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Die Lichtflamme

1

Vor vielen Jahren, als die Stadt Florenz sich eben zur Republik gemacht hatte, lebte dort ein Mann, des Namens Raniero di Ranieri. Er war der Sohn eines Waffenschmieds und hatte seines Vaters Handwerk erlernt, es lag ihm aber nicht viel an dessen Ausübung.

Dieser Raniero war ein sehr starker Mann. Es hieß von ihm, daß er eine schwere Eisenrüstung ebenso leicht trage wie ein anderer ein Seidenhemd. Er war noch jung, hatte aber bereits viele Kraftproben bestanden. Einmal befand er sich in einem Hause, auf dessen Dachboden Korn lagerte. Man hatte aber dort oben zu viel aufgehäuft, und während Ranieros Anwesenheit brach einer der Dachbalken, und das ganze Dach drohte einzustürzen. Alle, außer Raniero, waren entflohen. Er aber hatte die Arme emporgestreckt und sie gegen die Decke gestemmt, bis die Leute Balken und Pfähle herbeigeholt hatten, um das Dach zu stützen.

Man sagte auch von Raniero, daß er der tapferste Mann sei, den es jemals in Florenz gegeben hatte, und daß er von Kampf und Streit niemals genug bekommen konnte. Sobald er irgendeinen Lärm von der Straße her vernahm, stürzte er aus seiner Werkstatt hervor, in der Hoffnung, daß eine Schlägerei entstanden sei, an der er sich beteiligen könnte. Wenn er nur blank ziehen durfte, kämpfte er ebenso gern mit einfachen Bauern wie mit eisengepanzerten Rittern. Gleich einem Rasenden stürzte er sich in den Kampf, ohne seine Angreifer zu zählen.

Nun war Florenz zu damaliger Zeit nicht besonders mächtig. Die Bevölkerung bestand meistenteils aus Wollspinnern und Tuchwebern, und diese wünschten sich nichts Besseres, als in Frieden ihr Handwerk zu treiben. Wohl gab es genug tüchtige Männer, aber sie waren nicht streitlustig, sondern setzten eine Ehre darein, daß in ihrer Vaterstadt größere Ordnung herrschen sollte als irgendwo anders. Oft genug bedauerte Raniero, nicht in einem Lande geboren zu sein, wo es einen König gab, der tapfere Männer um sich versammelte, und er sagte, daß er in solchem Falle zu hohen Ehren und Würden gelangt wäre.

Raniero war prahlerisch und laut, grausam gegen Tiere, hart gegen sein Weib, und es ließ sich überhaupt nicht gut mit ihm leben. Er wäre ein schöner Mann gewesen, wenn sich nicht mehrere tiefe Narben, die ihn entstellten, quer über sein Gesicht gezogen hätten. Er war rasch von Entschlüssen, und seine Handlungsweise war großzügig, obwohl oft sehr gewalttätig.

Raniero war mit Francesca verheiratet, der Tochter des klugen und mächtigen Jacopo degli Uberti. Dem war durchaus nicht recht gewesen, seine Tochter einem solchen Kampfhahn wie Raniero zum Weibe zu geben, und er hatte sich dieser Heirat so lange wie möglich widersetzt. Doch Francesca hatte ihn dadurch zur Nachgiebigkeit bestimmt, daß sie erklärte, niemals einen anderen heiraten zu wollen. Als Jacopo endlich seine Einwilligung gab, hatte er zu Raniero gesagt: »Ich glaube oft erfahren zu haben, daß Männer Deines Schlages die Liebe eines Weibes leichter zu erringen als zu erhalten wissen, darum will ich Dir ein Versprechen abnehmen. Wenn meine Tochter das Zusammenleben mit Dir zu schwierig fände, so darfst Du sie nicht zurückhalten, falls sie zu mir zurückkehren will.« Francesca meinte, ein solches Versprechen sei ganz überflüssig, denn sie liebe Raniero so innig, daß nichts sie von ihm zu scheiden vermöchte. Aber Raniero gab das Versprechen sogleich und sagte: »Du kannst gewiß sein, daß ich niemals den Versuch machen würde, ein Weib zurückzuhalten, das von mir gehen mag.«

Nun vereinigte Francesca sich mit Raniero, und sie kamen gut miteinander aus.

