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Als Ingeborg in den Flur hinunterkam, sah sie, daß die Tür zum Boudoir halb offen stand, und durch den Spalt erblickte sie ihren Mann, eine Zeitung vor sich, lang ausgestreckt auf einem niedrigen Liegestuhl.
Sie blieb einen Augenblick stehen; ihr Herz begann heftig zu klopfen, und Jonna wurde ihr plötzlich so schwer, daß sie sie nicht länger auf dem Arm behalten konnte.
Sie ließ das Kind auf den Boden hinabgleiten und versuchte so zu lächeln, wie es ihre Absicht gewesen war, wenn sie nun einträte; aber das Lächeln tat ihr weh; nein, sie konnte es nicht.
»Tomm!« rief Jonna, ungeduldig an ihrer Hand zerrend. »Tomm!«
Da ging sie mit dem Kinde durch die Tür und weiter hinein. Mit einem sonderbaren Gefühl von Schwäche in den Knieen schritt sie vorwärts, aber jetzt lächelte sie wirklich und sah ihren Mann gerade an.
Er hatte ihr Kommen gehört und die Zeitung sinken lassen.
»Na!« sagte er vergnügt. »Seid ihr endlich da?«
Ingeborg lächelte stärker und bewegte die Lippen. »Hast du uns vermißt?« fragte sie, aber die Worte waren nicht vernehmlich.
Sie räusperte sich. »Hast du uns vermißt?« fragte sie wieder, und diesmal unnatürlich laut.
»Ja natürlich,« sagte er mit einem verwunderten Blick auf seine Frau. »Nein, wie fein du dich heute gemacht hast! Wohl zur Feier des Wetters!«
Mit einem Ausdruck, als ob sie das Kleid gar nicht kennte, sah Ingeborg an sich hinunter; aber jetzt streckte Hartwig die Hand nach der Photographie in Jonnas Hand aus.
»Was hat denn Jonna da?« fragte er.
Doch rasch beugte sich Ingeborg über das Kind, nahm ihm die Photographie aus der Hand und drückte sie an ihre Brust.
»Nichts! Nichts!« erklang es in ihrem Herzen, leuchtete es aus ihren angsterfüllten Augen.
Aber Jonna streckte den Arm nach dem Bilde aus und rief: »Papa! Papa!«
Hartwig stand auf, das Ungewöhnliche des Auftritts beunruhigte ihn unwillkürlich.
»Was soll das heißen? Was hast du denn da?« fragte er nervös.
»Nichts!« rief Ingeborg; aber in demselben Augenblick verließ sie die Fassung, und ihre Arme um seinen Hals schlingend sagte sie mit bebenden Lippen:
»Es ist nur ein Bild von dir.«
»Von mir?« rief er.
»Ja, und denke nur,« fuhr sie stammelnd und sich fest an ihn anschmiegend fort, »sie meint, es sei ihr Vater ... Sie hat wohl ein Bild von ihm daheim bei ihrer Mutter gesehen ... und meint nun, dies hier sei dasselbe ... Ist es nicht komisch?« schloß sie mit einem lauten Auflachen.
Er nahm das Bild, warf einen Blick darauf – und in demselben Augenblick tauchte ein Aufbau von Kristallsachen – einige Aschbecher – und inmitten dieses Aufbaus diese nämliche Photographie in einem gemalten Glasrahmen vor ihm auf.
»Ja natürlich,« sagte er dann ganz leise.
»Nicht wahr? Nicht wahr?« rief Ingeborg flehend mit starr auf ihn gerichteten Augen. »Jonna hat sich getäuscht, nicht wahr?«
»Jawohl,« erwiderte Hartwig kurz. Er hielt ihren Blick aus, aber eine dunkle Röte ergoß sich über sein Gesicht bis über die Stirne hinauf. Da warf er das Bild auf den Tisch und sah sie mit unruhigen Augen an.
»Warum bist du ... so?« fragte er leise; und als jetzt ihre Arme von seinem Hals herabsanken, griff er wieder nach dem Bilde und betrachtete es.
»Wo hast du es her?« fragte er mit einem nichtssagenden Lächeln und warf es wieder weg.
Sie standen einander gegenüber: sie mit zuckenden Lippen und weit aufgerissenen Augen – entsetzt über die unbegreifliche Gewißheit, die bei dem, was sie sah, auf ihre Seele einstürmte. Denn er stand ja da, stumm, mit einem Zug um den Mund, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.
Da wendete sie sich ab und verließ ihn.
Hinter sich hörte sie wie aus weiter Ferne Jonnas Stimme: »Auf!« erklang sie. »Auf!«
Sie erreichte den Flur und starrte einen Augenblick mit einem leeren Blick gerade aus. Ein heftiger Schauder durchrieselte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Ihr war, als höre sie in weiter Ferne ein Kind weinen ...
Von dem Kleiderriegel im Flur nahm sie ein Tuch und band es sich um den Kopf, was sie fast immer tat, wenn sie ins Freie ging. Sie zog auch ihre rote Jacke mit den großen japanischen Porzellanknöpfen an.
Dann öffnete sie die Haustür – ging durch das Vorgärtchen und schlug unwillkürlich den landeinwärts führenden Weg ein.
Es goß noch immer.
Heftige Windstöße aus Südwesten jagten einen Regenschauer um den andern daher; dazwischen ließ der Wind etwas nach, um gleich darauf mit neuer Gewalt wieder einzusetzen.
Ingeborg ging dem Regen entgegen. Im Anfang beugte sie unwillkürlich den Kopf; aber als sie merkte, daß sie das nicht viel schützte, ließ sie sich den Regen ruhig ins Gesicht strömen.
