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Wie eine schlanke, feine Libelle in einem leichten seidenen Kleide von goldbrauner Farbe und einem goldenen Gürtel um die Taille, bewegte sich Ingeborg in dem Garten hin und her, wo hohe Sonnenblumen sich im Winde wiegten. Schon oft war sie durch die kleine Weidenallee nach der Einfahrt hingeeilt, wo sie mit der Hand über den Augen auf die landeinwärts zur Eisenbahnstation führende Landstraße hinausspähte. Noch hatte sie nichts gesehen, und sie war dann stets rasch durch den Garten auf die Veranda der Villa zurückgekehrt, wo sie immer wieder eine ganze Sammlung Kinderspielzeug untersuchte, das ihr Mann neulich aus der Stadt mitgebracht hatte – mitsamt einem reizenden Kinderbettchen aus grüngebeiztem Holz mit Gitterchen an den Seiten.
Er war überhaupt in den letzten Tagen überaus tätig gewesen. In der Woche, die vergangen war, seitdem er ihr den Vorschlag gemacht hatte, die kleine Jonna ins Haus zu nehmen, war er dreimal in der Stadt gewesen, um mit der Mutter der Kleinen zu verhandeln; und die Sache war dann auch rascher in Ordnung gekommen, als irgend jemand erwartet hatte: es hieß, das Kind solle für den Sommer zu ihnen aufs Land kommen und danach vielleicht adoptiert werden.
Nach und nach bekam Ingeborg etwas genauere Auskunft über Jonnas Verhältnisse. Ihre Mutter war nicht ein junges Mädchen, wie Ernst zuerst gesagt hatte, sondern eine geschiedene Frau – Frau Kaja Steen hieß sie – die von einem kleinen Modehandel, in der Hauptsache aber von dem lebte, was ihr ihr früherer Liebhaber aus Petersburg schickte. Die Mutter hatte keine Schwierigkeiten erhoben, sondern war gleich bereit gewesen, das Kind abzutreten, und der Vater in Petersburg war mehr als zufrieden über den Vorschlag; er hatte überdies Frau Steen eine bedeutende Summe versprochen, falls sie Jonna los würde. Aber Ernst hatte erzählt, dieses Angebot habe Frau Steen gleich zurückgewiesen. Wenn sie ihr Mädelchen in einem reichen, guten Hause unterbringen könne, so verlange sie nichts weiter. In Zukunft wolle sie sich von ihrer Hände Arbeit nähren.
Dieser Zug nahm Ingeborg für Frau Steen ein – bis dahin hatte sie ziemlich mißbilligend von ihr gesprochen – aber jetzt hätte sie nichts mehr dagegen gehabt, sich eingehender mit ihr über das Kind auszusprechen.
Sie war deshalb enttäuscht gewesen, als Ernst nach seinem letzten Besuch in der Stadt berichtet hatte, Jonnas Mutter sei verhindert, mit herauszukommen; statt dessen werde eine Tante das Kind begleiten.
»Nun, man kann ja wohl auch mit einer Tante sprechen,« dachte Ingeborg, während sie sich mit dem Spielzeug der Kleinen zu schaffen machte.
Da war ein Reifen, ein Brummkreisel und eine Trompete und kleine Tiere mit Rädern und ein winzig kleiner weißer Sonnenschirm. Alles das war etwas für eine Tante, damit mochte die Tante sie erfreuen. Aber da war auch eine große Puppe in einem roten Kleide und mit entzückendem dunkelbraunem Haar – diese wollte Ingeborg ihr jedenfalls selbst geben.
Sie zog die Puppe an sich und betrachtete sie – ja, sie war geradezu verliebt in die Puppe. Ganz besonders gefiel es ihr, daß sie wirkliche Augenwimpern hatte und dichtes, schwarzes Haar, das sich weich auf die Wangen legte, wenn das Puppenkind die Augen schloß. Und mit halbgeschlossenen Augen hatte es einen merkwürdig verschleierten, zärtlichen Blick, der dem angemalten Porzellangesicht mit dem dummen Kirschenmündchen Leben verlieh.
Ernst hatte gesagt, so ungefähr sähe Jonna aus – und Ingeborg wünschte sie sich gar nicht anders.
Sie nahm die Puppe auf ihren Schoß und legte sie so weit zurück, bis sie die zärtlichen Augen bekam.
Wie süß sie doch war!
Jetzt strich Ingeborg der Puppe das Haar aus dem Gesicht – am liebsten hätte sie sie geküßt, legte sie aber doch rasch in die Wiege zurück.
Es war plötzlich eine Art Angst in ihr aufgestiegen, sie könnte diese Puppe so lieb gewinnen, daß ihr keine Zärtlichkeit mehr für das wirkliche Kindchen übrig bliebe, das sie jetzt eben erwartete, und sie hatte ja schon vorher keinen allzu großen Vorrat davon.
Aber ernstlich neugierig, das Kind zu sehen, es anzurühren und in den Armen zu halten, das war sie trotzdem – und wieder lief sie die Verandastufen hinunter und wollte eben durch den Garten nach der Einfahrt eilen, als ihr Mann unvermutet rasch um die Ecke der Villa bog.
»Jetzt kommen sie!« sagte er und ging hastig weiter.
»Hast du sie gesehen?« fragte sie eifrig und eilte hinter ihm her.
»Ja,« antwortete er kurz, »vom Hügel aus.«
»Wer ist denn bei ihr?«
»Wahrscheinlich doch die Mutter,« sagte er in demselben kurzen, ärgerlichen Ton.
Sie sah ihn verwundert an. War er böse?
»Aber tut denn das etwas?« fragte sie.
»Es ist gerade das Gegenteil von dem, was ausgemacht worden ist,« entgegnete er heftig. »Sie hatte mir sicher versprochen, daheim zu bleiben.«
Ingeborg schwieg verblüfft und verstimmt.
Warum sollte denn die Mutter ihr Kind nicht begleiten dürfen, so weit wie möglich, wenn sie doch schließlich nicht daran verhindert gewesen war? Es war doch sehr sonderbar von Ernst ...
Sie zog ihren Arm aus dem seinigen, und schweigend erreichten die beiden das Gartentor.
