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Wie sich um die vorletzte Jahrhundertwende aus der geistigen eine politische Wiedergeburt Deutschlands vorbereitete, so hat sich jetzt aus der politischen eine geistige Wiedergeburt vorzubereiten. Früher war man kosmopolitisch, jetzt sollte man kunstpolitisch sein; eben diese Kunstpolitik könnte das ideale Gegengewicht gegen die oft so trivialen Interessen der jeweiligen Tagespolitik bilden. Diese Idealität braucht nicht zarter oder zimperlicher Natur zu sein. »Man muß mit den Deutschen ungemein derb reden, wenn man von ihnen verstanden sein will,« hat selbst der feinsinnige Schiller gesagt. Das politische Deutschland ist eigentlich von Preußen erst zur Einheit genötigt worden: der rauhe Freier hat die zarte Maid bezwungen. So bedarf auch das deutsche Geistesleben gelegentlich einer festen und harten Hand, die es leitet. Kunst ist deutsch und Politik ist preußisch: Kunstpolitik ist deutschpreußisch; sie steht demnach im brennendsten Zeichen der Zeit. Bismarck, der die Politik für eine Kunst erklärte, hat damit die große Kunstperiode der Deutschen eingeleitet; wie er die moderne politische Periode der Deutschen, welche mit der Reformationszeit begann, abschließt: er steht zugleich an der Schwelle einer alten und neuen Zeit. Die märkischen Kiefernschonungen sehen am besten aus, wenn die blutrote Abendsonne durch sie hindurchscheint: vielleicht wird die deutschpreußische Politik sich am besten ausnehmen, wenn sie von der goldenen Morgensonne einer beginnenden Kunstzeit beleuchtet wird. Kunstpolitik ist Geistespolitik.
Notwendigkeit und Freiheit lassen sich künstlerisch so gut wie politisch versöhnen; wie denn die Kunst stets am besten da gepflegt wird, wo man sie nicht aus rein ästhetischen, sondern aus Gründen des nationalen Selbst- und Hochgefühls fördert. So geschah es in Griechenland, in Italien, in Holland: so muß es im jetzigen Deutschland geschehen. Politik ist der Hebel, welcher die Kunst in Bewegung setzt; und die Politik, welche heutzutage das Gemüt des Deutschen bewegt, kann ihm darum auch die Brücke zu einer neuen Kunstwelt werden. Wie der Mensch in erster Linie ein »politisches Tier«, so ist er in zweiter Linie ein Kunsttier; und es ist der Fortschritt des 19. gegen das 18. Jahrhundert, daß man nicht mehr das Umgekehrte annimmt; danach gilt es nunmehr zu urteilen, zu handeln, zu leben. Ein Bewußtsein nationaler und infolgedessen auch persönlicher Selbständigkeit ist für eine freie künstlerische Entwickelung unbedingt erforderlich. Das berechtigte Selbstgefühl, mit welchem ein preußischer Offizier einhergeht, hat eine entschieden innere Verwandtschaft mit jenem Selbstgefühl, welches z. B. den einzelnen katholischen Priester erfüllt; sie stehen sich nahe: Thron und Altar werden von formverwandten Karyatiden getragen. Beide jene Stände, der Wehr- wie der Lehrstand, sind aristokratischer Natur; und beide ruhen auf dem festen Unterbau des dritten, des Nährstandes – des seiner innersten Natur nach gleichfalls aristokratischen Bauerstandes. Die deutschen Befreiungskriege zu Anfang des vorigen Jahrhunderts sind nicht von monarchischer Seite, sondern durch eine kriegerische Aristokratie des Geistes vorbereitet und durchgeführt worden. Scharnhorst, Stein, Clausewitz, York, Gneisenau usw. gestalteten Deutschland neu: Friedrich Wilhelm III. und Kaiser Franz I. von Österreich folgten den Bahnen jener nur zögernd, ja zum Teil widerwillig. Politisch genommen bildet der Bauer das bindende Mittelglied zwischen Adel und Bürgertum; denn er vereinigt das erhöhte Selbstbewußtsein des ersteren mit dem schlichten Tätigkeitssinn des letzteren. Scharnhorst selbst, der Vater des ganzen jetzigen deutschen Heerwesens, war ein Bauernsohn. Daß der Bauernstand die besten Soldaten für jeden wirklichen wie geistigen Krieg liefert, ist bekannt; daß er, in weiterem Sinne genommen, auch die besten Künstler liefert, zeigen Shakespeare und Rembrandt; und eben vermöge dieser letzteren Eigenschaft ist er berufen, das bindende Mittelglied abzugeben zwischen dem geistigen Adel und jenem geistigen Bürgertum – das man Wissenschaft nennt. So neigen alle tieferen und ernsteren Bestrebungen des Volkslebens nach einem Punkte hin. Auf Bauerntum, d. h. auf Volkstum im besten und einfachsten Sinne, wird sich auch das neue deutsche Kunstleben zu gründen haben.
