie nur: »Alle Achtung!« um mit besonderem Entzücken auf das in den Schoß der Danae rieselnde Gold zurückzukommen, das sie übrigens etwas kühn als »Danaergeschenk« bezeichnete: und diese Danae schien sie schließlich so sehr zu faszinieren, daß Rolf aus Besorgnis vor einem Belebungsversuch des kostspieligen Mythos es schleunigst aufgab, sie weiter in die Götterlehre der Alten einzuführen.

Aber auch eine andere Enttäuschung blieb ihm nicht erspart. Wenn er wirklich geglaubt hatte, daß sie mit dem Ring am Finger ihm »von ganzem Herzen und von ganzer Seele« angehören, sich rückhaltlos den Wünschen des Gatten fügen würde, so hatte er sich geirrt.

Auch jetzt entzog sie sich ihm hartnäckig unter dem Vorwande, daß sie sich schonen müsse. Sie wurde krankhaft erregt, wenn er sie nur berührte: brauchte sie eine Handleistung, so klingelte sie dem Hotelmädchen und jagte ihn aus dem Zimmer, mit schroffen Worten, unter denen Rolf immer von neuem litt.

Denn seine Liebe zu ihr war gerade durch ihre zunehmende Kälte nur noch gewachsen: er erklärte sich ihre Zurückhaltung als das Erwachen des Mutterinstinktes und gab sich selbst die Schuld, daß sie unter den Beschwerden ihres Zustandes körperlich und seelisch so leiden mußte. Mit besorgten Augen achtete er auf jeden ihrer Schritte, umgab er sie mit aller nur denkbaren Fürsorge.

Doch überall, im Getriebe der Großstadt, im Angesicht der Alpenfirnen und lachenden Täler, am Strande der See, wie im dahinrasenden Expreß, – überall saß ihm ein unsichtbarer Gefährte zur Seite, die stumme, graue, entsetzliche Sorge.

*

Sie waren müde und zerschlagen im sinkenden Oktoberabend nach Lichterfelde zurückgekommen, feierlich von der blumenbewaffneten Frau Roller unter der grünen Girlande mit dem grellroten Plakat: »Herzlich Willkommen!« empfangen.

Aber so freudestrahlend diese sie auch begrüßte, mit so ernsten Bedenken sah sie innerlich der Zukunft entgegen.

Gewiß, – sie hatte am Vorabend der Hochzeit den beiden Erbsen gebracht, um ihnen Glück und Reichtum zu sichern, hatte dafür gesorgt, daß die junge Braut beim Aufbruch nach dem Standesamt nicht über die Schwelle stolperte; und als dann Loni die Handschuhe vergessen hatte und umgekehrt war, hatte sie erst sich noch einmal setzen müssen. Aber das eine hatte Frau Roller doch nicht erreichen können, daß beide am Hochzeitsmorgen aus einer Schüssel aßen, damit sich Loni mit dem ersten Löffel das Regiment sicherte; sie wußte auch nicht genau, ob wirklich die junge Frau am Abend in Halle ihres Rates gedacht und zuerst in das Bett gestiegen war. Und endlich, – wie konnte Loni bei abnehmendem Mond heiraten, und obendrein an einem Donnerstag, was immer Krach in der Ehe gab!

Kurz, Mutter Roller blickte mit gar trüben Augen in die junge Ehe.

Und nun zum Überfluß noch dieses entsetzliche Wetter bei der Heimkehr! In Strömen goß es, ein kalter Herbstwind peitschte die welken Blätter von den Bäumen.

Loni und Rolf hatten zu Abend gegessen und blickten wortlos in den Rauch ihrer Zigaretten.

Und unter der Ernüchterung, die an und für sich das Ende einer jeden eindrucksreichen Reise mit sich bringt, faßte Rolf plötzlich den Entschluß, Loni zu beichten. Ihm war so erbärmlich zumute, daß selbst eine Katastrophe ihm besser schien, als diese beständig nagende Qual.

