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Gerade als es ein Uhr schlug, kam jemand und klingelte an der Glocke des Doktors. Das erste Läuten hatte kein Resultat, aber als das zweite und dritte verriet, daß es unerschütterlicher Ernst war, kam Doktors Karin durch die Küchenthür, um zu sehen, was es gab. Und als Karin eine Weile unterhandelt hatte, mußte sie sich dareinfinden, den Doktor zu wecken. Sie klopfte an die Schlafzimmerthür.
»Es ist jemand da von der Braut vom Herrn Doktor. Der Herr Doktor muß hin.«
»Ist sie krank?« ertönte es von drinnen.
»Sie wissen nicht, was ihr fehlt. Sie glauben, daß sie etwas ›gesehen‹ hat.«
»Ja, ich lasse sie grüßen und sagen, daß ich komme.«
Der Doktor fragte nicht weiter. Liebte es nicht, das Mägdegeschwätz über seine Braut zu hören.
Eine wunderliche Sache mit diesem Aberglauben, dachte er, während er sich ankleidete. Da liegt doch das Haus mitten in der Stadt, nicht das geringste Romantische daran. Ein ganz gewöhnliches, häßliches, altes Haus, wie alle anderen in dem Viertel eingerichtet. Aber der Geisterspuk nistet sich dort fest.
Läge es nur in einem finsteren Gäßchen oder ein wenig außerhalb der Stadt in irgend einem verwilderten Garten, wo unheimliche alte Bäume die Fensterscheiben peitschten, in solch einer stürmischen Winternacht! Aber mit der Kirche und der Sparkasse und der Kaserne und der Zuckerfabrik ganz in der Nähe! Sollte man nicht glauben, daß die Zuckerfabrik mit all ihrem Rasseln und Kochen und den großen glühenden Dampfkesseln es dem Gespenst unbehaglich machen mußte. Aber nein – durchaus nicht.
Auf seine Weise konnte das Gespenst Bewunderung verdienen. Es lag Energie in ihm, unglaubliche Energie und die Fähigkeit, sich im Bewußtsein der Leute zu erhalten. Man gab wohl zu, daß es sich jetzt etwa zwanzig Jahre nicht hatte sehen lassen, seit die Fräuleins Burmann in die Geisterzimmer gezogen waren. Aber hatte jemand es vergessen? Das zeigte sich ja jetzt: bloß weil Ellen ganz plötzlich krank geworden war, mußte es gleich heißen, sie hätte etwas gesehen.
Daß sie vor etwas erschrocken war, ja, das war wohl nicht unmöglich. Sie war wie prädestinirt, Gespenster zu sehen, dadurch, daß sie ihr ganzes Leben mit den zwei nervösen alten Tanten verbracht hatte. Und daß es ein Gespenst im Hause gab, hatte sie wohl immer gehört und geglaubt, von Kindheit auf war ihre Phantasie mit alledem aufgereizt.
Als er das erstemal auf Krankenbesuch bei den Tanten gewesen, hatte sie ihm gleichsam triumphierend gesagt: »hier ist das Geisterzimmer,« in einem Ton, als zeigte sie eine Familienkostbarkeit.
»Sehen Sie, Herr Doktor, es geht nicht an, in diesem Zimmer Karten zu spielen.«
»Ach, warum nicht?«
»Ja, wenn einer der Spielenden den geringsten Fehler macht, den allerunbedeutendsten Kniff, da kommt eine Hand und legt sich neben ihn auf den Spieltisch.«
»Was für eine Hand?«
»Eine alte häßliche Hand mit schweren Diamantringen auf den krummen Fingern und mit echten Spitzen ums Handgelenk.«
»Nun, und dann?«
»Ja, man sieht nichts mehr als die Hand.«
»Aber woher kommt das?«
»Das weiß niemand, sie hat sich immer hier gezeigt.«
Sie hatte das sehr keck erzählt, aber wer konnte wissen, wer konnte wissen? Sie glaubte wohl an den Spuk.
