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Einseitige Gelehrsamkeit

1. Spezialismus

Wenn die Wissenschaft, welche wesentlich Sache des Verstandes ist, ins Gebiet des Kopfes gehört, so gehört die Kunst, welche den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, wesentlich ins Gebiet des Herzens; beide aber sind aufeinander angewiesen. Es ist ein Zeichen von sittlicher wie geistiger Unreife, wenn das Herz den Kopf ignorieren will; so ging es teilweise der Bildung des vorletzten Jahrhunderts. Aber es ist ein Zeichen von sittlicher wie geistiger Altersschwäche, wenn der Kopf das Herz ignorieren will; so geht es vielfach der Bildung des letzten Jahrhunderts. Vorzüglich im heutzutage ganz überwiegend unkünstlerischen, weil spezialistischen und mechanischen Betrieb der Wissenschaft äußert sich dies. Hier tut eine Wiedergeburt not. »Hat ein Professor wohl ein Herz?« fragte einst Lessing; »hat ein Professor wohl einen Kopf?«, möchte man jetzt fragen, wenn man sieht, wie der Sinn für das Gesamtleben der Welt so manchen lehrhaften Größen der Gegenwart abgeht. Die deutsche »Universität« gehört auch zu den Dingen, die sich mit der Zeit in ihr vollständiges Gegenteil verkehrt haben; von Rechts wegen sollte eine solche Anstalt »Spezialität« heißen; denn sie enthält nur Spezialitäten. Jeder Professor vertritt gegenwärtig eine solche; darauf ist er stolz. Aber eine Ansammlung von hundert Spezialitäten, ganz äußerlich nebeneinander gestellt, gibt noch lange keine Universität; »hundert graue Pferde machen noch keinen Schimmel«, sagt Goethe treffend. Universalität kann nur von innen heraus gewonnen werden; sie ist eng verbunden mit Menschlichkeit. Wenn das Alte Testament sich nicht zur rechten Zeit ins Neue Testament verwandelt, so wird es zum Talmud; es ist aber nicht zu wünschen, daß die deutsche Wissenschaft zur Talmudwissenschaft werde; einen Anflug davon hat sie schon. Die Universitäten werden erst wieder blühen, wenn sie ihrem Namen wieder Ehre machen; wenn die Spezialitäten sich dem »Universum« wieder zuwenden und – sich ihm unterordnen. Hier kommt zur geistigen Seite der Frage eine sittliche Seite derselben hinzu. Ein Mensch, der nicht individuell ist, ist nicht existent. Wer nur Spezialist ist, hat seine Seele dahingegeben; ja man darf sagen, daß der Teufel ein Spezialist sei; wie Gott sicher ein Universalist ist. Wer eine Seele hat, hält zu ihm. Universalismus und Individualismus aber gehen stets Hand in Hand; wie Makrokosmos und Mikrokosmos; und wie die Kunst mit allem Großen, was die Menschenbrust bewegt. Also weniger Brille und Mikroskop, mehr Auge und Herz braucht der heutige Deutsche, als er bis jetzt besitzt.

Der einzelne Fachmann lehnt heute gern die Verantwortlichkeit für alles ab, was außerhalb seines »Faches« vorgeht; er nimmt hier seine Vernunft gefangen, wogegen er sich doch sonst so sehr sträubt; er verzichtet auf seine Menschenwürde. Es liegt viel Feigheit in solchem Verfahren; und einer Feigheit entspricht immer eine Tyrannei: der Spezialismus ist die Tyrannisierung aller durch alle; wie ein gesunder Individualismus die Befreiung aller durch alle ist. Es ist hohe Zeit, von jenem Wege abzugehen. Der Spezialismus hat, allerdings im üblen Sinne, mit dem Individualismus etwas gemein; eine Grimasse ähnelt dem inneren geistigen Ausdruck des Gesichts; aber trotzdem ist sie von ihm weiter entfernt, als die völlige Leblosigkeit es sein würde. Der Spezialismus ist die Grimasse des Individualismus. Dieser nimmt, je nach größerer oder geringerer Leistungsfähigkeit, einen größeren oder kleineren Kreis des Weltlebens für sich in Anspruch; jener greift einen beliebigen Ausschnitt, einen schmalen Kreissektor sozusagen aus dem Weltleben heraus und belegt ihn ausschließlich für sich. Der eine geht demnach als Kreis einem Kreise, dem allgemeinen Weltleben parallel; der andere macht einen Riß in dieses – und damit zugleich in den Menschen, der sich ihm überliefert.

Eine mehr philosophische Behandlung der Wissenschaft – also eine solche, welche die Einzelfächer der Forschung in eine direkte Verbindung zum Weltganzen einerseits und zur menschlichen Natur andererseits setzt – ist das einzige Mittel zur Bekämpfung des heutigen Spezialismus. Und weil alle Philosophie auch von künstlerischer Art ist, so wird damit die Wissenschaft, in den jeweilig einzelnen Richtungen ihrer Tätigkeit, sich künstlerischer gestalten; nicht als ob sie deshalb an Schärfe der Beobachtung und der anzuwendenden Forschmethode verlieren sollte; aber wohl in dem Sinne, daß die Ergebnisse dieser Methode nur als Material zu dem einheitlichen Bau einer so oder so zu formenden Weltanschauung aufgefaßt werden. Also: die Ergebnisse der heutigen Wissenschaft sollen nicht als geistige Erzeugnisse letzter, sondern nur als solche vorletzter Instanz angesehen werden. Sie sollen das Material liefern, mit dem der philosophische oder sonstige Künstler operiert, um zu schaffen. Die Forscher aber sollen, soweit es ihnen möglich ist, selbst schaffend tätig sein; und, soweit ihnen dies nicht möglich ist, sich in aufrichtiger Bescheidenheit den schaffenden Geistern von einst und jetzt unterordnen. Es ist das Prinzip der echten Aristokratie: daß jeder an seinem Platze so viel gelten soll, wie er ist; daß aber auch niemand mehr gelten soll, als er ist; und daß er sich daher Höherstehenden willig unterzuordnen hat. In einem wirklich vornehmen Geistesleben, wie es doch den Deutschen zu wünschen ist, muß dies Prinzip herrschen. Und wenn es zu seiner berechtigten Geltung, auch innerhalb der Wissenschaft gelangt, so wird es dieser den demokratischen Charakter nehmen, welcher ihr jetzt noch vielfach anhaftet und allem Wissen, bloß als solchem, stets anhaften wird. Eine philosophische und antispezialistische Auffassung der Wissenschaft vermag also ihr geistiges Niveau zu heben. Indem das rein verstandesmäßige Wissen seine Ansprüche herabdrückt, wird die wirkliche Wissenschaft ihre Leistungen herausrücken; und das würde einen Bildungsfortschritt bezeichnen.