Nachdem sie einige Wochen verheiratet waren, fiel es Raniero ein, sich im Scheibenschießen zu üben. Einige Tage schoß er nach einer an der Mauer hängenden Tafel. Er wurde sehr geschickt und verfehlte niemals das Ziel. Schließlich bekam er Lust, nach einem schwereren Ziel zu schießen. Er schaute sich nach etwas Angemessenem um, entdeckte aber nichts außer einer Wachtel, die in einem Vogelbauer über der Hoftür saß. Der Vogel gehörte Francesca, und sie hing sehr an ihm. Dennoch ließ er das Vogelbauer durch einen Burschen öffnen und erschoß die Wachtel, als sie sich in die Luft schwang.

Er fand diesen Schuß wohlgelungen und rühmte sich seiner vor jedem, der ihn anhören mochte.

Als Francesca erfuhr, daß er ihren Vogel erschossen hatte, wurde sie bleich und blickte ihn mit großen Augen an. Sie war verwundert darüber, daß er etwas hatte tun mögen, was ihr Kummer bereiten mußte. Aber sie verzieh ihm bald und liebte ihn wie zuvor.

Eine Zeitlang ging alles wieder gut.

Ranieros Schwiegervater, Jacopo, war Leinweber. Er hatte eine große Werkstatt, in der fleißig gearbeitet wurde. Raniero glaubte entdeckt zu haben, daß man dort dem Flachs auch Hanf beigebe, und er behielt das nicht für sich, sondern redete hier und dort in der Stadt über diese Angelegenheit. Schließlich hörte auch Jacopo von dem Gerede, und er wußte ihm gleich ein Ende zu machen. Er ließ von mehreren anderen Leinwebern sein Garn und seine Gewebe untersuchen, und sie fanden, daß alles vom feinsten Flachs angefertigt war. Nur in einem einzigen Ballen, der außerhalb von Florenz verkauft werden sollte, fand sich eine leichte Beimischung. Jacopo versicherte, daß dieser Betrug, ohne sein Wissen und seinen Willen, nur durch einen seiner Gesellen begangen sein könne. Er war sich jedoch sofort klar darüber, daß es ihm schwer fallen würde, die Leute von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Allzeit war er um seiner Redlichkeit willen gerühmt worden, und er empfand es bitter, seine Ehre angetastet zu sehen.

Raniero aber brüstete sich noch, daß es ihm geglückt sei, einen Betrug aufzudecken, und prahlte damit auch in Francescas Gegenwart.

Sie war tief bekümmert und gleichzeitig sehr verwundert, so wie damals, als er den Vogel erschoß. Während sie darüber nachsann, glaubte sie plötzlich ihre Liebe vor sich zu sehen, und diese glich einem großen schimmernden Goldgewebe. Sie konnte deutlich erkennen, wie groß und strahlend diese Liebe war. Aber von der einen Ecke des Gewebes war ein Zipfel weggeschnitten, so daß sie nicht mehr gleich groß und herrlich wie zu Anfang war. Sie war jedoch so wenig schadhaft, daß die junge Frau sich sagte: »Solange ich lebe, wird sie wohl noch ausreichen. Sie ist ja so groß, daß sie nimmer enden kann.«

Und wieder verging eine Zeit, in der sie und Raniero so glücklich waren wie von Anbeginn.

Nun hatte Francesca einen Bruder des Namens Taddeo. Dieser hatte eine Geschäftsreise nach Venedig unternommen und sich von dort Anzüge aus Sammet und Seide mitgebracht. Als er heimgekehrt war, prunkte er damit. Nun war es aber in Florenz nicht der Brauch, so kostbar gekleidet zu sein, so daß es bald viele Leute gab, die ihn zum Narren hielten.

Eines Nachts waren Raniero und Taddeo zusammen in einer Weinschenke. Taddeo trug einen grünen Samtmantel mit Zobelpelz und ein violettes Wams. Raniero brachte ihn dazu, so viel Wein zu trinken, daß er einschlief, dann nahm er ihm seinen Mantel ab und hängte ihn einer Vogelscheuche um, die in einem Kohlgarten aufgestellt war.

Als Francesca das erfuhr, ward sie wieder zornig auf Raniero. Und wieder sah sie das große Goldgewebe vor sich, das ihrer Liebe glich, und sie glaubte zu erkennen, daß es sich verkleinerte, weil Raniero Stück auf Stück davon abschnitt.

Dann stand es eine Zeitlang wieder gut zwischen ihnen, aber Francesca war nicht mehr so glücklich wie früher, weil sie stets befürchtete, Raniero könnte eine Tat vollbringen, die ihrer Liebe schaden müßte.

Die neue Unbill ließ auch gar nicht lange auf sich warten, denn Raniero konnte sich niemals ruhig verhalten. Er hatte stets ein Verlangen danach, daß die Leute von ihm redeten, und daß sie seinen Mut und seine Unerschrockenheit rühmten.