Vor Loni lagen einige Hefte eines neuen Romans, die Mutter Roller ihr gebracht hatte, in denen sie aber nicht las.

Denn schwere Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wohl war ihr das werdende Kind jetzt nur allzu willkommen, um ihren Mann von ihr fernzuhalten: aber dennoch litt sie unbeschreiblich unter dieser Mutterhoffnung, haßte sie schon jetzt das junge Wesen, das in selbstsüchtigem Gedeihen ihre Linien verzerrte, ihre Frische zu vernichten drohte.

Sie hatte zu oft vor dem Spiegel gestanden, zu gut die ersten Spuren der Entstellung, der Blässe, der häßlichen Falten, der tiefen Schatten entdeckt, die ihr die Mutterschaft aufzwingen würde; und in düsterem Grau lagen die kommenden Monate vor ihr, – heute mehr als je, in dem ihr fremd gewordenen Heim, das ihr nach all dem Luxus der Reise unerträglich nüchtern erschien.

Im Geiste sah sie die Etappen ihrer Fahrt vor sich: überall, in Monte, Paris, Ostende, hatte sie dieselben blendenden Erscheinungen erblickt, sie bewundert, beneidet, gehaßt, – diese Königinnen der Liebe, nicht schöner als sie selbst, und doch so unendlich glücklicher. Frauen, deren Augen beständig in sorglosem Übermut lachten, denen das Gold zwischen den zierlichen Händen rollte und zerrann, denen das ganze Dasein ein ununterbrochenes Fest war; Frauen, deren Tagestoiletten in ihrer raffinierten Schlichtheit fabelhafte Summen verschlungen, auf deren tief entblößten Schultern abends unter den elektrischen Kronen der fürstliche Dank der Nabobs für eine selige Stunde prahlte, – Edelsteine, fieberglänzend, wie der flackernde Blick des liebedürstenden Weibes, Perlenketten, matt leuchtend, wie das dankbare Lächeln der Frau, die sich satt trinken durfte an heimlichem Glück . . .

Eine grimmige Erbitterung stieg in ihr auf, ein gieriger Schrei nach Genuß, solange sie noch jung war und das Leben sie grüßte, – hinaus aus ihrem enggebundenen Los, der trübseligen Ehe mit diesem Schwächling, den sie, die Augen fest geschlossen, in jeder Liebesstunde betrogen hatte, der nicht ahnte, welche lichten Träume in schweigender Nacht durch das Dunkel des Schlafzimmers zogen, – kecke Bilder von sieghafter Kraft, die dem Weibe das Herz zusammenschnürt und die Glieder bricht. Dieser Egoist, der im Taumel der Leidenschaft das erste Gesetz der Freude vergaß, daß Geben seliger ist denn Nehmen, daß wahres Liebesglück des Mannes nur das Echo des Schreies ist, mit dem das Weib ihm seine Minne lohnt!

Und das Heimweh ergriff sie, das schrecklichste Weh, das ein gestraucheltes, gerettetes Weib in Sehnsuchtsqualen erschauern läßt, – der glühende Drang nach Freiheit, nach der Sünde, der Gosse.

Sie sah sich wieder durch die nächtlichen Straßen schweifen, auf der Jagd nach dem Glück, sah die elektrischen Birnen im Séparé unter rotdiskreten Schirmchen, hörte in lichtumkränzten Sälen Männerlachen, Frauenkreischen, Pfropfenknallen, hörte die Geigen schluchzen . . . Quand l'amour meurt . . .

In diesen wenigen Minuten begrub sie den letzten Rest der Sympathie für Rolf, den sie in ihre Ehe hinübergerettet hatte.

»Loni«, hörte sie ihn scheu sagen.

Sie schüttelte widerwillig den Kopf. Sie wollte sich nicht aus ihren Phantasien herausreißen lassen, zurück in die melancholische, verhaßte Wirklichkeit.