Sie fühlte, wie es kühlte.
Lange ging sie so, mit erhobenem Gesicht und halbgeschlossenen Augen; diese Art Liebkosung des rauhen Wetters tat ihr ordentlich wohl.
Sie dachte nichts; ihr Bewußtsein war wie gelähmt und tat sich nur als eine schwache Ahnung von etwas Entsetzlichem kund, von etwas weit Entferntem, das sie einst getroffen hatte, oder vielleicht einmal treffen würde.
Und der Regen stürzte auf sie herab und drang durch ihre Kleider, und bald war sie vollständig durchnäßt. Mit einem leisen, wohligen Schauder empfand ihre Haut beim Weiterschreiten die feuchtkalte Berührung ihrer Kleidung.
Aber allmählich ließ der Regen nach, und schließlich hörte er ganz auf, während der Wind noch immer zunahm; und die Kälte, die dieser mit sich führte, drang nun in Ingeborgs nasse Kleider ein, daß sie ganz steif und starr wurden. Mit der Kälte und dem Unbehagen, die dadurch in Ingeborgs Körper erweckt wurden, kam sie allmählich wieder zu sich; sie hielt an und schaute sich plötzlich mit forschendem Blick um.
Ohne es zu wissen, war sie wieder zwischen die Dünen hineingeraten, um sich her sah sie hohes Riedgras, und dort unten hinter den nächsten Hügeln hörte sie das Meer rauschen mit dumpfem, hohlem Grollen.
Sie mußte also schon sehr lange gegangen sein – sehr lange. Dort links sah sie etwas, das ihr bekannt war, eine Art enge, niedrige, halb unter der Erde befindliche Laubhütte aus Dornen und Eichengestrüpp, die hier auf der einsamen Düne angepflanzt worden war, unbekannt von wem oder wozu.
»Das ist recht,« dachte Ingeborg. Sie hatte auf ihren langen Streifzügen der Küste entlang schon oft hier Schutz vor der Sonne gesucht; heute sollte die Hütte sie gegen Regen und Wind beschützen. Ja, sie wollte hineingehen, sich in dem Laub begraben, um nie wieder heimzukehren. Sie ging rascher und stand bald am Eingang der Hütte, deren niedrige, dunkelgrüne Kuppel über dem Riedgras aufragte. Der Eingang bestand nur aus einer schmalen Öffnung in dem Dornengebüsch und den Brombeerranken, die die Wände der Hütte bildeten – und hier hinein bahnte sich Ingeborg nun einen Weg ins Innere, wie früher schon so oft; nur tat sie es heute mit heftigen Bewegungen und der Risse und Schrammen, die sie sich dabei zuzog, durchaus nicht achtend.
Und drinnen in der Dunkelheit warf sie sich auf einen Haufen weiches, dürres Laub, dem ein feuchter, moderiger Duft entströmte.
Eine Weile lag sie unbeweglich, von Kälte und Verlassenheit ganz überwältigt und zu kraftlos, auch nur ein Glied zu rühren. Aber allmählich sank sie tiefer in das Laub hinein, das unter der obersten Schichte warm und trocken war. Sie wurde allmählich warm, eine Art Badestubenwärme drang aus ihren nassen Kleidern auf sie ein und tat ihrem Körper wohl.
Ihren großen Aufsteckkamm hatte sie verloren, und das Tuch war ihr vom Kopf auf den Hals heruntergeglitten; als sie einmal den Kopf schüttelte, um sich von ein paar Blättern Laub zu befreien, löste sich ihr Haar und floß zu beiden Seiten auf die dunkelbraunen Blätter herab.
So lag sie im Laub halb begraben mit dem Gesicht auf den gefalteten Händen. Sie hörte nichts als den Wind, der durch das dichte Blätterdach über ihr rauschte und daran zerrte und ab und zu einen Tropfenschauer auf den Blätterhaufen herabschüttelte.
In dieser Ruhe, in dieser Einsamkeit wich allmählich der lähmende, betäubende Schmerz, der sie betroffen hatte, von ihrer Seele.
Der Gedanke, der ihr Bewußtsein bis hieher im Bann gehalten und es mit unbestimmten, unerklärlichen Ahnungen von etwas Entsetzlichem erfüllt hatte, machte sich allmählich los, und schließlich stand er klar und wie mit Flammenschrift geschrieben vor ihrer Seele:
» Ich liebe ihn, und er betrügt mich!«
Lange beherrschte sie eine gewisse Verwunderung darüber, daß plötzlich eine solche Klarheit in ihre Seele gekommen war, und auch darüber, daß diese Klarheit ihr eigentlich keine Schmerzen verursachte – aber dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie jetzt hier allein in der Hütte liege – und da verzogen sich ihre Lippen wie die eines Kindes, das gleich zu weinen anfangen wird.
»Ach, wie kann er so schlecht gegen mich sein!«
Sie weinte nicht, aber aus ihrem Innern rang sich wiederholt ein tiefes Schluchzen, und sie bewegte nervös den Kopf.
»Was habe ich ihm getan, was habe ich ihm getan?« erklang es in ihrem Herzen.
Langsam und mühselig ging sie ihr Leben durch, um irgend etwas zu finden, wofür er sie so strafen, oder sich auf eine so unbarmherzige Weise an ihr rächen dürfe.
Aber sie fand nichts: immer hatte sie ihn geliebt, mehr als irgend einen andern Menschen.