2. Mikroskopische Weltanschauung

Ein echt philosophischer Betrieb der Wissenschaft würde sich, wenn man individuelle Tendenzen von rein persönlicher Art außer acht läßt, in mannigfachster Art äußern; zunächst dem Weltganzen gegenüber; oder genauer gesagt, im Gebiet der Naturwissenschaften. Das Auge des deutschen Forschers, welches zumeist mit einer Brille bewaffnet ist, ist zu sehr aufs Kleine gerichtet; es hat dadurch, im innerlichen Sinne, den weiten Weltblick verloren. Die Natur rächt sich; einzelne Sinne können nur geschärft – oder vielmehr zugespitzt – werden auf Kosten des ganzen Menschen; und damit geht das Gleichgewicht seiner geistigen Existenz verloren. Schon Spinoza, der zwar kein Gelehrter, aber wohl ein Denker und teilweise ein Künstler war, hält es nicht für ratsam, im physischen und geistigen Sinne allzusehr ins Kleine zu gehen; »die schönste Hand, durchs Mikroskop betrachtet, wird uns gräßlich vorkommen«, hat er weise und warnend bemerkt. Er spricht damit nicht nur eine philosophische und künstlerische, sondern ganz besonders eine naturwissenschaftliche Wahrheit aus. Andere sekundieren ihm. Goethe wollte vom Gebrauch des Mikroskops nichts wissen; und so absurd auch den meisten heutzutage eine derartige Anschauung scheinen mag: sie ist doch, innerhalb gewisser Grenzen, berechtigt. Hat die wissenschaftliche, spezialistische, mikroskopische Kultur von heute die menschliche Seele als solche wohl bedeutend vorwärts gebracht? Man muß diese Frage verneinen. Verschließe man die Augen nicht vor ihr; versuche die Wissenschaft lieber, sich wieder zum Goetheschen makroskopischen Standpunkt zu erheben. Sie braucht den Geist der scharfen Beobachtung darum nicht aufzugeben; sie soll ihn nur unterordnen dem Geist der Betrachtung. Eine bloße Wissenschaft der Tatsachen ist immer subaltern; sie bedeutet kaum mehr als eine bloße Wissenschaft der Doktrinen. Nur eine Wissenschaft der Gesetze, eine Wissenschaft des Geistes, eine Wissenschaft des Lebens kann wirklich Wissenschaft genannt werden! Einige ganz praktische Beispiele mögen genügen, um den Schaden anzudeuten, welchen ein Beharren und Aufgehen der Wissenschaft in dem rein mikroskopischen Standpunkt der letzteren unter Umständen zufügen können. Der größten naturwissenschaftlichen Entdeckung des neunzehnten Jahrhunderts, der Robert Mayerschen Wärmetheorie, wurde in dem seinerzeitigen und auch noch jetzigen Moniteur der Physiker, Poggendorfs Annalen, die Aufnahme zum Druck versagt, als ihr Urheber sie dort zuerst bekanntmachen wollte. Er sandte dieselbe, klar und bündig in einem Aufsatz von acht Seiten ausgesprochen, an die betreffende Redaktion; diese wies den Aufsatz als untauglich zurück. Die kleinen Entdeckungen präkonisiert man und die großen läßt man laufen. Mehr oder minder hat sich dergleichen freilich zu allen Zeiten ereignet; aber das Charakteristische und Neue ist, daß man dergleichen heutzutage für unmöglich erklärt; die Unwahrheit und der Hochmut der Gegenwart äußert sich darin, daß sie sich besser dünkt als andere Zeiten. Es verhält sich gerade umgekehrt: es ist jetzt wie je; und vielleicht nur ein wenig ärger. Auch in der Geschichtswissenschaft fehlt es nicht an ähnlichen Beispielen. Der Hermes des Praxiteles z. B. wurde sogleich nach seiner Auffindung von einem angesehenen archäologischen Fachmann für »späte römische Arbeit« erklärt; wer späte römische Arbeit kennt, weiß, welch ein Grad von künstlerischer Roheit und Wertlosigkeit damit bezeichnet werden sollte; bei etwas mehr künstlerischem Blick würde dem betreffenden Herrn ein solches Urteil und der deutschen Wissenschaft ein solches – Erlebnis erspart geblieben sein. Nie sehr und wie lange man die nützlichen Arbeiten Schliemanns anfeindete, ist bekannt. In diesen Fällen, deren Zahl sich noch beträchtlich vermehren ließe, fehlte es einfach an makroskopischem Blick; und doch wohl nur, well allzuviel mikroskopischer Blick vorhanden war. Es ist, als ob der große Geist Goethes das Unheil vorausgesehen hätte, welches die mikroskopisch beobachtende und mikroskopisch denkende Wissenschaft, also der Spezialismus von heute, dem deutschen Gesamtleben zufügen würde. Verachte man darum seine Ansicht nicht so sehr; sein Widerwille gegen das Mikroskop galt dem Spezialismus von heute; der nicht nur eine freiere und tiefere Gestaltung der Einzelwissenschaften, sondern auch alles echte und freie Menschentum unterdrückt. Der wahre Künstler steht immer auf Seite des letzteren; so Goethe; so Rembrandt und viele andere. Sie sind, menschlich wie geistig genommen, Antimikroskopiker.