»So kommt sie, sehen Sie, Herr Doktor, kommt die Tischkante heraufgeschlichen, dicht neben dem, der spielt, hu, und dann zeigt sie auf eine der Karten mit einem großen gekrümmten Finger! Sie hat Nägel wie Klauen, gekrümmt und spitzig.«
Nun, wirklich daran glauben konnte sie wohl doch nicht. Sie hatte ja gerade das Gespensterzimmer zu ihrem Zimmer gewählt . . .
Der Doktor jagte an der großen Zuckerfabrik vorbei, wo die Arbeit die ganze Nacht fortging, und gelangte über die hohe Steintreppe hinein in das Haus.
Gott erbarme sich, auch er war nahe daran, zu erschrecken. Im Stiegenhaus stand eine lange Gestalt, ganz in einen schwarzen Shawl eingerollt. Tante Malin war selbst herabgekommen, um ihm die Stiegen hinaufzuleuchten.
»Wie geht es Ellen?« fragte der Doktor.
»Wie gut von Dir, so rasch zu kommen,« sagte Tante Malin. »Ich weiß nicht, was ihr ist. Du mußt kommen und selbst sehen.«
Sie sprang beinahe die Stiegen hinauf, so alt sie war. Der Doktor bekam erst jetzt den lebendigen Eindruck, daß wirklich Gefahr im Verzuge war.
Ärgerlich, wenn jetzt etwas dazwischen kommen sollte, mit dem kleinen Mädchen dort oben, das er sich zur Frau gewählt. Er hatte in seinem ganzen Leben keine gesehen, die ihm besser paßte. Recht schön, und keine anderen Verwandten als die zwei alten Tanten, und natürlich streng erzogen, ans Heim gewöhnt, tüchtig im Häuslichen, friedfertig.
Als sie ins Vorzimmer kamen, wendete sich Tante Malin wieder an ihn.
»Wir erwachten mitten in der Nacht dadurch, daß sie so furchtbar schrie, und wir haben sie seither nicht beruhigen können, Wir wußten uns keinen andern Rat, als um Dich zu schicken.«
Sie öffnete die Thür zu Ellens Zimmer, steckte den Kopf hinein und sagte, daß er gekommen war. Gleich darauf wurde er eingelassen.
Drinnen war es so licht, daß er im ersten Augenblick kaum etwas sehen konnte. Sie hatten wohl alles hereingestellt, was es in der Wohnung an Lampen und Leuchtern gab. In dieser Beleuchtung wurde es einem klar, daß dies einst der Festsaal gewesen war, in den Glanzzeiten des Hauses.
Also hier hatten sie an den Spieltischen gesessen, und gerade da hatte die Gespensterhand sich gezeigt. Das mußte einen Schrecken und einen Aufstand gegeben haben! Man brauchte nur seine Braut anzuschauen, um zu wissen, wie sie ausgesehen haben mochten.
Sie saß mitten im Zimmer in einem großen Lehnstuhl, hielt sich ganz aufrecht, sah sich mit wunderlich wandernden Blicken um, war bleich, als hätte sie eines toten Menschen Farbe, ihre Zähne schlugen aufeinander und sie bebte.
Der Lehnstuhl war mitten ins Zimmer gerückt. Es war einer mit freien Füßen. Kein Möbel stand in der Nähe, nichts konnte darunter verborgen liegen und plötzlich hervorkriechen.
Sie achtete nicht auf die, die hereinkamen. Sie hielt jetzt die Augen fest, ganz fest auf den Schatten des Schrankes geheftet, der sich gegen die Kachelofenecke streckte. Sie hatte den Schatten wohl im Verdacht, daß er ihr irgend einen häßlichen Streich spielen wollte. Sie zog die Röcke an sich, wie um bereit zu sein, zu fliehen, wenn der Schatten sich verdichtete und sich als etwas entpuppte, vielleicht als eine große Hand mit Fingern und Klauen. Nun, der Doktor rückte in aller Eile eine Lampe hinüber, so daß ihr Licht in die Ecke fiel. Sie sank wieder in den Stuhl.
Nun kam Tante Bertha und legte denselben Rapport ab wie Tante Malin.
»Wir erwachten dadurch, daß sie schrie, als wäre sie wahnsinnig geworden, und so ist sie dann die ganze Zeit gewesen. Sie will nur Licht haben, immer mehr Licht. Was, glaubst Du, ist das?«
»Ein Schrecken, nichts anderes als ein Schrecken,« flüsterte der Doktor.
