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Als Ingeborg eines Morgens erwachte, klatschte der Regen gegen die Scheiben. Wie immer, wenn Aussicht auf schlechtes Wetter war, drehte sie dem Licht rasch den Rücken, vergrub den Kopf in den Kissen, um alles miteinander zu verschlafen.
Aber plötzlich streckte sie den einen Arm aus und griff nach dem Bettchen, das neben dem ihrigen stand.
So lag sie eine Weile ganz still – und noch halb im Schlaf durchströmte sie ein sehr tröstliches Gefühl: Jetzt mochte das Wetter sein wie es wollte, sie hatte ja Jonna –
Mit Jonna sich unterhalten ... mit Jonna spielen ... sie anhören und mit ihr in ihrer Sprache kauderwelschen ... sie »Innbor« sagen hören, anstatt Ingeborg ... Ihr Gesicht an Jonnas braunes Hälschen drücken ...!
Das kleine Tierchen!
Schlaftrunken richtete Ingeborg sich im Bett auf, – strich sich das Haar aus dem Gesicht und schaute in das Kinderbettchen hinein.
Ja, da lag sie, die Kleine, das Köpfchen auf die Seite geneigt und ihr zugewendet, und das dichte, dunkle Haar in einem Wirrwarr ums Gesicht. Sie schlief ruhig und sanft – man hörte ihre Atemzüge gar nicht.
Ingeborg neigte sich über das Kind und strich ihm mit dem Finger behutsam über die langen, seidigen Wimpern, die auf der Wange ruhten; sie glichen denen der großen Puppe.
Plötzlich lächelte Ingeborg: Jonna rümpfte bei der Berührung, die sie wohl ein wenig kitzelte, die Nase und verzog das Mäulchen. Dann gähnte sie, blinzelte ein wenig und bewegte schmatzend die Lippen. Aber im nächsten Augenblick schlief sie wieder fest.
Ingeborg betrachtete eine Weile dieses Gesichtchen, das ihr so lieb geworden war. Vielleicht liebte sie es am meisten, wenn es, wie eben jetzt, mit geschlossenen Augen ruhig dalag. Diese Augen – sie erinnerte sich wohl, wie sehr sie diese Augen in der ersten Zeit bewundert hatte, weil sie so schön waren. Jetzt machte sie sich nicht mehr so viel daraus; es kam sogar vor, daß sie ihre Hand darüber deckte – denn diese Augen waren es ja, ihre Farbe und ihr Ausdruck – die sie am deutlichsten vor allem daran erinnerten, daß die Kleine nicht ihr eigen war. Aber wenn sie die Augen nicht sah – wie eben jetzt – dann wurde ihr das Gesicht so merkwürdig vertraut. Ganz besonders war dies bei dem Munde der Fall; sie wußte nicht recht, woran es lag, aber es war so. Es kam ihr vor, als sei der Mund in seinen Linien so komisch »erwachsen«; und in seinem Ausdruck lag überdies etwas, das ihr jedesmal das Herz warm machte, so oft sie es sah. Wenn sie diesen Mund betrachtete, konnte sie sich in einzelnen Augenblicken fast einbilden, sie selbst sei Jonnas Mutter.
Es klopfte an der Tür, und das Zimmermädchen trat mit dem Morgentee ein.
»Ist es schon so spät, Laura?« fragte Ingeborg überrascht.
»Ja, es ist neun Uhr vorüber,« antwortete das Mädchen.
»Es ist ja noch fast ganz dunkel.«
»Ja, es regnet ganz schrecklich,« sagte Laura, während sie das Servierbrett auf das kleine Tischchen neben dem Kopfende des Bettes stellte. »Das ist recht schlimm für die Wäsche heute.«
»Ei der tausend, wir haben ja heute Wäsche!« rief Ingeborg. »Dann werden wir sie wohl auf dem Boden zum Trocknen aufhängen müssen. Ist mein Mann schon unten?«
»Nein, noch nicht.«
»Der Siebenschläfer!«
»Da ist wohl der Regen dran schuld, der Herr steht ja sonst immer früh auf,« bemerkte Laura im Hinausgehen.
Ingeborg überlegte noch einen Augenblick, ob sie hinübergehen und ihn in ihrem feinen, neuen spitzenbesetzten Nachtkleid überraschen solle.
Aber nein, es war gewiß nicht der Mühe wert! Vielleicht war er schlechter Laune – und außerdem könnte ja auch die Kleine erwachen und zu schreien anfangen, weil »Innbor« nicht bei ihr wäre.
Ingeborg lächelte, als sie das Kind betrachtete. Ja, wahrhaftig, da rieb sie sich eben die Augen mit beiden Fäustchen – sie war schon am Aufwachen!