Es gibt kaum einen größeren Gegensatz zu den mittelalterlichen Miniaturen, als ihn die Rembrandtsche Malerei darstellt; wie jene mikroskopisch gestaltet sind, so schildert diese makroskopisch; und Zuweilen selbst bis zu einem Grade, daß er dem Laien als undeutlich verwischt, verblasen erscheint. Aber hier, wo man seine Schwächen zu erkennen glaubt, beginnt erst seine Größe; die Weite des Blickes ist es, welche ihn scheinbar über die Dinge hinweg, wirklich aber ihnen ins Herz hineinsehen läßt. Eine öde Dünenlandschaft, von seiner Hand gemalt, bewegt sich in so seinen und vornehmen Farbenakkorden, daß dieselben für Auge und Sinn eines Durchschnittsmenschen entschieden als zu hoch oder zu tief gegriffen erscheinen; aber dergleichen Fehler verzeiht man ihm gern. Es sind umgekehrte Majestätsverbrechen; Verbrechen, welche aus einer überlegenen Majestät des Geistes entstehen; und die nur vor dem unsicheren Forum der großen Masse als solche gelten. Seine scheinbare Schwäche und wirkliche Stärke teilt Rembrandt hier mit Goethe; und es wäre nicht so übel, wenn die deutsche Wissenschaft sich als dritte im Bunde erwiese. Möge man immerhin mikroskopisch beobachten; aber möge man makroskopisch denken; denn das heißt philosophisch denken. »Was ist, ist vernünftig«, sagt Hegel; und so scheint auch jenem Spezialismus eine gewisse geschichtliche Notwendigkeit zugrunde zu liegen; aber freilich nur insofern er eine vorübergehende Erscheinung ist. Wie die deutsche Malerei sich aus dem Engen frühmittelalterlicher Technik zu dem Weiten Rembrandtscher Kunst entwickelte; und wie jene, in mancher Hinsicht, sogar eine notwendige Vorstufe der letzteren war: so mag auch das einseitige Spezialistentum des deutschen Geisteslebens der Gegenwart nur die notwendige Vorstufe einer künftigen, vorzugsweise weiten und freien Geistesentwickelung sein. Vielleicht wird die Raupe, von der H. von Kleist sprach, noch einmal zum Schmetterling.

3. Falsche Objektivität

Die falsche Objektivität ist vor allem zu bekämpfen. Kaltblütigkeit ist nützlich und auch ein Frosch hat kaltes Blut; aber die Frosch-Perspektive ist deshalb doch noch nicht die richtige Perspektive, um die Welt Zu beurteilen. Das vorletzte Jahrhundert, in seinem Idealismus, sah die Welt aus der Vogelperspektive an; das letzte, in seinem Spezialismus, sah sie aus der Froschperspektive an; hoffentlich wird das jetzige, in einem gesunden Individualismus, sie aus der menschlichen Perspektive ansehen. Der Mensch schwebt weder in den Wolken, noch hockt er im Sumpfe: aber steht, mit festem Fuß, auf der Erde; dies gilt für seine physische sowohl wie seine geistige Existenz.

Die heutige Wissenschaft ist vernünftig, aber sie ist auch »dumpf«. Sie spricht nicht in dem hellen, frischen Herzenston, welcher der griechischen oder auch sonst jeder aufsteigenden nationalen Bildung eigen ist. Zu diesem Ton soll sie zurückkehren; und sie kann es, ja soll es, ohne ihre »Vernunft« aufzugeben. Wie die Bildung, nach dem obigen Schillerschen Ausspruch, stets von der Natur durch die Unnatur zur Natur zurückschreitet; so schreitet sie auch zunächst Zu »dumpfer« und darauf zu heller Existenz fort. Die Deutschen befinden sich jetzt an der Schwelle des Übergangs von der zweiten zur dritten Stufe dieses Kreislaufes. Das Endziel falschbeengter Wissenschaft ist: Tatsachen zu konstatieren; das Endziel der echten Wissenschaft ist: Werturteile abzugeben. Selbstverständlich muß dieser letzteren Tätigkeit jene erstere vorausgehen; und die falsche Wissenschaft ist eben deshalb die falsche, weil sie die halbe ist – weil sie auf halbem Wege stehen bleibt. Die Tätigkeit der meisten modernen Gelehrten ist von dieser Art und daher eine, sittlich, geistig, wie künstlerisch genommen, hohle. Ihre »Objektivität«, welche alle Dinge als gleichwertig behandelt, ist genau so unwahr wie jene moderne »Humanität«, welche alle Menschen für gleichwertig erklärt. Hier wie dort proklamiert man die Gerechtigkeit und dient der Ungerechtigkeit; man fälscht das Gewissen der Menschheit. Dieser Weg wird und muß verlassen werden.

Es liegt im eigenen Interesse des Volkes, sich in seinen vorbereitenden Bildungsstadien nicht länger aufhalten zu lassen, als unbedingt nötig ist. Auf die mittelalterliche oder Ritterzeit ist die neuere oder Professorenzeit gefolgt; jetzt wird die neueste oder Menschenzeit kommen. Selbstverständlich kann die deutsche Wissenschaft ihre bisherigen Resultate nicht aufgeben; aber sie muß ihnen doch weit mehr als bisher das Element des Persönlichen hinzufügen; sie darf nicht mehr auf einer Seite hinken: auf der der sogenannten Objektivität. Erst aus der völligen Gleichberechtigung, der innigen Durchdringung, der geistigen Paarung von Objektivität und Subjektivität gehen lebendige Neubildungen hervor. Wenn die Kunst, nach Shakespeare, ein Spiegel ist, so kann man wohl die Wissenschaft einer Glasscheibe vergleichen; diese läßt das Licht durch, jener fängt es auf. Aber man darf auch nicht vergessen, daß eine Glasscheibe gerade erst durch den dunklen Untergrund, den man ihr gibt, zum Spiegel wird; so kann auch die Wissenschaft, wenn und insoweit sie sich der Kunst nähern soll, eines gewissen dunklen Untergrundes nicht entbehren. Das Fenster ist ein spezifisch deutscher und moderner Bauteil; es ist eine Glasscheibe, welche von außen gesehen spiegelt; von innen gesehen aber das Licht durchläßt; ihm kann man das deutsche Geistesleben vergleichen. Dieses wie jenes empfängt seinen dunklen Untergrund durch die Geschehnisse und Bestandteile des privaten, häuslichen, persönlichen Lebens; dieses wie jenes empfängt sein Licht aus den weiten lebensvollen Räumen der Natur. Hier wie dort gibt es nur ein lichtempfängliches Medium; aber je nachdem man zu ihm Stellung nimmt, wirkt es durchaus verschieden. Damit ist das normale Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft ebenso einfach wie deutlich umschrieben. Es bedarf nur noch eines besonderen Nachweises über die Art der Betätigung einer solchen Wechselwirkung; und dieser ist nicht schwer zu führen; man kann nämlich jede Tatsache gerade so wie jedes Fenster von außen und von innen betrachten.