So, nun waren ihre Blicke bemüht, sich hinter eine Gardine einzubohren. Er ging einmal ums Zimmer. Es konnte ja möglich sein, daß er entdeckte, was sie erschreckt hatte. Auf dem Schreibtisch lag ein tintiges Briefpapier. Sie hatte etwas zu schreiben begonnen, aber die Feder war ihr aus der Hand gefallen und übers Papier gerollt. Ein Billet, das er ihr spät abends geschickt, um zu wissen, ob sie und die Tanten am nächsten Tag einen Ausflug mit ihm machen wollten, lag dicht daneben.
Es war offenbar, daß sie sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, um ihm zu antworten. Sie hatte eben »Mein gel . . .« geschrieben. Dann war sie erschrocken und hatte die Feder fallen lassen.
Der Doktor fühlte, wie die Blicke der Tante ihm folgten. Sie wunderten sich wohl, daß er kein Wort zu Ellen sprach. Das Erste, was geschehen mußte, war, alle aus dem Zimmer zu bringen, sowohl Tante Malin, als Tante Bertha, als auch das Hausmädchen, damit sie den Schrecken nicht wach in ihr erhielten.
»Ich glaube, sie wird mir schon alles erzählen, wenn ich allein mit ihr sprechen kann,« sagte er und hatte rasch das Zimmer ausgeräumt.
Er zog einen Sessel heran und setzte sich neben sie.
Wunderbar, wie viele Gesichter ein Mensch haben kann! Er hätte Ellen so kaum wiedererkannt. Ruhe, friedvolle Ruhe war das Hauptmerkmal ihres Aussehens. Er war davon bezaubert worden, sie immer gleich ruhig zu finden, eine förmliche Meisterin in der Kunst, die Tanten zu behandeln. Sie sah kaum von der Stickerei auf, wie sehr sie auch lärmten. Und dann hatte er einmal gleichsam eine Offenbarung gehabt. Im Heimkommen vermeinte er eines Abends eine zarte, geneigte Gestalt im Lampenscheine am Arbeitstische sitzen zu sehen. Er hatte ein deutliches Bild des feinen Nackens und der kleinen Hände empfangen. Das ganze Zimmer war durch sie geschmückt. Darauf hatte er um sie angehalten.
Und nun jetzt dagegen! Nur bleiches Entsetzen und aufgescheuchte Wildheit. Gerade, was er nicht wollte. Eine hysterische Frau! Ah, Gott behüte, Gott behüte!
»Sag', Ellen, was hast Du?«
Sie antwortete nicht.
»Mir mußt Du es sagen, verstehst Du,« sagte er ein bißchen streng.
Sie heftete die Augen auf ihn, es war, als blitzte ein Schimmer von Hoffnung in ihnen auf.
»Du wirst ruhig werden, wenn Du es sagst.«
Es war schade um ihre schönen hellen Augen. Sie hatten immer auf dem, mit dem sie gesprochen, geruht, mit einem Schimmer, so still wie der der Sonne. Sie waren vielleicht glänzender jetzt. Aber das war solch ein Glanz, nach dem er eigentlich gar nicht fragte.
Sie kämpfte heftig mit sich selbst. Sie konnte den Unterkiefer nicht stille halten. Sie stopfte ein Taschentuch zwischen die Zähne, damit man nicht hörte, wie sie aufeinanderschlugen.
Endlich hörte er sie ein paar Worte sagen. Sie saß da und schlug mit der einen Hand auf die andere und dachte laut. »Ich muß es ihm sagen. Ich muß, ich muß. Sie kommt sonst wieder. Ja, sie kommt wieder.«
Dann begann sie zu sprechen, und er wurde wunderlich herabgestimmt dabei. Es glich am ehesten der Stimmung, die über einen kommt, wenn man in einem feierlichen Aufzug im Frack geht und es kommt ein Platzregen. Man fühlt, wie man seine ganze Größe und Würde einbüßt.
Sie gestand mit einemmale, daß sie ihn nicht lieb hatte. Sie hatte ihn gerne heiraten wollen, aber einzig und allein, um von daheim wegzukommen.