Da fühlte sie sich gestärkt; sie hob den Kopf aus ihren Händen und starrte in die wirre Laubmasse vor ihr hinein. Nein, sie hatte nichts verbrochen, ihm gegenüber war sie im vollen Recht; er hatte sie ohne Grund gekränkt.
Wieder senkte sie den Kopf und ließ das Gesicht auf den Händen ruhen. Sie empfand den Trost, der in diesem Gedanken lag, so bitter und demütigend er auch war.
Aber plötzlich zuckte sie zusammen, und ein heftiges Zittern lief durch ihre Glieder. Blendend klar tauchte ein Bild vor ihr auf, dicht vor ihren zugepreßten Augen: eine große, hellgekleidete Frauengestalt, mit einem brünetten Gesicht und weißen Zähnen – die andere!
Ach, was half es, was half es, ob sie auch noch so recht hatte, wenn sie in ihrer Liebe selbst so tödlich verletzt wurde!
Ja, das war das Entsetzliche, das geschehen war ... das war das einzige Entsetzliche ... die andere – die da vor ihr stand, ganz nahe und ganz lebendig, und das Ihre verlangte und bekam, was sie wollte!
Ach, es war entsetzlich – entsetzlich!
Ingeborg bohrte die Arme in das Laub, bis sie den Erdboden erreichten, und dann preßte sie ihr Gesicht in die Blätter hinein, um das Bild der anderen nicht mehr sehen zu müssen. Aber es nützte nichts, es blieb da. Es konnte zersplittern und einige Sekunden lang in dem roten Gewimmel unter ihren Lidern verschwinden, aber dann tauchte es aufs neue auf, tiefer drinnen, da, da, wo die eigentliche Sehkraft des Gehirns war!
Entsetzlich war es ... entsetzlich waren die Bilder, die auf dem Grunde ihrer Seele von ihm und ihr auftauchten!
Jetzt weinte die arme Frau, wie sie noch nie geweint hatte – sie schluchzte ihre überströmenden, verzweifelten Tränen in das dunkle Laub hinein und jammerte laut über ihre Schande und ihr Unglück.
Hier, ja hier war ihr Platz – weggeworfen wie ein unfruchtbares, verwelktes Reis, zwischen dem modernden Abfall der Bäume und der Erde, in Dunkelheit und Einsamkeit, in Kälte und Wind – verloren, verloren!
Aber jedes Weinen nimmt ein Ende, und Ingeborgs furchtbares Schluchzen ließ allmählich nach; es verklang in langen stöhnenden Seufzern, die endlich – endlich aufhören.
Jetzt dachte sie nur noch an eines: ob sie nicht hier bleiben könnte, bis sie tot wäre?
Ach wie müde war sie – so müde – so müde ...
Und obgleich sie sich jetzt so tief in den Blätterhaufen hineingewühlt hatte, daß sie, das Laub über sich, auf dem bloßen Erdboden ruhte, fühlte sie gar nicht, wie hart sie lag, sondern versank allmählich in Schlummer.
Und zuletzt schlief sie wirklich ein.
Sie erwachte daran, daß ein ganzer Chor zorniger, jammernder menschlicher Stimmen auf sie eindrang. Entsetzt stemmte sie beide Hände auf den Boden und richtete sich auf.
Nein, jetzt hörte sie nur noch das schwache Rauschen der Blätter über ihrem Kopfe – das andere mußte sie also geträumt haben.
Sie sah sich um ... so, hier war sie also noch? Jetzt war es beinahe dunkel in der Hütte; Ingeborg fror, und alle Glieder taten ihr weh von dem harten Lager.
Nein, hier wollte sie nicht bleiben.
Mühsam stand sie auf; es tat sehr weh, und alle Glieder waren ihr steif geworden; aber sie gelangte doch hinaus.
Hier war es heller, aber es mußte doch gegen Abend sein; der Himmel war ruhig und grau, der Wind hatte sich gelegt, und es regnete nicht mehr.
Ingeborg sah an sich hinunter – sie war ganz bedeckt mit den braunen feuchten Blättern, die sich in einer dichten Schicht an ihre Jacke und ihr Kleid angeklebt und in ihrem wirren Haar festgesetzt hatten.
Sie seufzte und sah verzweifelt vor sich hin.
Was sollte sie tun? Wo sollte sie hingehen?
Sie nahm ihr Haar auf und begann die dürren Blätter herauszulesen – eins ums andere löste sie ab, dann auch das Laub von ihrem Kleide, das wie ein zerknüllter feuchter Lumpen an ihr herunterhing.
Und während sie ihr Haar unter das Tuch stopfte, das sie wieder um den Kopf gebunden hatte, machte sie sich langsam auf den Heimweg.
»Ich muß ja wohl heim,« dachte sie müde und gleichgültig, aber mit vollkommen klaren Gedanken.
Wenn sie nun an der Villa anlangte, würde es wohl schon so dunkel sein, daß sie, ohne von jemand gesehen zu werden, in ihr Zimmer hinaufgelangen könnte.
Dort angekommen wollte sie ihre Tür verriegeln und in der Nacht etwas in einen Koffer packen.
Und morgen früh zu ihrer Schwester reisen – die war schon von ihrem Sommeraufenthalt in die Stadt zurückgekehrt.
Sie brauchte ja keine Erklärung zu geben und sich von niemand zu verabschieden. Alles dies ordnete sich von selbst in ihrem Kopfe, während sie langsam dahinschritt. Sie brauchte gar nicht mehr zu denken, alles kam wie von selbst, aber das Ganze war ja auch so unendlich gleichgültig.
Nachdem sie eine Weile gegangen war, begegnete ihr der alte Postbote, der ihr wie gewöhnlich zunickte, sie begrüßte und ihr mit seinen freundlichen Augen zulächelte.