»Jonna!« rief Ingeborg vergnügt. »Guten Morgen!«
Jonna setzte sich im Bett auf und sah Ingeborg mit verschlafenen Äuglein an.
»Will Jonna herüber in Ingeborgs Bett und ihre Mamam haben?«
Jonna sagte nichts, sondern streckte ihr nur beide Arme entgegen – und Ingeborg nahm sie auf, küßte sie und steckte sie zu sich ins Bett.
»Wie warm du doch bist, du kleines, süßes Tierchen!« sagte Ingeborg und drückte den heißen Kinderkörper eng an sich an. »Eine ganze Wärmflasche!«
Aber Jonna arbeitete sich aus Leibeskräften im Bett hinauf; sie hatte das Teebrett entdeckt.
»Jonna, Sieback! Jonna, Sieback!« rief sie und streckte die Arme nach dem Tisch aus.
»Ja, nun sollst du Zwieback bekommen, du kleiner Freßsack!« sagte Ingeborg lächelnd. Sie richtete sich auf den Ellbogen auf, und in den ersten dünnen Tee, den sie einschenkte, warf sie erst eine Menge Zucker und tauchte dann einen Zwieback hinein, den sie Jonna reichte.
Das schmeckte dem Kinde! Immer wieder sah es Ingeborg vergnügt an, hüpfte ein wenig vor Wohlbehagen und klopfte sich entzückt auf den Magen.
Drei Zwiebacke verlangte sie, und nachdem sie diese verspeist hatte, war sie satt und legte sich wohlzufrieden in das große Bett zurück. Ingeborg trank rasch ihren Tee und schmiegte sich dann zärtlich an das Kind an.
Sie sehnte sich nach diesen Augenblicken: des Kindes unruhiges Zappeln in ihren Armen war ihr ein Genuß, den sie früher nicht gekannt hatte. Und wenn die Kleine sich ruhig verhielt wie heute, und sich dicht und innig an sie anschmiegte, fühlte sich Ingeborg von einer eigenen süßen Sicherheit durchströmt, die ihr auch neu war und die sie noch reicher machte.
»Ob so nicht am Ende eine richtige Mutter fühlt, wenn sie bei ihrem Kinde liegt?« dachte sie. »Ja, so muß es sein ...«
Heute hatte Jonna das hellblaue Seidenband zu fassen bekommen, das Ingeborgs Nachtkleid am Hals zusammenhielt. Sie spielte nun damit, wurde dieses Spiels aber bald überdrüssig, und ihre Füße gegen Ingeborgs heraufgezogenes Knie stemmend, hob sie sich etwas, so daß ihr Gesicht in die gleiche Höhe mit Ingeborgs kam.
Ingeborg blies ihr ins Gesicht – die Kleine lachte und schlug ihr auf die Wange und den Hals und wo sie hinkommen konnte.
»Innbor fui ä! ... Innbor fui ä!« rief sie.
Ingeborg lag mit geschlossenen Augen, lächelte und ließ sich schlagen, obgleich es ihr eigentlich ein wenig weh tat.
»Na–se!« rief Jonna plötzlich, faßte mit ihrem Patschhändchen Ingeborgs zarte Nase und zerrte daran.
»Guckaug!« fuhr sie mit einem vergnügten Hopser fort und bohrte ihr Fingerchen in Ingeborgs Augenwinkel.
Dann steckte sie ihr den Finger zwischen die Lippen.
»Mun!« rief sie jubelnd, als Ingeborg ihren Finger nicht loslassen wollte.
Aber bald ärgerte es sie, daß sie ihren Finger nicht wieder bekam – sie wimmerte und zerrte daran – ihr lag daran, das Spiel fortzusetzen, dieses Entdecken aller der großen merkwürdigen Sachen, die sie wohl selbst auch hatte, aber nicht sehen konnte.
»'als!« rief sie, als sie endlich frei geworden war, und deutete auf Ingeborgs Kehle; und da das blauseidene Band sich bei dem Spiel vorhin gelöst hatte, bot sich Ingeborgs mädchenhaft zarte Brust ihrem Entdeckungseifer offen dar.
Sie tätschelte sie erst ein wenig mit ihrem braunen Händchen, wurde dann aber plötzlich aufmerksam darauf, daß sie sich unter Ingeborgs hastigen Atemzügen bewegte. Sie hob die Hand etwas und sah Ingeborg mit weit aufgerissenen Augen an, während sie vor lauter Verblüffung leise grunzte.
Aber plötzlich entdeckte ihr Blick etwas Neues, und entzückt griff sie danach.