Preußen, als dem politisch führenden Staat, fällt hierbei wiederum eine besondere Aufgabe zu. Die normale künstlerische Entwicklung geht vom Rhythmus zur Symmetrie, vom Individualismus zum Stil; die normale politische Entwickelung geht von der Symmetrie zum Rhythmus, von der Einheit zur Freiheit. Eigenart, welche die Welt widerspiegelt, ist Kunst; sie kann die Welt aber nur widerspiegeln, wenn sie sich in straffe Selbstzucht nimmt, wenn sie ihr Wesen gewissermaßen glättet; denn nur glatte Flächen spiegeln. Eine derartige künstlerische Selbstzucht wird sich am besten auf dem Grunde politischer Selbstzucht entwickeln. Das ist die Bedeutung Preußens für die deutsche Kunst. Es kann also nicht nur gegenständlich, durch seine Taten, sondern auch geistig, durch seine Gesinnung, auf das deutsche Kunstleben einwirken! Zug um Zug ist eine gute Politik; derjenige Staat, welcher abwechselnd nach außen wie nach innen wächst, wird am weitesten kommen; und diese Politik ist, wie ein Blick auf die Geschichte lehrt, immer die besondere Politik Preußens gewesen. Es gilt, sie nunmehr in größerem Maßstabe zu handhaben. Friedrich II. hatte eine ausgesprochene persönliche Abneigung gegen die Kunst Chodowieckis und Friedrich Wilhelm III. eine solche gegen diejenige C. M. von Webers; um von der Gleichgültigkeit des einen Königs gegen Lessing und des andern gegen Goethe zu schweigen; vaterländische Politik und vaterländische Kunst gingen gelegentlich weit auseinander. Sie können jetzt miteinander gehen. Preußen hatte zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts den Grundsatz angenommen, die erlittenen Niederlagen durch Stärkung der wissenschaftlichen Kraft des Volkes wettzumachen; Deutschland hätte zu Ende des Jahrhunderts den Grundsatz annehmen sollen, die erfochtenen Siege durch Stärkung der künstlerischen Kraft des Volkes zu rechtfertigen. Dies Schuldkonto steht noch aus.
Man kann unter den preußischen Hohenzollern konstruktive und dekorative Regenten unterscheiden. Für jene ist Friedrich II., für diese Friedrich I. der Haupttypus; jetzt kommt es darauf an, jene beiden Richtungen zu einer einzigen höheren zu verschmelzen; also das im besten Sinne dekorative Element des Staatslebens, die Kunst mit dessen konstruktiven Elementen, Politik und Krieg möglichst zu verbinden; also die tragenden Glieder des Staatsgebäudes, wie es bei den Säulen des griechischen Tempels der Fall ist, zugleich zu seinen schmückenden zu machen. Das preußische Exerzierreglement hat den Deutschen körperlich wie vielfach auch sittlich gelehrt, wieder aufrecht zu gehen; die preußische Politik hat ihn wieder berechtigt, anderen Nationen gegenüber sein Haupt gerade zu tragen. So menschlich und männlich war der Beruf Preußens schon von Anfang an. Für dieses Land sind schon wiederholt Zeiten gekommen, wo der subalterne Geist seines Exerzierreglements sich in heroische Taten umgesetzt hat. Möchte nun auch wieder einmal für Deutschland eine Zeit kommen, wo die vorwiegend subalternen Bestrebungen seines geistigen Lebens sich in lebendige und schöpferische Taten umsetzen! Ein Schwert ist, wie jede Waffe, etwas Mechanisches; und darum etwas Totes; es bekommt erst dadurch Wert und Leben, daß es von einem »organischen« Wesen gehandhabt wird. Das gilt von dem politischen wie von dem Geistesschwert Deutschlands. Auch hier soll die spätere Entwickelungsstufe, wie überall, die frühere nicht aus-, sondern einschließen; die Myrte stumpft das Schwert nicht ab, sie schmückt es nur.
Im Kinde liegt das Träumerische, im Manne das Politische. Die Kindernatur des Deutschen fordert demnach, als ergänzenden Gegensatz, einen politischen Zug in seinem Charakter. Wo dieser mangelt wie bei Hölderlin oder wo er überwiegt wie bei Friedrich II., ist – ohne daß man die Person selbst als schuldig befinden darf – die eigentliche Harmonie ihres menschlichen Daseins gestört. Schillers Sympathie für den einen und seine Antipathie gegen den andern bleibt hierin bezeichnend für das innerste Fühlen des deutschen Volkes. Es ist nur natürlich, daß jener Zug mehr im deutschen Süden, dieser mehr im deutschen Norden sich entwickelte. Gleichwie dem Kinde der Künstler, steht dem Politiker der Krieger sehr nahe; aber jetzt, nachdem Deutschland geeinigt ist, werden auch Künstler und Politiker sich näherrücken müssen als bisher. Wie der Deutsche äußerlich zwischen Land und See, so steht er innerlich zwischen Kunst und Politik. Diese künstlerisch-politische Tätigkeit sollte, planmäßig und bewußt, auf das gesamte deutsche Geistesleben angewandt werden. Hier ist der entscheidende Punkt, wo die kindliche und die männliche Natur des Deutschen sich begegnen. Die Dinge nehmen, wie sie sind, heißt vernünftig und heißt Politiker sein; insofern ist vielleicht Politik die höchste Aufgabe des Menschen; aber aus den Dingen – nachdem man sie genommen hat, wie sie sind – das machen, was sie sein sollen, heißt schöpferisch und heißt Künstler sein; insofern ist Kunst eine noch höhere Aufgabe, welche jene andere in sich begreift. Man treibt Eisenbahnpolitik und