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Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden, daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Spezialismus; auf dem Gebiet des Denkens wie der schönen Literatur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos. Die Architektur ist die Achse der bildenden Kunst, wie die Philosophie die Achse alles wissenschaftlichen Denkens ist; augenblicklich gibt es aber weder eine deutsche Architektur noch eine deutsche Philosophie. Die großen Koryphäen auf den verschiedenen Gebieten sterben aus; les rois s'en vont. Das heutige Kunstgewerbe hat, auf seiner stilistischen Hetzjagd, alle Zeiten und Völker durchprobiert und ist trotzdem oder gerade deshalb nicht zu einem eigenen Stil gelangt. Ohne Frage spricht sich in allem diesem der demokratisierende nivellierende atomisierende Geist des Jahrhunderts aus. Zudem ist die Bildung der Gegenwart vorwiegend eine historische alexandrinische rückwärts gewandte; sie richtet ihr Absehen weniger darauf, Werte zu schaffen, als Werte zu registrieren. Und damit ist überhaupt die schwache Seite unserer modernen Zeitbildung getroffen; sie ist wissenschaftlich und will wissenschaftlich sein; aber je wissenschaftlicher sie wird, desto unschöpferischer wird sie. »Die Teile haben sie in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band.« Goethe, der von den jetzigen Deutschen mehr theoretisch als praktisch verehrt wird, konnte Leute mit Brillen nicht leiden; Deutschland ist aber jetzt voll von wirklichen und geistigen Brillenträgern; wann wird es hierin zu Goethes Standpunkt zurückkehren? Den Bewohnern eines Reiches, wie das deutsche, steht es sicherlich nicht an, sich achselzuckend als Epigonen zu bekennen und auf einen Fortschritt in den eigentlich entscheidenden Fragen des geistigen Lebens zu verzichten. Kein Irrtum ist verhängnisvoller als der, wenn man glaubt, in den Hauptstücken der Bildung fertig zu sein; wenn man meint, sie nur im einzelnen noch nachflicken zu können: solange ein Volk lebendig ist, kann es sich der Notwendigkeit großer geistiger Achsenverschiebungen, in seinem Innern, nicht entziehen. Man macht heutzutage Entdeckungen in Ostafrika, aber es gibt in Deutschland selbst weit wichtigere Entdeckungen zu machen; es genügt nicht, daß die Deutschen sich als Staatsbürger entdeckt haben; sie sollten sich auch als Menschen entdecken!
In der Tat macht sich bereits ein Zug nach dieser Richtung hin bemerkbar; die Besseren unter den Gebildeten Deutschlands blicken nach neuen Zielen auf geistigem Gebiet aus. Bismarck hat allerdings geäußert »die Volksmeinung ist schwer zu erkennen«; und wirklich ist diese oft etwas ganz anderes, als die sogenannte öffentliche Meinung; aber selbst eine verborgene Strömung verrät sich durch ein dunkles Rauschen. So auch hier. Das Interesse an der Wissenschaft und insbesondere an der früher so populären Naturwissenschaft vermindert sich neuerdings in weiten Kreisen der deutschen Welt; es vollzieht sich ein merklicher Umschwung in der betreffenden allgemeinen Stimmung; die Zeiten, in welchen ein angesehenes Mitglied der Naturforscherversammlung zu Kassel diese allen Ernstes für das »Gehirn Deutschlands« erklären konnte, sind vorüber. Man glaubt nicht mehr so recht an diese Art von Evangelium. Man ist einigermaßen übersättigt von Induktion; man durstet nach Synthese. Wir stehen jetzt an der Wendung einer neuen Epoche. Die Herrschaft zwar nicht der Wissenschaft überhaupt, aber doch der gegenwärtigen und sich zeitweilig allmächtig dünkenden Wissenschaft neigt sich zu Ende. Die jetzige vorwiegend gelehrte Bildung der Deutschen bedeutet nur eine Durchgangsstufe innerhalb ihrer geistigen Gesamtentwickelung. Sie sind ein Kunstvolk und sollen sich daher innerlich wie äußerlich als ein solches bewähren; »zu allen Künsten Sachen Handtirungen so ein listig geschwind Volk, daß sie Niemanden nachstehen wollen« nennt sie bereits der alte Sebastian Frank in seiner Weltchronik. Schon in Goethe, ja wenn man will, schon in dem musikliebenden Luther findet sich das unbestimmte Vorgefühl einer solchen Entwickelung; ersterer hatte bekanntlich bis