Ihm schlug das Herz bis in den Hals hinauf.

Er sah, wie sie, in glückliche Träume verloren, ins Weite blickte, und jäh stieg der Gedanke in ihm auf, daß sie gerade heut, noch unter dem Zauber der Reise, ihm eher verzeihen würde. Mit verwegenem Mut, der im tiefsten Grunde doch nichts anderes als Feigheit war, verschmähte er es, sie langsam vorzubereiten, packte er den Stier bei den Hörnern, wünschte er in seltsamem Wechsel jetzt fast den Augenblick herbei, in dem sie losbrechen würde, wie das Kind nichts Schrecklicheres kennt, als das bange Warten auf die unausbleibliche Züchtigung.

»Loni,« sagte er mit hastigem Stammeln, »einen Augenblick mußt du mich anhören . . . Ich bin . . . Loni, ich bin in großer Not.« Ihm schien es, als habe er das gar nicht selbst gesagt, als krächze aus irgendeinem dunklen Winkel des Zimmers ein heiserer Rabe.

»Was willst du denn nur?« fragte sie ungeduldig, ohne auf ihn zu hören.

»Wir haben so gut wie gar nichts mehr, Loni«, antwortete er todesmutig, mit lauterer Stimme.

Sie wandte ein wenig den Kopf. »Herrgotlegt,« sagte sie nachlässig, »dann gehst du eben zur Bank.«

»Ich . . . ich habe da auch nur noch ein paar tausend Mark, Loni. Dann –«

»Dann?« fragte sie, aufmerksam geworden, mit schlechtverhehltem Zweifel.

»Dann ist's zu Ende«, flüsterte er, sich nun doch wie unter der Peitsche duckend.

Sie lachte hellauf. »Die ganzen hundertzwanzigtausend Mark?« fragte sie spöttisch. »Du guter Kerl, du hast wohl einen Anfall von Geiz?«

Aber jetzt sah sie sein blasses, verfallenes Gesicht, die großen, dunklen, von Sorge umschatteten Augen, seine zusammengesunkene Haltung. Und mit einem Schlage wußte sie, er hatte die Wahrheit gesagt.

Wohl hatte Rolf damit gerechnet, daß sie in ihrem ersten Zorne jedes Maß verlieren, ihm eine entsetzliche Szene bereiten würde. Aber auf das Bild, das sich ihm nun bot, war er doch nicht gefaßt gewesen. Einen Augenblick blickte sie ihn mit weißen Lippen schweigend an, mit einem Zug so grenzenloser Verachtung, daß ihm der Atem stockte. Dann aber schrie sie wie eine Rasende auf. Mit flammenden Augen stand sie vor ihm, überhäufte sie ihn mit Beschimpfungen, die wie Hagelschauer auf ihn niedersausten. Endlos, in überstürztem Schwall, wie eine Furie fiel sie über ihn her, schnitt sie ihm jedes Wort der Rechtfertigung ab. Kein Gedanke daran, kein Wort davon, daß sie selbst das Geld verschleudert, daß sie sein unbegrenztes Vertrauen mißbraucht, ihn arm gemacht hatte. In sinnloser Angst, als ob ihr morgen schon das trockene Brot fehlen würde, raufte sie sich ihr Haar, schrie sie ihm mit gellender Stimme ihren Ekel ins Gesicht, jammerte sie darüber, daß sie das alles nicht längst geahnt, nicht schon beizeiten für sich gesorgt, einen Notgroschen beiseitegebracht hatte. Ein Lump war er, ein elender Lügner, der sie zu dieser Heirat verführt, sie schwanger gemacht, nur um sie fest an sich zu fesseln, sich als ihr Zuhälter von ihr ernähren zu lassen. Alles war Schwindel und Betrug, nie hatte er hundertzwanzigtausend Mark gehabt! Zur Polizei wollte sie hin, sich von ihm scheiden lassen, ihn in das Zuchthaus bringen. Verzweifelt wälzte sie sich auf dem Teppich und rief nach Mandi, ihrem besten Freunde, dem Einzigen, der sie nie getäuscht, der sie wirklich liebhabe, der sie an diesem Gauner rächen werde. Dann wieder, als Mutter Roller, trotz ihrer Taubheit von dem Schreien und Klagen herbeigerufen, entsetzt in der Tür erschien, fuhr sie wie eine Megäre hoch, reckte sie die geballten Fäuste in so unbändiger Wut gegen Rolf, daß die alte Frau zu Tode erschrocken sich wieder flüchtete und draußen, in ihrer Küche, mit unsäglicher Genugtuung bei sich feststellte, daß die Zeichen nie trügen, daß alles so gekommen war, wie sie es vorausgesehn hatte.