»Ei, ei, wie naß Sie geworden sind, Frau Hartwig!« rief er, als er an ihr vorüberging.
»Jawohl,« sagte Ingeborg, und sie bemerkte gar nicht, daß der Mann stehen blieb und ihr, den Hut in der Hand, mit offenem Munde nachstarrte.
Nach einer Weile begegnete ihr ein anderer Mann, den sie grüßte, ohne aufzusehen.
»Das ist der Briefträger,« dachte sie, »dann wird es wohl halb acht vorüber sein.«
»Gott mag wissen, ob Jonna zu Bett ist!« dachte sie weiter, und bei diesem Gedanken hielt sie jäh an.
Es war ihr eingefallen, daß sie kein einziges Mal an das Kind gedacht hatte, seit sie von Hause fortgegangen war.
O nein, warum sollte sie auch an Jonna denken. Das war ja nun alles vorbei.
Und ganz mechanisch, mit langsamen ruhigen Schritten ging sie weiter; die Glieder taten ihr jetzt nicht mehr weh, nur ein leichtes Unbehagen fühlte sie da und dort in den erstarrten Gewändern.
Plötzlich tauchte in kurzer Entfernung das blaue Schieferdach der Villa zwischen den Dünen vor ihr auf – und jetzt kam das Haus ganz zum Vorschein. Es sah genau so aus wie vorher ...
Von Dämmerung umflossen lag es da, hoch und einsam, mit den Fenstern, die blinden Augen glichen.
Als Ingeborg näher kam, sah sie, daß eines der Fenster im Erdgeschoß erhellt war; dort war wohl Ernst.
»Das tut nichts,« dachte sie. »Ich werde schon in mein eigenes Zimmer hinaufkommen, ohne daß er es merkt.«
Als sie in den dunkeln Flur gelangte, sah sie, daß die Tür des Boudoirs offen stand. Sie wollte hingehen und sie schließen – aber in demselben Augenblick erklangen drinnen rasche Schritte, und die breite, hohe Gestalt ihres Mannes zeigte sich unter der Tür.
»Bist dus, Ingeborg?«
Seine Stimme zitterte, klang aber ganz hart, und es war, als bebe sie vor Zorn.
»Wo bist du gewesen?« fragte er nähertretend.
Mit gesenktem Kopf und sich mit der Hand an die Wand stützend, stand sie vor ihm.
»Ich habe den Mädchen gesagt, du habest einen Besuch gemacht,« fuhr er in leisem Ton, aber mit demselben harten Klang darin, fort. »Wo bist du gewesen?«
»Ich weiß es nicht,« erwiderte sie leise und ruhig.
»Natürlich! Du bist wie alle die andern, wenn ihnen irgend etwas passiert!« brach er erregt los und fuchtelte mit dem Arm in der Luft. »Dann hinaus in die einsame Natur, nicht wahr, am liebsten, wenn es in Strömen regnet, – das habe ich früher schon gelesen: es ist ganz nach Vorschrift! Und morgen wirst du dich ja wohl zu deiner Schwester begeben?«
»Ja,« sagte Ingeborg.
»Dachte ich mirs doch!« rief er. »Komm, komm!« Damit ergriff er ihren Arm, und ohne daß sie sich eigentlich gesträubt hätte, führte er sie durch das Kabinett nach rechts in sein eigenes Zimmer hinein, wo eine hohe Lampe auf dem Schreibtisch brannte.
Hier ließ er sie los, und sie schaute sich in dem Raume um, als hätte sie ihn noch nie gesehen.
Er hatte die Tür hinter sich zugemacht und sah sie nun einen Augenblick forschend an. Dann veränderte sich plötzlich sein Ausdruck.
»Wo bist du nur gewesen, Menschenkind?« rief er etwas leiser und in einem anderen Tone als vorher. »Wie siehst du aus?«
Er trat zu ihr und nahm ihre beiden Hände in die seinen. »Du bist ja eiskalt! Frierst du? Und dein Kleid? – wie wenn es steif gefroren wäre,« fuhr er fort, während er an ihr herumfühlte. »Großer Gott! Und das Haar!« Er nahm ihr das Kopftuch ab, so daß ihr das Haar übers Gesicht hereinfiel.
»Aber was ist doch das?« rief er wieder. »Blätter – das ganze Haar voller dürrer Blätter! Aber Ingeborg!«
Sie ließ alles geschehen und schaute nur mit einem abwesenden Blick im Zimmer umher.
Wieder sah er sie forschend an, Plötzlich aber überkam ihn heiße Angst. Da erfaßte er sie mit beiden Händen und drückte sie innig an sich.
»Ingeborg!« rief er. »Sprich mit mir, hörst du! Du darfst nicht so stumm dastehen. Du mußt etwas zu mir sagen, hörst du!«
Sie sah ihn flüchtig an und senkte dann den Kopf. »Ich möchte am liebsten hinauf in mein eigenes Zimmer,« murmelte sie.
»Nein, das sollst du nicht!« widersprach er. »Du sollst hier bei mir bleiben, Inga! Immer! Du sollst es gut haben. Komm, ich werde es dir gleich zeigen!«
Damit umschlang er sie, hob sie zärtlich auf und trug sie nach dem großen mit braunem Leder überzogenen Lehnstuhl, der neben dem Schreibtisch stand.
Da saß sie nun mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen.
»Bist du nicht hungrig?« fragte er eifrig.
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder durstig?«
Dieselbe Bewegung.