Ganz richtig: dort drüben auf der Landstraße zur Linken arbeiteten sich Kutscher Nielsens zwei kleine Braune durch den Sand, und über dem Landauer strahlte ein aufgespannter roter Sonnenschirm als Hintergrund für etwas Großes, Helles, Flatterndes: eine Frau in vollem Staat.
»Ja, das ist sie,« murmelte Hartwig zwischen den Zähnen.
»Aber was ist denn Schlimmes dabei?« fragte Ingeborg.
»Es ist gegen die Verabredung,« sagte er zornig. »Und außerdem,« fuhr er kurz darauf fort und fuhr sich hastig übers Gesicht, »wird sie uns nun die Ohren voll heulen und jammern, wenn es an den Abschied geht. Deshalb hab ich sie nicht hier haben wollen.«
»Gib dir jedenfalls Mühe, daß du jetzt ein wenig nett gegen sie bist,« ermahnte Ingeborg.
Hartwig warf seiner Frau einen sonderbaren, etwas spöttischen Blick zu, schwieg aber.
Jetzt fielen die Pferde in Trab, und der Wagen kam rasch näher.
Der hochrote Sonnenschirm wurde zugemacht, und Ingeborg sah jetzt einen langen, flatternden violetten Schleier und darunter ein volles, dunkles Gesicht mit großen Augen und einem lächelnden Mund. Und inmitten all der Menge von bunten Bändern, Spitzen und Tüllstoff, aus dem der Anzug der Frau bestand, entdeckte Ingeborg auf deren Schoß etwas Rundes, Lebendiges, ganz Weißes: ein kleines Kind in einem schneeweißen Samtmäntelchen.
»Wie aufgeputzt sie doch sind!« dachte Ingeborg.
Aber gleich darauf begann die Kleine, von der Mutter unterstützt, mit einem winzigen Patschhändchen zu winken, und die Mutter selbst zeigte eine Reihe weißer Zähne in dem schönen, brünetten Gesicht.
Ingeborg fühlte sich dieser auffallenden Erscheinung gegenüber etwas verlegen – sie hatte etwas ganz andres, Bescheideneres und Stilles erwartet – winkte aber doch einen kurzen Gruß, und als der Wagen hielt, trat sie vor die Pforte.
Hartwig hatte nur ein wenig den Hut gelüftet – hauptsächlich gegen den Kutscher – zu dem er jetzt auch trat, um ein paar Worte an ihn zu richten.
»Ja, wir kommen wohl zu spät,« sagte die Dame mit lauter, fröhlicher Stimme. »Aber denken Sie sich nur, unser Koffer fuhr mit dem Zug davon; wir mußten nach der nächsten Haltestelle telegraphieren, um ihn aufzuhalten, und dann mußten wir ihm nachfahren, ich glaubte, wir würden überhaupt nicht mehr ...«
»Sind Sie nicht Frau Steen?« fragte Ingeborg etwas zurückhaltend.
»Ich, o ja! Ja, weiß Gott, die bin ich,« rief sie lachend. »Sie, gnädige Frau, brauchen mir allerdings nicht erst vorgestellt zu werden, Sie kenne ich nur zu gut vom Sehen ... Ja, da haben Sie nun Ihr Ferienkind,« fuhr sie lächelnd fort und reichte Ingeborg das weiße Samtbündel aus dem Wagen.
Ingeborg nahm das Kind, das sie mit großen dunkelbraunen, erschrockenen Augen aus dem Kapützchen anstarrte.
»Wie niedlich sie ist!« sagte Ingeborg, wobei ihr unwillkürlich die große Puppe droben einfiel. Aber sie konnte den süßlichen Duft nicht leiden, der ihr aus dem Haar des Kindes entgegenströmte. Die Kleine stemmte stumm und Ingeborg noch immer anstarrend – ihre Händchen gegen Ingeborgs Brust und versuchte, sich von ihr loszumachen.
»Guten Tag, Herr Hartwig!« rief Frau Steen. »Kommen Sie nicht hierher, mir aus dem Wagen zu helfen?«
Hartwig trat ohne Eile näher. »Guten Tag, Frau Steen,« sagte er. »Ich hatte Sie nicht erwartet.«
»Lieber Gott! Wenn aber das Wetter doch so wunderschön ist,« versetzte sie hastig, wie wenn sie auf Vorwürfe gefaßt wäre; dann aber lachte sie und fuhr fort. »Und wenn man überdies vielleicht sein geliebtes Küchlein für lange Zeit zum letztenmal sieht. Kommt es Ihnen auch so sonderbar vor, daß ich mitgekommen bin, Frau Hartwig?«
»Nein, nein,« erwiderte Ingeborg, die das sich sträubende Kind festhielt und große Angst hatte, es werde gleich zu weinen anfangen.
»Nun, jetzt haben Sie mich jedenfalls hier,« sagte Frau Steen, die jetzt an Hartwigs Hand aus dem Wagen stieg.
Hartwig wendete sich an den Kutscher.
»Sie holen jetzt den Koffer, Nielsen,« sagte er, »und in Dreiviertelstunden können Sie wieder da sein.«
»Jawohl, jawohl, Herr Hartwig,« brummte der Kutscher und zog die Zügel an.
»Ich kann sie nicht länger halten,« sagte Ingeborg schwer atmend und ließ die Kleine auf die Erde niedergleiten, die sogleich der Mutter beide Arme entgegenstreckte, das Gesichtchen jämmerlich verzog und laut weinte.
»So komm, mein Puß!« rief Frau Steen, und nahm das Kind mit einem raschen, ärgerlichen Griff auf den Arm; sie hatte Hartwigs Befehl an den Kutscher gehört und verstanden.
»Dies ist der Weg,« sagte Ingeborg; und stumm durchschritt die kleine Gesellschaft die Allee.
Ingeborg war ganz unglücklich über ihr Mißgeschick mit dem Kinde. »Es geht gewiß nicht,« dachte sie. »Ich könnte es ebensogut gleich aufgeben.« In ihren Armen fühlte sie noch das widerspenstige Strampeln des Kindes – es war wie ein Schicksal ...