»Da, da!« schrie sie und faßte mit der einen Hand an Ingeborgs Kinn, um sie dazu zu bringen, herab zu sehen, während sie mit der andern auf die kleinen braunroten Brustwarzen deutete, die sie gesehen hatte.
»Da, da!« schrie sie noch einmal, riß die Augen weit auf und zappelte mit den Beinen vor lauter Jubel über die Entdeckung.
Ingeborg lächelte fast ein wenig verlegen und drückte ihre Wange auf ihr Kissen.
Die Augen wurden ihr feucht, und sie errötete aus plötzlichem Mitleid mit sich selbst.
Ihre Brust – ihre arme, leere Brust. Lieber Gott, daß diese noch jemand Freude machen konnte ... Wie lange war es her, seit sie auch nur geküßt worden war ... Seit jener Zeit nicht mehr, wo ihr Mann ihren Körper entdeckt hatte – wie Jonna jetzt auf ihre Weise. – Damals war er ein Heiligtum für ihn gewesen – jetzt sah er ihn nicht mehr, wenn er zu ihr kam.
Und doch war sie so ganz von Liebe erfüllt ...
Betrübt betrachtete sie das Kind, das mit seinen Händchen nach ihrer Brust faßte; noch nie hatte sie so deutlich gefühlt, daß es ein fremdes Kind war, und daß es ihr niemals näher stehen würde als jetzt – niemals ein eigenes sein, niemals ihr eigenes werden konnte, was sie beinahe geglaubt hatte. Es spielte mit ihrer Brust – aber es würde diese nie mit seinen Lippen suchen. – Es war kein Teil von ihr selbst – es lag da neben ihr als ein besonderes kleines Menschenkind.
Ja, so war es, und so würde es immer sein – merkwürdig, daß sie das bisher nicht so deutlich empfunden hatte!
Fast war es, als ob das Kind Ingeborgs plötzliche wehmütige Stimmung gefühlt hätte – obgleich das ja unmöglich der Fall sein konnte – denn auf einmal fühlte Ingeborg den weichen feuchten Mund der Kleinen auf ihrer Brust. Sie schaute zu ihr hinunter, da glänzten ihr Jonnas Augen froh entgegen ...
»Jonna küß Innbor!« rief sie, und wieder drückte sie ihr Gesichtchen auf Ingeborgs Haut.
Ingeborg lächelte gerührt.
»Ja, Jonna küßt Ingeborg,« sagte sie und strich dem Kinde über das wirre Haar. »Ingeborg sehnt sich danach, das darfst du glauben. Ingeborg sehnt sich nach so viel Liebe, als sie bekommen kann, kleine Jonna ... ja, das tut sie, du darfst es glauben.«
Sie faßte Jonna unter den Armen, zog sie an sich und küßte sie mit plötzlich erwachter Leidenschaft auf die Wangen, den Mund, die Augen, den Hals ...
Und Jonna ließ sich küssen mit einer eigenen vernünftigen Miene, die zeigte, daß es ihr recht angenehm war, obgleich ihr die Küsse vielleicht etwas warm vorkamen, und kurz nachher lag sie da, ihre Wange an Ingeborgs nackter Schulter, das Gesichtchen mit halbgeschlossenen, etwas müde oder schläfrigen Augen Ingeborg zugewendet.
Ingeborgs Arme hielten das Kind umschlungen, und sie fühlte den kleinen warmen Körper ganz an ihrer Seite hinunter; Jonnas Füße berührten ihre Hüften. Aber ihre Haut, die sonst so sehr empfindlich war, daß sie bei der geringsten Berührung zitterte und sich zusammenzog, blieb jetzt ganz ruhig.
Und Ingeborg selbst wurde ruhig und sicher neben diesem kleinen Körper, dessen Berührung schon alle ihre Sehnsucht stillte, in demselben Augenblick schon, wo sie geweckt wurde. Wie leicht und glücklich klopfte ihr doch das Blut in den Adern!
Ein gewisses erotisches Gefühl war es doch wohl, weil sie dabei unwillkürlich an ihren Mann denken mußte – aber wie sanft und süß war es ... so zart und gut! Ihr ganzes Herz war von Freude erfüllt, während sie jetzt so dalag.
Zur Mutter hatte sie Jonna nicht gemacht, nein, aber bettelarm war sie auch nicht mehr, nein, das war sie jetzt nicht mehr!
So lag sie mit dem Kinde in den Armen da – über sich selbst nachdenkend, schlummernd, träumend, während sie auf das ununterbrochene Klatschen des Regens gegen die Fensterscheiben lauschte.
Jonna schlief jetzt – und nach kurzem fielen Ingeborg selbst auch die Augen zu, und sie glitt in eine Art Traumzustand hinein, in dem sie zu fühlen meinte, daß sie und ihr Mann eng umschlungen durch ein tiefes, tiefes Wasser hinabsänken – daß sie sänken, sänken – in eine selige Tiefe, ein Hinsterben, in grundlose Tiefen – Mund an Mund ...