Würde es nicht ihm selbst gegolten haben, er hätte darüber lachen können, wie dieses Kind sich nach einem Mann gesehnt hatte. Nach dem ersten besten. Sie war so fest entschlossen, fortzukommen. Es war der Tanten wegen. Sie waren ja sehr gut gegen sie gewesen, und sie wußten selbst nicht, wie sie sie quälten.
Sie sah ihn an mit verzweifelten Augen und bettelte gleichsam, er möchte sie doch verstehen und für sie fühlen. Er wußte ja, wie die Tanten waren, er, der sie viele Jahre hindurch behandelt hatte. Sie waren so schwierig, so schwierig, so voll fixer Ideen und Beängstigungen. Tante Malin erwartete immer eine Feuersbrunst, Tante Bertha glaubte immer, daß sie auf der Straße überfahren werden würde. Er wußte, wie sie waren. Und wenn sie, Ellen, weiter bei ihnen blieb, würde sie ebenso wunderlich werden.
Aber sie wollte ein ordentlicher Mensch werden. Und sie hatte sie gebeten, fortgehen und arbeiten zu dürfen. Das hatten sie natürlich nicht erlauben wollen. Da konnte er doch begreifen, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als zu heiraten.
Der Doktor konnte es nicht lassen, zu fragen, ob sie nicht gefürchtet hatte, daß sie, mit jemandem verheiratet, aus dem sie sich nichts machte, ein ärgeres Leben haben konnte, als hier bei den Tanten.
Ach nein, ärger konnte es wohl nie sein. Ein Mann war wenigstens manchmal fort. Die Tanten waren den ganzen Tag zu Hause.
Nun, da sie schon so offenherzig war – war es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn lieb zu haben? Sie schüttelte den Kopf, das war etwas, was ganz außerhalb des Denkbaren lag. Und warum? War er zu häßlich? Nein, sie schlug beteuernd die Augen auf. War er langweilig? Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Was für ein Fehler war also an ihm? Er war zu kalt. Ja so, er war zu kalt.
Der Doktor ging ein paar Schritte übers Zimmer. Das war doch unglaublich, daß ein solches Kind da herumgegangen war und etwas derartiges zusammengebraut hatte, hatte sich von ihm küssen lassen, ohne eine Spur von Neigung für ihn zu empfinden. Und sie hatte ihre Rolle gar nicht schlecht gespielt. Er war der Betrogene gewesen. Und daß er so unangenehm war, daß ein junges Mädchen gar nicht daran denken konnte, ihm gut zu sein.
Aber natürlich hatte sie ein elendes Leben bei den beiden Alten geführt. Er konnte schon begreifen, daß es ihr viel gegolten, sich zu verheiraten. Das war ihr wohl wie eine Erlösung fürs ganze Leben gewesen. Sie legte ihr Bekenntnis ab, ohne irgend ein Erbarmen zu zeigen. Es fiel ihr gar nicht ein, daß sie ihn verletzte. Sie mußte wohl glauben, daß er gepanzert war, ganz eisenhart.
Ihre Stimme erhob sich plötzlich zu einem Schrei. »Du weißt ja,« sagte sie, »daß alle, die falsch spielen, in diesem Zimmer hier die Hand sehen. Ich habe sie gesehen. Ich saß dort, dort.« Und sie wandte sich heftig zum Schreibtisch. »Dort sah ich sie.«
»Glaubst Du nicht, daß ich sie sah?« fuhr sie fort und bohrte ihre Augen in ihn, als wollte sie die Wahrheit hervorzwingen.
»Laß mich hören, wie es war,« sagte er beruhigend.
