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Dem Sinn des Niederdeutschen für Natürlichkeit entspringt auch sein Sinn für das echt Geschichtliche; die heutige alexandrinische Bildung huldigt in Kunst wie Wissenschaft dem falsch Geschichtlichen. Sie nimmt gar zu gern die Schale für den Kern. Nie hat man, wirklich und figürlich genommen, mehr Ausgrabungen veranstaltet als in der Gegenwart. Aus dem eintönigen Grau des Werktages dürstet man nach Farben; man sucht sie in der Vergangenheit; man schmückt und schminkt sich mit ihnen. Aber letzteres macht bekanntlich nur noch grauer; ein prophetisches Wort Heines findet sich wieder bestätigt: »Sonderbar schauerliche Neugier, die oft die Menschen antreibt, in die Gräber der Vergangenheit hinabzuschauen! Es geschieht dieses zu außerordentlichen Perioden, nach Abschluß einer Zeit oder kurz vor einer Katastrophe.« Eine Kultur, die zuviel gräbt, gräbt sich zuletzt – ihr Grab; Leichengeruch steigt aus der Erde auf; und er trifft die, welche vorlaut in sie hineinspähen. Es ist bezeichnend, daß der Gegenwart die Schädel altgriechischer Freiheitskämpfer und die Leiche eines großen Königs, wie Ramses II., nur Museenstücke sind. Eine pietätlose Sammelwut greift mehr und mehr um sich. Der Standpunkt: »Jeder Abendmahlskelch wandert doch einmal zum Trödler« mag modern sein, aber menschlich ist er nicht. Wer die Dinge und die Welt in ihrem Zusammenhang betrachtet, wird auch immer darauf halten, daß dieser Zusammenhang möglichst gewahrt werde; wer sich allzuviel mit Mumien und Totenschädeln beschäftigt, nimmt selbst etwas von deren Charakter an. »Cursed be he, who moves my bones«, schrieb Shakespeare auf seinen Grabstein und er wußte wohl warum; an der gegenwärtigen Generation, welche so gern die »Knochen« der Vergangenheit »bewegt«, ist sein Fluch teilweise in Erfüllung gegangen. Der Niederdeutsche ist solchen Bestrebungen nicht hold; er ist ein Mann des Wirklichen und Gegebenen, des Echten und Einfachen; gesellschaftliche, künstlerische, geistige Maskierung liebt er nicht; er hat den Karneval der modernen Bildung nur in beschränktem Maße mitgemacht. Gerade er scheint dadurch möglicherweise berufen, der im heutigen Deutschland so überaus verbreiteten Altertümelei, d. h. der falschen Historik entgegenzutreten. Es wäre gut, wenn er im Rate der deutschen Stämme ein kräftiges Wort ertönen ließe; ein Wort für die Sitte und gegen die Mode in künstlerischen Dingen. »Was die jedesmalige Generation als zweckmäßig erkennt und ausspricht, das ist historisch und kein Sprung, mag es auch noch so sehr von dem bisher Bestandenen abweichen,« hat ein niederdeutscher Held und Dulder, Lornsen, verkündet; und ein niederdeutscher Held und Sieger, Bismarck, hat danach gehandelt. An der heutigen Generation ist es mithin, das Urteil zu sprechen, sich eine Meinung und ein Herz zu fassen: historisch zu sein, nicht historisch zu scheinen. Vorwärts, nicht rückwärts muß die Schraube gedreht werden – wenn sie halten soll. Nach jeder Heldenzeit kommt eine Epigonenzeit; aber nach einer Epigonenzeit kann auch wieder eine Heldenzeit kommen. Mit Heldentum fängt die deutsche Geschichte an; mit Heldentum muß sie auch aufhören; oder vielmehr sie sollte stetig dabei beharren.
Das innere Leben der Völker wächst und entwickelt sich nach den gleichen Grundsätzen, wie sie auf einzelnen Kunstgebieten, z. B. innerhalb der Architektur gelten. Ein vereinzeltes Formenelement an sich bedeutet nichts; der sogenannte gotische Spitzbogen kommt schon in Mykenä vor, aber ohne daß er organisch verwendet und zu einem eigenen Bausystem ausgebildet wäre; erst eine spätere Zeit wußte ihn organisch zu vervielfältigen in den deutschen Domen des Mittelalters. So ist auch eine rein historische, rückwärts gewendete Betrachtung der geistigen Persönlichkeit Rembrandts wie seines Volkes zwar nicht wertlos; aber sie ist immerhin unfruchtbar. Erst wenn dieser Menschentypus im bildenden Sinne auf das nationale Leben der Gegenwart angewandt wird, kann sich wie dort aus einem besonderen baulichen Konstruktionsprinzip eine ganz herrliche Baukunst, so hier aus einem besonderen künstlerischen Gesinnungsprinzip eine ganz herrliche Geisteswelt entwickeln. Wie eine angewandte Mathematik, so gibt es auch eine angewandte Geschichte!