Sie erwachte beim Geräusch einer Tür, die aufgemacht wurde, und als sie aufschaute, stand Hartwig ihr freundlich zunickend unten an ihrem Bette.
»Bist dus?« fragte sie. »Guten Morgen! Ach, ich habe herrlich geträumt!«
»Ihr lagt so hübsch beieinander,« sagte er. »Man hätte euch so photographieren sollen.«
»So, war es hübsch?« entgegnete sie lächelnd. Wie er so vor ihr stand, mußte sie ihn unwillkürlich mit dem Traumbild vergleichen, das sie eben von ihm gesehen hatte.
»Worüber lachst du?« fragte er.
Sie lachte lauter.
»Ich lache über dich ... Du solltest nur wissen, wie vernünftig und ehrbar du jetzt im Augenblick aussiehst, und ...,« sie blies die Wangen auf, »... und so gesetzt ...«
»Wirklich? ... Na, jetzt erwacht die Prinzessin,« sagte er und trat zu Jonna, die gähnte und das Gesicht verzog. »Guten Morgen, Kleine!«
»Ei, wir sind übrigens schon einmal wach gewesen und haben Tee getrunken und alles mögliche andere getan,« sagte Ingeborg lächelnd. »Aber als es so schrecklich regnete, legten wir uns wieder nieder, um noch einmal zu schlafen.«
»Ja, es ist abscheuliches Wetter,« stimmte er bei. Zugleich ergriff er Jonnas Hand und schüttelte sie leicht. »Guten Morgen, Klein-Jonna!«
Jonna rieb sich die Augen mit der andern Hand.
»Morden Ert!« sagte sie.
»Sie nennt mich beständig Ert,« rief Hartwig. »Das geht doch wirklich nicht an, wir müssen ihr wohl bald das ehrwürdige Vater und Mutter beibringen, Ingeborg.«
»Aber das andere ist doch viel lustiger,« erwiderte Ingeborg fröhlich.
»Allerdings,« pflichtete Hartwig bei. »Aber nun höre einmal,« fuhr er fort, während er sich einen Stuhl heranzog. »Ich habe eben einen Brief von Frau Steens Anwalt bekommen, von einem Rechtsanwalt Möller, den ich übrigens auch persönlich kenne. Der schreibt uns hier« – Hartwig schaute in den Brief, den er in der Hand hielt – »und fragt an, wie es mit der Adoption stehe. Nun, wollen wir das Kind adoptieren oder nicht?«
»Eilt es denn so sehr?« fragte Ingeborg – und dann lachte sie.
»Das wohl nicht gerade, aber ich meine, das sei doch wirklich nichts zum Lachen.«
»Ich lache ja nur über dich!« rief Ingeborg noch immer lachend. »Du hast ja die ganze Stirne voll schwerer Kummerfalten.«
»Na, du scheinst ja deinen Humor wiedergefunden zu haben,« erwiderte er nun auch lächelnd. Er fuhr sich aber doch unwillkürlich an die Stirne und rieb sie ein wenig. »Aber wir müssen dem Manne doch antworten, nicht wahr? Ich hatte ihnen gesagt, wir wollten Jonna erst einmal vierzehn Tage sehen – kennen lernen, ehe wir uns entscheiden würden. Und diese vierzehn Tage sind jetzt vorüber. Wahrscheinlich steckt die Mutter dahinter, die darauf dringt, endgültigen Bescheid zu bekommen.«
Ingeborg hatte sich indes aufgesetzt und raffte nun ihr Haar zusammen, um es aufzustecken.
»Nun, dann wollen wir es eben tun,« versetzte sie. »Mach nun, daß du fortkommst, Ert!«
Er stand auf. »Du weißt, daß ich die Entscheidung ganz dir überlasse. Wenn du glaubst, du werdest es später nicht bereuen, dann tu es.«
»Nein, ich glaube nicht, daß ich es bereuen werde,« sagte sie mit einem glücklichen Lächeln. »Aber jetzt mußt du wirklich gehen, denn wir müssen uns nun anziehen.«
»Dann sprechen wir weiter darüber, wenn du hinunter kommst,« entschied Hartwig. Er nickte ihr noch freundlich zu und ging.
Ingeborg neigte sich über Jonna, legte ihr die Hand auf das Bäuchlein und schüttelte so das Kind ein wenig, daß es lachen mußte.