Handelspolitik; man sollte nun auch »Kunstpolitik« treiben; damit würde ein neuer und höchst bedeutsamer Faktor ins nationale Leben der Deutschen eintreten. Kunst, Handel, Politik stehen in naher Verbindung miteinander; nicht nur weil der erstere Faktor von den beiden letzteren äußerlich oft stark beeinflußt wird; sondern auch aus tieferliegenden Gründen. Die Politik ist ein »Rechnen mit gegebenen Größen«; eben das ist auch die Hauptaufgabe des Handels und er erscheint dadurch als eine bloße Unterart der Politik. Aber auch alle Kunst ist ein Rechnen oder Operieren mit gegebenen Größen, d. h. mit der menschlichen Individualität und ihren Betätigungen; nur daß dort der Ton mehr auf dem »Rechnen«, hier mehr auf dem »Gegebenen« liegt. Mithin nimmt die Politik eine Mittelstellung zwischen Handel und Kunst ein; sie ist oft genug Handel und immer Kunst; so daß in letzterer Hinsicht sogar auf den Handel, der stets und ausnahmslos Politik ist, ein gewisser künstlerischer Schimmer fällt. Jede Tätigkeit, in ihrer Vollendung, wird zur Kunst. Aristoteles hat den Menschen ein politisches Tier genannt; nach dem Ausspruch Schillers: »Die Kunst, o Mensch, hast du allein,« ist er ein Kunsttier? faßt man die Meinung des griechischen Denkers und des deutschen Dichters Zusammen, so ergibt sich als dritte Bezeichnung: Der Mensch ist ein kunstpolitisches Tier. Beobachtung und Enthusiasmus begegnen sich hier kritisch, wie sie sich produktiv in jedem Kunstwerk begegnen. Insofern die Politik selbst schon eine Kunst ist, erscheint die Kunstpolitik sozusagen als eine Kunst in zweiter Potenz oder als eine Kunst der Künste; und insofern sie sich mit dem innersten Leben eines Volkes beschäftigt, wie es sich in seinem Denken und Dichten und Bilden äußert, kann man sie auch im Gegensatz zur bisherigen äußeren und inneren als eine innerste Politik bezeichnen.
Eine Hauptaufgabe einer derartigen »innersten Politik« wird die nicht äußere oder innere, sondern innerste Kolonisation sein – die geistige Urbarmachung und Besiedelung des deutschen Bodens. Dürer und Bach waren die Söhne in die Heimat zurückgewanderter deutscher Kolonisten; die ganze oberitalienische Malerschule ist nur eine deutsche Kolonie auf keltoromanischem Boden. Einem solchen geographischen Wachstum einer jeden gesunden und aufsteigenden Rasse, dem in die Breite, wird immer ein künstlerisches Wachstum eben derselben, das in die Tiefe, entsprechen. Dort blüht das Genie. Die Kunstpolitik hat das letztere zu pflegen; sie soll den Dolmetscher zwischen ihm und der Masse machen; und die Wichtigkeit eines solchen Berufs kann kaum überschätzt werden. Sie hat die überfließende Quelle des Genies zu fassen und weiterzuleiten, damit sie ringsum ihren Segen verbreite.
Wie es Politiker gab, lange ehe man das Wort und den Begriff Politik kannte; so haben auch in früheren Zeiten schon einzelne schöpferische Geister einen mehr oder minder bestimmten Anlauf zu kunstpolitischer Tätigkeit genommen; und zwar zunächst, indem sie beiden Geistesrichtungen gleichzeitig, aber gesondert dienten. Walther von der Vogelweide hat den Spruch: »Ein politisch Lied, ein garstig Lied« glänzend widerlegt; er war kein praktischer Politiker; aber politischer Enthusiasmus von echt deutscher und oberdeutscher Art erfüllte ihn. Später vereinigte ein Rubens Kunst und Politik in seiner Person: er war in letzterer sogar ganz praktisch und offiziell tätig; er bewies so seinen echt deutschen und niederdeutschen Weltverstand. Zeitlich und räumlich zwischen beiden stehend hat ein dritter deutscher Künstler, in kleinem Kreise, das gleiche geleistet; Lukas Cranach war Bürgermeister und ein sehr tüchtiger Bürgermeister von Wittenberg; daß seine politisch-künstlerische Doppelgestalt gerade an dem Angelpunkt der neueren deutschen Geistesentwickelung steht, darf als ein gutes Vorzeichen begrüßt werden. Die Griechen kannten solche Zugleich nach innen und nach außen gewandte Naturen nicht; Sophokles war ein schlechter Stratege und Perikles unglücklich in der äußeren Politik; es liegt in dem tätigen und rüstigen Wesen des deutschen Volkstums, beiden Anforderungen zugleich gerecht zu werden. Auch hier möchte man glauben, daß die Menschheit, welche im Griechentum Jüngling war, im Deutschtum Mann geworden sei. Ein tiefer Zug im deutschen Volkscharakter, der dessen besten Vertretern eigen ist, kommt ganz besonders jenen erzieherischen Absichten entgegen; Lessing hat etwas Staatsmännisches in seinem Wesen; et ist Oppositions- und Streitpolitiker; und über Schiller hat ein Goethe geradezu geurteilt: »Im Staatsrat wie am Teetisch würde er gleich groß gewesen sein.«
Die Kunstpolitik ist eine Art von höherer Gärtnerkunst; Goethe selbst war ein solcher Kunstpolitiker und Kunstgärtner. Er und Schiller konnten nur darum echte Kunstpolitik treiben, weil sie echte Künstler waren. Wie ihre gemeinsame Tätigkeit im wesentlichen eine nationale, sittliche, aristokratische, deutsche war, so wird auch der künftige Kunstpolitiker auf die gleichen Eigenschaften sein hauptsächliches Augenmerk richten müssen.