zu seinem 40. Lebensjahr die ernstliche Absicht, sich der bildenden Kunst zu widmen; und die Haupttat des letzteren, die Bibelübersetzung, ist wesentlich eine künstlerische Tat. Besonders die Persönlichkeit Goethes ist in diesem Fall vorbildlich für das heutige deutsche Volk. Die geistige Signatur des letzteren ist zwar zurzeit noch eine wissenschaftliche; doch sie ist es nicht für immer; es scheint vielmehr, daß ihm jetzt zunächst ein Kunstzeitalter bevorsteht. Kleine und trotzdem deutliche Anzeichen bestätigen dies. Wie man an der Haltung eines Grashalms schon die herrschende Windrichtung erkennt, so zeigt sich die geistige Witterungsänderung, welche im heutigen Deutschland stattfindet, unter anderem auch darin, daß der Typus des »Professors« von der deutschen Alltagsbühne sowie aus dem deutschen Alltagsroman verschwindet, um demjenigen des »Künstlers« Platz zu machen. Auch die Trivialität hat ihre Gesetze; und sie gehen, harmonisch genug, denen der Genialität parallel. In diesem Fall verkünden sie beide nur Gutes; sie versprechen eine Erlösung von dem papiernen Zeitalter; sie verkünden eine Rückkehr zur Farbe und Lebensfreudigkeit, zur Einheit und Feinheit, zur Innigkeit und Innerlichkeit.
Wenn das deutsche Volk sich wieder im rechten Sinne zum Bilde und zum Bilden kehrt, so wird es eine Bildung haben; so kann es genesen. »Darum bilde der Mensch sich in allem schön; jede Handlung sei ihm eine Kunstaufgabe«, hat Schinkel gesagt. Gerade die so hoch gestiegene Verwirrung und Verirrung in den durchgängig gangbaren Bildungsbegriffen der Deutschen spricht dafür, daß in ihnen bald eine radikale Änderung eintreten wird. »Ist das Chaos da, ist die Schöpfung nah,« singt ein neuerer Dichter. Der neubildende Geist kann in diesem Fall nur derjenige sein, welcher in den deutschen Künstlern, dies Wort im weitesten und besten Sinne genommen, lebt; sie sind die Vertreter einer Herzensbildung, während der Gelehrte als solcher grundsätzlich und sogar häufig ausschließlich einer Verstandesbildung huldigt.
Gegenüber dem Niedergang der heute herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nun nahe, nach den Mittel zu fragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Überreife nur eine Unreife; denn der Bildung gegenüber ist die Barbarei stets unreif; und in Deutschland ist die systematische, die wissenschaftliche, die gebildete Barbarei von jeher zu Hause gewesen. »Du kennst unser Deutschland; es hat noch nicht aufgehört, ungebildet zu sein,« schrieb einst Reuchlin an Manutius und könnte auch heute noch ein ehrlicher Deutscher dem andern schreiben. Überkultur ist tatsächlich noch roher, als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen, wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung; das Volk muß nicht von der Natur weg-, sondern zu ihr zurückerzogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift. Das Volk schafft sich selbst die Medizin, die es braucht; oder es tastet doch nach ihr.
Das letzte Ziel nationaler Kunst wie Bildung bleibt zwar stets: Monumentalität, Stil, Gebundenheit; aber zunächst muß das deutsche Leben sich lösen, ehe es sich binden kann; die Schleife muß gelockert werden, ehe sie sich wieder schürzen läßt. Drei Aufgaben sind es, welche jetzt der Deutschen harren; nämlich ihren Geist erstens: zu individualisieren und zweitens: zu konsolidieren und drittens: zu monumentalisieren. Jede folgende Stufe der Entwickelung ist ohne die vorhergehende undenkbar.
Individualismus ist das herrschende Prinzip der Welt, soweit diese von menschlichem Standpunkt aus beurteilt werden kann; zugleich aber ist er das herrschende Prinzip des Deutschtums. Durch einen derartigen direkten Bezug zum innersten Kern des Weltlebens wird Deutschland, wie es dies geographisch schon ist, so auch geistig und künstlerisch zu einem Reich der Mitte gestempelt; aber zu einem solchen, welches dem asiatischen Reich der Mitte gerade entgegengesetzt ist; denn nicht Zopf und Buchstabe, sondern Gesetz und Geist sollen in ihm regieren. Nur so kann seine sinkende Bildung wieder zu einer steigenden werden; und sich auch anderen Völkern gegenüber als eine solche bewähren.
»Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend,« sagt Fichte. Zu dieser ihm angebornen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verlorengegangenen Eigenschaft muß der Deutsche zurückerzogen werden. Eben in dem zerklüfteten Wesen, in jenem zentrifugalen Bestreben, welches dem Deutschen von jeher eigentümlich war, liegt seine Fähigkeit einer unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze beschlossen. Je mehr es ihm gelingt, in dieser Hinsicht aus der Not eine Tugend zu machen, desto vollkommener wird er sein Dasein gestalten. Seine Neigung, individuell zu sein, dem eigenen Kopfe zu folgen, kurz die sprichwörtliche und politisch so oft nachteilig gewesene deutsche Uneinigkeit befähigt ihn ganz besonders, es auf künstlerisch-geistigem Gebiet weiter zu bringen als andere Völker. Individualismus ist die Wurzel aller Kunst; und da die Deutschen unzweifelhaft das eigenartigste und eigenwilligste aller Völker sind: so sind sie auch – falls es ihnen gelingt, die Welt klar widerzuspiegeln – das künstlerisch bedeutendste aller Völker. Bei keinem Volke der Welt findet man so viel lebende Karikaturen, wie bei den Deutschen; diese üble Eigenschaft hat aber auch ihre gute Kehrseite; sie zeigt, daß sie sehr bildungsfähig sind. Je ungeschliffener jemand ist, desto mehr ist an ihm zu schleifen; und desto höheren Glanz kann er erhalten. Die große Zukunft der Deutschen beruht auf ihrem exzentrischen Charakter. Aus dem gleichen Grunde kann ihre höchste Bildungsstufe nur eine kunsterfüllte sein; denn die höchste Bildungsstufe eines Volkes muß der tiefsten Seite seines Wesens entsprechen; und gesunder Individualismus ist, wie gesagt, die tiefste Seite des deutschen Wesens. Der Instinkt treibt sonach die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische Gestaltung als auf wissenschaftliche Forschung auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur lebendigen Tat verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiet der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropäischen Staaten voranging, sollte dies nun auch auf dem Gebiet der künstlerischen wie geistigen Reform tun; und es kann dies tun, wenn es sich in rechter Art zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.
Die Erziehung zu einem und in einem maßvollen Individualismus erweist sich mithin als die nächste Aufgabe des deutschen Volkes auf geistigem Gebiet. Diese neue und doch so alte Geistesrichtung steht dem heute herrschenden wissenschaftlichen Spezialismus ebenso fern, wie dem vor hundert Jahren herrschenden abstrakten Idealismus. Lessing und Schiller schrieben über die Erziehung des Menschengeschlechts; Goethe lebte selbst als Mensch schlechthin; aber nicht diesen letzteren, sondern den deutschen Menschen gilt es heutzutage zu erziehen und zu erzielen. Bei manchem Verlust ist es doch als ein bleibender Gewinn der jetzigen wissenschaftlichen wie politischen deutschen Geistesentwickelung zu bezeichnen, daß sie sich mehr und mehr von leeren Abstraktionen entfernt hat; damit ist zwar noch nicht das Rechte, aber doch der Weg zum Rechten gewonnen: »Humanität, Nationalität, Stammeseigentümlichkeit, Familiencharakter, Individualität sind eine Pyramide, deren Spitze näher an den Himmel reicht, als ihre Basis,« sagt Paul de Lagarde. Dieser große und weittragende, dieser echt- und urdeutsche Grundsatz ist nach seinem vollen Werte kaum zu würdigen. Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Extremen, bei einem gesunden Individualismus, stehenbleiben. Goethe hat bereits diese dreifache deutsche Bildungsskala nach ihrem richtigen Werte unterschieden und aufs bestimmteste formuliert: »Wir wollen indes hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein.« Dem Menschen ist der Barbar entgegengesetzt, und das Wesen des Barbaren ist Maßlosigkeit, nach der einen oder nach der andern Seite. Das transzendente Denken der Deutschen von einst teilt daher gewisse Fehler mit dem materiellen Denken der Deutschen von heute; jenes hält sich ebenso weit über, wie dieses unter der Natur; es gibt also einen Punkt, wo sich Kant und Büchner treffen.