»Sollen wir Jonna adoptieren?« fragte sie, in das Lachen des Kindes einstimmend. »Möchte Jonna einen neuen Vater und eine neue Mutter haben, wie?«
Jonna lachte, daß es nur so gluckste, und wollte Ingeborgs Hand festhalten, die ihr aber entzogen wurde.
»Jetzt müssen wir aufstehen!« rief Ingeborg und hüpfte leichtfüßig aus dem Bett. Ein Liedchen summend kleidete sie sich an, während Jonna in ihrem Bett umherkrabbelte und zwischen den Decken und Kissen Verstecken spielte.
Ingeborg trat ans Fenster, zog die Gardine zur Seite und sah mit frohen Augen in den strömenden Regen hinaus.
»Bä Wetter!« sagte sie lachend zu Jonna und schlug auf die Scheibe: »Da da, Wetter! Da da! Da da!«
Jonna jubelte entzückt auf.
»Da da Wette!« rief sie und klatschte aus Leibeskräften auf das Bett los. »Da da Wette! Da da!«
»O du kleines Scheusal!« rief Ingeborg ausgelassen. Sie sprang zu und wälzte die jubelnde Kleine zwischen den Bettstücken umher, lief dann fort und goß das große Waschbecken auf dem Waschtisch neben dem Bett ganz voll mit Wasser.
»Ingeborg fort!« sagte sie zu der Kleinen und tauchte ihr Gesicht ganz in das kühle frische Salzwasser hinein.
Jonna wurde einen Augenblick ganz still und schaute sich verblüfft um. »Innbor fott!« sagte sie und streckte die Ärmchen nach ihr aus.
Aber da hob schon Ingeborg ihr patschnasses lachendes Gesicht aus dem Waschbecken und hielt es über Jonna, so daß das Wasser auf diese heruntertropfte.
Jonna schrie und wehrte sich gegen die Wassertropfen, bis sie plötzlich hintenüber ins Bett fiel und die Beine in die Höhe streckte.
»Ja, jetzt kommt die Reihe gleich an dich, meine Liebe!« rief Ingeborg lachend.
Sie wusch sich Hals und Schultern. »Ach wie herrlich!« flüsterte sie. Mit jedem Augenblick wurde ihr leichter und froher ums Herz.
Nun ergriff sie Jonna, hob sie hoch in die Höhe und steckte deren Köpfchen ganz ins Wasser hinein.
Aber Jonna schrie, als wenn sie am Spieße steckte, und als sie wieder aus dem Wasser herausgekommen war, schnaufte sie, schlug mit dem Kopfe und zappelte derart, daß Ingeborg sie fast nicht mehr festhalten konnte.
»Talt!« schrie sie. »Talt!«
»Ist es kalt?« rief Ingeborg. Und sie lachte über die Kleine, deren Haar nasser geworden war, als sie beabsichtigt hatte, sowie über das gerümpfte Naschen und den zornigen Mund, als sie Jonnas Köpfchen mit dem Handtuch bearbeitete.
»Ja, warte nur, bis du in das richtige große Wasser hineinkommst, du kleines wasserscheues Hühnchen!«
Aber Jonna war beleidigt und saß nun trotzig auf dem Bettrand.
»Ja, jetzt gilt's!« seufzte Ingeborg mit einem plötzlich etwas bekümmerten Blick auf das Häufchen Kinderzeug, das auf dem Stuhle neben Jonnas Bettchen lag. Sie wußte sich immer nicht recht zu helfen, wenn sie das Kind ankleiden sollte.
Der Anfang ging übrigens ganz gut. Das wollene Unterkittelchen und das Hemdchen kamen richtig an Ort und Stelle, und das wußte sie auch, daß das Röckchen zuletzt kam. Aber das Leibchen und die winzigen Höschen! Damit kam sie immer nicht recht zustande. Auf gut Glück griff sie nach dem Leibchen und hielt es vor das Kind hin, damit es die Beine hineinstecken sollte.
Jonna deutete eifrig darauf. »Osen!« rief sie und steckte ihre Füße hinein. »Osen! Osen!«
»Nein,« versetzte Ingeborg lachend und drückte die Kleine an sich, »es sind keine Hosen, Jonna; Ingeborg ist dumm.«
Und in überströmender Zärtlichkeit griff sie jetzt nach den Höschen, stülpte sie Jonna über den Kopf, so daß deren Ärmchen durch die Hosenbeine herauskamen, der Kopf aber darin sitzen blieb und nicht weiterkommen konnte.
»Dies sind die Osen!« rief sie.
Und sie lachte aus vollem Halse bei dem komischen Anblick, riß das Kind an sich und tanzte mit ihm, die kleinen schlegelnden Arme und das runde Köpfchen von dem weißen Stoff verhüllt, im Zimmer umher.
»Wo ist Jonna? Wo ist Jonna?« sang sie und drehte sich rund herum, bis sie sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte.