Wenn und indem die Deutschen sich politisch konsolidieren werden sie sich auch kunstpolitisch konsolidieren; ein zielbewußtes Zusammenfassen solcher Bestrebungen kann viel erreichen. Wie Politik angewandte Geschichte, so ist Kunstpolitik angewandte Kunstgeschichte; die »exakte« Neuzeit fordert ihr Recht. Aber wie immer, bedarf diese auch hier eines philosophischen, künstlerischen, individuell-menschlichen Untergrundes; sonst gerät sie auf Irrwege. Es gibt nicht nur eine Philosophie der Geschichte; es gibt auch eine Philosophie des Handels und jedes andern Dinges: schon Carlyle hat eine philosophy ot clothes geschrieben. Der Reflex, welchen das gesamte Weltleben auf irgendein Ding wirft, ist seine Philosophie. In diesem philosophischen Geiste will auch die Kunstpolitik behandelt sein; dann wird sie sich im rechten Sinne praktisch erweisen. Ihre Aufgabe wie die jeder echten Politik besteht darin: auszugleichen, zu parallelisieren, zu harmonisieren.
In der Mitte zwischen Kunst und Politik steht: die Besonnenheit. Die Kunstpolitik kann man demnach als die höchste Leistung des künstlerischen Wagens bezeichnen. Ein in seiner Seele unruhiger Politiker taugt so wenig wie ein in seiner Seele unbewegter Künstler; die äußere Unruhe des ersteren muß auf innere Ruhe, wie die äußere Ruhe des zweiten auf innere Unruhe gegründet sein. Und die Geistesrichtung beider überkreuzt sich, indem auch der Politiker im tiefsten Grunde seines Herzens moralischen Instinkten folgt – die ihn zur Unruhe und Aktion treiben, während der Künstler im tiefsten Grunde seiner Individualität volksmäßigen Trieben folgt – die ihn zur Ruhe und Stetigkeit hinleiten. Das Auge des Politikers soll möglichst objektiv und dasjenige des Künstlers möglichst subjektiv sein: aber es gibt eine Höhe der Politik wie der Kunst, wo sich dies Verhältnis umkehrt. Die sixtinische Madonna stellt einen Vorgang aus dem inneren religiösen Leben fast mit der Ruhe und Nichtigkeit eines Spiegels dar; und die politischen Bestrebungen eines Volkes lohen zuweilen, wie in der Marseillaise, zu einem Liede der Leidenschaft auf. Dort hat die Seele ihre Ruhe, hier ihre Bewegung wiedergefunden. Beide Leistungen liegen im Grunde außerhalb der deutschen Natur. Denn Deutschland hat weder ein Kunstwerk von der geistigen Spiegelglätte jener Madonna, noch ein Lied von dem tosenden Schwung jener Volkshymne hervorgebracht; die Holbeinsche Muttergottes weist Inkongruenzen auf und die Wacht am Rhein ist weit besser gemeint als gedichtet. Die Bestimmung des Deutschen führt ihn auch hier auf eine goldene Mittellinie; sie ist durch seine unerreichten Volkslieder, und einzelne Kunsterzeugnisse wie etwa das Hundertguldenblatt Rembrandts, vorahnend angedeutet. Er ist – »still und bewegt«.
Demgemäß hat der Kunstpolitiker die verhaltene Leidenschaft des Politikers mit der verhaltenen Vernunft des Künstlers zu paaren. Er muß gleichmäßig etwas von jenen beiden Eigenschaften aufweisen, welche man Napoleon I. zuschrieb, »Phantasie des Dichters und Zahlensinn des Geometers«. Aber er wird diese nun nicht in der römisch-zentralistischen, roh schablonisierenden Art handhaben dürfen, wie der Genannte sie anwandte. Seine Tätigkeit muß eine umfassende und ganz besonders eine zusammenfassende sein; er muß sich zurückhalten von den falsch Gebildeten und muß sich halten an das Volk; und das Voll muß zu ihm halten. Die im Volk vorhandenen künstlerischen Kräfte zu nutzen, unbekannte ans Licht zu ziehen, neue Kräfte zu wecken und vor allem in einer oder mehreren Künsten selbst schöpferisch zu sein, ist die Aufgabe des Kunstpolitikers. Er muß nicht nur, wie Goethe verlangt, die Poesie, sondern auch noch einige andere Künste »kommandieren« können. Nur der Schaffende versteht den Schaffenden ganz. Kurz, er soll in gewissem Sinne Dichter sein: und zwar in dem Sinn, in welchem Schiller gesagt hat: »Alle fühlen es; wer es auszusprechen vermag, heißt ein Dichter.« Der Kunstgeist Goethes, welcher verlangt, daß man die Poesie kommandieren solle und der Kriegsgeist Bismarcks, welcher will, daß seine Botschafter »einschwenken wie die Unteroffiziere«, vereinigen sich zu der gleichen Forderung: Disziplin gegen sich wie gegen andere. Der Kunstpolitiker hat für die geistige, wie der Physiker für die materielle Welt die beherrschenden Formeln anzugeben. Er hat die inneren Bedürfnisse seines Volkes zu fixieren; er soll dessen Mundstück in Bildungsfragen sein. Ja, er soll in gewissem Sinne Prophet sein; Enthusiasmus, den man gegenwärtig in politischen Dingen so gern zitiert und in geistigen Dingen so ungern sieht, darf ihm nicht fehlen. Die Realisten von heute freilich verdammen diesen Geistesfaktor; um so mehr soll der Deutsche an ihm festhalten. Gegen die Schablone verteidige er die Individualität; gegen den unsittlichen Massenmenschen erhebe sich der sittliche Einzelmensch! Den letzteren vorzüglich hat der Kunstpolitiker zu stützen. Will das Volk einmal Autoritäten haben, so verweise er es auf gute und edle Autoritäten; auf die nationalen Helden, welche seine Erzieher sein sollen; auf Achill, nicht auf Thersites.