Wer ein rechter Deutscher ist, der ist auch ein rechter Mensch; keineswegs umgekehrt; eben hierauf beruht der Vorzug des Deutschtums, welches durch das letzte Jahrhundert, vor dem Menschentum, welches durch das vorletzte Jahrhundert angestrebt wurde. Das Geheimnis besteht darin, sich an seine Individualität zu binden, aber sich nicht von ihr binden zu lassen. Der Deutsche wird sich gewissermaßen selbst widersprechen müssen, um seinem höheren Beruf gerecht zu werden; er wird seine Individualität – das anscheinend Freie und Gesetzlose – zum Gesetz erheben müssen; er wird sich selbst zu konstruieren haben. Denn das Individuelle wirkt erst dann nützlich, wenn es der rein persönlichen Willkür entrückt ist; wenn es sich dem großen Bau eines Volks- und Weltlebens einfügt; wenn es dient. Der Deutsche soll dem Deutschtum dienen.
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Organisation vermehrt, Desorganisation verzehrt. Es wäre daher zu wünschen, daß die Herrschaft der Mittelmäßigkeiten in Deutschland aufhöre; und daß diese sich dem wahrhaft Großen wieder unterordnen mögen, daß sie bescheiden werden; daß sie sich erziehen lassen. Der erste Schritt hierzu ist Selbsterkenntnis; wer wenig Persönlichkeit besitzt, ist nur der Bruchteil eines Menschen, nicht ein Mensch; wer keine Persönlichkeit besitzt oder bewährt, ist eine Null! Und »alle Nullen der Welt sind, was ihren Gehalt und Wert anlangt, gleich einer einzigen Null«, hat Leonardo erklärt; dies gilt selbstverständlich auch von den vielen Nullen im heutigen Deutschland. Würde ihnen der große Einer des echten Individualismus vorgesetzt, so würde sich das geistige Nationalvermögen der Deutschen ganz überraschend vermehren. Er kann ihnen nur vorgesetzt werden dadurch, daß einzelne geistige Individualitäten – sei es aus der Vergangenheit oder Gegenwart – wieder führend an ihre Spitze treten.
Jede Individualität fügt sich aus einer Anzahl von Eigenschaften zusammen; die Art dieser Eigenschaften und ihre, unter irgendeinem Neigungswinkel erfolgte Gruppierung zueinander bilden eben die Individualität. Wenn man eine vergleichende Übersicht sämtlicher unveränderlicher Eigenschaften eines Volkes als einen Querdurchschnitt seines Charakters bezeichnen kann, so darf der zusammenfassende Überblick über die Schar der Männer, welche diese genannten Eigenschaften im Laufe der Geschichte hervorragend entwickelt und veranschaulicht haben, als ein Längsdurchschnitt eben dieser Volksindividualität angesehen werden. Jener Querschnitt ist von abstrakter, dieser Längsschnitt von praktischer Art; er stellt, bildlich gesprochen, den Ahnensaal des betreffenden Volksgeistes dar; jede Eigenschaft des letzteren findet hier einen Hauptvertreter oder deren mehrere; die Tugenden wie Fehler eines Volks werden im Laufe der Geschichte zu Menschen. So auch bei den Deutschen. »Die Deutschen sind ehrliche Leute,« sagte schon Shakespeare: Luthers wie Bismarcks Vorzüge beruhen darauf; die Deutschen gelten von alters her für tapfer: Winkelried und Friedrich der Große beweisen es; ebenso ist ihr Denken in Leibniz und Kant, ihr Dichten in Walther von der Vogelweide und Goethe, ihr Singen in Bach und Mozart verkörpert. Andere Züge des Volkscharakters haben sich in andere Männer konzentriert; alle zusammen endlich ergeben die geistige Volksphysiognomie; und diese muß man befragen, wenn man über die Aufgaben und vorher bestimmten Schicksale eines Volks Auskunft haben will. Selbstverständlich wird die Antwort je nach den Zeiten und Umständen, unter denen sie erfolgt, eine verschiedene sein; selbstverständlich wird bald die eine bald die andere Eigenschaft als die führende zu gelten haben; aber immer wird es der Blick in die Vergangenheit, in die von handelnden Männern erfüllte Vergangenheit sein, welcher als Norm für die Zukunft dienen kann. Ein Volk wird für eine gesunde Zukunft erzogen durch seine beste Vergangenheit; und die Gegenwart soll das richtige Verhältnis zwischen beiden er- und vermitteln. Auf dieser Wage wägt man ein Volk.