»Ach ja! Ach ja! Ach ja!« rief sie lachend und nach Atem ringend, während sie auf einen Stuhl sank. »Mir ist ganz schwindlig geworden.«
Jetzt zog sie Jonna die Höschen wieder vom Kopfe und lachte ihr in das rote verblüffte Gesichtchen hinein, das zum Vorschein kam.
Dann kleidete sie das Kind richtig an: das Leibchen, die Höschen, den Rock, während sie über sich selbst lachen mußte und das Kind küßte und so froh und fröhlich war wie ein fünfzehnjähriger Backfisch.
»So!« sagte sie schließlich und stellte Jonna auf den Boden. »Mit dem Kleide mußt du warten, bis ich mein Haar gemacht habe. Jonna darf heute ein neues Kleid anziehen.«
»Neu Dleid!« wiederholte Jonna zustimmend.
Ingeborg warf sich den Frisiermantel über, setzte sich vor ihren Toilettetisch, und ein Liedchen vor sich hinsummend begann sie sich zu kämmen. Inzwischen wackelte Jonna mit gespreizten Beinen im Zimmer umher und sagte immer wieder vor sich hin: »Jonna neu Dleid! Neu Dleid – ja!« wobei sie jedesmal kräftig dazu nickte.
Aus dem Spiegel lachten Ingeborg ihre eigenen frohen Augen entgegen, und die junge Frau wurde noch froher, als sie sah, wie jung und schön diese strahlenden Augen sie machten. Ach, freilich, bei dem allen konnte man schon guter Laune sein!
Sie betrachtete sich genau. Ja, der Teint, der hatte freilich etwas gelitten bei all der Sorge und dem Kummer der letzten Zeit, aber das ließ sich alles rasch wieder gutmachen. Im Herbst eine kleine Gesichtsmassagekur in der Stadt, das brachte ihr wohl die früheren lichten Farben bald wieder! Und ihr Haar sah herrlich aus, so leicht gelockt und mit einem hellen, spielenden Glanz darauf, wie es schon lange nicht mehr gewesen war. Langsam und fürsorglich kämmte sie die weiche Fülle, während sie dabei Jonna im Spiegel beobachtete.
Die Kleine ging umher, fingerte an allem herum und wußte offenbar nicht, was sie sich vornehmen sollte; dann trippelte sie zu Ingeborg hin und zupfte sie am Frisiermantel.
»Jonna nunter su Ert!« sagte sie eindringlich.
»Will Jonna zu Ernst hinunter?« wiederholte Ingeborg lächelnd. »Nein, nun muß Jonna warten, bis Ingeborg fertig ist. Ja warten – warten – warten!« neckte sie das Kind.
Aber die Kleine gab nicht nach. »Jonna nunter su Ert!« rief sie mit ungeduldiger Stimme.
»Nein, Jonna muß warten! Womit könnte ich dich nur unterhalten, du kleiner Ausbund?« fuhr sie fort und zog die Schublade des Toilettetischs auf. »Wir wollen einmal sehen, ob hier vielleicht ... ja, hier ist etwas für dich!« rief sie und zog ein kleines Photographiealbum heraus. »Jonna darf Bilder ansehen!« Damit zeigte sie dem Kinde das Album.
Jonna hüpfte vor Freude und streckte die Arme danach aus. Aber Ingeborg klopfte auf einen Stuhl neben sich, die Kleine kletterte hinauf, legte sich auf die Kniee und stützte die Ärmchen auf den Tisch.
»So!« sagte Ingeborg und schlug das Album vor Jonna auf. Dann beschäftigte sie sich wieder mit ihrem Haar, während sie leise eine Melodie vor sich hinsummte.
»Dame!« sagte Jonna, auf das Album deutend.
»Dame, ja!« erwiderte Ingeborg, ohne hinzuschauen.
Die Kleine blätterte weiter. »Mann, Ut auf!« sagte sie wieder.
Ingeborg sah flüchtig auf das Bild. »Ja, er hat wahrhaftig einen Hut auf!« rief sie lachend.
Jonna wendete wieder ein paar Blätter um und betrachtete einen Augenblick das neue Bild, das sich zeigte.
»Papa!« rief sie dann und streckte eifrig die Arme nach Ingeborg aus. »Papa, Papa!«
»Wer?« fragte Ingeborg überrascht. Sie warf einen Blick auf das Bild; es war eine vor ein paar Jahren aufgenommene Photographie ihres Mannes.
»Nein,« sagte sie lächelnd. »Das ist nicht dein Papa. Kann Jonna nicht sehen, wer das ist?«
»Papa, Papa!« rief die Kleine wieder und sah Ingeborg mit weit aufgerissenen Augen eifrig an.