Die Aufgabe der Kunstpolitik besteht darin, auf geistigem Gebiet der Natürlichkeit zum Recht zu verhelfen. Sie hat mithin einerseits abzuwehren, andererseits zu schützen: jenes gegenüber den schlechten, dieses gegenüber den guten Bestrebungen des nationalen geistigen Lebens. Die Kunstpolitik ist der Kunstkritik verwandt. Dasjenige Volk hat den größten Vorteil über die andern, welches aus seiner eigenen Vergangenheit am meisten lernt; jedes Volt wird am schärfsten durch seine eigene Geschichte kritisiert. Für den Kunstpolitiker gilt es besonders, daß er nicht ein doppeltes Maß der Beurteilung anwenden darf, indem er etwa geringere Anforderungen an die moderne als an die alte Kunst stellt. Die früheren Leistungen der bildenden Kunst, Rembrandt gegenüber Rafael und Dürer gegenüber Michelangelo, sind unter sich nicht verschiedener als die gesamte heutige Kunst es gegenüber der gesamten früheren Kunst ist. Man darf daher nicht nur, sondern man muß die jetzigen Meister mit den früheren vergleichen, um den wahren Wert jener zu bestimmen. Was Rembrandt und die Griechen untereinander, haben mit ihnen auch die besten heutigen Kunstleistungen gemein. Wer sich diesem Gerichtshof nicht stellen will, der fühlt sich selbst schuldig. Nur gesteigerte Anforderungen und, falls diese nicht erfüllt werden, ehrliches Bekennen der etwa vorhandenen künstlerischen Schwäche oder Unfähigkeit können die Kunst heben. Für Augurentum ist in ihr kein Platz,– und ebensowenig in der Kunstpolitik: sie muß in erster Linie eine deutsche und darum eine ehrliche Politik sein. Etwas Gewaltsamkeit kann ihr zuweilen nicht schaden. Es war ein kühner und wichtiger kunstpolitischer Schachzug des Papstes Julius II., als er vortreffliche Gemälde von den Wänden des Vatikans herunterschlagen ließ, um für die Werke Rafaels Platz zu schaffen. Das beste gehört an den besten Ort; und nur der ist konservativ, der das Große konserviert. Aber auch kunstpolitische Fehlgriffe sind in ihrer Art belehrend. Der verunglückte Versuch Friedrich Wilhelms IV., Männer wie Cornelius, Tieck, Rückert, Mendelssohn usw. in Berlin zu akklimatisieren, zeigt, wie Kunstpolitik nicht gemacht werden soll; rein äußerlich genommen, bleibt sie unfruchtbar. Sie will von innen heraus und nach inneren Notwendigkeiten gehandhabt sein.
Jene Eigenschaft des Politikers, der sich den Dingen ganz hingibt, der die Verhältnisse beherrscht, weil er sich von ihnen beherrschen läßt, jene völlige Selbstvergessenheit muß der Kunstpolitiker in einem doppelt hohen Grade besitzen. Die Kunst hat nicht ihm, sondern er hat ihr zu dienen; indem er klar denkt und offen spricht – gegen das Schlechte und für das Gute.
Zumal wird es Aufgabe des Kunstpolitikers sein, jene krankhafte Abartung des Bürgertums, welche Spießbürgertum heißt, nicht über die Kunstverhältnisse eines Staates oder Volkes disponieren und dominieren zu lassen. »Sie begreifen nicht, daß es Dinge gibt, die sie nicht begreifen,« hat man treffend von diesen sogenannten Philistern gesagt. Die eigentliche Größe Beethovens ging den Deutschen erst auf, nachdem ihn die Engländer anerkannt hatten; und selbst ein Goethe hat Ähnliches erlebt; »unter solchen fortwährenden Umständen würde ich gewiß zugrunde gegangen sein«, sagte er von seiner Frankfurter Advokatenzeit. Bach galt bei seinen Lebzeiten für einen geschickten Virtuosen; Rembrandt wurde von seinen Zeitgenossen geschätzt, aber bei weitem nicht nach Verdienst; sein berühmtestes Bild »Die Nachtwache« befriedigte weder die Besteller noch das damalige Publikum. Cats, ein gleichzeitiger und recht spießbürgerlich gesinnter holländischer Dichter, verglich Rembrandt mit einer »Eule, die im Finstern haust«. Ästhetische Philister aus späterer Zeit haben seine Malerei wohl eine Eulenspiegelmalerei genannt; und sie rechtfertigt diesen Namen im guten Sinne: sie spottet eulenspiegelhafterweise aller herkömmlichen Schablone. Sie tanzt den gelehrten Herren auf der Nase; und diese haben sich von dem Schreck darüber teilweise noch nicht erholt, noch heute nennen sie z. B. seinen Raub des Ganymed eine »Geschmacklosigkeit«; so spricht nur der – Philister und stellt sich damit ein Zeugnis seiner eigenen Geistesarmut aus. Das ist der Humor davon! Humor ist ein helldunkles Element; und der Name Eulenspiegel selbst ist helldunkel; er gesellt der Eule, die das Dunkel liebt, den Spiegel, welcher des Zellen bedarf: der niederdeutsche Nationaltypus zeigt den niederdeutschen Nationalcharakter – sogar in seiner bloßen Etikette. Rembrandt gleicht in manchen seiner radierten Selbstporträts einer Eule mit gesträubtem Gefieder; und der Spiegel seiner Kunst ist es, in welchem er dieses Bild auffängt. Die Rembrandtsche Kunst ist durchaus antiphiliströs; und gerade dies ist nicht ihr geringstes Verdienst; zumal gegenüber den heutigen deutschen Bildungsverhältnissen. Sie schlägt ihnen ein Schnippchen; sie reicht die eine Hand Eulenspiegel und die andere Shakespeare; und durchmißt so den vollen niederdeutschen Horizont.