Es ist sicher: Deutschland kann seine Ideale nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Die historisierende und naturwissenschaftliche Richtung unserer gegenwärtigen Zeit steht dem an sich keineswegs entgegen; denn es hieße sehr oberflächlich urteilen, wenn man annehmen wollte, daß eine auf Wirklichkeit gegründete Weltanschauung des tieferen idealen Gehalts entbehren könne oder müsse. Die Bildung selbst schreitet niemals rückwärts; sie setzt wie der Baum stets neue Ringe an, welche die alten in sich einschließen: das nennt man Wachstum. Demgemäß haben die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich – historische Ideale erwählen. Es sind dies Heroen des Geistes, Ahnen des Volks, Vertreter derjenigen seiner Charaktereigenschaften, welche in der gegenwärtigen und zunächst kommenden Zeit bestimmt sind, an die Oberfläche der Geschichte zu treten. »Es gibt nur ein Glück und das ist, sich selbst zu reformieren und klug genug zu sein, um völlig edel zu sein,« sagt der vielfach unterschätzte Grabbe; und zu solchem Glück können jene Geister dem Deutschen verhelfen. Sie sind Spiegelbilder seines eigenen schönsten Daseins; an ihnen vermag das Volk seine Leistungen und seine Kräfte und seine Ziele zu messen; in ihnen ehrt es sich selbst. Sie dienen als Kristallisationspunkte für die jeweilige Geistesentwickelung des Volks; sie bilden die hohe Schule, auf welcher es sich für seine künftigen Geschicke vorzubereiten hat; kurz, sie sind die Erzieher ihres Volkes.
Nur Geist kann den Geist beschwören; Faust stieg zu den Müttern hinab; der jetzige Deutsche muß zu seinen Vätern hinaufsteigen – um den Schlüssel zur Zukunft zu finden. Eine volle lebendige Gestalt, welche das Volk vor Augen hat, bedeutet hundertmal mehr als ein Schlagwort oder eine Theorie; das men, not measures gilt auch hier. Goethe hat auf diesen Weg gewiesen in den Worten: »Was an uns Original ist, wird am besten erhalten und belebt, wenn wir unsere Altvorderen nicht aus den Augen verlieren.« Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden; ein Volk versteht sich in seinen eigenen Volksgenossen; das ist der Vorzug der historischen vor den sonstigen Idealen. Jene haben vor diesen die innere Kontinuität des Lebens voraus. Neues Feuer zündet sich an altem an.
Das Institut der »Eideshelfer« stellt sich als eine uralte deutsche und griechische Rechtsgewohnheit dar; recht verstandener Heroenkultus aber ist eine Art von sittlicher Eideshelferschaft, welche das Volk für seine letzten und tüchtigsten Eigenschaften in Anspruch nimmt. Das individualistische Prinzip, welches den Deutschen überwiegend beherrscht, gab seinem Wesen öfters etwas Unstetes, Zerfahrenes, Zerfließendes; nicht nur in politischen, sondern auch in geistigen Dingen hat sich dies bisher betätigt; gerade demgegenüber bieten jene historischen Ideale einen festigenden Halt. Sie haben als Gesamtpersönlichkeiten zu wirken; sie können und sollen leuchtende Paniere sein, um welche sich die Schar der Kämpfenden, Strebenden, ernst Wollenden in der Gegenwart sammelt. Sie sollen Muster sein; aber nicht für Kenner, sondern für Könner; nicht als eine Kost für Feinschmecker, sondern als eine solche für den Kern des Volks. Es ist praktisch von wenig Wert, das Genie auf Flaschen zu ziehen, wie es heutzutage in Shakespeare- und Goethegesellschaften geschieht; Genie will vielmehr an der Quelle genossen sein; nur so vermag es stärkend und befruchtend zu wirken. Besondere Zeiten erfordern es natürlich, zu einem besonderen Heldenbild aufzublicken; für die Auswahl des letzteren ist das Zeitbedürfnis und die geistige Zeitströmung richtungweisend. Umgekehrt wird sein Einfluß auf die verschiedenen Lebensgebiete eines Zeitalters von denjenigen Bewegungen und Problemen abhängen, welche dieses gerade erfüllen. In politischen Zeiten wird man auf politische Helden, in künstlerischen Zeiten auf künstlerische Helden hinsehen müssen; immer aber wird es darauf ankommen, in diesen Männern nicht das Vorübergehende, ihre spezielle Leistung, sondern das Bleibende, ihre innere Gesinnung nachzuahmen. Nicht das Zufällige, sondern das Notwendige, nicht den einzelnen Mann, sondern das Weben der Volksseele in ihm hat man in jedem Fall zu beachten und zu befolgen. Dann wird man von jener Geistesgemeinschaft, jenem Heroenkultus, jener Selbsterkenntnis des Volksgeistes auch die entsprechenden Früchte ernten. Einem Volk, das diese Methode der Erziehung auf sich anwendet, wird es so wenig an Kräften fehlen wie dem Antäus, solange er die mütterliche Erde berührte. Denn es ist sich selbst treu geblieben.