»Nun, es ist ihm ja auch nicht besonders ähnlich,« dachte Ingeborg.
Auf dem Bilde trug Hartwig einen dichten, kurzen Schnurrbart, den er vor ein paar Jahren getragen, aber bald wieder abgenommen hatte, weil Ingeborg sagte, er stehe ihm nicht.
»Es ist ja Ernst, du dummes Tierchen,« sagte Ingeborg. »Ert ist es, Ert!«
Verblüfft betrachtete Jonna einen Augenblick das Bild; aber dann schüttelte sie energisch den Kopf.
»Nicht, Ert!« sagte sie bestimmt, »Papa!«
»Na ja, dann sagen wir eben, es sei Papa,« lenkte Ingeborg lächelnd ein und wendete sich abermals ihrem Haar zu, während Jonna weiter blätterte.
»Tind!« rief Jonna.
»Kind, ja,« wiederholte Ingeborg.
»Es ist übrigens komisch, daß Jonna Ernst mit diesem Scheel verwechseln kann,« dachte Ingeborg. Seit ihr vor vierzehn Tagen dessen Namen gesagt worden war, hatte sie sich alle Mühe gegeben, die Erinnerung an ihn wachzurufen, und sie meinte, sie sei einmal mit ihm zusammen gewesen, kurz nach ihrer Heirat ... in einer großen Gesellschaft, wo sich viele Menschen gedrängt hatten. Aber sie hatte nur eine ganz dunkle Erinnerung an ihn. Er hatte gewiß etwas Lautes und Anmaßendes gehabt – und wie – war er nicht auch dunkel gewesen? Ja, es war ihr, als habe er dunkles Haar gehabt.
»Aber Ernst ist ja ganz hellblond – auch auf dieser Photographie!« murmelte sie.
»Na, ich Gans!« dachte sie weiter und lächelte über sich selbst, »Jonna hat ja ihren Vater nie gesehen.«
Doch gleich darauf nahm ihr Gesicht einen ernsten, beunruhigten Ausdruck an. Ja aber, wie ist es denn dann?
Doch schon im nächsten Augenblick lächelte sie wieder – ja, jetzt verstand sie es. Natürlich hatte Jonna daheim bei ihrer Mutter eine Photographie von Scheel gesehen, die Mutter hatte ihr gesagt, dies sei der Vater – und jenes Bild hatte nun durch eine der merkwürdigen photographischen Zufälle, die ja so oft vorkommen, eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Bilde von Ernst, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war.
So konnte die Sache erklärt werden. Denn die beiden waren wohl ungefähr gleich alt, und Scheel hatte damals wahrscheinlich auch einen Schnurrbart getragen, gerade wie Ernst auf diesem Bilde.
Ja, ja, so war es gewiß!
Ingeborg lächelte vergnügt, beugte sich vor und fuhr sich mit der Puderquaste übers Gesicht; ihr war wirklich ganz heiß geworden bei diesem Nachdenken, und jetzt fühlte sie, daß Jonna sie am Ärmel zupfte.
»Wauwau! Wauwau! Wauwau!« rief die Kleine und deutete ungeduldig in das Album.
»Wauwau! Wauwau! Wauwau – ja!« wiederholte Ingeborg, die Kleine innig an sich drückend. »Hast du je einen so feinen Wauwau gesehen, mit Schleifen und Locken wie ein kleines Mädchen?«
»Tlein Mäden!« wiederholte Jonna vergnügt. Dann schlug sie das Album zu, und während Ingeborg jetzt ihr Haar aufsteckte, kletterte sie wieder von dem Stuhl herunter und trippelte davon, sich nach einem andern Spielzeug umzusehen.
Ingeborg trällerte ein Liedchen – brach aber plötzlich ab. Sie steckte die letzte Nadel in ihr Haar und krönte es mit einem breiten Schildpattkamm. Dann war sie fertig.
Die Hände müßig im Schoß blieb sie noch einen Augenblick sitzen und betrachtete ihr Spiegelbild. Das Haar saß, wie es sollte, und der Kamm verlieh ihr sogar eine gewisse Würde – und doch war ihr Bild da drinnen matter geworden. Es sah aus, als sei die Spiegelfläche von einem leichten Hauch getrübt worden.
Sie beugte sich vor – nein, das Glas war so blank wie immer, die Veränderung mußte also in ihren Augen liegen.
Sie nahm das Album und blätterte darin, bis sie Ernsts Bild fand, das sie aufmerksam betrachtete.
Wie schlecht es doch war!
Woran mochte das liegen?