In Übergangszeiten ist nichts nützlicher und notwendiger, als ein vergleichender und gewissermaßen sammelnder Überblick über den bisherigen Bestand an wirklicher Bildung. Das Ganze sammeln, lautet das Signal! Die bisherige europäische Bildungsachse reicht von Griechenland bis Niederdeutschland, von Homer bis Shakespeare, von Phidias bis Rembrandt. Von allen Kunstrichtungen und -schulen der Renaissancezeit ist keine dem natürlichen, rein griechischen Geiste näher gekommen als die venetianische; und das, obwohl oder gerade weil sie die Antike direkt am wenigsten nachgeahmt hat. Die Volkskulturen von Griechenland, Oberitalien, Niederdeutschland bieten, auch wenn man von den einzelnen besonders veranlagten Genien absieht, historische Vorbilder für den künftigen Deutschen als Minderheitstypus. Norden wie Süden gehören einer und derselben Erde an; die Höhen der Menschheit grüßen sich. Die räumlich wie zeitlich verschiedensten Ideale der Menschheit begegnen sich im Besonnenen, Milden, Menschlichen.
Die griechische Jünglingsstatue, der Frauentypus eines Paul Veronese, die Menschen Shakespeares und Rembrandts – sie haben volle runde Wangen; sie sind volle runde Persönlichkeiten; sie sind als solche nur Abbilder der damaligen Wirklichkeit. Deutschland bedarf solcher Typen wieder. Ihnen gegenüber hat der moderne Mensch etwas Hungriges in seinem Wesen; er muß wenigstens hie und da wieder satt werden. Wir brauchen eine breitschultrige, keine engbrüstige Lebensphilosophie und Menschensorte. Wenn jene obigen historischen Massentypen, die alle an der See erwuchsen, bei uns als Minderheitstypen lebendig werden – so wird der deutsche Mensch wiedererstehen.
Phidias konnte keine Porträts und Rembrandt keine eigentlichen Kultbilder schaffen; in diesen Lücken ihres Wesens, die sich gegenseitig ergänzen, verrät sich die besondere Kunstanlage des einen wie des anderen am bestimmtesten. Man wird den Deutschen nur gerecht beurteilen, wenn man ihn mit seinem eigenen Matze mißt und, falls man ihn dennoch mit anderen vergleicht, den Unterschied des deutschen gegenüber dem fremden Wesen scharf festhält; am meisten ist dies notwendig bezüglich der griechischen Kultur, welche dem Deutschen innerlich so verwandt ist, der er so viel verdankt und von der er sich darum – in einigen seiner besten Vertreter: Winckelmann, Karstens, Goethe, Hölderlin – etwas übermäßig hat beeinflussen lassen. In dem deutschen Charakter liegt, wie gesagt, eine gewisse Unruhe; will man ihn dennoch künstlich zur Ruhe zwingen, so ergibt sich daraus Unwahrheit oder doch Schiefheit; sie haftet den gräzisierenden deutschen Kunstwerken der obigen Männer, so vortrefflich diese sonst auch sein mögen, unbedingt an. Im deutschen Wesen, gerade wo es sich ganz echt zeigt, liegt aber oft auch eine gewisse Unbarmherzigkeit; der Deutsche ist aufrichtig und grausam, wie es Kinder sein können: »Dies Geschlecht kennt kein Erbarmen.« Die Malerei Kolbeins z. B. hat oft etwas fast Verletzendes an sich; er gibt die Dinge, wie er sie sieht; vor dem mitleidslosen Hauch einer solchen und ihr verwandten Kunst zerstieben die herkömmlichen Formen griechischer oder gräzisierender Kunstweise. Aber ein gemeinsamer Zug verbindet dennoch den echt deutschen mit dem echt griechischen Künstler; beide haben sich das unschätzbare Gut der Unbefangenheit bewahrt. Mehr kindlich milde äußert sie sich dort, mehr männlich hart hier. Der griechische Charakter verhält sich zum deutschen, wie der Meißel zur schwingenden Saite; wie das gerade, feingeschnittene, griechische zu dem geschwungenen, scharfknochigen, deutschen Profil; wie der nackte Athlet zum geharnischten Ritter. Mit der Zeit prägen sich die Züge des Menschen, und so auch der Menschheit, allmählich schärfer aus. Die zarte Unruhe führt zum künstlerischen Empfinden und die harte Unbarmherzigkeit zur kriegerischen Tat der Deutschen; Schwert und Fidelbogen gehören schon in ihren alten Heldensagen zusammen. Selbst das Christentum hat den Deutschen diesen ihren angeborenen Charakter nicht nehmen können; ihr Schutzpatron ist noch heute der heilige Erzengel Michael mit dem feurigen Schwerte, der Wächter am Throne Gottes; also eine Erscheinung, welche Streitbarkeit und Idealität, ja wenn man will, Krieg und Kunst in sich vereinigt.