»Aber etwas Warmes mußt du zu dir nehmen, ob du willst oder nicht!« eiferte er, lief rasch nach der Tür, öffnete sie und rief hinaus: »Laura!«
»Ja!« ertönte es aus dem Eßzimmer.
»Laura, sagen Sie, man solle drunten in der Küche sofort eine Tasse recht heißen Tee für meine Frau machen! Sie ist von ihrem Gang ganz durchnäßt zurückgekehrt und braucht etwas zur Stärkung. Und bringen Sie auch gleich die Kognakflasche mit!«
Er schloß die Tür wieder und kehrte zu Ingeborg zurück, die aufrecht in dem Lehnstuhl saß und am ganzen Körper zitterte.
»Aber willst du denn nicht diese abscheulichen Kleider ablegen?« fragte er eindringlich.
»Doch,« sagte sie.
»Soll ich dir helfen?«
»Nun sollst du sehen,« sagte er vergnügt, »jetzt stecke ich dich in meinen herrlich warmen Schlafrock, und dann wird schon alles wieder gut werden.«
Rasch und behende half er ihr aus der steifen Jacke heraus, aus dem nassen Lappen, in den sich ihr Kleid verwandelt hatte – aus ihrem Unterzeug, das noch nässer war – aus Schuhen und Strümpfen.
Und währenddem schwatzte er in einem fort; er erzählte ihr von seiner Bestürzung, als er zur Frühstückszeit entdeckt hatte, daß sie nicht in ihrem Schlafzimmer war, von seinen Nachforschungen in der Umgebung der Villa und der Küste entlang, von seiner zunehmenden Erregung, die sich schließlich in Zorn gegen sie verwandelt hatte.
»Gottlob, daß ich dich wieder habe!« sagte er, als er sie jetzt in seinen weichen, daunengefütterten Schlafrock hüllte, den sie mit einem heftigen Schauder um sich zusammenzog.
»Nun wechseln wir!« rief er, sie in die Arme nehmend. Dabei entblößte sich ihre eine Schulter, und er beugte sich vor, um sie zu küssen; aber wie durch eine Reflexbewegung machte sie sich steif und wendete sich in seinen Armen ab.
Er sagte nichts, sondern legte sie vorsichtig auf das Sofa, das an der Längswand des Zimmers stand. Die beiden großen Kissen, die darauf lagen, stopfte er ihr fürsorglich hinter Kopf und Rücken.
»Liegst du jetzt gut?« fragte er ernst.
Da klopfte es an die Tür; er ging hin, nahm dem Mädchen den Tee ab und schloß die Tür sogleich wieder; er wollte niemand hier innen haben.
Rasch schenkte er den Tee ein, goß ein Glas Kognak zu und stellte dann die ganze Aufwartung auf den stummen Diener neben dem Sofa.
Ingeborg trank den Tee und legte sich mit einem leichten Seufzer wieder zurück.
»Ist es nicht doch recht gut, wenn man einen Mann hat,« sagte Hartwig lächelnd, »der, wenn auch nichts anderes, so doch euer Diener sein, euch aufwarten, es euch behaglich machen und euch wieder ins rechte Fahrwasser bringen kann, wenn euch einmal das Steuer entglitten ist ... nicht wahr, Inga? Bist du jetzt wohl noch ebenso böse auf mich wie vorher?« fuhr er, sich zu ihr hinneigend, fort.
Sie schüttelte den Kopf, öffnete aber ihre Augen nicht.
»So ists recht; dann können wir wohl etwas näher auf die Sache eingehen.«
Er zog den großen Lehnstuhl herbei. »Darf ich mir eine Zigarre anstecken?« fragte er.
»Ja, bitte!« murmelte sie.
Er zündete die Zigarre an und machte es sich dann in dem Lehnstuhl bequem.
»Siehst du, Ingeborg,« begann er dann, »dies hier mußte ja auf irgend eine Weise einmal ans Licht kommen, darauf war ich einigermaßen vorbereitet. Es kam nur plötzlicher als ich erwartet hatte, und deshalb habe ich dich heute morgen nicht sogleich in die Sache eingeweiht. Ich war etwas überrascht und verwirrt, aber jetzt sollst du hören, was ich zu meiner Verteidigung zu sagen habe – ich kann es auswendig, du,« schob er lächelnd ein – »denn ich habe in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht, mich also vorbereitet, und heute natürlich noch in ganz besonderem Maße.«
Ingeborg öffnete die Augen und sah ihren Mann an – er betrachtete nachdenklich die Spitze seiner Zigarre.
Jetzt neigte er sich etwas gegen seine Frau vor und fuhr fort: »Laß mich dir nun zuerst eines sagen, was die Situation sofort klären wird. Ich stehe in keinerlei Verbindung mehr mit Frau Steen; vor ungefähr zwei Jahren habe ich durchaus mit ihr gebrochen, und das ganze hat überhaupt höchstens drei Monate gedauert.«
Ingeborg lag unbeweglich, ihre Augen waren fest auf ihren Mann gerichtet, und er sah, daß sich jetzt eine schwache Röte über ihr Gesicht ergoß.
»Ja,« fuhr er rasch fort, »das sind drei Monate zuviel, willst du sagen, und da hast du ja auch ganz recht. Aber,« fuhr er fort, wobei er aufstand und im Zimmer umherging, »ich bin ja auch nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, Ingeborg – und für etwas anderes habe ich mich niemals ausgegeben; ich bin gerade so, wie die meisten Männer sind. Und als dann dieser Scheel, weißt du, mich eines Abends bei einem Gelage seiner Freundin vorstellte – er mußte selbst fortreisen, um voraussichtlich nicht wiederzukehren – ließ ich mich in das Abenteuer ein. Aber die Dame gefiel mir nicht besser als manche andere, und nach kurzer Zeit ging das kleine Abenteuer ganz von selbst zu Ende.«
Er hielt inne und sah seine Frau fragend an.