Und wenn Ernst so unfreundlich war, sollte sie jetzt gewiß auch freundlich gegen das große geputzte Frauenzimmer da hinter sich sein – aber deren Wesen wirkte abstoßend auf sie.
Da ertönte plötzlich die Stimme der Kleinen, und Ingeborg wendete sich um.
»Jonna, Kuchen! Jonna, Kuchen!« eiferte das Kind und streckte sich vom Arm der Mutter zu Hartwig hinüber, der etwas abseits ging.
»Kennt sie dich?« fragte Ingeborg verwundert.
»Ja,« antwortete er, während er die Kleine auf den Arm nahm. »Ich habe sie ja in der letzten Zeit wiederholt besucht. Und da habe ich ihr Kuchen und allerlei solche Herrlichkeiten mitgebracht ... Ja, nun bekommt Jonna gleich Kuchen!«
Die Kleine hüpfte auf Hartwigs Arm. »Jonna, Kuchen! Jonna, Kuchen!« stellte sie vergnügt fest.
Frau Steen, die mit mürrischem Gesicht weitergegangen war, zeigte nun wieder ihre weißen Zähne.
»Herr Hartwig ist wohl ein großer Kinderfreund,« sagte sie zu Ingeborg. »Puß und er haben jedenfalls sofort Freundschaft miteinander geschlossen.«
»Ja, das sieht man,« sagte Ingeborg lächelnd. So erleichtert war sie durch Jonnas plötzliche Friedfertigkeit, daß sie sich gegen die Mutter ganz freundlich gestimmt fühlte.
»Sie sind hoffentlich nicht gar zu unglücklich über die bevorstehende Trennung mit ihrer Kleinen?« fragte sie mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln.
»Ne!« rief Frau Steen lachend. Sonst würde ich es gewiß nicht tun!« Sie lachte noch lauter und fuhr fort: »Ja ja, Sie machen große Augen! Aber ich will Ihnen ganz ehrlich sagen, wie sich die Sache verhält. Und ich habe es auch schon Ihrem Mann gesagt. Ich bin einfach noch zu jung, um Mutter zu sein – ja, ich meine, um mich dafür aufzuopfern. Und wenn man ziemlich frei steht und überdies –« sie lachte und legte Ingeborg die Hand auf den Arm. – »Ich meine also: nicht schlimmer aussieht, als so viele andere – dann ist so ein Kleines eben doch immer ein Klotz am Bein, ebensowohl wenn man sich wieder verheiraten möchte, als auch ... als auch sonst,« schloß sie lächelnd.
»Klingt Ihnen das schlecht in den Ohren?« fragte sie hastig, als sie sah, daß Ingeborg mit gerunzelter Stirn weiterging.
»Nein, ich begreife es wohl,« antwortete Ingeborg. Und ich hatte geglaubt, sie nähe für andere Leute! dachte sie.
»Aber deshalb dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich Jonna nicht lieb hätte, oder nicht gut gegen sie gewesen wäre,« fuhr Frau Steen eifrig fort.
Sie warf einen Blick auf Hartwig, der die Kleine trug, und fragte:
»Das bin ich doch wirklich gewesen, nicht wahr ... Jonna?« fuhr sie rasch fort, indem sie in einen kindlich scherzhaften Ton überging. »Nicht wahr, klein Jonna?« wiederholte sie.
Aber Jonna spielte eifrig mit Hartwigs Hut und schaute nicht auf.
»Ja, das glauben wir gerne,« sagte Hartwig kurz.
Ingeborg hatte große Lust, Frau Steen zu fragen, wie sich eigentlich Jonnas Vater zu der ganzen Angelegenheit stelle – von ihrem Manne hatte sie nur immer ganz verwirrte Erklärungen über diesen Punkt erhalten – aber sie hatte Angst, sie könnte Frau Steen verletzen, und deshalb schwieg sie.
Aber es war, als ob Frau Steen ihre Gedanken erraten hätte, denn sie sagte lächelnd: »Es ist auch angenehm, wenn man weiß, daß Pussi in gute Hände kommt. Und,« fuhr sie, die Augen niederschlagend, leiser fort, »ihr Vater stimmt in dieser Hinsicht ganz mit mir überein.«
»Das hat sie nett gesagt,« dachte Ingeborg und sah die Frau zum erstenmal warm an. »Sie ist gewiß im Grunde eine ganz gute Person ... wie es auch sonst mit ihr beschaffen sein mag.«
»Hier ist der Weg,« sagte sie jetzt freundlich und ging voraus, auf einem Pfad, der nach der Veranda führte.
»Das ist ein famoser kleiner Garten,« sagte Frau Steen, wobei sie sich zwischen den Sonnenblumen, den Fuchsien und den beinahe abgeblühten Rosen umschaute, die in buntem Durcheinander gepflanzt waren.
»O ja,« antwortete Ingeborg lächelnd, »es ist zwar nichts Besonderes daran, aber er ist ja auch nicht unser Eigentum. Das einzige Gute ist der Schutzgürtel dort,« fuhr sie fort und deutete auf die dichten Fichtenhecken, die den Garten rechts und links abschlossen; »es ist immer ruhig und still hier, wenn es auch noch so weht und stürmt. Aber das Beste haben wir allerdings auf der andern Seite.«
»Was ist denn dort?« fragte Frau Steen und deutete mit ihrem Sonnenschirm auf einen weißgetünchten Schuppen, der rechts von der Villa lag.
»Das ist ein kleiner Pferdestall,« antwortete Ingeborg lächelnd. »Mein Mann kann seine Spazierritte nicht entbehren, und deshalb baut er überall, wo wir im Sommer wohnen, immer einen kleinen Stall. Er hat auf diese Weise gewiß schon ein halbes Dutzend hier der Küste entlang gebaut.«
»Das nenne ich flott,« sagte Frau Steen.
Jetzt waren sie an der Verandatreppe angelangt; sie blieben stehen und sahen sich um.
Hartwig hatte das Kind auf die Erde gestellt, und die beiden gingen nebeneinander. Jonna umfaßte einen von Hartwigs Fingern mit ihrem ganzen Händchen und wackelte auf ihren dicken Beinchen langsam daher, während sie mit nachdenklicher Miene auf ihre Schuhe hinabschaute.