Rolf saß am Tisch, die Hände vor das aschgraue Gesicht gepreßt, niedergeduckt unter der Schmach, die ihm sein Weib antat. Immer wieder hob er das Haupt, suchte er mit bebenden Lippen die Flut von Gemeinheit zu hemmen, die sich wie ein Kübel voll Unrat über ihn ergoß, wollte er bitten: »Sei gut, Loni, sei doch gut zu mir!« Vor ihren irren, haßdurchtränkten Augen, ihren zur Fratze verzerrten Zügen versagte ihm die Stimme.

Sie hatte schließlich erschöpft geschwiegen und saß jetzt verbittert und stumm, mit versteinertem Gesicht auf dem Diwan.

Unmerklich richtete er sich auf und spähte zu ihr hinüber.

Nichts war zu hören als das schwere Ticken der Standuhr, und ab und zu aus der Küche ein selbstbewußtes Klirren und Klappern des Geschirrs.

Unter der lastenden Stille wurde ihm wieder schwül. Und seine in hilfloser Verenheit umherwandernden Augen hefteten sich, wie an einen Rettungsanker, auf das aufgeschlagene, auf dem Tisch liegende Romanheft.

Vorsichtig zog er es zu sich heran.

Er las immer von neuem dieselbe Seite, ohne daß er den Inhalt erfaßte.

Und wieder regte sich nichts.

Endlich stand Loni laut gähnend auf, trat vor den Spiegel, strich sich ihr Haar zurecht und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Dann wählte sie umständlich aus der vor ihr stehenden Obstschale einen Pfirsich und begann ihn zu zerlegen.

Er wußte nicht klug aus ihr zu werden; er gab sich auch keine Mühe. Denn alles, was er soeben hatte durchleiden müssen, begann schon in ihm zurückzutreten vor dem einen befreienden Gefühl, endlich die Bergeslast von seinem Herzen abgewälzt zu sehn, die ihm die letzten Monate zur Hölle gemacht. Mochte jetzt kommen, was wollte, das Schwerste war überstanden!

Wieder beugte er sich über das Kolportageheft.

Und jetzt erfaßte er, was er las. Es handelte sich um einen Mann, der am Rande des Unterganges sich durch einen raffinierten Trick rettet, und die Schilderung war so ungemein spannend, daß Rolf allmählich sich ganz von ihr fesseln ließ.

Plötzlich flog ihm ein Pfirsichkern gegen die Stirn. Überrascht blickte er hoch.

Loni, die Arme aufgestützt, lächelte mit völlig entwölktem Gesicht ironisch auf ihn herab.

»Wieviel Kröten sind denn noch da?« fragte sie seelenruhig.

Er sah sie fassungslos an. Sie mußte ihre Frage wiederholen, ehe er sie begriff. Dann zuckte er verlegen die Achseln, aus Furcht, einen Mißgriff zu begehn, einen neuen Sturm heraufzubeschwören.