Ingeborg hatte zugehört; aber was er sagte, machte nur einen schwachen, flüchtigen Eindruck auf sie. Dieser große, behäbige Mann, der da eine Zigarre rauchend umherging und so ruhig und vernünftig mit ihr sprach, war ja wohl Ernst Hartwig, ihr Mann, das wußte sie, aber dieser Mann war ihr trotzdem fremd, er und seine Stimme, und was er sagte, klang, als gehe es sie eigentlich gar nichts an. Außerdem durchströmte sie jetzt eine merkwürdige Wärme; sie fühlte allmählich ihren eigenen Körper wieder ... das war keine gewöhnliche Wärme ... wie kleine, stoßweise Wellen wogte ihr das Blut durch die Adern ... da und dort prickelte ihr die Haut ... und ihre Lider waren brennend heiß, wenn sie sie schloß.
Jetzt trat Hartwig zu ihr.
»Hast du wohl von dem, was ich gesagt habe, etwas verstanden?« fragte er leise.
Zuerst rührte sich Ingeborg nicht, dann aber sah sie ihren Mann an, und das einzige, was sie jetzt ihm gegenüber fühlte – das einzige, was sie ihm gegenüber gefühlt hatte, seit sie da draußen in der Laubhütte erwacht war, machte sich jetzt in den Worten Luft:
»Ich bin nicht genug.«
Aber was sie sagte, war nur ein schwaches fast unhörbares Flüstern.
»Was sagst du, Ingeborg?« fragte er und beugte sich rasch zu ihr nieder.
»Ich bin nicht genug,« wiederholte sie fast ebenso leise.
Er richtete sich auf. »Du willst wohl sagen, du genügest mir nicht,« sagte er mit etwas gerührter Stimme. »Aber das tust du. In meiner Ehe verlange ich nicht mehr – ich bin ganz zufrieden – sozusagen, ganz glücklich.«
Er rauchte ein paar starke Züge und fuhr fort:
»Das einzige, was ich vielleicht zuweilen bei dir vermißt habe, – eine gewisse – was soll ich sagen – eine gewisse Sinnesfreudigkeit und die entsprechende Eigenschaft deines Körpers – aber dieses Vermissen habe ich also auf die einfachste und unschädlichste Weise außerhalb unserer Ehe regulieren können – das ist etwas, was meine Gefühle für dich nicht im geringsten berührt. So etwas können wir Männer tun, oder wir können es lassen, das spielt keine Rolle,« erklärte er, während er wieder einige Schritte machte; und dann schloß er mit großem Nachdruck: »Ich habe mein erotisches Leben so eingerichtet, wie es für meine Natur paßte, ich habe es auf einer breiten Basis geordnet.«
Er schielte zu Ingeborg hinüber, die ihren Mann mit unruhigen Augen betrachtete.
»Ja, ich spreche wie ein Egoist,« sagte er, »aber ich spreche ohne Heuchelei. Es handelt sich doch darum, die Sache für uns beide ins Reine zu bringen. Und du wirst dir wohl denken können, daß ich sie auch von deinem Standpunkt aus betrachtet habe.«
Er ließ sich wieder in dem Lehnstuhl neben ihr nieder und ergriff ihre Hand, die zurückzuziehen sie sich zu schlaff fühlte.
»Ich begreife wohl, daß du nicht mit mir zufrieden bist, liebe Inga,« sagte er. »Du bist ja feinfühliger, empfänglicher für alle Eindrücke, empfänglicher sogar als die meisten andern – doch weiß ich nicht, ob dadurch ausgewogen wird, daß du auch weniger erotisch angelegt bist als die meisten andern. Denn sonst ist nichts Besonderes an dir,« scherzte er. »Du bist recht und schlecht eine normale Frau ... wie ich ein normaler Mann bin. Und das, was wir beide zustande gebracht haben, ist eine ganz reguläre Normalehe!« bekräftigte er lachend, weil ihre Augen allmählich so sonderbar groß und rund zu werden schienen. »Ja, jetzt verstehst du das noch nicht so recht, aber im Lauf der Jahre wirst du es schon einsehen lernen.
Laß uns aber jedenfalls unser Verhältnis als das Musterbeispiel einer Ehe ansehen,« fuhr er fort, »dann kann man sie von einem so herrlich großen, breiten und allgemeinen Standpunkt aus betrachten.«
Er stand wieder auf und ging mit gerunzelter Stirne und kräftig rauchend im Zimmer umher. Dann räusperte er sich, sah mit blinzelnden Augen vor sich hin und sagte rasch:
»Gott mag wissen, ob du je darüber nachgedacht hast, wie verhängnisvoll verschieden Mann und Frau in erotischer Beziehung fühlen. Ich meine, rein körperlich durch die erotischen Funktionen. Denn da wird ja der Mann rasch befriedigt, die Frau aber nur sehr langsam und deshalb überhaupt nur selten. – Doch darauf brauchen wir ja nicht näher einzugehen,« unterbrach er sich und nahm seine vorige Wanderung wieder auf. Und dann wurde er plötzlich sehr eifrig, fuchtelte mit der Hand in der Luft und fuhr erklärend fort:
»Aber in diesem Verhältnis liegt die Erklärung zu neun Zehntel aller der Plagen und Kümmernisse der Menschheit, ja aller Disharmonie, die allmählich in den erotischen Verhältnissen entstehen – zu all dem Mißvergnügen – und der Eifersucht, der Selbstzufriedenheit – der Verachtung – und dem Haß – und der Rachsucht, all dem Unsinn mit Mätressen und Scheidungen – zu aller Qual und allem Unglück und allen den unsäglich vielen dummen Geschichten, die der Ehestand von Anfang an im Gefolge gehabt hat – ja das alles hat seinen Grund in dem kleinen Streich, den die Natur uns da gespielt hat.«
Er schwieg und lächelte vergnügt über seine eigene Weisheit. Dann trat er zu Ingeborg mit einer Miene, als habe er ihr etwas besonders Erfreuliches mitzuteilen.