»Es geht ja ganz gut,« sagte Ingeborg.
Frau Steen lachte. »Ja, das glaube ich wohl,« sagte sie und ging dann hinter Ingeborg die Stufen hinauf.
»Nun sollen Sie einmal sehen!« sagte Ingeborg und führte Frau Steen durch das Gartenzimmer in das kleine Boudoir auf der andern Seite.
»Nein, wie reizend!« rief Frau Steen, die sich eifrig umschaute. »Wie elegant und vornehm!«
»Ja, in diesem Jahr haben wir es gut getroffen,« sagte Ingeborg. »Aber hier ist doch das Allerbeste, was wir haben!«
Damit trat sie an das Erkerfenster: Tief unter ihnen breitete sich das Kattegat weit aus, mit unzähligen weißen Schaumkronen auf der dunkelblauen Flut.
»Ja, wahrlich, das nenne ich eine Aussicht!« rief Frau Steen. »Da kann sich der Sund bei Klampenborg gleich begraben lassen!« setzte sie lachend hinzu.
Sie schaute eine Weile hinaus: »Ja das ist großartig,« sagte sie dann. »Dort am Abhang ist ein herrlicher Spielplatz für Puß – da muß sie guten Appetit bekommen.«
»Hat sie keinen Appetit?« fragte Ingeborg hastig.
»Nun, manchmal fehlt es mir an der nötigen Milch,« antwortete Frau Steen. – »Ja, heute ist gewiß alles in Ordnung, aber ...«
»Ach, nun will ich doch gleich die Schokolade bestellen,« rief Ingeborg. »Sie müssen ja alle beide schrecklich hungrig sein!«
Und rasch verließ sie das Zimmer.
Frau Steen schaute wieder einen Augenblick aufs Meer hinaus. »Hier länger als acht Tage wohnen – nein!« dachte sie entschieden.
Jetzt hörte sie Jonnas Stimme auf der Veranda; da wendete sie sich um und ging dahin zurück.
Hartwig beugte sich über die Kleine und zeigte ihr ein Spielzeug. Jonna lachte entzückt und klatschte in die Hände.
Als Hartwig Frau Steen kommen hörte, richtete er sich auf und starrte sie an, während sich eine dunkle Röte über sein Gesicht verbreitete.
Sie sah seinen Ausdruck, und ein entsetztes Lächeln zeigte sich plötzlich um ihren Mund.
»Aber lieber Gott ...,« begann sie zu jammern.
»Du genierst dich nicht,« flüsterte er. »Du kommst hier heraus ... Du gehst in meinen Stuben herum, als ob du die Freundin meiner Frau wärest! ... Du ...«
Sie wurde rot, und in ihren Augen leuchtete es trotzig auf.
»Na ja ... ich!« warf sie ihm hin. »Und was dann?«
In diesem Augenblick wurde sie am Rock gezogen; da stand Jonna zwischen ihnen und streckte ihr ein Spielzeug entgegen.
»Sieh ... Jonna – Muhmockel!« erklang es laut und entzückt ... »Sieh ... Jonna – Muhmockel!«
Und als keines von den beiden sich ihr zuwendete, fuhr sie fort: »Sieh! ... Jonna – Muhmockel! ... Sieh! ... Jonna – Muhmockel!«
Die Verandatür ging auf, und Hartwig bückte sich hastig wieder über das Spielzeug und Jonna.
»Wollen Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Schokolade trinken?« drang Ingeborgs Stimme gastfreundlich auf die Veranda heraus.
»Ja, bitte!« sagte Hartwig zu Frau Steen. »Sie haben nicht mehr viel Zeit, wenn Sie durchaus mit dem nächsten Zug zurückwollen.«
Ingeborg hatte sich hinter Jonna niedergekauert und zupfte sie scherzend ein wenig am Röckchen. Als aber die Kleine sich umwendete und sah, wer sie gezupft hatte, begann sie laut zu schreien, torkelte zu Hartwig hin und umklammerte dessen eines Bein. Von da starrte sie Ingeborg mit entsetztem und aufgebrachtem Blick an.
Ingeborg stand auf. »Ich habe kein Glück,« sagte sie betrübt. »Sie wird mich gewiß nicht leiden können.«
»Doch, doch gewiß,« erwiderte Hartwig. »Wir müssen ihr nur Zeit lassen.« Er nahm das Kind auf den Arm und ging voran ins Gartenzimmer, wo das Zimmermädchen eben die Schokolade auftrug.
»Nein, wie heiß es doch ist!« sagte Frau Steen. Ihr Gesicht war krebsrot, und sie fächelte sich mit ihren langen Handschuhen.
»Aber wollen Sie denn nicht ein wenig ablegen?« bat Ingeborg freundlich. »Es eilt gewiß auch nicht so sehr mit der Heimreise. Oder müssen Sie wirklich?«
»Doch,« antwortete sie mit einer bittern Betonung. »Ich muß zurück.«
Ingeborg erwiderte nichts; sie geriet ein wenig in Verlegenheit bei dem Gedanken an das mystische Dasein dieser Dame mit allen den geheimnisvollen Verpflichtungen, die es möglicherweise mit sich brächte, und so half sie ihr schweigend beim Abnehmen des duftenden, seidenknisternden Umhangs, den Frau Steen noch nicht abgenommen hatte.
Sie setzten sich dann an den Tisch, wo sich schon Hartwig mit Jonna auf dem Schoß niedergelassen hatte, und Ingeborg schenkte ein.
Zuerst aßen sie, ohne zu sprechen. Ingeborg ließ ihre Blicke von Jonna zu deren Mutter und wieder zurück auf Jonna gleiten.
»Wie sehr Jonna Ihnen doch gleicht, Frau Steen!« sagte sie lächelnd.
Frau Steen sah die Kleine an.
»Ja, in den Augen,« sagte sie.
»In den Augen – und der Stirne – und dem Haar und dem ganzen Ausdruck,« fuhr Ingeborg fort. »Es ist geradezu frappant.«
»Nicht im Mund,« versetzte Frau Steen plötzlich.