Seit Simson hat freilich schon manches Kraftgenie den Philistern Rätsel zu raten aufgegeben und manches ist auch seitdem, wie Simson, von ihnen an die Mühle gestellt wurden. Ein Rembrandtsches Bild in der Dresdner Galerie stellt Simson dar, wie er den Philistern Rätsel aufgibt; merkwürdiger- und prophetischerweise hat der Maler hier den zuhorchenden »Philistern« genau einen Typus verliehen, wie man ihn unter der jetzigen deutschen Bedeutung des Worts zu verstehen pflegt; und ein anderer niederländischer Künstler, Jan Steen, hat es in einem zu Antwerpen befindlichen Bilde, dem »gefesselten Simson« gleichfalls getan. Genie und Trivialität, Heldentum und Philistertum standen von jeher in dem gleichen Verhältnis zueinander. Der Philister ist der gemeinsame Gegner der Krieger wie der Künstler; für jenen ist der Lorbeer nur ein Gemüse in der Suppe; für diese ist er das gemeinsame Zeichen ihres hohen und heiligen Berufs. Der Philister bewundert den Krieg wie die Kunst ungeheuer gern – aus der Ferne; »wenn hinten, weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«, oder wenn die Schmerzen eines zu Tode gemarterten Genies ihm vorbiographisiert werden, dann ist ihm wohl. Er ist ein Feind alles desjenigen, was groß und gut ist. Er ist bildungsdumm. Von einem Hölderlin ist diese Menschengattung, am Schluß des Hyperion, mit bewunderungswürdiger Schärfe und Richtigkeit gezeichnet worden. Es ist die tiefe Lüge im Wesen des Philistertums, daß es das Genie öffentlich verehrt und heimlich haßt. Die kriegerische und künstlerische Entwickelung des künftigen Deutschland bedeutet also eine antiphiliströse Entwickelung. Das Volk ist nie trivial und der Vornehme ebensowenig; aber der Spießbürger ist trivial. Daher soll er von jenen beiden Geistesmächten in die Mitte genommen und womöglich erdrückt werden. Das ist eine Hauptaufgabe der Kunstpolitik.
Sie soll bewirken, daß das Genie an seinen richtigen Platz gestellt wird. »Ich will dafür sorgen, daß dieser Fisch in sein Wasser komme,« sagte der Kurfürst von Sachsen einst über Winckelmann; aber doch erst nachdem dieser ihm, wie es heißt, seinen Glauben hatte verkaufen müssen. Derartige Opfer wird eine gerechte Kunstpolitik nie verlangen; im Gegenteil, sie wird den Menschen und den Künstler desto höher schätzen, je mehr beide sich in berechtigten Grenzen selbst treu bleiben. Die deutsche Gegenwart, welche kraftvollen, geistigen Individualitäten so außerordentlich abgeneigt ist, darf sich das gesagt sein lassen. Daß man Lessing als Dramaturgen nach Hamburg berief, war eine besonders für die damalige Zeit hervorragende kunstpolitische Leistung; daß man ihn wieder gehen hieß, war ein verhängnisvoller kunstpolitischer Fehler. Wie Weber in Dresden lebte und Lortzing in Berlin starb, ist bekannt; früher gab es Genies und keine Tantiemen; jetzt ist es umgekehrt. Das ist bezeichnend. Der Staat oder die Stadt, welche vorhandene geistige Kräfte nicht zu schätzen weiß, begeht eine Art von moralischem Selbstmord; es heißt zwar schon in der Bibel: »Die Väter steinigen die Propheten und die Enkel bekränzen deren Gräber;« aber sollte es immer so bleiben müssen? Sollte es nicht wenigstens Ausnahmen von der Regel geben können? Hätten die heutigen Deutschen, welche mit Propheten so wenig gesegnet sind, nicht allen Grund, solche Ausnahmen zu statuieren?
Über die allgemeine künstlerische Richtung und Entwickelung einer Nation läßt sich irgendwie »Neues« nicht bestimmen; aber wenn Künstler und Publikum wissen, auf welche Hauptpunkte es bei dieser Entwickelung ankommt, so wird sich dieselbe leichter und rascher vollziehen, als es ohnedem der Fall gewesen wäre – im ganzen wie im einzelnen. Kunstpolitik ist auch für den Künstler selbst von hoher Wichtigkeit; eigentlich ist ihm nichts notwendiger als Politik: gegenüber den mannigfachen äußeren wie inneren Einflüssen, welche seine künstlerische Selbständigkeit und damit seine künstlerische Ehrlichkeit bedrohen. Nur zwischen der doppelten Schutzwand eigener und fremder Kunstpolitik kann sich die zarte Sinnpflanze, welche Individualität heißt, dauernd und fruchttragend behaupten. Je planmäßiger, auf Grund der gegebenen Verhältnisse und vorhandenen geistigen Faktoren, eine deutsche Kunstpolitik betrieben wird, desto bessere Erfolge wird sie aufzuweisen haben. Professoren und Musealbeamte können in der Regel hierfür wenig tun; denn sie blicken mehr rückwärts als vorwärts: sie selbst sind überwiegend die Opfer einer falschen Bildung und können darum nicht Priester einer neuen Bildung sein. Eine Bildung kann nicht gelehrt werden, sie muß gelebt werden. Erziehung und Unterricht sind zweierlei; das deutsche Volk ist schon viel zu viel unterrichtet: es will erzogen sein. Die rationelle Bewirtschaftung des geistigen Gesamtkapitals einer Nation ist für diese selbst von lebenentscheidender Bedeutung.