Ex chersoneso cimbrica zeichnete Karstens, – der einzige unter den deutschen Malern, der auch äußerlich in wirklich griechischem Geiste schuf –, die meisten seiner Werke; der deutsche Künstler bediente sich römischer und griechischer Worte; er schilderte dadurch sich und seine Zeit. Auf der cimbrischen Halbinsel entstand das antikisierende Epos Klopstocks; und ebenda die Vossische Homerübersetzung; von hier gingen demnach die ersten positiven Anläufe der klassischen deutschen Literaturepoche des vorletzten Jahrhunderts aus. Der deutsche Geist unternahm von hier aus einen Vorstoß nach der Antike hin; und er entsprach damit ohne Zweifel einem tiefen Gefühl innerer Verwandtschaft; aber er tat es in falscher Weise. Wie oben gesagt, ist objektiv genommen, Rembrandt griechischer als Winckelmann; so ist auch, objektiv genommen, die deutsche Volksnatur griechischer als die deutsche Volksbildung. Dieser Unterschied muß scharf festgehalten werden, gerade weil er so oft verwischt worden ist. Daß Rembrandt ein »Grieche« war, wird manchem ebenso unwahrscheinlich dünken, wie daß die Griechen einstmals Zöpfe trugen; und doch ist beides einfache historische Wahrheit; in bezug auf die griechischen Zöpfe sogar ganz wörtliche Wahrheit. Freilich lernt man die Griechen nicht ausschließlich in kopienreichen Altertumsmuseen oder aus ideenarmen Lehrbüchern der Ästhetik kennen; man kommt heutzutage den griechischen Originalen schon allmählich näher; möchte man nun auch den deutschen Originalen näher kommen. Beide werden sich dadurch zuerst fremder und dann verwandter erscheinen. Es ist wahr, daß der Deutsche sich vom Griechen durch wesentliche Charaktereigenschaften unterscheidet; aber geht man weiter in die Tiefe ihres Wesens, so gelangt man wieder zu einer auffälligen beiderseitigen Übereinstimmung. Nach einer antiken Überlieferung bedeutet ελλην ursprünglich »verständig«; die Hellenen sind also die Verständigen; so weise und selbsterkennend war dies Volk in trotz und wegen seiner Kindlichkeit. Es gibt ein Scheingriechentum und ein Wahrgriechentum. »Griechheit, was war sie? Verstand und Maß und KIarheit,« sagt Schiller; dies ist das echte Griechentum, welches dem echten Deutschtum – das vorwiegend auf Verständigkeit beruht – außerordentlich nahe kommt. Hieran, nicht an äußere griechische Formenprinzipien soll man sich halten. Jene Verständigkeit ist bei den Griechen mehr von sanfter, bei den Deutschen mehr von schneidender Art: Perikles und Bismarck!
Jener reale Idealismus, der einen Shakespeare auszeichnet, war auch den Griechen eigen. Und mag es ein Beweis uralter Volksverwandtschaft oder nur ein Ergebnis ähnlicher, äußerer Lebensbedingungen sein, es darf als ein verheißungsvolles Zeichen gelten: daß man unter allen Menschenrassen und -stämmen der heutigen bewohnten Erde allein bei den Niederdeutschen jenen schlichten, geradegeschnittenen, ruhigblickenden, männlichen Typus, mit vollem Bart und wenig hervortretenden Lippen, noch zahlreich und offenbar gattungsmäßig vertreten findet, welcher künstlerisch im Zeus des Phidias vorliegt. Möge die Siegesgöttin, die an die Hand jenes Göttertypus gefesselt war, auch diesen Menschentypus nicht verlassen! Es ist ein Gesichtsschnitt, den man an gebildeten und vornehmen Engländern, aber auch an deutschen und niedersächsischen Bauern häufig findet. In Athen war die σωφροσυνχ zu Hause; die Athener, in ihrer guten Zeit und als reiner Stammestypus, waren selbst unter den besonnenen Griechen die besonnensten und darum die genialsten. Phidias, dieser besonnenste aller bildenden Künstler, hat jene Geisteskraft in seinem Zeusbild als momentanen, in seinem Athenabild als bleibenden, in beiden aber als beherrschenden Charakterzug zum Ausdruck gebracht. Hier hat sich die Besonnenheit drei oder vier Mal mit sich selbst multipliziert; sie ist griechisch, attisch, bildnerisch, mythisch; sie hat sich zur festen, sichtbaren, künstlerischen Norm und Form kristallisiert. Wer nicht weiß, was Genie ist, kann es hier lernen.
Um griechische Statuen zu verstehen, muß man die griechische Sprache kennen – behauptet der Gelehrte; um griechische Statuen zu verstehen, muß man griechische Augen haben – erwidert der Künstler; und Rembrandt hatte sie. Es besteht eine innere Kunstverwandtschaft der Niederdeutschen mit den Griechen, die ihrer äußeren Naturverwandtschaft und der ihnen gemeinsamen inneren Ruhe entspricht; es gibt sogar gewisse Punkte, in welchen sich die griechische und die holländische Kunst direkt berühren. Der Kopf des Potterschen Stiers auf dem berühmten Bilde im Haag ist dem bekannten Phidiasschen Pferdekopf aus dem Parthenongiebel innerlichst verwandt. Hier wie dort wird das animalische Leben in seiner ganzen Tiefe erfaßt und dargestellt; innerhalb der speziell italienischen Kunst sucht man vergebens nach einer solchen Leistung. Anklänge daran finden sich nur bei Dürer, wenn er etwa einen Taubenflügel oder dem nach Namen wie Abstammung germanischen Leonardo, wenn er einzelne menschliche Gliedmaßen mit einer fast unheimlichen Genauigkeit ab- und aufzeichnet. »In der Kunst gibt es keine Nebensachen,« lautet der Ausspruch eines bedeutenden Künstlers; und er gilt auch vom Kriege: was hier der Gamaschenknopf, bedeutet dort das Naturdetail. Rafael und Michelangelo umfassen nur die hohe, die Deutschen und die Griechen sowohl die hohe wie die niedere Seite der Kunst; jene haben »Löwengeist«, aber keinen »Insektengeist«; diese haben beides. Das Niedrige als gottgeweiht anzusehen, ist griechisch und deutsch; Phidias und Rembrandt brauchen nicht exklusiv zu sein in ihrer Stoffwahl, weil sie – vornehm sind.