»Ja, so ist es,« begann er wieder, »aber ich gebe zu, daß der Mann am besten dabei weggekommen ist. Er hat es leicht, denn er wird rasch und leicht befriedigt – und dies ist der eigentliche Grund, daß er sich rasch und leicht in den erotischen Verhältnissen des Lebens zurechtfindet. Die Frau dagegen,« fuhr er mit etwas verschleierter, leiserer Stimme fort, während er sich wieder zu ihr setzte, »hat jene ungestillte Sehnsucht, von der die Dichter singen. Für sie bleibt die Liebe noch lange etwas Neues, Wunderbares, Verlangendes – etwas Seelisches, wenn du so willst ...«
Er lehnte sich im Stuhl zurück, zog eine Zündholzschachtel heraus und rasselte ein wenig damit.
Dann rieb er ein Streichholz an, und während er an seiner Zigarre paffte, fuhr er fort:
»Und ihr wird es oft sehr schwer, zu verstehen ... es wird ihr oft ... über die Maßen schwer, zu begreifen ... daß der Mann nicht auf dieselbe Weise fühlt wie sie.«
Er stand wieder auf und warf das Zündholz weg.
»Aber was sollen wir tun, wir armen Männer?« rief er mit einer komisch kläglichen Gebärde. »Die Natur hat nun einmal diese kleine Bosheit ausgeklügelt. Sie wird ja wohl ihre Absicht dabei gehabt haben, wie bei allem andern auch – aber ich gebe zu, daß es mir ziemlich unfaßlich ist, worin diese Absicht eigentlich besteht.«
Er blieb gedankenverloren stehen und starrte geradeaus.
»Sie müßte denn,« rief er plötzlich mit einem lächelnden Blick auf seine Frau, »die unmoralische Absicht dabei gehabt haben, die Ehe vollkommen unmöglich zu machen.
Und wenn dies der Fall wäre, erschiene es wirklich rührend, daß die Menschen doch noch so sehr daran hängen.«
Vor sich hinlächelnd, machte er wieder einige Schritte. Dann fuhr er sich übers Gesicht.
»Na,« sagte er, wieder ernst werdend, »jedenfalls ist der Sinn dabei doch, daß man sich schließlich doch liebgewinnen kann, und dann kann man einander auch über vieles hinüberhelfen.«
Er schwieg einen Augenblick, legte die Zigarre auf den Schreibtisch, neben dem er gerade stand, trat zu seiner Frau und setzte sich zu ihr.
»Und das hatte ich versucht, als ich deine Not sah, liebe Ingeborg,« sagte er, »aber es ist also mißglückt?«
Ingeborg, die während der langen Rede ihres Mannes auf das heftige Klopfen ihres Blutes gelauscht hatte, das mit so wunderbarer Hast durch ihre Adern wogte und wallte, wendete ihm jetzt plötzlich ihr erhitztes Gesicht voll zu.
»Ja, ich meine, als ich Jonna hierherkommen ließ,« fuhr Hartwig fort. »Es ist ein Experiment gewesen, ich gebe es zu. Aber es hätte glücken können. Nun ist es also nicht geglückt – und so wie du es ansiehst, werde ich es verstehen, wenn du das Kind künftig nicht mehr hier haben willst.«
»Wo ist sie?« fragte Ingeborg plötzlich.
»In ihrem Bett,« antwortete er. »Ich habe sie selbst ausgekleidet. Sie hat den ganzen Tag nach dir gefragt, und ich konnte ihr ja nur sagen, du werdest bald wiederkommen. Aber natürlich soll sie gleich morgen in die Stadt zurückgebracht werden, wenn du es wünschest.«
»Ja, das soll sie,« flüsterte Ingeborg.
»Dann wird es auch geschehen,« sagte Hartwig.
Er stand auf und nahm eine neue Zigarre. »Es geniert dich doch nicht, wenn ich rauche?« fragte er.
»Es wäre ja möglich, daß ich sie schließlich hassen würde,« murmelte Ingeborg.
»Ja, das muß vermieden werden,« pflichtete Hartwig bei.
Er ging wieder auf und ab und schaute mit gerunzelter Stirn geradeaus, während er seine Zigarre rauchte.
Aber Ingeborg hatte sich im Sofa aufgesetzt und sah ihn mit ihren heißen Augen an. »Wie hast du sie nur hierherkommen lassen können!« rief sie flüsternd.
Hartwig betrachtete seine Frau aufmerksam, während er zu ihr trat.