»O, dieses kleine Schokolademäulchen kann ich gar nicht recht sehen,« sagte Ingeborg. »Wisch ihr einmal den Mund ab, Ernst!«
Aber Hartwig hielt ihr eben eine Tasse an den Mund und ließ sie trinken, und Frau Steen rief dazwischen: »Nein, das wäre doch wirklich schade um die feinen Servietten! Lassen Sie sie lieber waschen, wenn sie ganz fertig ist!«
Ingeborg fiel es plötzlich ein, daß sie noch über eine Menge Dinge Auskunft erhalten müßte, über die Gewohnheiten und die Behandlung des Kindes im täglichen Leben, und so begann sie die Mutter danach auszufragen. Frau Steen antwortete bereitwillig, und die beiden waren bald in alle mögliche Fragen über Nahrung, Verdauung und Kleidung und Schlafenszeit der Kleinen vertieft. Ingeborg mußte sich nur verwundern, wie klar und genau diese große, aufgedonnerte Frau über diese intimen Angelegenheiten, von denen sie selbst gar nichts wußte, Auskunft geben konnte; ja, sie war doch wohl gut gegen Jonna gewesen.
Die Kleine war indessen satt geworden und wollte wieder auf die Veranda zu ihrem Spielzeug; Hartwig brachte sie hinaus und setzte sie mitten hinein.
Mit der Uhr in der Hand kam er wieder zurück.
Frau Steen sah es.
»Ja ja, jetzt gehe ich,« sagte sie nervös und stand sogleich auf.
»Es ist nur Ihretwegen, liebe Frau Steen,« sagte Hartwig. »Sie würden doch nur sehr ungern zu spät zum Zuge kommen.«
»Ja, ja, ich verstehe es sehr gut und – und ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft,« erwiderte Frau Steen und griff rasch nach ihrem Umhang.
Hartwig half ihr beim Anziehen, und sie trat zu Ingeborg, die auch aufgestanden war und ihren Mann ärgerlich und erstaunt betrachtete.
»Adieu, liebes Frauchen,« sagte Frau Steen und drückte Ingeborg kräftig die Hand. »Wenn Sie also Puß nicht leiden können, dann schicken Sie sie nur wieder zu mir. Solange ich selbst etwas habe, soll es ihr nicht an dem fehlen, was sie braucht.«
»Adieu – und ich danke Ihnen für Ihr Zutrauen,« sagte Ingeborg verlegen. Sie trat mit Frau Steen auf die Veranda, wo Jonna mit dem weißen Sonnenschirmchen in den Händen saß.
Frau Steen seufzte tief und ließ sich neben ihrem Töchterchen auf die Knie nieder.
»Sieh! ... Sieh!« ... rief Jonna entzückt. »Jonna, Sirm!«
»Ja, der ist allerdings sehr fein,« sagte Frau Steen. »Aber jetzt geht Mutter, und deshalb soll Jonna ihrem Mutti noch recht hübsch adieu sagen?«
Jonna ließ den Sonnenschirm sinken und winkte ein wenig mit dem einen Händchen, »... de, Mutti!« sagte sie sehr freundlich und ruhig, während sie immerfort den Sonnenschirm betrachtete.
»Adieu, mein kleiner süßer Schatz!« rief Frau Steen; sie beugte sich über das Kind und küßte es.
Dann stand sie auf, zog ihr Taschentuch heraus, fuhr sich leicht damit über die Augen und putzte sich die Nase.
Ingeborg war ganz gerührt.
»Wenn Sie Ihr Töchterchen dazwischen gerne sehen möchten, so kommen Sie nur heraus. Sie sind immer willkommen.«
»Recht herzlichen Dank,« entgegnete Frau Steen und lächelte, obwohl ihre Lippen leicht zitterten. »Aber eine Mutter ist wohl bald vergessen, nicht wahr, Jonna?«
»Wahr, Jonna?« wiederholte das Kind und hüpfte wohlzufrieden auf ihren Sitz.
Hartwig hielt die Uhr in der Hand. »Ich werde Sie bis zum Wagen begleiten,« sagte er.
Frau Steen sah ihn scheu an, und ein Seufzer rang sich über ihre Lippen.
»Ja, ja, jetzt komme ich,« sagte sie.
Sie winkte Ingeborg zu, während sie die Stufen hinabging. »Adieu, adieu und tausend Dank für Ihre Freundlichkeit!« sagte sie.
»Adieu und auf Wiedersehen!« rief Ingeborg.
Nebeneinander gingen Frau Steen und Hartwig durch den Garten. Sie sprachen kein Wort; aber Frau Steens üppige Büste wogte erregt auf und ab.
Als sie die Allee erreicht hatten, sah Hartwig sie rasch an: »Ich will dir nur sagen ...« flüsterte er.
Sie wendete ihm ihr heißes, erregtes Gesicht voll zu. »Wenn du noch einmal anfängst, schreie ich!« stieß sie hervor und hielt jäh an.
»Sei nun vernünftig.« fuhr er in ruhigerem Tone fort. »Komm hierher, dann sprechen wir miteinander.«
»Ich habe nichts mit dir zu sprechen,« sagte sie, ging aber doch weiter.
»Doch, gewiß hast du. Wir sind ja vollkommen einig. Du wirst nicht wieder hierher kommen, und ich meine auch, daß du das nicht sollst.«
Schweigend machte sie noch ein paar Schritte.
»Wäre ich doch nie gekommen!« brach sie dann los.
»Da siehst du selbst, daß es eine Dummheit war,« pflichtete er bei. »Aber reden wir nicht mehr davon. Es darf sich nur nicht wiederholen.«
»Gott bewahre mich davor!« rief sie mit ein paar heftigen Atemzügen.
Er lächelte und faßte sie von hinten her ganz leicht an den Schultern.
»Ich habe es mir wohl gedacht,« sagte er. »Du bist ja jetzt ganz vernünftig.«
Sie mäßigte ihre Schritte, stützte sich auf seinen Arm und ging schweigend weiter.