Auf der Domkirche, die Florenz einst befaß, und die viel kleiner war als der jetzige Dom, hing hoch oben an der höchsten Turmspitze ein großer, schwerer Schild, der dort von einem der Vorfahren Francescas aufgehängt worden war. Es soll der schwerste Schild gewesen sein, den ein Florentiner jemals zu tragen vermochte, und das ganze Geschlecht der Uberti war stolz darauf, daß einer der Ihrigen es fertig gebracht hatte, in den Turm hinaufzuklettern und es dort aufzuhängen. Diesen Turm erstieg Raniero eines Tages und kam mit dem Schild auf seinem Rücken herab.

Als Francesca dies vernahm, redete sie mit Raniero zum erstenmal von ihrem Kummer und bat ihn, nicht in solcher Weise eine Familie zu demütigen, der sie selber angehöre. Raniero, der gerade von ihr ein Lob seiner Heldentat erwartet hatte, wurde sehr ärgerlich. Er entgegnete, daß er es schon lange beobachte, wie gleichgültig ihr seine Triumphe seien, und daß sie immer nur an ihre eigene Familie denke.

»Ich denke an etwas ganz anderes,« entgegnete Francesca, »und das ist meine Liebe zu Dir. Ich weiß nicht, was daraus werden soll, wenn Du in dieser Art und Weise fortfährst.«

Von nun an wechselten sie des öfteren böse Reden, denn es traf sich so, daß Raniero fast immer just das tat, was Francesca am wenigsten leiden mochte.

In Ranieros Werkstatt arbeitete auch ein kleiner, hinkender Geselle. Dieser hatte Francesca schon geliebt, ehe sie sich verheiratete, und er liebte sie nach ihrer Heirat noch ebenso treu. Raniero, der davon wußte, begann nun, ihn lächerlich zu machen, besonders bei den Mahlzeiten. Schließlich kam es so weit, daß der arme Bursche, der es nicht ertragen konnte, dem Gelächter preisgegeben zu werden, sobald Francesca es hörte, sich auf Raniero stürzte, um mit ihm zu ringen. Raniero aber stieß ihn hohnlachend beiseite. Da glaubte der arme Bursche nicht länger leben zu können, ging davon und erhängte sich.

Damals waren Raniero und Francesca etwa ein Jahr verheiratet. Francesca glaubte noch immer, ihre Liebe als ein schimmerndes Goldgewebe vor sich zu sehen, doch nun waren bereits von allen Seiten große Streifen weggeschnitten, so daß es kaum halb so groß war wie zu Anfang. Sie war sehr erschrocken bei dieser Erkenntnis und sagte sich: »Wenn ich noch ein Jahr bei Raniero bleibe, so wird er es dahin bringen, meine Liebe gänzlich zu vernichten. Dann werde ich so verarmt sein, wie ich bisher reich gewesen bin.«

Und sie beschloß, Ranieros Haus zu verlassen, um von nun an bei ihrem Vater zu leben, auf daß nicht der Tag käme, an dem sie Raniero ebenso sehr hassen müßte, wie sie ihn jetzt liebte.

Jacopo degli Uberti saß im Kreise aller seiner fleißigen Gesellen arbeitend am Webstuhl, als er sie kommen sah. Er sagte, nun sei geschehen, was er längst erwartet habe, und bot ihr ein herzliches Willkommen. Dann gebot er allen seinen Leuten, sofort die Arbeit einzustellen, sich zu bewaffnen und das Haus zu verschließen.

Er selber ging zu Raniero, den er in der Werkstatt traf, und sprach zu seinem Eidam: »Meine Tochter ist heute zu mir zurückgekehrt und hat gebeten, wieder unter meinem Dache leben zu dürfen. Und nach Deinem mir gegebenen Versprechen erwarte ich nun, daß Du sie nicht zwingen wirst, zu Dir zurückzukehren.«

Raniero schien die Sache nicht sehr ernst zu nehmen und antwortete ganz ruhig: »Selbst wenn ich Dir keinerlei Versprechen gegeben hätte, würde ich dennoch niemals die Rückkehr einer Frau verlangen, die mir nicht länger angehören mag.«

Er wußte jedoch, wie sehr Francesca ihn liebte, und sagte sich im stillen: »Sie ist wieder bei mir, bevor der Abend sinkt.« Aber sie ließ sich weder an diesem noch am nächsten Tage blicken.

Am dritten Tage zog Raniero hinaus, um einige Räuber zu verfolgen, die den florentinischen Kaufleuten seit langer Zeit viel zu schaffen machten.