Den großen konservativen Zug, welcher einem nationalen Geistesleben allein Stetigkeit und infolgedessen das verleiht, was es zu seinem gesunden Bestande unumgänglich braucht und was man etwa: Stil des nationalen Daseins nennen kann, findet ein jedes und auch das deutsche Volk nur im Anschluß an die großen und wahrhaft schöpferischen Geisteskräfte seiner eigenen Vergangenheit: an seine historischen Ideale. Von ihnen ist derselbe beschränkende, regelnde, normierende Einfluß innerlich zu erwarten, welchen die politische Neugestaltung Deutschlands äußerlich auf dieses teilweise ausgeübt hat und künftig noch ausüben wird; sie stehen zwischen Kunst und Politik in der Mitte; sie führen aus dieser zu jener hinüber.
Es ist ein feiner und ganz individueller, aber auch tief bedeutsamer Zug der deutschen Volksseele, daß innerhalb des alten deutschen Rechts – gerade bei dem schon erwähnten Institut der Eideshelfer – die rein persönliche Überzeugung als ein juristischer Beweisgrund angesehen wurde; daß also Persönlichkeit und Subjektivität hier gleichsam objektiven Wert gewinnen. Gerade weil dieser Gebrauch so sehr alt ist und gerade weil er den heute vorherrschenden römischen Rechtsanschauungen schnurstracks zuwiderläuft, beweist er, wie hoch dem Deutschen die Persönlichkeit als solche steht und wie fremd die auf Objektivität abzielende, aber häufig nur geistige Farb- und Charakterlosigkeit erzielende heutige Wissenschaft seinem Herzen im Grunde ist. »Wer sich selbst fehlt, kann nur dadurch geheilt werden, daß man ihn sich selbst verschreibt,« äußert der tief denkende und tief fühlende Novalis; in modernes Deutsch übertragen, würde das lauten: »wer an Objektivität leidet, kann nur dadurch geheilt werden, daß man ihm Subjektivität verschreibt«. Soweit es sich nun aber um eine für Deutschland heraufdämmernde Kunstperiode handelt, so werden die leitenden Geister – die historischen Ideale, welche für eine solche maßgebend sind – unter den künstlerischen Heroen des Volkes zu suchen sein. Der Gang und die Richtung der deutschen Bildung werden für künftig offenbar durch diejenigen Männer vorgezeichnet, welche in dem Gesamtverlauf der bisherigen deutschen Geschichte als die tatsächlich höchsten Bildungsträger erscheinen. In ihnen sind gewissermaßen die festen mathematischen Punkte gegeben, welche eine Projizierung der kommenden deutschen Bildung in allgemeinen Umrissen ermöglichen; verbindet man diese Punkte zu einer Linie und verlängert dieselbe, so trifft man auf das rechte Ziel. Nun ist es aber bemerkenswert, daß bisher nicht Gelehrte, sondern Künstler die am weitesten vorragenden Höhepunkte der deutschen Bildung darstellen. Walther von der Vogelweide und Dürer, Shakespeare und Rembrandt, Goethe und Beethoven – nicht Renaissancephilologen oder Naturwissenschaftler von heute müssen als solche Höhepunkte gelten.