Die griechischen Götter selbst waren nur Reflexe, von der griechischen Menschheit in die Natur geworfen. Im Zeus von Olympia hat der attische Bildhauer recht eigentlich den » milden Mann« dargestellt, den die altdeutsche Sage so hoch preist, zu dem sich ein Goethe allmählich emporbildete, als der ein Shakespeare wie ein Sophokles von ihren Zeitgenossen gerühmt wurden und der sich am schönsten in der einzigartigen, unvergleichlichen Gestalt Christi verkörpert hat.
Der Name Christus ist ein griechischer Name; das Evangelium ward griechisch geschrieben; wie denn das Christentum, der bisher höchste Faktor des inneren deutschen Lebens, in mancher Hinsicht von mildem Griechengeiste durchflutet ist.
Venedig ist geschichtlich genommen der einzige Punkt, wo deutscher Geist mit griechischem Geist sich, ohne Vermittelung der Römerkultur, direkt berührt hat; und das ist hoch bedeutsam. Zudem ist das alte Venedig, dessen Bewohner von niederdeutscher Abkunft und daher dem niederdeutschen Meister blutsverwandt sind, die vornehmste Stadt und das vornehmste Gemeinwesen, welches Europa je gehabt hat; es war sich selbst dessen wohl bewußt und ist in dieser Beziehung bis jetzt noch nicht wieder erreicht worden. »Hier bin ich ein Edelmann, daheim ein Schmarotzer,« berichtete Dürer aus Venedig; und sein Wort gilt in mancher Hinsicht auch von der deutschen Volksart selbst, wie sie sich in Deutschland und Oberitalien entwickelt hat: hier edelmännisch, dort pfahlbürgerlich! Für den letzteren Standpunkt haben die gesellschaftlichen Verhältnisse des achtzehnten und die politischen Verhältnisse des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland weitere Belege geliefert. »In Deutschland ist alles zu finden, nur nicht eine grandiose Ansicht von irgendeiner Sache,« durfte noch Cornelius schreiben. Diesem Pfahlbürgertum entgegenzuwirken, scheint das alte Venedig noch heute berufen. Es ist so recht eine adelige Stadt. Im Mittelalter aber hatte das Wort »adelig« etwa den Sinn des heutigen »ideal«; da man doch so gerne Fremdwörter ausrottet, könnte es vielleicht jetzt wieder verwandt werden. Ist doch Idealität ohnehin nicht« anderes als ein Hinstreben nach sittlichem, geistigem und körperlichem Adel. Man hat sich in neuerer Zeit oft. sei es nun auf politischem oder sozialem Gebiet, überdemokratisch gebärdet; etwas innerer und äußerer Aristokratismus, nach venetianischer und Rembrandtscher Art, würde dem deutschen Volke darum sehr gut tun. Die eigentümliche Mischung von Handel und Vornehmheit, Kunst und Politik, bescheidenem Volkstum und kraftvoller Herrschernatur, wie sie das alte Venedig darstellt, ist dem neuen Deutschland noch nicht zuteil geworden. Aber sie ist in seiner bisherigen Entwickelung latent vorhanden; sie offenbar zu machen, würde eine echte Offenbarung des deutschen Geistes sein. Wenn Rembrandt kein Niederländer wäre, so verdiente er ein Venetianer zu sein; dies gilt von seiner Person wie von seiner Malerei. An den Mündungen des Po wie des Rheins treffen der starke Heimatsinn der Marschbewohner mit dem weiten Weltblick der Seefahrer zusammen. Das Streben des Niederdeutschen aus dem Engen ins Weite betätigt sich beiderseits. Und man möchte wünschen, daß von dem Adel, welcher aus dem Zusammenwirken solcher Verhältnisse politisch wie künstlerisch erwuchs, auch in das heutige Deutschland etwas überginge. Politisch hat Deutschland seine Rechte an Venedig aufgegeben; geistig darf es dies nicht; im Gegenteil: es sollte hier und anderswo, wann und wie es nur angeht, seine geistigen wie moralischen und künstlerischen Renforts verstärken. Shakespeare, der germanische Urdichter, sympathisierte nicht umsonst so stark mit Venedig. Politischer, geistiger, künstlerischer Aristokratismus stützten und stärkten dort einander; sie erzeugten Glanz und Ruhm.