Es glückte ihm, sie zu überwältigen und als Gefangene nach Florenz zu bringen.

Nun verhielt er sich mehrere Tage ruhig, bis er sicher sein konnte, daß diese Heldentat in der ganzen Stadt bekannt geworden sei. Aber seine Erwartung, Francesca durch diese Tat zurückzugewinnen, erfüllte sich nicht.

Raniero hatte allerdings die größte Lust, sie durch Gesetz und Recht zur Rückkehr zu zwingen, fand aber, daß er es um seines Versprechens willen nicht tun dürfe. Doch erschien es ihm als ein Ding der Unmöglichkeit, in derselben Stadt mit der Frau zu leben, die ihn verlassen hatte, und so zog er von Florenz fort.

Er wurde zuerst Söldner, machte sich aber bald zum Anführer einer Freischar. Stets suchte er den Kampf und diente gar vielen Herren.

Wie er immer prophezeit hatte, gewann er als Krieger Ruhm und Ehren. Er wurde vom Kaiser zum Ritter geschlagen und den hervorragendsten Männern zugezählt.

Bevor er Florenz verließ, hatte er vor dem Bilde der Madonna in der Domkirche das Gelübde getan, von jeder Kampfesbeute, die er erringen würde, das Kostbarste und Beste der heiligen Jungfrau zu weihen. Und stets sah man vor diesem Bildnis kostbare Gaben, die er gespendet hatte.

Raniero wußte also, daß alle seine Heldentaten in seiner Vaterstadt bekannt waren. Und er war höchlichst verwundert, daß Francesca degli Uberti nicht zu ihm zurückkehrte, obwohl sie von allen seinen Triumphen reden hörte.

Zu jener Zeit wurde von der Kanzel ein Kreuzzug zur Befreiung des heiligen Grabes gepredigt, und Raniero zog unter der Kreuzesfahne nach dem Morgenlande. Teils erwartete er, daß er da draußen Schloß und Lehen gewinnen würde, über die er herrschen könnte, teils hoffte er, so glänzende Heldentaten zu vollbringen, daß sein Weib ihn wieder lieben und zu ihm zurückkehren würde.

2

In der ersten Nacht nach der Eroberung Jerusalems herrschte im Lager der Kreuzfahrer, das sich außerhalb der Stadt befand, große Freude. Fast in jedem Zelt wurde der Sieg durch Trinkgelage gefeiert, und in weitem Umkreise vernahm man Lärm und Gelächter. Auch Raniero di Ranieri saß trinkend mit einigen Kriegskameraden beisammen, und in seinem Zelt ging es fast noch wilder zu als in den anderen Zelten. Die Diener hatten kaum die Becher gefüllt, so waren sie auch schon wieder leer.

Raniero hatte allerdings den triftigsten Grund, ein großes Fest zu feiern, weil er an jenem Tage höhere Ehren errungen hatte denn jemals zuvor. Am Morgen, als die Stadt erstürmt wurde, war er, nächst Gottfried von Bouillon, der erste, der die Mauer erstieg, und am Abend war er angesichts des ganzen Heeres um seiner Tapferkeit willen hoch geehrt worden. Denn als das Plündern und Morden endlich aufgehört hatte und die Kreuzfahrer in Bußgewändern und mit noch unentzündeten Wachskerzen in die heilige Grabeskirche eingezogen waren, hatte Gottfried ihm verkündigt, daß er als erster seine Kerze an den heiligen Flammen entzünden solle, die vor Christi Grab brennen. Raniero erkannte daran, daß Gottfried auf diese Weise zeigen wollte, er betrachte ihn als den tapfersten Helden des ganzen Heeres, und er war hocherfreut über einen solchen Lohn seiner Heldentaten.

Gegen Mitternacht, als Raniero und seine Gäste in bester Laune waren, kam einer der Narren mit mehreren Spielleuten die in dem ganzen Lager umhergelaufen waren und die Leute mit ihren Possen ergötzt hatten, in Ranieros Zelt, wo der Narr um Erlaubnis bat, ein lustiges Abenteuer zu berichten.