»Was für eine liebe Frau du doch hast!« sagte sie dann. »Sie ist viel zu gut für dich.«
»Naa,« sagte er mit einem leisen Lachen. »Jeder bekommt die Frau, die er verdient.«
Er tätschelte sie ein wenig und fuhr fort. »Aber du ... Was wirst du ohne Jonna anfangen?«
»Das weiß ich nicht,« antwortete sie. »Ich werde mich ja wohl trösten.«
»Brauchst du Geld?«
Sie schritten weiter; wieder sah er sie an, und ein Lächeln flog über sein Gesicht. Dann sagte er:
»Und du sehnst dich also wirklich gar nicht mehr nach mir?«
»Nein, keine Spur.«
»Auch nicht das kleinste bißchen?«
»Keine Spur – das weißt du ja wohl.«
Er ließ sie los. »Na ja,« sagte er nachdenklich. »Zwei Jahre sind ja auch eine ziemlich lange Zeit, wenn man einander nicht sieht. Ich muß mich eben damit trösten, daß du andere von deinen Freunden wahrscheinlich noch rascher vergessen hast.«
»Das müßte nur dein Vorgänger sein, der Idiot,« sagte sie.
»Otto Scheel?«
Sie nickte.
»Übrigens,« fuhr sie fort. »Dich hatte ich, weiß Gott, schon am nächsten Tag vergessen, nachdem deine Füße meine Stube zum letztenmal betreten hatten. Von Otto weiß ich wenigstens noch, wie es klang, wenn er sich schneuzte.«
Er räusperte sich. »Na,« sagte er dann, »an jedem Ersten des Monats habe ich mich dir doch in höchst angenehmer Weise in Erinnerung gebracht.«
»Das weiß ich doch nicht recht,« warf sie ein. »Ich habe kaum darüber nachgedacht, daß das Geld von dir kam.«
»Nein, es gibt wohl noch andere, von denen es ebensogut hätte kommen können.«
Sie sah ihn erzürnt an. »Pfui!« rief sie, »halt deinen Mund!«
Er aber lächelte nur und legte ihr die Hand auf den Arm. »Es macht mir Spaß, mich ein wenig mit dir herumzubeißen,« sagte er dann. »Du gibst heute ganz großartig hinaus.«
»Es freut mich, wenn es dir so vorkommt!« sagte sie mit kurzem Auflachen. »Denn mir selbst ist es, als hätte ich mich noch nie so schlecht wehren können.«
Sie sahen jetzt den Wagen, der am Ende der Allee hielt, und Hartwig ließ ihren Arm los.
»Vielleicht schaue ich in den nächsten Tagen einmal zu dir hinein,« sagte er lächelnd, »wenn du dann sichtbar bist?«
»Ja, ich bin vorläufig daheim,« antwortete sie. »Es ist ein finnischer Baron da, der mich durchaus seiner Mutter vorstellen will; aber das wird nicht vor dem Herbst geschehen.«
»Frau Baronin!«
»So blau!« sagte sie lächelnd, fuhr aber, gleich wieder ernst geworden, fort: »Es wird gewiß nichts daraus ... Bei wievielen habe ich doch geglaubt, sie würden mich heiraten ... hätte ich fast gesagt ... ja selbst du ... in den paar Monaten, so lange es gedauert hat. Aber du hast ja, was du brauchst,« fügte sie noch hinzu.
»Brauche?« wiederholte er langsam. »Ich liebe deine sinnesfrohe Natur.«
Sie warf ihm einen raschen, herausfordernden Blick zu, sah aber dann ganz ernst, fast grüblerisch drein.
Jetzt hatten sie den Wagen erreicht – er half ihr schweigend hinein und reichte ihr dann die Hand.
»Adieu, Frau Steen,« sagte er. »Und vielen Dank für Jonna!«
»Ja, geben Sie gut acht auf sie,« erwiderte sie. Dann lächelte sie ein wenig und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Sie ist ja auch das Resultat meiner sinnesfrohen Natur.«
»Ja, gerade,« sagte er ernsthaft. »Ich werde für sie sorgen, wie wenn sie mein eigen wäre.«
Der Wagen hatte sich eben in Bewegung gesetzt, und sie winkte ihm mit ihrem roten Sonnenschirm zu.
Er schaute ihr nach, dann ging er in den Garten zurück.
»Merkwürdig,« dachte er und strich sich übers Gesicht, »ich komme in Stimmung, so oft ich mit ihr zusammen bin, obgleich ich mir eigentlich gar nichts aus ihr mache.
Es muß an der sinnesfrohen Natur liegen – die wir beide haben ...
Welch ein Glück, daß es so gut abgelaufen ist! ...«
»Die liebe, kleine Ingeborg!« dachte er weiter. »Wie reizend hat sie sich der andern gegenüberbenommen! Sie ist wirklich mit den Jahren eine ganze Dame geworden und hat die graziöse sichere Haltung, die ich bei einer Frau vor allem anderen bewundere ... Ja wahrhaftig, sie verdient es, daß man gut gegen sie ist – so gut, daß sie es im Ernst fühlen kann!«
Und während er seinem Gesicht einen energischen Ausdruck zu geben versuchte, beschloß er, an diesem selben Nachmittag noch an seine frühere Freundin zu schreiben, daß sie ihn doch nicht erwarten dürfe. Es war vorbei, und vorbei sollte es auch sein. Sie machte sich ja in Wirklichkeit ebensowenig aus ihm, wie er sich aus ihr. Es hätte gar keinen Sinn, wenn er versuchen wollte, die erloschene Glut wieder anzufachen.
Aber Jonna war daraus hervorgegangen – doch ein Resultat einiger an sich unbedeutender Zufälle – die lebendige Frucht einer toten, abgestorbenen Zeit.
Sie war seine Gabe für Ingeborg – diese sollte den Lebensgang der Kleinen fürder leiten.
Als er die Veranda erreichte, leuchteten ihm Ingeborgs Augen froh entgegen. Sie saß am Tisch – und hatte Jonna auf dem Schoß. Die Kleine war in ein Buch mit großen bunten Tierbildern vertieft.
»Ich gratuliere!« rief Hartwig vergnügt. »Es geht ja brillant!«
»Pst!« flüsterte Ingeborg erschrocken. Sie hatte so große Angst, Jonna zu stören, daß sie sich nicht zu bewegen und das Kind fast nicht anzurühren wagte.