4. Mechanisch Weltauffassung (Dubois-Reymond)

Echte Bildung ist diejenige, welche stets die ganze Individualität eines Volkes ins Auge faßt; falsche Bildung ist diejenige, welche sie gar nicht oder nur teilweise berücksichtigt; von dieser Art ist die jetzt allgemein gangbare deutsche Bildung. Es wird gut sein, sich gelegentlich an einem einzelnen Beispiel zu verdeutlichen, wohin jene falsche Bildung führt. Wie eine absterbende Flamme vor dem Erlöschen noch einmal hell aufzuflackern pflegt, so hat das neueste deutsche Geistesleben in Dubois-Reymond einen seiner hervorragendsten und jedenfalls seinen bezeichnendsten Vertreter gefunden. Tüchtig und sogar ausgezeichnet als Spezialist, in dem von ihm bearbeiteten Einzelfach der Naturwissenschaft, stolpert und strauchelt er in bedenklichster Weise, sowie er sich in höhere Regionen wagt. Sein vor Jahren gehaltener Vortrag über Faust, worin er zugunsten einer überaus platten und trivialen Weltauffassung Goethe selbst zu korrigieren versucht, muß im schlimmsten Sinne als ein Vortrag des – Famulus Wagner über den Dr. Faust bezeichnet werden. Goethe wird darin allen Ernstes getadelt, daß er nicht Faust schließlich zum deutschen Universitätsprofessor und Gretchen zu seiner Frau gemacht habe; so urteilt der Zunftgelehrte über den freien Geist, der Routinier über das Genie, Nicolai über Goethe. Eine derartige Denkweise ist undeutsch und antideutsch. Wie weit der Riß nicht nur zwischen Leben und Wissenschaft, sondern auch zwischen Wissenschaft und Wissenschaft heutzutage klafft, ersieht man aus einer anderen gelegentlichen Äußerung eben dieses Gelehrten: »Die alte Kultur ging unter, weil sie auf dem Flugsand der Ästhetik und Spekulation ruhte«, sagte er in einem seinerzeit zu Köln gehaltenen Vortrage. Es ist kaum möglich, etwas Schieferes und Wahrheitswidrigeres über das Altertum zu sagen, als in diesen wenigen Worten ausgesprochen wird. Sie sind des windigsten französischen Causeurs würdig; und sie wurden öffentlich verkündet von jemand, den man zu den anscheinenden Grundsäulen der heutigen deutschen Bildung rechnet: und der das Publikum über zwei wichtigste Elemente eben dieser Bildung, Goethe und das Altertum, aufklären will. Die so außerordentlich oberflächliche und durch die neuere Geschichtschreibung längst verurteilte Phrase von dem »in Nacht und Finsternis versunkenen Mittelalter« führte der gleiche Redner bei jeder Gelegenheit im Munde. Man hat bezüglich mancher Studienfächer, z.B. der Theologie, in neuerer Zeit vielfach einen Mangel an allgemeiner Bildung behauptet; sollte dieser Mangel, nach den obigen Vorkommnissen, nicht auch im Fache der Naturwissenschaften zu finden sein? Jedenfalls haben die modernen Naturwissenschaften viel zur Brutalisierung der Massen beigetragen. Leibniz hat es für den Endzweck aller Wissenschaft erklärt, »die Frömmigkeit zu ehren und uns zu Gott zu erheben«; die neuere Wissenschaft denkt recht wenig leibnizisch. Hat man vorgeschlagen, die Theologen in den Naturwissenschaften zu prüfen, so könnte man vielleicht mit dem gleichen Rechte vorschlagen, die Naturwissenschaftler in der, recht verstandenen, Theologie zu prüfen. Wer das Göttliche in der Natur nicht erkennt, erkennt auch die Natur nicht richtig. Jedenfalls sieht man, wohin es führt, wenn solche Leute mit ihrer sogenannten hochmodernen Bildung einmal aus dem engen Kreise der Fachtätigkeit und Fachfähigkeit heraus« und wirklich bedeutenden Äußerungen des menschlichen Geistes gegenübertreten; sie fällen dann ebenso unbescheidene wie unbegründete Urteile. »Sich über das Höhere alles Urteils zu enthalten, ist eine zu edle Eigenschaft, als daß sie häufig sein könnte«, sagt W. von Humboldt. Wirklich muß man gegen solche geflissentliche Herabsetzung der idealen Instinkte des deutschen Volkes ernstliche Verwahrung einlegen. Dergleichen ist Mißbrauch des Katheders. Und dieser beschränkt sich nicht einmal auf allgemeine Bildungsfaktoren; sondern er erstreckt sich noch auf anderweitige Geistesgebiete, welche dem Spezialfach jener Leute besonders nahe liegen; auch hierfür bietet der bereits genannte Berliner Gelehrte ein schlagendes Beispiel. Ein »Professor« glaubt in der Regel an nichts; unter Umständen freilich auch an alles; unter keinen Umständen aber an seine eigene Inferiorität. Diese Charakterdiagnose gilt von Gottsched bis zu Dubois-Reymond.