Wird sie vollkommen durchgeführt, so kann die Schaffung neuer geistiger Werte, also das eigentliche innere Leben dieser Nation sehr gesteigert werden. Das Zeitalter einer geregelten und folgerichtig gehandhabten Kunstpolitik dürfte sich, gegen frühere Zeiten gehalten, mit der Zeit vor und nach der Einführung eines geregelten Ackerbaus vergleichen lassen. Was sonst nur zehnfältig, würde dann hundertfältig tragen; Bodenkultur und Geisteskultur zeigen sich abermals als verwandt. Man kann das Genie nicht züchten, aber man kann es ziehen. Die gegenwärtige Generation hat lange mit dem Bauerntum kokettiert; sie sollte einmal anfangen, es ernstlich zu lieben. Liebe ist fruchtbar, Koketterie unfruchtbar. Der Bauer und der Künstler produzieren, der Kaufmann und der Fachgelehrte vertreiben; Schätze des Handels wie des Wissens werden meist höher geschätzt als solche des Bodens oder der Phantasie; innerlich stehen die letzteren dem menschlichen Herzen und damit dem Menschentum überhaupt näher als die ersteren. Den Kunstpolitiker führt sein Weg vom Bauern zum Künstler; der Künstler, welcher aus dem Bauern, d. h. dem unverfälschten Volkstum hervorgehen sowie seinerseits wieder den Menschen d. h. das unverfälschte Einzelindividuum zur Reife bringen soll, ist das eigentliche Objekt seiner Tätigkeit. Bei einer bedachten Ausnutzung der vorhandenen geistigen Volkskräfte wird es sich vermeiden lassen, daß z. B. ein deutscher Dichter gerade dann physisch aufgezehrt ist, wenn seine geistigen Kräfte zu reifen beginnen: so erging es Schiller, der über seinem Demetrius hinwegstarb. Dieser Dichter, der sich nur langsam und teilweise zu jener »Unverfälschtheit« durchrang, hat in dem erwähnten Werke politische und zugleich kunstpolitische Wahrheiten von erstem Range ausgesprochen; Sätze wie »man muß die Stimmen wägen und nicht zählen« und »was ist die Mehrheit? Unsinn ist die Mehrheit«, sind echt deutsch empfunden. Sie formulieren und lösen das größte Problem der modernen Zeit; freilich in einer Art, für welche diese Zeit selbst noch nicht ganz reif ist; es sind erziehende Wahrheiten. Höchste politische Weisheit, getränkt mit den tiefsten Empfindungen der Volksseele, kurz, eine im Feuer nationaler Leidenschaft rotglühend gemachte Vernunft, das ist das Ziel der echten Kunstpolitik.
Der Künstler muh prinzipiell stets neu sein, aber eben als Träger dieses neuen Prinzips möglichst viel von alten künstlerischen Errungenschaften in sich aufnehmen. Der Politiker muß prinzipiell stets vollkommen alt, d. h. im rechten Sinne konservativ sein, aber eben als Vertreter dieses alten Prinzips möglichst viel von neuen politischen Errungenschaften in sich aufnehmen. Der Kunstpolitiker hat diese doppelte Doppeleigenschaft in sich zu vereinigen; seine Aufgabe ist im Grunde reicher, aber auch schwieriger als die jener beiden anderen. Dadurch, daß der bisher größte deutsche Künstler: Shakespeare, und der bisher größte deutsche Politiker: Bismarck, dem niederdeutschen Stamme angehören, scheint dieser für eine Vereinigung der genannten beiden Eigenschaften, eben in der Kunstpolitik, vorherbestimmt zu sein. Der Niederdeutsche ist ein Mann der »gegebenen Größen«, er konserviert gern; aber er ist zugleich auch ein Mann des »Rechnens«, er kombiniert gern. Beide diese Neigungen tragen ihn, wie ein mächtiges Flügelpaar, einer großen Zukunft entgegen. Der größte Politiker und der größte Lyriker der niederdeutschen Vergangenheit, Cromwell wie Burns, waren im buchstäblichen Wortsinne Bauern; Reinbrandt vereint in sich den rauhen Scharfblick des einen mit der volkstümlichen Zartheit des andern: seinen Spuren hat auch der Kunstpolitiker zu folgen. Bezeichnend ist, daß das erste persönliche Zusammentreffen und gegenseitige Verstehen zwischen dem Hellenen Goethe und dem Deutschen Karl August – also der früheste Keim des goldenen Zeitalters der neueren deutschen Literatur – sich an eine Unterredung beider über die praktischen Reformvorschläge des verständig, volkstümlich, niederdeutsch denkenden Justus Moser knüpfte! Kunst und Politik, beide im weiteren Sinne genommen, begegneten sich hier – auf niederdeutschem Geistesboden. Advocatus patriae war nicht etwa ein poetischer und fiktiver, sondern der politische und offizielle Titel, welchen Moser seinerzeit als Vertreter der Landschaft Osnabrück führte; er hieß es und war es. Gerade die so real fühlenden und aller Pose abgeneigten Niederdeutschen haben durch die bloße Schöpfung eines solchen Titels bewiesen, wie nahe echte Prosa und echte Poesie einander stehen. Beide sollen im Kunstpolitiker zusammentreffen; er soll advocatus patriae sein!