Als Jonna Hartwig erblickte, deutete sie eifrig auf das Buch und streckte zugleich den andern Arm nach ihm aus.
»Sieh! ... Sieh! ... Sön Telefant!«
»Ja, das ist allerdings ein schöner Elefant,« sagte Hartwig und strich dem Kinde übers Haar. »Aber warum nennt sie ihn denn Telefant?«
»Ja, das kann ich auch nicht begreifen!« rief Ingeborg, ganz glückselig darüber, daß Jonna bei ihr sitzen blieb. »Ob sie nicht vielleicht Telefon und Elefant vermengt?«
»Meinst du?« sagte er lächelnd. Er ließ sich ihr gegenüber am Tisch nieder und fuhr fort: »Ja, sie wird uns schon etwas zu denken aufgeben, Inga.«
»Mehr! Mehr!« verlangte Jonna und hüpfte auf Ingeborgs Schoß auf und ab.
Rasch wendete Ingeborg das Blatt um. »Wie süß sie doch ist!«
»Wie hast du sie dir denn erobert?« fragte Hartwig.
»Ja, das war ganz komisch,« antwortete Ingeborg lächelnd, wobei sie ein wenig rot wurde. »Ich wußte ja absolut nicht, was mit ihr anfangen, nachdem du mit Frau Steen gegangen warst ... ja, ich hatte geradezu Angst, Jonna könnte mich sehen und dann in lautes Geschrei ausbrechen ... aber dann ...«
»Ja, bä Tier, da hast du ganz recht!« rief sie plötzlich und beugte sich über das Buch, das bei dem Bilde eines Krokodils aufgeschlagen war. Jonna hatte es eine Weile angesehen, aber da sie es nicht kannte, war sie ärgerlich geworden und schlug mit der Hand darauf los.
»Da, da, Schläge muß es haben!« sagte Ingeborg und schlug mit drauf los.
»Da, da! Da, da!« jubelte die Kleine und schlug aus Leibeskräften drein. Dann sah sie Ingeborg an.
»O – o – sen! O – o – sen!« rief sie.
»Was ist das?« fragte Ingeborg ihren Mann.
»Sie meint wohl Popochen,« sagte er. »Das Krokodil soll Schläge aufs Popochen haben ... Aber wie ging es dann weiter?«
Und während Ingeborg dem Krokodil seine Schläge austeilte, erzählte sie halb lächelnd, halb verlegen:
»Ja – Jonna war also aufgestanden und wackelte zwischen ihrem Spielzeug umher. Aber plötzlich blieb sie stehen und machte ein ungeheuer bedenkliches Gesicht ... sie zog die Augenbrauen ganz auf die Stirne hinauf. ›A, a! – A, a! – A, a! ‹grunzte sie und schaute sich ganz unglücklich um. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie hatte – aber dann begann sie mit beiden Beinen aus Leibeskräften zu trippeln – und dann begriff ich,« sagte Ingeborg lachend. »Und ich lief hin, faßte sie bei der Hand, und dann liefen wir miteinander hinaus, so schnell wir konnten ... und seitdem sind wir die besten Freunde. Nicht wahr, Jonna?« fragte sie lächelnd und drückte ihre schmale Wange auf das Haar des Kindes.
Aber Jonna rieb sich mit beiden Händen die Augen.
»Ja, da sieht man, was zwei Menschen im Leben zusammenführen kann,« sagte Hartwig. »Es sind nicht immer philosophische Betrachtungen.«
»Dann wuschen wir auch die Schokolade von dem Mäulchen,« fuhr Ingeborg fort, »und jetzt hat nur ihr Haar noch das süßliche Parfüm – aber das werden wir schon los werden – und dann ist sie ganz und gar, wie sie sein soll.«
Sie drückte das Kind an sich – und fühlte dann plötzlich dessen Mund auf ihrem Halse.
»Ach, sie küßt mich!« rief sie gerührt und fuhr sich unwillkürlich an die Stelle, wo sie die Lippen des Kindes gefühlt hatte. »Aber es war so sonderbar,« fuhr Ingeborg fort, »gar nicht wie ein richtiger Kuß ...« Sie beugte sich wieder nieder und näherte ihre Wange dem Gesicht der Kleinen.
Jonna, die eben gähnte, spitzte das Mäulchen mit einer komisch angestrengten Gebärde und berührte Ingeborgs Wange mit den äußersten Lippen.
»Wieder!« rief Ingeborg. »Was ist doch das für eine Art von Küssen?«
Hartwig wurde ein wenig rot und stand plötzlich auf.
»Sie muß wohl nicht allein das Parfüm los werden,« dachte er, während er das Zimmer verließ. Er hatte begriffen, daß Jonnas Kuß eine kindliche Nachahmung der raffinierten Liebkosung ihrer Mutter war, an die er sich wohl erinnerte.
Ja, ja, es war wohl höchste Zeit gewesen, daß er sie aus dieser Schule herausgenommen hatte!
Er machte die Runde durch die Zimmer – auf dem Tische im Wohnzimmer fand er die Nachmittagspost: einige Zeitungen und einen Brief, den er sogleich öffnete.
Er las ihn, machte ein ärgerliches Gesicht und steckte ihn in die Tasche.
Aber als er wieder auf die Veranda trat, hatte Ingeborg die Kleine, die sich dicht an sie anlehnte, auf dem Schoße.
»Sie schläft!« flüsterte Ingeborg mit einem glücklichen Lächeln.
»Lege sie lieber in ihr Bett,« sagte er. »Sie wird jetzt ihren Mittagsschlaf machen müssen.«
»Aber wenn sie dann nur nicht aufwacht,« flüsterte Ingeborg; sie wagte kein Glied zu rühren.
»Dann laß mich!«
Leicht und gewandt nahm er das Kind in seine Arme, ging durch die Zimmer mit ihr und trug sie die Treppe hinauf in Ingeborgs Schlafzimmer, wo er das Kind in das grüne Gitterbettchen legte, das dicht neben dem großen Bette stand.
Jonna hatte unterwegs nicht einmal die Augen aufgemacht.