Letzterer hat, wie ein neuer Sokrates auftretend, seine und der heutigen Naturwissenschaft Unwissenheit bezüglich der eigentlichen inneren Lebensvorgänge der Natur mit bezeichnender Selbstgefälligkeit in das Wort »ignorabismus« zusammengefaßt. Für sich und seine Genossen, die Vertreter einer mechanischen Weltauffassung, hat Dubois-Reymond damit unzweifelhaft die Wahrheit gesprochen; ihnen sind jene großen und schwerwiegenden Probleme nicht zugänglich; aber eine andere Frage ist es, ob diese Weltauffassung eine endgültige, ob sie die allein richtige, ob sie überhaupt eine wissenschaftlich berechtigte ist? Vom philosophischen, künstlerischen, individuellen Standpunkt aus muß man diese Frage verneinen; und insofern der individuelle Standpunkt ein speziell deutscher Standpunkt ist, muß man sie auch von diesem aus verneinen. Wenn der Professor mit dem französischen Namen die allgemeine Weltordnung eine mechanische nennt, so erinnert das recht sehr an die heutigen Franzosen, welche in Moltke nur einen »Mechaniker« erblicken. Das Mechanische liegt hier beiderseits nicht in dem Beobachteten, sondern in dem Beobachter. Kepler und Newton, denen Dubois-Reymond jedenfalls an geistigem Range nachsteht, teilen seine mechanische Weltauffassung nicht; denn jener nahm ein künstlerisches und dieser ein ethisches Grundprinzip des Weltlebens an. Sie hatten sich die Einheit der Weltanschauung bewahrt, welche den Vertretern der neueren Wissenschaft durchweg verloren gegangen ist. Die Ansichten des deutschen und des englischen Weltdurchforschers widersprechen sich nicht, sondern bestätigen sich nur gegenseitig; sie spiegeln das Wesen des Weltgeistes wider, wie zwei Tautropfen die Sonne; ob der eine etwas mehr rötlich oder der andere etwas mehr grünlich schimmert, macht dabei keinen Unterschied. Beide haben die Welt als ein organisches Ganze, nicht als eine Maschine angesehen. Wie man über l'homme machine des vorigen Jahrhunderts längst zur Tagesordnung übergegangen ist, so wird man auch über le monde machine dieses Jahrhunderts baldigst zur Tagesordnung übergehen. Denn alles wiederholt sich in der Zeit und alles wird einmal von seinem gerechten Schicksal ereilt. Mensch wie Welt, die Svedenborg als identische Größen ansah, hat innerhalb von hundert Jahren das gleichgemessene Los betroffen; man will sie totschlagen, aber sie leben. Solche Leute, wie der Verfasser des l'homme machine und der genannte Apostel einer »mechanischen« Weltauffassung, sind die Totengräber ihrer Zeit; sie selbst sind so hohl wie die Gräber, die sie graben. Ein Wort gleich jenem ignorabimus enthält das letzte Wissen aber auch den letzten Willen einer Zeit. Man sieht schon die facies hippocratica; und es dauert nicht lange, so hört man die Scholle auf den Sarg poltern.

Organische Werte, lebendige Werte

Es läßt sich nicht leugnen, das eine Anschauungsweise, welche indem weiten lebenatmenden Bau der Welt nur einen Mechanismus sieht, für den feineren Sinn etwas Beleidigendes hat. Sie wird den höheren Bedürfnissen der einzelnen Menschenseele ebenso wenig gerecht wie der Denkmeise der edelsten Geister, welche die gesamte Menschheit bisher hervorgebracht hat; sie rechnet nicht mit den inkommensurablen Faktoren im Leben des Menschen und darum ist ihr Kalkül falsch. Aber das Kommensurable und das Inkommensurable sind stets aufeinander angewiesen. Und das meiste in der Welt wird durch inkommensurable Größen gemacht: Liebe, Ehre, Frömmigkeit sind Dinge, die sich nicht mit dem Zollstab ausmessen lassen; sie sind es, die über das Schicksal des einzelnen Menschen wie der gesamten Menschheit entscheiden; und inkommensurable Grüßen entscheiden auch im geistigen Leben. Wie jeder Nationalcharakter, so ist auch der Deutsche, in seiner reinen Gestalt, stark mit mystischen Elementen durchsetzt; dieser ursprünglich gegebenen Charaktermischung muß demnach die Bildung der Deutschen entsprechen. Verstandestätigkeit und innere Anschauung müssen beide, aber die letztere überwiegend in ihr zur Geltung gelangen. Erst wenn der starke Hauch einer reinen und seelentiefen Mystik, vereint mit dem Feuer des Geistes, in die dürren Reiser der spezialistischen Beobachtung fährt, kann eine neue, gewaltige Flamme des inneren nationalen Lebens emporlohen!

Daß die Welt eine organische und nicht eine mechanische Einheit darstellt, darin stimmt der altgriechische Dichter Homer mit den altgermanischen Sängern, der nordische Seher Svedenborg mit der Anschauungsweise eines jeden echt deutsch denkenden Geistes überein. Diese Anschauung ist sicher, im besten Sinne des Worts, eine volkstümliche; und sie ist, gegenüber der heute vielfach herrschenden, rein materiellen und mechanischen Weltanschauung, die höhere, eben weil sie die tiefere ist. Organismus gilt mehr als Mechanismus; der Deutsche sollte sich von diesem zu jenem aufschwingen; eben jener Mechanismus ist das »Skelett im Hause« der deutschen Bildung. Auch für die Wissenschaft darf das Gerippe, also der rein mechanische Bau des Menschen wie der Welt, nicht Zweck, sondern stets nur Mittel sein. Zweck ist für sie, wie für jede menschliche Tätigkeit, der ganze Mensch. Diese ihre aufbauende Mission beachtet und betrachtet man gegenwärtig viel zu wenig.

Wie alles Vorhandene, so geht auch das Denken seinen stufenmäßigen Gang; es entwickelt sich absatzweise, es vervielfältigt sich; es organisiert sich. Das Wesen des Organischen in Natur wie Kunst beruht darauf, daß es schöpferisch ist; daß es, anscheinend widersinnig, desto mehr wird je mehr man von ihm wegnimmt; und zwar in organischer Weise von ihm wegnimmt. Organismus läßt für Schablone keinen Platz und für Mechanismus nur soviel als diesem zukommt: nämlich einen untergeordneten; dadurch ist der Wissenschaft, der Kunst, der Bildung von heute ihre Bahn vorgeschrieben: nämlich ab vom Mechanischen und hin zum Organischen! Phidias, der zuerst das ex ungue leonem als den leitenden Grundsatz jeder echten künstlerischen Tätigkeit aufstellte, stellte damit bewußt oder unbewußt auch zuerst den leitenden Grundsatz jeder echten geistigen Erkenntnis auf. Cuvier hat denselben auf die äußeren Organismen des Naturlebens angewandt; in bezug auf die innere Organisation des Weltlebens harrt er noch seiner Durchführung. Wo immer das mechanische Prinzip sich dem organischen Prinzip in erklärter Feindschaft gegenüberstellt, da jenes wird an diesem seinen Meister finden. Für Leben, Kunst, Menschlichkeit gibt es jenen toten Punkt in der Welt, wo der heutigen Wissenschaft gewissermaßen der Verstand stille steht, nicht; sie gebären sich ewig neu; und darauf beruht ihre Überlegenheit über die einseitig betriebene Wissenschaft. Verstand, mit Leidenschaft durchsättigt, wird Vernunft. Das Maß, das der Verstand an die Dinge legt, geht nie rein auf; der Verstand kann einem stille stehn; daß die Vernunft einem gesunden Menschen stille gestanden wäre, davon hat man noch nicht gehört.