Wie Rembrandt das Gegenteil Rafaels, ist die Markuskirche zu Venedig das Gegenteil der Peterskirche zu Rom. Das dunkle und goldglänzende Innere der ersteren zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit dem von Rembrandt öfters gemalten Tempel Salomonis; der Weg von Amsterdam nach Jerusalem geht über Venedig. Und mehr als das. Die Innenräume jenes nationalen venetianischen »Tempels« entsprechen völlig dem Malprinzip des großen Niederländers. Ihre künstlerische Wirkung setzt sich zusammen aus mystischem Dunkel und mystischem Licht; sie sind erfüllt von malerischem, plastischem, architektonischem und musikalischem Gehalt: ganz so wie die Bilder des Helldunkelmeisters. Diese wie jene sind überreich an Detail, scheinbar ohne konstruktive Ordnung und wirklich voll von geschichtlichem, geistigem, seelischem Wachstum. Diese wie jene sind nach ihrem eigenen besonderen Gesetz »komponiert«. Ein großer Mann hat von der Markuskirche gesagt: sie sei ein Ding, das keinen Hintergrund habe; man kann dies auch von der Kunst Rembrandts sagen. Beide sind eine Welt in sich; eine solche hat aber keinen Hintergrund: darin beruht ihr Wesen; sie steht der Ewigkeit gerade gegenüber. Hat man von Shakespeare vermutungsweise angenommen, daß er in Venedig gewesen sei, als Matrose; so braucht man von Rembrandt dies nicht anzunehmen: er ist dort gewesen – als Seher. Andererseits aber gibt es zahlreiche Bilder der oberitalienischen Malerschule, welche sich dem niederländischen Helldunkel völlig nähern; es braucht nur an Giorgione, Tizian, Schiavone, die Bassanos und andere erinnert zu werden. Der Christuskopf auf dem Schweißtuch der heiligen Veronika, von unbekanntem Mailänder Meister, im Berliner Museum stellt die Krone einer derartigen Malerei dar. Er ist, wie die Rembrandtschen Bilder, fast monochrom gemalt; er gleicht ihnen an innerer Vornehmheit wie seelischer Tiefe; er spricht lautlos, aber nur umso beredter zum Herzen. Auch er ist »still und bewegt«; aus ihm weht uns germanischer Geist an; dieser erfüllt den Bataver wie den Lombarden.
Venedig, der einzelnen aristokratischen Stadt von einstmals, steht Nordamerika, ein ganzer demokratischer Kontinent von heute gegenüber; indes dürfte den jetzigen Deutschen die Wahl zwischen beiden Mustern nicht schwer fallen. Venetianisierung ist besser als Amerikanisierung. Es ist sogar nicht unmöglich und jedenfalls zu hoffen, daß die letztere, wie sie sich heutzutage diesseits und jenseits des großen Meeres geltend macht, nur eine Vorstufe für die erstere ist. Der äußeren und inneren Ähnlichkeit Moltkes mit altvenetianischen Dogen wurde schon gedacht; ein Nordamerikaner aber hat seinerzeit über eben diesen Helden treffend gesagt: he has properly a New-England face; Moltkes der Industrie wie des Handels hat es bekanntlich in Nordamerika von jeher gegeben. Der Sieger von 1870 hat sich einmal als »Graf Molke, Bauer« unterzeichnet. So findet sich der niederdeutsche Demokratismus und Aristokratismus schließlich in einem Typus und wenn man will, in einem Punkte wieder zusammen. Es ist der Typus des höheren Bauern, des rechnenden Aristokraten, des genialen Kalkulators; das italienische Staatsoberhaupt, der deutsche Feldmarschall, der amerikanische Großunternehmer zeigen ihn gleichmäßig; es ist ein überlegener, herrschender, siegender Typus; es ist eine Zukunftsschwangere masque de fer. Unter ihr pulsiert das zarteste Leben. Den Lyriker Shelley hat man cor cordium genannt und Moltke hat das Wort vom »Stoß ins Herz« gesprochen; dennoch konnte der erstere ebenso tapfer sein wie der letztere mild. Das ist niederdeutsche Doppelnatur. Eben diese Verbindung von Milde und Härte ist in der Lagunenstadt zu Hause. Die alten Venetianer waren, wie gesagt, teilweise Langobarden; diese wohnten ursprünglich am linken Ufer der unteren Elbe; es sind die Südalbinger zu den Nordalbingern. Hier gruppiert sich wieder das geistige, wie oben das politische Leben der Deutschen je rechts und links von der Elbe; und der betreffende Zusammenhang läßt sich sogar sichtbar nachweisen: der Abgeordnete von Bennigsen zeigte einen Gesichts- und Schädeltypus, den man noch heute in der Lombardei häufig antrifft. Dieser Typus verbindet Nord- und Südgermanien. Es war eben nicht nur Geistes-, sondern auch Blutsverwandtschaft, welche den Angelsachsen und demnach Abkömmling der Nordalbinger, Shakespeare so außerordentlich zu Venedig hinzog; nichts ist seinen Dichtertypen so ähnlich wie die Malertypen Paul Veroneses. Noblesse hier wie dort! Nord- und Südalbinger haben sich von jeher zu politischem, geselligem, geistigem Aristokratismus geneigt; beiden wurde infolgedessen in der Vergangenheit eine hier mehr glänzende, dort mehr verschwiegene, geschichtliche Ausnahme- und Vorzugsstellung zuteil. Es ist zu erwarten, daß wie –nach dem Obigen – Schleswig-Holstein, so auch Venedig noch eine besondere Bedeutung im innern deutschen Leben gewinnen dürfte. Nach verschiedenen Seiten zeigt Venedig als historisches Ideal dem deutschen Volke, im Spiegelbild und im kleinen Maßstäbe und in der Vergangenheit, was es in Wirklichkeit und in größerem Maßstäbe und in der Zukunft sein könnte wie sollte. Es ist früher tatsächlich die Hauptstadt des guten Geschmacks in Europa gewesen; es sollte dies geistig wieder werden. Dann würde statt der leichtfertigen Dame Paris wieder eine echte Edeldame in der europäischen Gesellschaft den Ton angeben.