»Ja, Du weißt doch, daß Du mir abends geschrieben hast, und ich wollte die Antwort schreiben, bevor ich mich niederlegte. Aber als ich mich zum Schreibtisch setzte, wurde ich unruhig und saß lange da und dachte, denn ich wußte nicht, wie ich die Überschrift schreiben sollte. Ich mußte ja »geliebter« schreiben, aber das kam mir nicht recht vor. Es war das erstemal, daß ich an Dich schrieb. Ich fand, daß es schrecklich war, etwas zu schreiben, das nicht wahr war – aber schließlich schien es mir, daß ich nicht weniger schreiben konnte.«
»Ist ein so großer Unterschied zwischen dem, was man schreibt und dem, was man sagt?«
»Du hattest mich nicht gefragt, ob ich Dich liebte, nur ob ich Deine Frau werden wollte –«
»Ah so!«
»Aber da, im selben Augenblick, im selben Augenblick, als ich begonnen hatte, das Wort zu schreiben war die Hand da. Sie kam über die Tischkante heraufgeglitten, und ich glaube, ich saß da und starrte sie ein paar Sekunden an, bevor ich begriff, was es war. Ich schrie nicht gleich. Ich konnte gleichsam nicht verstehen, daß es etwas Übernatürliches war. Aber da legte sie sich über das Papier und zeigte mit den gekrümmten Fingern auf das Wort da.
»Ich glaube, sie war froh, sie zitterte förmlich vor Freude. Es war, als wollte sie die Buchstaben an sich scharren – es war falsches Spiel. Da wollte sie mit dabei sein.
»Sie kam gekrochen, auf den gelben Fingern, wie eine große Spinne. Gerade, als hätte sie Eile. Es war so lange her, seit sie Anlaß gehabt, hervorzukommen. Nun mußte sie sich sputen. Sie griff förmlich nach der Feder mit den feuchten, knotigen Fingern. Es war ja falsches Spiel. Da wollte sie mit dabei sein.
»Ich schrie auf, als wäre es eine Schlange, und da verschwand sie, aber ich weiß nicht, ob sie nicht noch hier ist. Ich glaube, ich fühle, daß sie sich noch im Zimmer befindet. Und wenn sie wiederkommt, so sterbe ich. Ich war nahe daran zu sterben.«
»Nein, sie darf nicht wiederkommen,« sagte er tröstend.
»Ich weiß, daß ich eins thun muß,« sagte sie, »ich muß es thun, damit sie nicht wiederkommt. Aber es ist so furchtbar hart.«
Sie nahm den Verlobungsring vom Finger, steckte ihre kalte zitternde Hand in die des Doktors und ließ den Ring zurück. Dann weinte sie in der Bitterkeit der Entsagung.
Der Doktor sagte nichts, er legte die Fingerspitzen aufeinander und ließ den Ring dazwischen hin- und hergleiten.
Es war nicht so schwer, mit der Geisterhand fertig zu werden wie mit dem anderen, meinte er. Die Hand hatte gleichsam seine Partei ergriffen, ihm ein wenig Rache verschafft. Er fühlte Sympathie für sie.
Es ist wohl so mit manchen, dachte er, daß das Gewissen in der einen oder anderen Weise über sie kommt, wie sehr sie auch versuchen, es zu betrügen. Es hat seine eigenen verschwiegenen Wege. Da hatte nun seine kleine Braut alles aufs Beste ausgeklügelt, um ein gutes Heim zu bekommen. Bloß ein bißchen Heuchelei brauchte sie sich aufzuerlegen, und alles Glück der Welt war ihr Eigen. Und da kommt das Gewissen ganz still heran und gräbt seine Mine tief unten in der Seele und sprengt endlich alle Klugheit, alle Berechnung in einem Augenblick in die Luft.
Ja ja, ja ja. Sie hatte wohl geglaubt, daß sie so ein ganzes Leben würde weiterlügen können, hatte wohl gesehen, wie es anderen geglückt war. Aber da stellt es sich heraus, daß sie aus feinerem Stoff gemacht ist. Etwas Hinderliches darin, einer verfeinerten Rasse von Gewissensmenschen anzugehören. Wenn man es am wenigsten erwartet, ist die Gewissenshalluzination fertig.
Natürlich nimmt sie dann die Form an, die am nächsten zur Hand liegt. Es war ja sonnenklar, daß das Gewissen in diesem Zimmer hier zu einer Geisterhand werden mußte.
Er saß noch immer da und spielte mit dem Ring und ließ ihn von einem Finger zum anderen gleiten. Er fühlte etwas anderes als Zorn darüber, daß er sie nicht hatte gewinnen können. Er war beinahe betrübt. Sie fing jetzt gewiß an, sich seiner zu erinnern, zu denken, daß ihm ein Unrecht widerfahren, denn sie beugte sich hinab und küßte seine Hand, »Verzeih' mir,« sagte sie.