Jede rechte Bildung ist bildend, formend, schöpferisch und also künstlerisch; insofern muß man es freudig begrüßen, daß sich unser Volk jetzt allmählich einer einseitig vorherrschenden Wissenschaft ab- und der Kunst zuwendet. Dies ist die geistige Achsenverschiebung, um welche es sich zunächst im deutschen Leben handelt; und es fragt sich nur, in welcher Art und unter welchem Zeichen sie sich nun vollziehen soll.
Wenn die Deutschen das vorzugsweise individuelle Volk sind, so kann auf künstlerischem Gebiet ihnen auch nur der individuellste ihrer Künstler als geistiger Wegführer dienen; denn ein solcher wird sie am ehesten auf sich selbst zurückweisen. Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste – Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopfe folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt. In diesem Sinne muß er geradezu der deutscheste aller deutschen Maler und sogar der deutscheste aller deutschen Künstler genannt werden. Freilich entspricht seine äußere Geltung einem so hohen und einzigen inneren Werte bis jetzt noch nicht; er wird geschätzt, aber nicht genug. Rembrandt ist das Prototyp des deutschen Künstlers; er entspricht deshalb vollkommen als Vorbild vielen Wünschen und Bedürfnissen, welche dem deutschen Volke von heute auf geistigem Gebiet vorschweben – sei es auch teilweise unbewußt. Unter anderen Verhältnissen als den gegenwärtigen würde irgend ein anderer großer Deutscher diese Rolle übernehmen können und müssen; jetzt, da die Deutschen in ihrer Bildung an dem Spezialisten- und Schablonentum kranken, kann der ausgesprochenste Universalist und Individualist: Rembrandt ihnen helfen. Er kann sie zu sich selbst zurückführen. Er ist das betreffende historische Ideal für die nächste Zeit; er ist der feste Punkt, an den neue zukunftsreiche Bildungsformen sich anschließen können. Rembrandt aber war von Geburt ein Holländer. Es ist bezeichnend und eine äußere Bestätigung für den exzentrischen Charakter der Deutschen, daß ihr nationalster Künstler ihnen nur innerlich, nicht auch politisch angehört; der deutsche Volksgeist hatte sozusagen den deutschen Volkskörper aus den Fugen getrieben. Das muß jetzt anders werden; Geist und Körper, im Volk wie im einzelnen, sollen sich wieder zusammenfinden. Der Riß, welcher durch die moderne Kultur geht, muß sich wieder schließen. Und nur eine lebendige Menschengestalt, gleich Curtius in den Abgrund gestürzt, kann ihn schließen; Rembrandt ist ein solcher Mensch. Seine Persönlichkeit, in ihrer völligen Ungezwungenheit und Überindividualität, erscheint als ein wirksames Gegengift gegen das deutsche Schulmeistertum, welches schon so viel Unheil anrichtete. Dieser Mann paßt in keine Schablone; er spottet aller Versuche, ihn auf irgendein gelehrtes Prokrustesbett zu legen. Akademische Programme und Schulformeln lassen sich nicht auf ihn münzen, wie auf Rafael und andere; er bleibt, der er ist: Rembrandt.