Wo die politischen, da liegen auch die geistigen Keime eines Volkslebens: Niederdeutschland ist wie das politische, so auch das geistige Bindeglied zwischen Preußen und Deutschland. Möchte denn der niederdeutsche Charakter, welcher innere Tiefe mit äußerer Schlichtheit verbindet, recht bald sich im gesamten deutschen Leben bemerkbar machen! Der Rauch, der aus der Scholle aufsteigt, ist die Seele des Landes; zu dieser Seele muß die deutsche Bildung zurückkehren. Die im jetzigen Deutschland so mannigfaltig grassierende Bauernmalerei und Bauerndichtung entspringt dem dunklen, aber nur zu häufig in manierierter Weise sich äußernden Gefühl: daß die Nation sich von jener gesunden Grundlage ihres geistigen Daseins entfernt habe und zu ihr wieder zurückkehren müsse. Man schwärmt gegenwärtig für die Bewohner des Schwarzwalds, wie man im vorigen Jahrhundert für die von Otaheiti schwärmte; möge man auch jetzt, wie damals, schließlich den Weg von der Unnatur zur Natur zurückfinden. Es ist wahr, der fränkische Stamm z. B. hat einen Dürer, Luther, Bach, Goethe und der bayrische Stamm einen Mozart erzeugt; aber beide sind für eine Wirklichkeitskunst – für das, was man echten Realismus nennen kann – nur in beschränktem Maße eingetreten. Ihren vollen Sieg feiert jene nur in den Geistesheroen aus niederdeutschem Stamm: Shakespeare gegen Goethe! Insbesondere ist der niederdeutsche Typus Mensch dafür befähigt und berufen, eine ebenso natürliche wie edle Geselligkeit zu pflegen; kein Geringerer als eben Goethe hat das bezeugt. Er spricht ausdrücklich von der »Humanität im besten Sinne des Wortes, die sich durchaus im nördlichen Deutschland verbreitet hat« und fügt hinzu: »Eine gewisse Kultur, die vom Herzen ausgeht, ist daselbst einheimisch wie vielleicht nirgends.« Man darf sagen, daß dies vielfach noch heute wahr ist; daß hier also ein Kern und Keim für deutsches Geistesleben, für deutsches Familienleben, für deutsches Menschenleben gegeben ist!
Das Kennzeichen des niederdeutschen Volkstums, das Plattdeutsche, ist eine ausgemachte Bauernsprache. Der weiche, verschmolzene »butterige« und dabei doch kräftige Charakter der Rembrandtschen Malerei stimmt durchaus mit ihr überein. Rembrandt malte plattdeutsch – wie er holländisch, d. h. ein etwas breiteres und selbstbewußteres Plattdeutsch sprach. Man kann ihn einen Dialektmaler nennen. Es ließe sich wohl auch eine Plastik denken, welche in diesem Geiste gehalten wäre; eine solche würde freilich Winckelmannschen Schönheitstheorien sehr wenig entsprechen,– sie würde jenen Bildhauern, welche noch heute auf »schöne Linien« halten, einen ähnlichen Eindruck machen, wie ihn Shakespeare auf Voltaire machte: nämlich den eines »betrunkenen Wilden«. Aber dem, der sie wagen wollte und könnte, würde sie sich gut lohnen; daß sie gerade in Holland entstehen muß, ist nicht gesagt; daß sie nur in Niederdeutschland entstehen kann, scheint sicher. Es könnte sein, daß der niederdeutsche Bauer im inneren Leben Deutschlands noch eine wichtige Rolle spielen wird; er hat lange genug geschwiegen; möglicherweise beginnt er nun zu reden, sogar im eigentlichen Sinne des Worts. Man hat sich neuerdings des Plattdeutschen vorwiegend in humoristischer Absicht als Schriftsprache bedient; indes ist eine solche Verwendung durchaus nicht erschöpfend: der traditionelle Eulenspiegel erschließt nur eine Seite, nicht den gesamten Inhalt des niederdeutschen Menschen. Es sollte eine ernsthafte, plattdeutsche Prosa geben. Fritz Reuter ist wesentlich Humorist und kann darum hier nicht in Betracht kommen; Pathos, wo er es versucht, steht ihm nicht an; eines gleichmäßigen, dauernden, getragenen Ernstes ist er seinerseits nicht fähig; wohl aber ist die plattdeutsche Sprache des Pathos fähig. Ja sie ist für diesen bestimmt. Man sagt, daß es schrecklich sei, wenn ein Mann weint; so dürfte vielleicht eine plattdeutsche Tragik jede andere überbieten; aus dem Schlichten entwickelt sich am ehesten das Grandiose. Welch eine starke und erhabene Wirkung noch jetzt dem niederdeutschen Dialekt zur Verfügung steht, weiß derjenige, welcher den Bundeseid kennt, den die Buren vor ihrem Kampfe mit den Engländern 1880 schworen: ein so ingrimmiger Ernst und eine so hochgetragene Ausdrucksweise findet sich kaum in einer Shakespeareschen Tragödie. Es ist eine echte Heldensprache; Bismarck und Moltke hätten sich, wenn sie wollten, in ihrer gemeinsamen Landessprache: auf plattdeutsch miteinander unterhalten können. Und diese Sprachbrüderschaft beider Männer ist kein zufälliges Symptom; wie aus der Mutterlauge der Kristall, so schlägt sich aus der Muttersprache der Geist nieder – und wirkt weiter.