Wie nahe sich selbst die entgegengesetzten Vertreter des niederdeutschen Charakters stehen, zeigt die völlig verblüffende Ähnlichkeit gewisser Lenbachscher Skizzen des Bismarckkopfes mit einigen Rembrandtschen Selbstbildnissen; so mit einem in London befindlichen und anderen unter den Radierungen des Meisters. Die beiden Pole des niederdeutschen Wesens, Kunst und Politik, sind hier sichtbarlich durch die Achse der äußeren, typischen, persönlichen Erscheinung verbunden. Die Natur liebt es zuweilen, mit offenen Karten zu spielen; und wer ihr dabei zusieht, kann viel lernen.
Aber noch eine weitere Charaktereigentümlichkeit befähigt den Niederdeutschen vorzugsweise zum Kunstpolitiker: daß er nämlich ein Niederdeutscher nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach ist; daß seine geistige Tätigkeit vom Niedern zum Hohen, von unten nach oben geht – nicht umgekehrt, wie sie mit gleichen kunstpolitischen Zielen aber auf gerade entgegengesetztem Wege, z.B. der Oberdeutsche Schiller in seinen »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« entwickelte. Er hat die Forderung aufgestellt: der niederdeutsche Kunstpolitiker muß die Erfüllung bringen.
Der Sinn des Volks, des Bauern, des Niederdeutschen ist helldunkel. Der eigentümliche Charakter der Malerei Rembrandts ist der des Niederdeutschen überhaupt. Hell ist seine Politik, in Bismarck; dunkel ist seine Kunst, in Beethoven. Aber auch dunkel ist seine Politik, in Richard III.; und hell ist seine Kunst, in Shakespeare. Das helldunkle Wesen des Niederdeutschen zieht sich von seinem innerlichsten Denken und Fühlen bis zu seinen äußerlichsten Lebensgewohnheiten; er ist hart und zart; er trinkt »Stout and Ale«. Seine Seele schattiert sich, nuanciert sich, moderiert sich. Und ebenso hält er es bezüglich seiner staatlichen Pflichten, Neigungen, Taten; bald mäßigt er, bald treibt er an; kurz, er paßt sich an. Er ist elastisch. Er hat stets zwei Eisen im Feuer; und das ist eine treffliche Politik; denn es ist eine rhythmische Politik.
Diese politische Rhythmik wird sich ganz besonders in dem zu betätigen haben, was man geistige Wechselwirkung der einzelnen Äußerungen wie Gesamtbestrebungen des menschlichen Daseins nennen kann. Die Spezialfächer eines gesunden und nationalen politischen Lebens – Handelspolitik, Eisenbahnpolitik, Sozialpolitik, Schulpolitik, Kunstpolitik oder wie sie immer heißen mögen – sollen wechselseitig zueinander und dann wieder alle insgesamt zu dem großen künstlerischen Begriff der Politik überhaupt in nächste Beziehung gesetzt werden. Und ebenso auf dem Felde der, im engeren Sinn, bisher so genannten Kunst. Bildende, handelnde, anschauende Künste müssen wechselseitig unter sich und dann wieder alle insgesamt dem hohen menschlichen Begriff des Schaffens verbunden werden. Wechselwirkung ist ein schönes Wort; es bezeichnet einen insonderheit deutschen Begriff: Brüder- und Freundespaare spielen im deutschen Geistesleben eine wichtige Rolle. Innerhalb der bildenden Kunst hat ein derartiges Verhältnis zweier bedeutender Menschen zueinander seine beste und man möchte sagen unübertreffliche Darstellung gefunden durch das Rietschelsche Doppelbildnis von Schiller und Goethe zu Weimar. Dichter und Denker, welche hier beide ineinander übergehen, halten einen gemeinsamen Ruhmeskranz.
Als Ergebnis einer solchen erweiterten kunstpolitischen Tätigkeit wird auch das gesamte Leben eines Volkes sich wechselseitig mit demjenigen aller anderen Völker zu befruchten und werden die Lebensäußerungen dieser sich alle insgesamt wieder dem erhabenen göttlichen Begriff des Weltlebens unterzuordnen haben. Hierin gipfelt alle Geistespolitik. Denn das eigentliche Leben der Weltgeschichte entwickelt sich erst aus dem Wechselspiel zwischen fremdem und einheimischem Geiste bei den einzelnen Völkern. Man kann dies Verhältnis als das der »geschichtlichen Polarität« der Völker bezeichnen. Doch ist hier eine scharfe Grenze zu ziehen. Es muß stets festgehalten werden: daß einem beliebigen Volke nur die Aneignung der besten und größten Züge eines andern beliebigen Volkes gut bekommt. Diese enthalten Lebenskeime; kleine und schlechte Züge aber, die man etwa übernimmt, wirken sofort als Todeskeime. Sie zerstören den Organismus, der sie aufnimmt. Nur die edelsten Elemente zweier Völker können einander geistig, befruchten; hier summiert sich die Kraft. Gemeine Menschen dagegen werden in der Fremde, welche sie von gewissen Schranken löst? noch gemeiner.
Nur an des Lebens Gipfel, der Blume, zündet sich Neues
In der organischen Welt, in der empfindenden an.