Die Fehler der Menschen wiederholen sich immer und die Fehler der Gelehrten auch. Schon Bacon hat bemerkt, daß die letzteren »die Unzulänglichkeit ihrer Kenntnisse verleumderisch der Natur zur Last legen und aus ihrer Wissenschaft selbst beweisen, daß dasjenige, was sie vermittelst derselben nicht haben erreichen können, dem Laufe der Natur nach schlechterdings unerreichbar sei«; gerade so verfährt Dubois-Reymond. Freilich: »Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist« ... wohl aber ein schaffender Geist, wenn er Zugleich ein denkender ist; von diesem Standpunkt aus kann man dem ignorabinus Dubois-Reymonds ein kräftiges novimus entgegenrufen. Wir sind noch nicht am Ende aller Tage, wie so mancher Professor meint; es kann noch einmal ganz anders kommen, als es heute ist; die Wissenschaft wie das menschliche Denken überhaupt sind darauf angewiesen, sich stets neu zu gebären. Für den Spezialisten, den Kulturmenschen im niederen Sinne gilt jenes ignorabimus; für den Menschen im höheren Sinne gilt es nicht. Auf dem Widerspruch zwischen dem wirklichen inneren Wert jener mit soviel Emphase vorgetragenen Lehre und den großen äußeren Ansprüchen, mit welchen sie auftritt, beruht ihre sittliche Unwahrheit. Sie ist so außerordentlich billig und gibt sich für so außerordentlich wertvoll. Es ist eine Lehre für dürftige Seelen – für jene armen Seelen, welche im Fegefeuer des heutigen Spezialismus schmachten; aber auch das Fegefeuer ist nur ein Durchgangsstadium.

Ein Genius wie derjenige Rembrandts vermag solch arme Spezialistenseelen aus ihrer Qual zu erretten; er kann und soll ihr Erzieher werden. Denn er hat alles, was ihnen fehlt. Wie Hamlet von der Blässe des Gedankens, sind sie von der Leichenfarbe der Gedankenlosigkeit angekränkelt. Durch Philosophie können sie zum Leben und durch Leben wieder zur Philosophie gelangen; dann wird sich auch die Röte der Gesundheit wieder bei ihnen einstellen. Fast so sehr wie Dubois-Reymond von Goethe, wird dieser von Rembrandt und Shakespeare an mystischer Geistestiefe, verbunden mit sinnlicher Freude und Fülle des Lebens übertroffen. Solchen breiten, offenen, großen Seelen wäre die engwinklige und engbegrenzte Weltauffassung des gegenwärtigen wissenschaftlichen Spezialistentums unbegreiflich und ein Gegenstand des souveränen Spottes gewesen. Es gibt wohl keinen größeren Gegensatz zu dem typischen Berliner Professor von heute als den typischen niederländischen Maler von einst. Dort geistige Gebundenheit, kühle Kritik, kennerhaftes Rückwärtsblicken; hier geistige Freiheit, frisches pulsierendes Leben, mannhaftes Umsichblicken; hier der Homunculus in und neben seiner Retorte; dort der Mensch, welcher der Welt schöpferisch gegenübersteht. In Dubois-Reymond einerseits, Rembrandt andererseits spitzt sich dieser Gegensatz noch schärfer zu; dem Kathederspezialisten steht der Kunstuniversalist, dem geschwätzigen aber leeren Rhetor der stumme aber beredte Bildner gegenüber. Jener ist durch und durch unschöpferisch, hochtrabend, trivial: dieser eine geist- und lebensprühende Gestalt von genialer Ursprünglichkeit wie Unbefangenheit. Eine, im geistigen Sinne, weniger mechanische Persönlichkeit als die Rembrandts und eine, im geistigen Sinne, weniger vornehme Persönlichkeit als die Dubois-Reymonds ist kaum zu denken; und noch um so weniger vornehm, als sie sich, in akademischer Pose, äußerlich vornehm zu gebärden suchte.

Jedenfalls wird verdeutsche Volksgeist sich mit solchen Scheingrößen eines Tages auseinandersetzen und ihnen ihr Sündenregister präsentieren; eine lange Rechnung, die sie dann bezahlen müssen. »Die meisten von unseren berühmten Gelehrten sind Pasten, keine Edelsteine«, sagte Lichtenberg vor hundert Jahren; und es haben sich seitdem wohl die Verhältnisse aber nicht die Menschen geändert. Wagners, die sich als Fauste drapieren, gibt es heutzutage genug; wenn sie denn einmal leben sollen, so möchte man wenigstens wünschen, daß sie bescheiden werden.