Wer plattdeutsch fühlt, der wird auch plattdeutsch schreiben können. Aber freilich müßte dies kein beliebiger Schullehrer, sondern ein plattdeutscher Chaucer oder Hebel sein; er könnte diesen reichen Sprachschatz heben. Vielleicht findet ein solcher sich mit der Zeit. Man hat neuerdings bereits angefangen, selbst in Nordamerika wieder plattdeutsch zu predigen; der Neudruck einer plattdeutschen Bibel, wie es deren früher so viele gab, geht diesen Bestrebungen fördernd zur Seite. Eine gelegentlich schon versuchte plattdeutsche Übersetzung des Homer würde, wenn von einem Meister der Übersetzungskunst ausgeführt, den treuherzigen, klaren und kräftigen Naturton des Originals unzweifelhaft gut und vielleicht besser noch als das Hochdeutsche wiedergeben; denn das ältere deutsche ist dem alten griechischen Idiom seelisch verwandt; Grundsäulen der Bildung, wie die Bibel und Homer, sollten sich ihm nicht verschließen. Aristophanes, Don Quixote, Lafontaine, Geliert, Holberg, Simplizissimus, Chaucer: kurz, alle jene Schriften, in denen eine starke Ader von Natürlichkeit schlägt, würden sich zur Übertragung ins Plattdeutsche eignen. Das älteste Literaturwerk der deutschen Sprache war eine Übersetzung, die der Bibel durch Ulfilas; die ungarische und südslawische Literatur hat sich erst in diesem Jahrhundert aus Übersetzungen und – einheimischen Volksliedern entwickelt; weshalb sollte der speziell niederdeutschen Literatur ein ähnlicher Weg versagt sein? »Eulenspiegel soll ein sehr schöner Mann gewesen sein,« heißt es in einem alten Volksbericht; er lebt jetzt nur noch als Possenfigur; sollte auch seine Sprache, soweit sie literarisch gehandhabt wird, sich nicht wieder zu schönem Ernst erheben können? Klaus Groths Versuche nach dieser Richtung hin blieben bisher vereinzelt; auch nähern sie sich oft zu sehr dem Sentimentalen; und das ist nicht niederdeutsch. Die Fülle und Biegsamkeit des plattdeutschen Dialekts befähigen ihn jedenfalls zu einer großen Entwickelung; es sind einmal plattdeutsche Opern in Hamburg aufgeführt worden; warum sollte es nicht wieder so kommen? Wie Holland und Hamburg – als Häupter des weiteren und engeren Niederdeutschlands – so hat auch das alte Venedig sich stets seinen Volksdialekt gewahrt. Die dortigen Senatsverhandlungen, die öffentlichen Beschlüsse, die Gesandtschaftsberichte sind in demselben gehalten: das sog. Schriftitalienisch wurde dabei nicht berücksichtigt. Man begnügte sich mit einem Plattitalienisch. Und das ist tief bedeutsam; man sprach »wie einem der Schnabel gewachsen war«; man sprach individuell. Und sogar das Schriftitalienisch ist auf eine ähnliche Weise entstanden. Der toskanische Vulgärdialekt wurde vor Dante ebenso verachtet und für unliterarisch gehalten, wie jetzt der niederdeutsche; die göttliche Komödie machte ihn für die Weltliteratur hoffähig. »Er schrieb nicht wie er sollte«, urteilten damalige gelehrte Zeitgenossen über Dante; die Nachwelt hat anders geurteilt. Volk und Gelehrte messen recht oft mit verschiedenem Maß. Noch im vorigen Jahrhundert hat ein Dichter von erstem Range das gleiche Beispiel gegeben, wie Dante, nämlich Robert Burns. Luther und Lessing, Shakespeare und Moliere, Dante und Cervantes wirkten dadurch, daß sie zur Natürlichkeit und zu volkstümlicher Gesinnung zurückkehrten. Nur auf solcher Folie kann sich ein neuer und großer Zug der Literatur entfalten.