Vielleicht neigt der Deutsche nur deshalb so sehr zur Regel, weil sein Charakter von Haus aus ein regelloser ist; er strebt nach Korrektur, nach Ergänzung; aber er sollte eine solche Ergänzung mehr in sich als außer sich suchen; er sollte sich von den Fehlern seines Individualismus reinigen, indem er einen gesunden Individualismus zum Prinzip erhebt. Dadurch wird er seine Natur festigen und einschränken, ohne sie zu mindern oder zu schädigen. Er braucht Bildungstypen, aber nicht Bildungsschablone; denn ein Typus formt sich von innen nach außen, eine Schablone aber von außen nach innen; das ist ein grundlegender Unterschied. »Eines schickt sich nicht für alle.« Wie die griechischen Künstler in dem Kanon des Polyklet eine aus dem Volke selbst geschöpfte Normalfigur hatten, deren Maßen sie durchweg ihre Bildwerte anpaßten und denselben dadurch jenen Charakter des Ruhigen und Gleichmäßigen und Harmonischen gaben, welcher einen Hauptvorzug der griechischen Kunst bildet; so hat umgekehrt der deutsche Künstler und der deutsche Mann in einer Gestalt wie Rembrandt ein Muster des Bewegten und Ungleichartigen, des individuell Veranlagten vor sich, welches den Grundzug des deutschen Charakters und damit auch der deutschen Kunst bildet. Beide verhalten sich zueinander, wie der homophone zum polyphonen Gesang. Denn die Aufgaben der Völker sind verschieden; Konkordanz ist der Beruf der einen, Diskordanz der Beruf der anderen; jenes Los ist den Griechen, dieses den Deutschen gefallen; jene sind konzentrisch, diese exzentrisch angelegt. Und niemals ist wohl schöner der rastlose deutsche Geist dem ruhigen antiken Geist entgegengesetzt worden, als in dem tiefdeutschen Spruch Hölderlins: »Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles«. Wenn man ihn mit dem aus der tiefsten Tiefe des griechischen Geistes geschöpften Begriff der olympischen Ruhe und Selbstgenügsamkeit vergleicht, so macht sich dieser Gegensatz noch deutlicher fühlbar; »wir suchen nichts; was wir sind, ist alles« hätten die Griechen sagen können.
Um den Weg zur Wahrheit zurückzufinden; sie brauchen die Deutschen nur auf sich selbst zu besinnen: »das nenne ich ein deutsches Aussehen, stark, wohlerzogen und fein«, hat Rahel gesagt. Götter und Menschen, Dichter und Propheten, Mann und Weib rufen dem Deutschen zu: sei deutsch! Die Deutschen, als Volk genommen, sind nunmehr stark; aber »wohlerzogen« nur teilweise und »fein« noch weniger. Denn ihre Bildung ist unecht, und das Unechte ist nie fein. Wer das unschätzbare Gut seiner Individualität für den Glitter einer falschen Bildung hingibt, ist nicht klüger als der Neger, welcher sein Land und seine Freiheit für eine Flasche gefälschten Rums und einige Glasperlen verkauft. Stark, wohlerzogen und fein – ist der Charakter der Bachschen Musik; an ihr und zu ihr sollen sich die Deutschen hinaufbilden; stark wohlerzogen und fein – ist der Gehalt der Rembrandtschen Malerei; in sie sollen die Deutschen sich versenken. Das »wohltemperierte Klavier«, welches der eine und die sorgsam entwickelte Skala des »Helldunkels«, welche der andere hinterließ, sind höchste Bildungsmittel; sie sind es im eigentlichen wie im uneigentlichen, im fachkünstlerischen wie im menschlichen Sinne; sie sind es im deutschen Sinne. Originalität ist nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Künstlertums; sie ist in Rembrandt als einem Musterbeispiel gegeben; durch sie muß der Deutsche hindurchpassieren, wenn er geistig etwas werden will. Das ist die erzieherische Bedeutung dieses großen Künstlers. Wie von Cäsarismus, so könnte man auch von Rembrandtismus reden; nur daß dieser gerade das Gegenteil von jenem ist; denn jener zentralisiert ein Volk äußerlich, dieser individualisiert es innerlich. Das Neue muß an das Alte anknüpfen; aber nur an dem Punkte, wo es am freiesten ist; und am freiesten ist die bisherige deutsche Kultur in Rembrandt. Vieles nimmt man heutzutage unters Mikroskop; es dürfte gut sein, auch einmal einiges unters Makroskop zu nehmen; audiatur et altera pars. In diesem Sinne ward hier der Versuch gemacht, nicht einen Mann an der Zeit, sondern die Zeit – die heutige Gegenwart – an einem Manne zu messen. Es macht den modernen Nichtmenschen in der Regel wenig Eindruck, wenn man ihnen sagt: werdet Menschen; vielleicht macht es ihnen mehr Eindruck, wenn man sie auf einen ganz bestimmten Menschen verweist und ihnen zuruft: werdet Menschen wie Rembrandt. Selbstverständlich bezieht sich das nicht auf den Grad, sondern auf die Qualität seiner Befähigung. Diese Art von Menschlichkeit braucht nicht mit dem Verstande begriffen, nicht aus Büchern geschöpft zu werden; sie läßt sich mit Augen sehen und mit Herzen fühlen; sie ist kein Auszug in eine ideale und unbekannte Fremde: sie ist eine Rückkehr ins Vaterhaus.