Tektonik der Natur

Es gibt wissenschaftliche Geistesoperationen, welche künstlerischen Geistesoperationen sehr verwandt sind. Und zwar ist dies sogar innerhalb der reinsten und abstraktesten aller Wissenschaften der Fall, in der Mathematik. Es gibt mehr oder minder »elegante« Arten, ein mathematisches Problem zu lösen; die eleganteste Art, also nach einer rein formalen und sozusagen künstlerischen Begründung, gilt auch nach wissenschaftlichem Begriff für die beste. Ebenso wird die Naturwissenschaft ihre Aufgabe am besten lösen, wenn sie in ähnlicher Weise auch künstlerische Tendenzen berücksichtigt. Unter den möglichen Einzelfächern der Naturwissenschaft ist ein einzelnes noch nicht angebaut und fast nicht einmal als möglich erkannt; dennoch kommt ihm ein sehr hoher Rang zu: es ist dasjenige Fach, welches man als »Tektonik der Natur« bezeichnen könnte. Diese wird sich, eben auf Grund der reinen Mathematik, mit den mathematisch-künstlerischen Strukturverhältnissen der Naturwesen zu beschäftigen haben; die Formen und Formenverhältnisse eines jeden organischen Wesens, nach deren tektonischem und künstlerischem Werte, fallen in ihren Vereich; sie gibt, wenn man will, eine künstlerische Grammatik der Natur. Da man von einer »Grammatik der Ornamente« schon längst spricht, dürfte der erstere Ausdruck nicht zu gewagt sein; er greift nur weiter, als der letztere; denn es handelt sich hier um eine Grammatik nicht nur toter, sondern auch lebendiger, nicht nur ornamentaler, sondern auch struktiver Formen. Einzelne, aber unter sich ganz zusammenhanglose Versuche sind auf diesem Gebiete bereits gemacht worden: Ansätze zu einer späteren einheitlichen Auffassung hierin, aber auch nicht entfernt der wirkliche Anfang einer solchen. Freilich ist die Aufgabe umfassend genug. Der weitsehende Geist eines niederdeutschen Künstlers und Kunstdenkers, Sempers, hat gelegentlich diese neue Wissenschaft gestreift; und Karl von Vaer, der selbständigste Gegner oder vielmehr Berichtiger der Darwinschen Lehre, hat ebendasselbe von der naturwissenschaftlichen Seite her getan. Er hat darauf hingewiesen, wie sehr die Entwicklung des Gehirns und der Sprachorgane beim Menschen durch seinen aufrechten Gang bedingt werden: daß dieser den ganzen Bau des menschlichen Körpers erst ermöglicht. Die besonderen mathematisch-künstlerischen Strukturverhältnisse, die äußeren sinnlichen Formenverhältnisse des menschlichen Körpers in ihrer Summe, geben eine Silhouette des inneren geistigen Lebens, welches ihn beseelt. Hoffentlich wird die deutsche Wissenschaft, welche sich jetzt vorwiegend mit den Abnormitäten des menschlichen Körpers beschäftigt, sich wieder mehr seiner normalen Gestalt zuwenden. Die Lehre von der innern und äußern Tektonik des einzelmenschlichen Organismus ist für den Exerzierplatz ebensosehr von Wert wie für das Künstleratelier; die Wissenschaft kann hier den Anforderungen des Krieges wie der Kunst entgegen- und zuvorkommen.

Welchen Reichtum von künstlerischer Form und Farbe übrigens schon ein Tierkörper, z. B. der eines geschlachteten Rindes enthält, hat Rembrandt mit seinem betreffenden Bilde im Louvre gezeigt. Für den, der zu sehen vermag, lehrt es jeder Fleischerladen; die Struktur, Gliederung, Abtönung der Formen geht bis ins einzelnste; und dennoch schließen sie sich zu voller und geschlossener Wirkung zusammen. Es ist eine lebendige, farbige, glutvolle Architektur; die Trümmer von Palmyra oder Athen sind nicht schöner als die eines tierischen Organismus. Auch Tizian und Rubens haben sie sich gern zum Vorwurf genommen; von Männern der Wissenschaft ist diese ihre Bedeutung freilich zu wenig gewürdigt worden. Vitruv berichtet, daß die alten Griechen ihre Tempelbauten den Maßen des menschlichen Körpers anpaßten. Und wenn Christus seinen Leib ausdrücklich einen »Tempel« nennt, so ist das mehr als ein Vergleich; es ist außer der übernatürlichen auch eine künstlerische Anschauungsweise; ja ein künstlerisches Urteil. Wenn er die »Lilien auf dem Felde« mit der höchsten menschlichen Pracht, mit »Salomo in aller seiner Herrlichkeit« vergleicht; wenn er dadurch Kunst- und Naturerzeugnisse unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringt, so zeigt er auch hier die künstlerische Seite der Natur auf. Ein Darwin, der dem Christentum nicht übel wollte, hätte mehr von ihm lernen sollen. Und was von ihm, gilt von nahezu der gesamten heutigen Wissenschaft: sie ist christusscheu, menschenscheu, kunstscheu.

Künstlerische Weltordnung.

(Kepler gegenüber Darwin.)

Eine bedeutungsvolle Schwäche Darwins liegt darin, daß er das künstlerische Element in der Natur so gut wie ganz ignoriert; er konstatiert Einzelheiten und verliert darüber die Einheit des Weltbildes aus dem Auge; ihm fehlt der philosophische Zug. Dieser hervorragendste Vertreter der heutigen Wissenschaftlichkeit betätigt die unplastische und unkonstruktive Sinnesart, welche in geistigen Dingen den Engländern oft eigen ist. Diese geben in geschichtlichen Biographien, statt eines abgeschlossenen Bildes, gern nur Haufen von Materialien; Darwin, der die Biographie der Welt schreiben will, macht es ebenso. Er liefert Bausteine, kein Gebäude. Darwin hat in seinen Lebenserinnerungen die ihm selbst, wie er sagt, unverständliche Tatsache verzeichnet, daß der ihm in seiner Jugendzeit in hohem Grade eigentümliche Sinn für Kunst und Poesie mit seiner Vertiefung in naturwissenschaftliche Studien stetig abgenommen habe und schließlich zu seinem eigenen Leidwesen ganz verschwunden sei. Diese Tatsache ist außerordentlich belehrend; eine Naturforschung, welche den Kunstsinn erstickt, ist sicher einseitig: und daher nicht die rechte. Der menschliche Geist atmet, von Rechts wegen, ein und aus; er hat in der Natur die Kunst und in der Kunst die Natur aufzusuchen. Erst der mathematische und tektonische Aufbau der einzelnen Naturwesen entscheidet endgültig über ihre Stellung zueinander, sowie zu dem sie umfassenden Erd- oder Weltganzen. Ein Beispiel für andere sei erwähnt. Innerhalb der Botanik sind rein mathematische Formengesetze, so das des goldenen Schnitts, als weitverbreitet und von hoher Bedeutung für die Gesamtgestaltung der Pflanzenwelt erst neuerdings nachgewiesen worden. Ein vollendeter Wohllaut der Form-, Maß- und Zahlenverhältnisse des Naturlebens gibt sich hier in überraschender Weise kund. Er bewegt sich in regelmäßigen Kadenzen, in harmonischen Akkorden, in streng gesetzmäßiger Folgerung und eröffnet so für eine künftige Naturforschung die allermerkwürdigsten Perspektiven.