»Das will ich dir sagen,« antwortete er in ruhigem, etwas kühlem Ton. »Da du durch Zufall kein Kind bekommen hast, ich aber durch Zufall eines hatte, warf ich die beiden Zufälle zusammen, so daß ein gewisser Sinn darin war und vielleicht ein Schicksal daraus hätte entstehen können. Die Natur wünscht ja, daß alles sich fortsetze – und außerdem,« fügte er, Ingeborgs erhitztes Gesicht plötzlich verwundert betrachtend, noch hinzu, »glaubte ich, das Kind werde ein gewisses Bedürfnis bei dir befriedigen – ja, und habe ich auch darin nicht eigentlich recht gehabt?«
»Das Kind einer andern Frau!« rief Ingeborg und verbarg ihr fieberhaft gerötetes Gesicht in die Kissen ... »Dein Kind mit einer andern ... das ist entsetzlich ...«
Hartwig legte hastig seine Hand gegen ihre Wange. »Du hast Fieber, Ingeborg, und das ist kein Wunder nach diesem Ausflug. Soll ich dir zu Bett helfen?«
Aber sie hörte nicht auf ihn, sondern warf sich nur auf die andere Seite.
»Das Kind deiner Geliebten!« flüsterte sie ... »Soll ich deinem Kinde Milch geben?«
Er setzte sich zu ihr aufs Sofa und wollte ihre Hände nehmen, aber sie riß sich los.
»Ich habe keinen Platz für dein Kind!« rief sie laut ... »Dein Gesicht ... ihr Gesicht ... Es ist dein Gesicht!«
Er wollte sie beruhigen; aber sie saß jetzt mit starren, weitoffenen Augen aufrecht auf dem Sofa.
»Sieh!« rief sie plötzlich und streckte beide Arme weit vor. »Wie es in ihr wieder zum Vorschein kommt!« Und erschüttert schlug sie beide Hände vors Gesicht.
»Ich will es zerstören,« murmelte sie, ... »will es mit meiner Schere herausschneiden ... Ich will es mit meiner Schere vernichten!«
Sie warf sich auf die Kissen zurück und lag eine Weile unbeweglich, das Gesicht mit geschlossenen Augen nach oben gerichtet.
Er war aufgestanden und sah sie fest und ruhig an. Ihre wilden Fieberreden jagten ihm einen Augenblick eine lähmende Angst ein.
Aber er faßte sich rasch wieder, ging nach der Tür und schaute hinaus. Jawohl, im Wohnzimmer wie im Boudoir war Licht und von den Dienstboten niemand zu sehen. Er konnte sie allein die Treppe hinauftragen, was er auch am liebsten wollte.
Er trat wieder zu ihr, nahm sie behutsam in seine Arme und trug sie hinauf.
Ingeborg öffnete ihre glühenden, irren Augen und sah ihn an – sie kannte ihn nicht.
Aber als er ihren Arm um seinen Hals schlang, damit sie sich besser festhalte, während er sie die Treppe hinauftrug, schmiegte sie sich plötzlich dicht an ihn an und lehnte ihre glühende Wange an sein Gesicht.
»Jonna küßt Innbor!« flüsterte sie atemlos. »Jonna küßt Innbor! Jonna küßt Innbor! Jonna küßt Innbor!«
Er gelangte die Treppe mit ihr hinauf und durch das Flüstern und Murmeln dicht an seinem Ohre ganz verwirrt, zögerte er einen Augenblick ratlos und voller Angst, ob er sie da hineintragen solle, wo die Kleine schlief ...
Aber plötzlich fand er einen Ausweg, und rasch trug er sie in sein eigenes Schlafzimmer, wo er sie auf sein Bett legte.
Er machte Licht und schüttete dann zwei Antifebrinpulver in ein Glas Wasser, das Ingeborg auf einen Zug leerte.
Sanft legte er sie wieder zurück und deckte sie sorgfältig zu.
Und schließlich setzte er sich neben dem Bett nieder, um bei seiner Frau zu wachen.
Sie wurde allmählich ruhiger, murmelte aber ab und zu mit leiser klagender Stimme noch einige unverständliche Worte. Dazwischen einmal fuhr sie auf und sah sich irr um, als ob sie verstünde, daß sie nicht da sei, wo sie zu sein pflegte. Auch betastete sie mit schwachen Händen die Decken und Kissen, und mehrmals tat sie einen tiefen bebenden Atemzug, als sauge sie die im Zimmer herrschende Luft ein. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht – und endlich lag sie still und bleich, mit einem unnahbaren Ausdruck und ruhig geschlossenen Augen da – sie schlief.
Schweigend und forschend beobachtete ihr Mann alle ihre Bewegungen. Als sie schließlich ganz ruhig geworden war, beugte er sich über sie und betrachtete sie.
»Jetzt ist die Krise vorüber,« dachte er. »Ich behalte mein kleines Mädchen ...« Er fühlte wohl, wieviel das bedeutete, daß sie hier lag in seinem Bett, von allen Seiten von ihm umgeben, von seinem Wesen und seinen Gewohnheiten, von seiner ganz persönlichen Atmosphäre.
In ihrem Haar, das über die Kissen herabfloß, entdeckte er ein dunkelbraunes, verdorrtes Blatt. »Ach, das ist ein schlimmer Tag für sie gewesen ...« Und tiefbewegt faßte er nach ihrem Haar und drückte es an seine leicht bebenden Lippen.
»Niemals wieder werde ich dich verraten, Ingeborg,« murmelte er leise. »Ich werde immer bei dir bleiben, dich pflegen und gut gegen dich sein, weil du mich mehr liebst, als ich verdiene.«
Rasch richtete er sich auf, und als er sah, wie ruhig und fest sie schlief, schlich er sich leise hinaus und hinüber in Ingeborgs Zimmer, wo er sich auf deren Bett legte, um noch ein paar Stunden Schlaf zu genießen – neben Jonna.
Die Lichter ließ er brennen, die Türen zwischen ihnen standen offen.