»Zu Hamburg erst habe ich den Reichtum der deutschen Sprache kennen gelernt,« bezeugt Lessing; dieser Reichtum geht zweifellos auf die nahen Beziehungen der dortigen Sprechweise zum Plattdeutschen zurück. Hamburg und Amsterdam sehen einander wie äußerlich so auch innerlich ähnlich; man sollte daher denken, daß auf dem verwandten Boden, wenn auch nicht gerade ein Rembrandt, so doch ihm verwandte Kunstbestrebungen aufwachsen könnten; die Plattdeutschen sollten sich nur künstlerisch entdecken; wer weiß, was daraus folgte! Der Reichstagsabgeordnete Reinhold hat in einer Reihe von öffentlichen Aufsätzen die künstlerischen Aufgaben und Ziele erörtert, welche sich nunmehr der Stadt Berlin, nachdem sie Reichshauptstadt geworden, aufdrängen müßten; und er hat dabei speziell auf Hamburg als ein nachahmenswertes Beispiel hingewiesen. Geheime Bauräte gibt es in Hamburg nicht: wohl aber öffentliche Bauwerke – die rein praktisch gemeint und doch schön sind. Der Niederdeutsche bewahrt sich eben, trotz seines Weitblicks, gern den Sinn für das Natürliche; dadurch konnte Hamburg die stehende Schule des guten deutschen Schauspiels werden. Es scheint nicht unmöglich, daß es auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu einer ähnlichen Rolle berufen oder doch befähigt ist. Innere Vornehmheit und Schwung der Gesinnung müssen freilich hinzukommen, wenn etwas erreicht werden soll. Die Natürlichkeit allein tut's nicht; denn »man muß ein ehrlicher Mann sein, aber man ist verdammt wenig, wenn man nichts ist als ein ehrlicher Mann«, sagt Lessing. Es wäre nicht das erste Mal, daß Hamburg im deutschen Geistesleben Epoche macht; schon einmal ist letzteres, durch Klopstock und Lessing, von dieser Stadt aus befruchtet worden; schon einmal hat man hier einen Rückweg zu Natur und Wahrheit gefunden. Eine Stadt wie ein Staat kann nichts besseres tun, als seinen ehrenvollsten Traditionen treu bleiben: das ist Konservativismus, wie er sein soll; und zugleich Liberalismus, wie er sein soll. – Als die zwei ergänzenden Seiten niederdeutschen Lebens und Dichtens, Singens und Sagens stehen sich der höfische Reinecke und der derbe Eulenspiegel, der Adelsdichter Shakespeare und der Volksdichter Chaucer gegenüber. Bei Chaucer tritt der Vornehme, bei Shakespeare der Volksmann nur ausnahmsweise und künstlerisch untergeordnet auf. Jede dieser beiden Strömungen bedingt die andere: die erste ist mehr in der Hütte, die zweite mehr im Paläste zu treffen; eigentlich sowohl wie uneigentlich genommen. Die stets wiederkehrende Entsprechung zwischen dem aristokratischen und dem demokratischen Element im Niederdeutschen hat sich auch ganz äußerlich und doch wieder innerlich im Volksleben kundgegeben. In Nordamerika, wo der Massengeist des niederdeutschen Stammes zu seinem relativ stärksten Ausdruck gelangt ist, pflegt gewöhnlich bei Präsidentschaftswahlen a dark horse, d. h. ein völlig unbekannter Mann oder eine bloße Nummer aus der Menge den Sieg davonzutragen; im skandinavischen Norden, wo die aristokratischen Geister des germanischen Stammes, wo die Hamlets und Svedenborgs zu Hause sind, spielt das auch aus Ibsens Dichtungen bekannte »weiße Pferd« – hvide hesten – die visionäre und für das Innenleben bedeutsame, ja oft verhängnisvolle Einzelerscheinung, in der Volkssage eine hervorragende Rolle. Beide Anschauungsweisen knüpfen gleichmäßig an das urgermanische Symbol, an das Schildzeichen der alten Sachsen, welches noch heute auf den Dächern niedersächsischer Bauernhöfe und im Wappen des niedersächsischen Landes Braunschweig zu finden ist: an das springende Pferd an. Niederdeutsche Kraft und »Pferdekraft« hat England wie Nordamerika besiedelt; möge sie nun auch auf edlerem Gebiete sich betätigen, und im Zeichen des Sachsenpferdes und seiner Kraft eine neue schöpferische Periode für das Geistesleben der Deutschen beginnen! Die demokratische Bewegung der Neuzeit hat mit dem amerikanischen Befreiungskampfe des vorletzten Jahrhunderts begonnen und nachträglich auch auf Deutschland ihre Schatten geworfen. Wer weiß, ob nicht einmal umgekehrt etwas aristokratisches Licht von Deutschland auf Amerika zurückfällt; es gibt und gab erfahrene transozeanische Politiker, welche dergleichen für möglich halten. Jedenfalls darf »das dunkle Pferd«, der demokratische Geist in Deutschland nicht zum maßgebenden Faktor des nationalen Lebens werden; hier ist »das weiße Pferd«, der vornehme menschliche Einzeltypus politisch wie geistig am Platze. Zwischen beiden Anschauungen liegt mehr als ein Ozean. Der Niederdeutsche neigt zur Synthese, zum Zusammenschluß. Politisch hat er das in den verschiedensten Teilen seines Gebietes und mit dem glänzendsten Erfolge betätigt: die »vereinigten« Niederlande, das »vereinigte« Königreich von Großbritannien, die »vereinigten« Staaten von Nordamerika, die »vereinigten« Königreiche Schweden und Norwegen, das »ungeteilte« Schleswig-Holstein, der seinerzeitige deutsche National»verein«, und das wesentlich auf niederdeutschem Boden emporgewachsene und von niederdeutschen Männern formulierte »verbündete« Deutsche Reich von heute beweisen es. Jenen Beruf zur Synthese kann und wird der Niederdeutsche auch auf geistigem Gebiete betätigen; er scheint daher besonders geeignet, den bisher vorherrschenden Zersetzungstendenzen innerhalb der deutschen Bildung ein Halt zuzurufen: Zusammenschluß, auf geistigem Gebiet, ist Aufbau.