Ingeborg, die höchst gespannt hinterdrein gegangen war, sah ihren Mann ganz neidisch an.
»Ich glaube, ich will dich als Kindermädchen anstellen,« sagte sie, »wir werden bis zum Ersten doch eines haben müssen.«
»Wo hast du nur so mit Kindern umgehen lernen?«
»Ach, das liegt einem in der Natur ... in einer sinnesfrohen Natur ... das lernt man nicht.«
Ingeborg setzte sich neben das Bettchen. »Gott mag wissen, ob es mir auch angeboren ist,« sagte sie, während sie Jonna ein wenig mißmutig betrachtete.
»Das kann man nicht wissen,« versetzte Hartwig.
»Meinst du, ihre Mutter habe so eine ... eine sinnesfrohe Natur?« fragte sie dann.
»Das hat sie ... das hat sie gewiß,« antwortete er. »Aber sie kann ja dafür andere Fehler haben.«
Ingeborg sah ihren Mann rasch voll an. »Bist du deswegen so furchtbar unfreundlich gegen sie gewesen?« fragte sie mit leicht gerunzelter Stirne.
»Naa,« erwiderte er und begann plötzlich im Zimmer hin und her zu gehen. »Aber ich kann sie nicht leiden.«
»Kennst du sie genau?« fragte sie.
»Sie kennen?« sagte er und hielt jäh an »Warum?«
»Nun, ich meine nur, man könnte sich einer Dame gegenüber, die man nicht kennt, nicht so benehmen.«
»Du redest, wie du es verstehst, liebe Inga,« erwiderte er lachend und nahm seine Wanderung wieder auf. »Frau Steen ist keine Dame.«
»Das ist einerlei,« sagte Ingeborg. »Du hast sie ja förmlich zur Tür hinausgejagt. Und sie ist doch die Mutter der kleinen Jonna.«
»Das ist sie unleugbar,« versetzte er. »Aber deshalb braucht sie nicht in demselben Zimmer mit dir zusammen zu sein. Sie hätte es jedenfalls nicht dürfen.«
»Aber Jonna, die darf es,« fuhr Ingeborg eigensinnig fort. »Sie ist aber doch ihr Kind.«
Hartwig schüttelte leicht den Kopf. »Aber lieber Gott, Inga,« rief er halb lachend, »Jonna hat doch auch einen Vater!«
»Ist denn an ihm mehr?« fragte sie.
»An ihm mehr?« wiederholte er verblüfft.
»Ja, als an der Mutter?«
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ja,« sagte er, »wahrscheinlich. Ich denke es mir wenigstens.«
»Will das heißen,« fuhr sie fort, »daß er von guter Familie ist, Geld besitzt und ein Examen gemacht hat, gerade wie du?«
Hartwig warf einen raschen Blick auf seine Frau. »Nun ja,« sagte er kurz, »er ist ein tüchtiger, ehrenhafter Mensch – ich kenne ihn.«
»Wer ist er denn?« fragte Ingeborg. »Wie heißt er? Jetzt kannst du es mir ja sagen.«
»Er heißt Otto Scheel,« antwortete Hartwig. »Aber was hast du davon? Bist du vielleicht jetzt klüger als vorher?«
»Nein – allerdings nicht,« sagte Ingeborg, und sie betrachtete das schlafende Kind schweigend und mit ernstem Blick.
Hartwig ging ein paarmal im Zimmer hin und her; es war ihm heiß, und er rieb sich den Hals mit seinem Taschentuch ab.
»Nun sollten wir aber bald über diese ersten Schwierigkeiten hinweg sein,« dachte er, »damit wir miteinander zur Ruhe kommen – alle drei ...«
Dabei fiel ihm der Brief ein, den er eben bekommen hatte, und er zog ihn aus der Tasche.
»Ich habe von dem Herrn im Ministerium des Äußern, an den ich mich neulich gewendet habe, Antwort bekommen. Er schreibt, vorerst sei keine Aussicht auf eine Personalveränderung bei den Gesandtschaften. Na, dann müssen wir es uns eben aus dem Sinn schlagen.«
»Gottlob!« sagte Ingeborg.
Er blieb vor ihr stehen und fragte:
»Sagst du das?«
»Jawohl! Ich habe mir nie etwas aus so einem Leben gemacht, mit Gesellschaften und Toiletten und so vielen fremden Menschen. Das weißt du übrigens recht gut.«
»Ja, in Kopenhagen ist so ein Leben auch nicht sehr amüsant, aber in London zum Beispiel. Hätte dich das nicht reizen können?«
»Das wäre noch viel schlimmer,« entgegnete sie lächelnd.
Sie streckte den Arm nach ihm aus und fuhr fort: »Ich habe ja dich, du hoher Herr, was soll ich da mit noch mehr?«
Er lächelte, trat zu ihr und setzte sich neben sie, küßte ihr die Hand und steckte seinen Arm in den ihrigen.
»Und Jonna?« sagte er mit einem innigen, vertraulichen Lächeln.
»Ja, Jonna,« wiederholte sie, indem sie sich über das Bettchen neigte und das Kind betrachtete. »Sie ist süß. Aber bis jetzt ist sie doch nur wie eine Puppe für mich – ein Stück lebendiges Spielzeug, das du mir geschenkt hast,« fuhr sie fort, »und ich kann ja nicht wissen, ob sie mir je mehr werden wird.«
»Das glaube ich gewiß,« sagte er. »Jonna hat gutes Blut in den Adern, sie ist eine gute Natur. Und wenn sie nun eine Mutter bekommt wie dich, dann kann das herrlichste Menschenkind aus ihr werden, das man sich denken kann.«
Sie antwortete nicht; langsam und sachte strich sie ihm mit ihrer zarten Hand über die Wange, während ihre Augen voll auf ihm ruhten.
»Und dann endigt es natürlich damit, daß du sie schließlich mehr liebst als mich,« schloß er lächelnd.
»O du!« rief sie und schlang ihren Arm um seinen Hals. Sie drückte ihr Gesicht an seine Brust und flüsterte: »Wie dumm du bist ... Du bist der Einzige, der Einzige ... Ich vertraue dir ... Du bist mein Gatte ... Ich liebe dich ...«