»Na, ungefähr?« forschte sie aufmunternd. »Auf fünfzig Pfennig kommt's ja nicht an.«

Er hatte sich fünftausend Mark nach Monte Carlo nachsenden lassen müssen, nachdem Loni den Rest des mitgenommenen Reisegeldes am Spieltisch gelassen. Es blieben ihm seiner Schätzung nach noch siebentausend Mark. Aber er wagte es nicht, die volle Wahrheit zu gestehn.

Automatisch, ohne sein Zutun, lösten sich die Worte von seinen Lippen; und wieder hörte er sich, als ob ein Fremder spräche, reden.

»Fünfundzwanzigtausend«, stieß er mit brüchiger Stimme hervor.

Sie hatte sein Stutzen bemerkt, aber sie deutete es falsch. »Wirklich nicht mehr?« fragte sie argwöhnisch.

»Nein«, versicherte er fest.

Nochmals fragte sie nach Art der Kinder:

»Dein Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort.«

Blitzschnell tauchte das Bild vor ihm auf, wie er dem Großvater sein Wort gegeben. Das eine gebrochen, das zweite gelogen . . .

Einen Augenblick grübelte sie wieder vor sich hin. Dann erhob sie sich, reckte die Arme hoch, so daß die weiten Ärmel der Matinee ihr bis zu den Achseln zurückfielen, gähnte laut und sagte gelassen:

»Und darum Räuber und Mörder!«

Sie kam zu ihm herum, schon mit den schwerfälligen Bewegungen der gesegneten Frau sich in den Hüften wiegend, und fuhr ihm mit beiden Händen durch das Haar.

»Ich war wohl höllisch deutlich, Kleiner, was?« fragte sie mit spöttischem Gesicht.

Es war lange her, daß sie ihn freiwillig berührt hatte, – so schrecklich lange her! Ihm stieg das Blut in die Schläfe. Er stammelte etwas Unverständliches, während er mit dankbar-flehenden Augen zu ihr hinaufsah.

Schweigend weidete sie sich an seiner Unterwürfigkeit, genoß sie den Triumph ihrer grenzenlosen Macht über ihn.

Und die Summe, die er ihr genannt, klang ihr im Ohr: Fünfundzwanzigtausend . . . Aber wenn sie noch vor wenigen Monaten atemlos, wie vor den Schätzen der Zauberhöhle Sesam, »Zehntausend?« als eine Märchensumme geraten hatte, so imponierten ihr heute diese Fünfundzwanzigtausend in keiner Weise mehr. Sie konnte sich ja leicht ausrechnen, was die sieben Monate seit dem März verschlungen hatten. Aber sie hatte so oft schon in ihrem Leben, bei manchem Abenteuer, das goldene Berge versprach und mit einem vernichtenden Fiasko schloß, Entsagung lernen müssen, daß sie auch jetzt, nach dem ersten Schreck, sich ohne weiteres mit den Tatsachen abfand.

Wenig war immer noch besser als gar nichts. Sie hatte zweifellos eine Dummheit begangen, Rolf so hundemäßig zu behandeln; solange sie das Kind erwartete, war sie ja völlig abhängig von ihm. Wenn er auch eben, wie immer, geduldig hatte auf sich herumtrampeln lassen, so konnte es doch einmal anders kommen. Also gab es nur eins für sie: Ihn regelrecht wieder einwickeln, daß er die häßliche Szene vergaß, und im übrigen einmal energisch an das Sparen zu denken, damit sie ohne Katastrophe über die schlimme Zeit hinwegkam.

Sie beugte sich zu ihm hinab. Und langsam, Wort für Wort ihm in die Adern gießend, sagte sie mit kindlicher Stimme, wie ein verzogenes Baby:

»Loni ist häßlich gewesen, Loni will immer artig sein. Und Loni hat ihr kleines Männi lieb.«

Er saß regungslos vor ihr, sekundenlang. Und dann warf er sich ihr zu Füßen, küßte er inbrünstig, wie ein Leibeigener, den Saum ihres Kleides.

*


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