Im größten Maßstabe und mit glänzendstem Erfolg ist jene echt künstlerische und echt philosophische Denkmethode schon früh von einem der bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft, welchen Deutschland je gehabt hat, von Kepler auf die Astronomie angewandt worden. Nach seiner eigenen ausdrücklichen Erklärung gelangte er von Forderungen rein und durchaus künstlerischer Art, von dem Suchen nach Einfachheit und Harmonie und Ausgleich innerhalb des Weltgebäudes, zu seinen unsterblichen Theorien. Er suchte nach der »elegantesten« Lösung des ihm vorliegenden Problems; und er fand sie. Er hat die Sphärenmusik demonstriert, welche Plato einst ahnte; diese Art von Musik gilt auch für irdische Sphären und Atmosphären; sowie für das, was sie an lebenden Wesen beherbergen. Wie jedes organische Geschöpf in seiner sinnlich wahrnehmbaren Existenz physikalischen und chemischen Gesetzen folgt, so folgt es in und während dieser Existenz auch künstlerischen Gesetzen; jene hat man längst in den Bereich der Naturwissenschaften gezogen; diese harren noch ihrer Ausbeutung, ja nur ihrer Konstatierung. Alle drei Arten von Gesetzen stehen begreiflicherweise unter sich in einem notwendigen Zusammenhange; ihn zu erkennen, nachzuweisen, darzustellen, ist eine der höchsten Aufgaben aller Naturwissenschaft. Ist sie gelöst, so wird die Naturwissenschaft einen künstlerischen Zug gewinnen, der den ihr sonst so gern anhaftenden Zug zum Materialismus und Mechanismus erfolgreich neutralisiert. Es wird dann eine Art von künstlerischer Mathematik geben; sie wird die erweiterte Umkehrung jener mathematischen Kunst sein, welche sich in der oben erwähnten »eleganten« Lösung mathematischer Probleme äußert; nicht umsonst hat unter den alten Philosophen Plato und unter den neueren Spinoza auf »Geometrie« ein hohes Gewicht gelegt. Erdmeßkunst, richtig verstanden, ist Weltmeßkunst; und zwar nicht nur im räumlichen, sondern auch im geistigen Sinne. Wer die Welt zu fassen vermag, vermag sie auch zu begreifen; und wer sie begreifen kann, kann sich ein Bild von ihr machen; er gewinnt eine Weltanschauung. So mündet die Naturwissenschaft in die Philosophie. Was Architektur für die bildende Kunst, eben das ist Architektonik für die denkende Kunst, d. h. die Philosophie; nämlich die Grundlage und der Rahmen ihres Wesens. Man spricht vom Bau des menschlichen Körpers sowie vom Bau der Welt; aber man sollte diesem künstlerischen Begriff auch innerlich gerecht werden; und ganz besonders auf wissenschaftlichem Gebiet. Von dem Verhältnis der Wissenschaft zur Kunst gilt in etwa das gleiche, was man von dem Verhältnis der Vernunft zur Religion gesagt hat: wenig Vernunft führt von Gott ab, viel Vernunft führt zu ihm zurück. Wenig Wissenschaft führt von der Kunst ab, viel Wissenschaft führt zu ihr hinüber.

»Ich suche in mir den Gott, den ich außer mir überall finde«, lautet ein Ausspruch Keplers. Der bedeutendste deutsche Forscher sagt also genau das über die Motive seiner Handlungsweise aus, was der bedeutendste deutsche Politiker Bismarck aussprach, indem er bekannte, daß die tiefste Quelle seines politischen Handelns Religiosität sei. Ein Niederdeutscher und ein Oberdeutscher von bestem Schlage stimmen hierin überein; so müssen diese Motive wohl von echt deutscher Art sein. Zu ihnen sollte auch die deutsche Wissenschaft zurückkehren: zu Gott, zur Philosophie, zur Kunst.

Eine derartige höchst künstlerische und zugleich höchst wissenschaftliche Auffassung der Natur würde erst deren wahrhaft objektive Darstellung ermöglichen. Die Einheit des Geistes der Natur spiegelt sich gewissermaßen parallel wider in der Einheitlichkeit des Aufbaues ihrer Organe; und dieser Aufbau selbst, wie jeder einheitliche Aufbau eines Organismus, fällt deshalb unter den Begriff des Künstlerischen. Die echt künstlerische Weltauffassung ist also nur scheinbar eine subjektive, in Wirklichkeit aber objektiv; da die Welt ein in sich zusammenhängendes und geschlossenes Ganzes bildet – was kein Vernünftiger leugnen wird – so ist nur diejenige Weltanschauung eine objektive, welche den einzelnen Organen dieses Ganzen, innerhalb dieses Ganzen und in stetem Hinblick darauf, ihren richtigen Platz anweist: der einseitige Spezialist kann nicht objektiv sein. Denn Einzelheiten, welche aus dem Zusammenhang eines Ganzen herausgerissen werden, geben sowohl von diesen Einzelheiten selbst wie von dem Ganzen, welchem sie ursprünglich angehören, ein falsches Bild. Eine Weltanschauung, die so verfährt, schielt. Die jetzige Wissenschaft ist stolz auf ihre Objektivität; aber sie vergißt leicht, daß Farblosigkeit und Monotonie nicht Wahrheit ist; daß es in der Welt, physisch und geistig, nichts völlig Farbloses gibt; und daß darum wahr und objektiv wahr nach dem Umfang menschlicher Kräfte nur das ist, was die Welt und ihren Bau wie in der Form so auch in der Farbe parallel widerspiegelt. Die Dinge empfangen physisch ihre Schattierung und demnach auch ihre Färbung durch die Stellung, welche sie zu einer beliebigen, aber stets zentral ausstrahlenden Lichtquelle einnehmen; man wird sie also auch geistig nur dann richtig beurteilen, wenn man ihre Stellung zu der sie schattierenden, abtönenden, färbenden, zentralen Lichtquelle – Zum Geiste des Weltganzen – ganz und voll in Betracht zieht. Insofern man diesen zentral wirkenden Weltgeist mit dem Namen »Gott« bezeichnet, ist der Beruf der Wissenschaft vorzugsweise ein göttlicher, d. h. am Gott gerichteter. Er ist aber auch zugleich vorzugsweise ein menschlicher; das darf man nicht vergessen.


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