Sie verdeckte den unteren Teil des Gesichtes mit der Hand ... so war es übrigens gar nicht so unähnlich – die kräftige Stirne, die ruhigen, Hellen, ein wenig ausdruckslosen Augen mit dem etwas abwartenden Blick – Fischeraugen hatte Ingeborg sie einmal genannt, weil sie, wie sie sagte, den Augen eines Mannes glichen, der in aller Ruhe und Gelassenheit nach seiner Angelschnur schaut, ob nicht ein Fisch anbeiße.
Dann schob sie ihre Hand über die Augen hinauf ... Ja, natürlich – der Bart war es, der ihn so sehr veränderte – dieser häßliche, dicke Schnurrbart verdeckte die Form des Mundes ganz.
Sein Mund – wie sah er nur gleich aus? Sie überlegte, konnte sich aber seinen Mund nicht ganz deutlich vorstellen. Das war doch merkwürdig!
»Jonna!« rief sie zärtlich.
Jonna war indessen auf die Chaiselongue hinaufgeklettert und spielte mit einer gelangweilten Miene an den Quasten eines Kissens. Bei dem Rufe ließ sie sich rasch von dem Ruhebett hinuntergleiten und eilte schwankend auf Ingeborg zu.
»Runter!« rief sie eifrig. »Runter!«
Ingeborg hielt ihr das Album hin.
»Nun, wer ist das?« fragte sie.
Das Kind patschte auf das Bild und rief: »Papa! Papa!«
Ei, wie das klang!
Rasch warf Ingeborg das Album weg und stand jäh auf.
»Nunter!« rief die Kleine ungeduldig. »Nunter!«
»Du mußt doch erst ein Kleid anhaben,« sagte Ingeborg ärgerlich, ganz als ob sie mit einem Erwachsenen spräche. Sie zog ein blaues Kleidchen aus der Schrankschublade und stellte Jonna auf den Toilettetisch. Schweigend zog sie ihr das Kleidchen an.
Während sie dem Kinde das Haar bürstete, flog ihr Blick wiederholt scheu über das Gesicht der Kleinen hin, die über Ingeborgs veränderte Miene höchst überrascht und ganz still geworden war.
»So, nun bist du fertig,« sagte sie und stellte Jonna wieder auf den Boden. Und mit einer eigenen Hast – mechanisch, als ob sie es plötzlich schrecklich eilig hätte, doch ohne zu wissen, warum – vollendete sie ihren eigenen Anzug.
Sie zog ein Kleid aus stahlblauem Etamin an, das am Halse etwas ausgeschnitten und mit einem großen cremefarbigen Spitzenkragen garniert war, der den Anzug an diesem Werktag eigentlich merkwürdig festlich machte. Aber dieses Kleid hatte eben wohl vorne im Schrank gehangen.
Nun trat sie an den Toilettetisch und bückte sich nach dem Album. Doch plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, so daß sie sich mit beiden Händen auf den Tisch stützen und die Augen schließen mußte.
Im Spiegel hatte sie einen Schein von ihrem eigenen Gesicht gesehen – ein bleiches Gesicht mit zusammengekniffenen Lippen und einem hilflosen, angsterfüllten, scheuen Blick.
»Ich bin verrückt,« sagte sie nach einem Augenblick mit dumpfer Stimme und öffnete blinzelnd die Augen wieder ... »Sie ist hier jeden Tag um ihn und sollte ihn nicht erkennen!«
Damit richtete sie sich auf und strich sich die Haare aus der Stirne. »Ich bin verrückt,« murmelte sie noch einmal. »Hinter dem Natürlichsten von der Welt suche ich etwas.«
Sie lachte ein wenig, und zugleich fiel ihr Blick auf Jonna, die mit auf die Seite geneigtem Köpfchen ernsthaft zu ihr aufschaute.
Ingeborg kauerte sich neben ihr nieder und nahm Jonnas Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände.
»O du, mit den wunderschönen Augen deiner Mutter!« rief sie und lachte mit tränenverschleierter Stimme. »Was du von Ingeborg denken mußt?«
Sie stand auf und nahm die Kleine auf den Arm.
»Jetzt gehen wir hinunter zu Ernst und erzählen ihm alles, was wir erlebt haben,« sagte sie lächelnd und fuhr sich rasch mit dem Taschentuch über die Augen.
Jonna hüpfte vergnügt in ihren Armen.
»Nunter su Ert!« rief sie.
»Ja,« fuhr Ingeborg fort. »Und wir nehmen das Bild von dem Papa mit. Das zeigen wir ihm und dann erklärt er uns, wie alles zusammenhängt.«
Sie zog die Photographie aus dem Album heraus und gab sie Jonna in die Hand.
Und mit dem Kinde auf dem Arm ging sie die Treppe hinunter zu ihrem Mann.