Es war merkwürdig, wie weich sie war. Wenn sie sich darüber klar geworden, daß sie ein Unrecht gethan, wußte sie gar nicht, was sie alles thun sollte, um zu versöhnen. Es hatte wirklich keinen Zweck, sie länger zu quälen. Er brauchte ja nur geradeheraus zu sprechen, zu sagen, daß er nicht viel besser gewesen als sie. Räsonnement auf beiden Seiten. Die eine hatte ein Heim, der andere eine Hausvorsteherin gesucht. Es würde sie beruhigen, das zu hören.
Er wollte ihr sagen, daß es keine so bittere Enttäuschung für ihn werden konnte. Er war nicht so furchtbar verliebt gewesen, er auch nicht.
Ja gewiß, er hatte ja keinen Anlaß, die Qual länger hinauszuziehen. Das beste war, ein Ende zu machen. Alle zur Ruhe kommen zu lassen und morgen unverlobt zu erwachen.
Als er sich erhob, um zu gehen, kamen ihm die Thränen in die Augen. Es that ihm doch weh, sie zu verlieren. Und nun war es das, was er ihr sagte.
Er begann damit ihr unzusammenhängende Dinge zu sagen, daß sie ein Gewissensmensch war, daß sie der feineren Rasse von Nervenmenschen angehörte, die gerade jetzt angefangen hatten, hier und dort aufzutauchen. Sie war ihm gerade darum teuer. Gerade um dessentwillen, was ihr in dieser Nacht widerfahren, fiel es ihm schwer, auf sie zu verzichten.
Sie war frei, ja, natürlich, aber wenn sie einmal konnte und wollte – –
Er sah sie erstaunt an. Quälte sie das nicht? Nein, jetzt erst verschwand die Starrheit aus ihren Zügen, und die Augen wurden ruhig. Sie saß mit halbgeöffnetem Munde und lauschte –
Er sprach davon, wie er das Leben für sie hatte ordnen wollen, sprach davon, wie er sich nach ihr gesehnt. Er sprach ganz anders davon, als er vor einer halben Stunde gesprochen haben würde. Aber er sah es auch ganz verschieden, jetzt, da er sie verlieren sollte. Er sprach viel schöner, als er es sich zugetraut hätte. Das Zusammenleben mit einem weichen, liebenswerten weiblichen Wesen, ja gerade das Zusammenleben mit ihr nahm sich mit einemmale sehr hold für seine Phantasie aus, und er sagte es ihr.
Als er näher trat und ihr die Hand zum Abschied reichte, kamen ihm noch einmal die Thränen in die Augen. Sie war so schön, gerade jetzt, die Farbe entzündete sich wieder auf ihren Wangen, sie war wie eine frischaufgeblühte Blume. Sie sah ebenso froh aus, wie jemand, der einer Todesgefahr entronnen ist.
Der Doktor stand da mit ihrer Hand in der seinen und zog seine Konklusionen so rasch wie nie zuvor.
Sie verstand sich natürlich selbst nicht, nicht im geringsten. Ah! Er schöpfte tief Atem. Alle Niedergeschlagenheit war fort. Ein jubelndes Siegesgefühl durchblitzte ihn. Nur mit einer einzigen Anstrengung hatte er sich ihre Liebe ersprochen. Sie hatte ja nur das gebraucht, daß er zeigte, daß er sie lieb hatte.
Er nahm den Verlobungsring und steckte ihn ihr ruhig zurück auf den Ringfinger. »Reine Thorheiten,« sagte er, als sie die Hand wegziehen wollte.
»Aber,« sagte sie. »Ich weiß nicht, ich wage nicht –«
»Ich wage, ich,« sagte der Doktor, »ich war nie so, daß ich vor dem Glücke fortgelaufen bin.«
Er ging hinaus ins Vorzimmer, fand seinen Überrock und kam wieder herein, um seine Zigarre anzuzünden.
»Arme Kleine,« sagte er, während er ein paar Züge machte. »Bist jetzt gleichsam gebunden und gefesselt, mich zu lieben, sollte ich meinen. Sonst kommt noch die Hand dort und preßt Dir das Leben aus.«