Raniero wußte, daß jener Narr wegen seines Witzes sehr gerühmt wurde, und er versprach, die Erzählung anzuhören. Da sprach der Narr:

»Es geschah einmal, daß unser Heiland und Sankt Peter einen ganzen Tag auf dem höchsten Turm der Burg des Paradieses saßen und zur Erde hinunter blickten. Dort gab es für sie so viel zu begucken, daß sie kaum Zeit fanden, ein Wort zu wechseln. Unser Heiland hatte sich die ganze Zeit über ruhig verhalten, aber Sankt Peter hatte bald vor Freude in die Hände geklatscht, bald aber wieder voll Abscheu den Kopf hinweggewendet. Bald hatte er gejubelt und gelacht, dann wieder geweint und geklagt. Endlich, als der Tag sich neigte und Abenddämmerung auf das Paradies niedersank wandte sich unser Heiland an Sankt Peter und meinte, nun müsse er doch wohl froh und zufrieden sein. ›Womit soll ich denn eigentlich zufrieden sein?‹ fragte nun Sankt Peter in heftigem Tone. – ›Ja, ich glaubte, Du seiest mit dem, was Du heute gesehen hast, zufrieden,‹ entgegnete unser Heiland sanftmütig. Doch Sankt Peter wollte sich nicht beschwichtigen lassen. – ›Freilich, seit Jahr und Tag beklage ich, daß Jerusalem sich in der Gewalt der Ungläubigen befindet, aber nach alldem, was heute geschehen ist, finde ich, es hätte ebensogut alles bleiben können, wie es war.‹«

Raniero merkte bald, daß der Narr von den Geschehnissen des verflossenen Tages redete. Er und die anderen Ritter hörten nun aufmerksamer zu als am Anfang.

»Als Sankt Peter also gesprochen hatte,« fuhr der Narr in seiner Erzählung fort, indem er einen verschmitzten Blick auf die Ritter warf, »lehnte er sich über die Turmzinnen hinaus und wies auf die Erde hin. Dort zeigte er unserem Heiland eine Stadt, die auf einem mächtigen, einsamen Felsen lag, der aus einem Gebirgstal emporragte. ›Erkennst Du diese Leichenhaufen?‹ fragte er, ›und siehst Du, das Blut, das durch die Straßen rinnt, und siehst Du die nackten, elenden Gefangenen, die in der Nachtkälte jammern, und siehst Du all die rauchenden Brandstätten?‹ Unser Heiland schien nichts entgegnen zu wollen, so daß Sankt Peter in seinen Klagen fortfuhr. Er sagte, wohl habe er dieser Stadt oft heftig gezürnt, aber niemals habe er ihr dermaßen übel gewollt, daß es dort einmal so aussehen solle. Da endlich antwortete unser Heiland und versuchte eine Einwendung zu machen. – ›Du kannst doch nicht leugnen, daß die christlichen Ritter mit der größten Unerschrockenheit ihr Leben gewagt haben.‹«

Hier wurde der Narr durch Beifallsrufe unterbrochen, aber er beeilte sich fortzufahren.

»Nein, unterbrecht mich nicht. Jetzt erinnere ich mich nicht, was ich zuletzt sagte. Ja, jetzt habe ich es, ich wollte eben erzählen, daß Sankt Peter sich ein paar Tränen aus den Augen wischte, die ihn am Sehen hinderten. ›Nimmer hätte ich geglaubt, daß sie solche wilden Tiere sein würden,‹ sprach er. ›Sie haben ja den ganzen Tag gemordet und geplündert. Ich begreife gar nicht recht, daß es Dich danach verlangte, Dich kreuzigen zu lassen, um Dir solche Bekenner zu schaffen.‹«

Die Ritter nahmen den Scherz gut auf. Sie stimmten ein lautes, fröhliches Gelächter an, und einer von ihnen rief: »Also Sankt Peter ist wirklich so zornig über uns, he, Narr?«

»Du sei jetzt ruhig und laß den Narren berichten, ob unser Heiland nichts zu unserer Verteidigung sagte!« fiel ein anderer ein.

»Nein, unser Heiland schwieg erst still,« sagte der Narr. »Er wußte ja von altersher, daß es gar nicht der Mühe lohnte, Sankt Peter zu widersprechen, sobald der einmal sich erboste. Er blieb auch gut im Zuge und sagte, unser Heiland sollte es sich nicht einfallen lassen, ihm etwa zu sagen, daß sie sich schließlich doch besonnen hätten, in welche Stadt sie gekommen wären, und daß sie barfuß und im Büßergewande in die Kirche gegangen seien. Ihre Andacht sei ja so kurz gewesen, daß es sich gar nicht verlohne, überhaupt davon zu reden. Und dabei beugte er sich noch einmal über die Turmzinne hinaus und wies auf Jerusalem hinunter. Er deutete auf das Kriegslager der Christen davor. ›Siehst Du, wie Deine Ritter ihren Sieg feiern?‹ fragte er. Und unser Heiland sah, daß im ganzen Lager Zechereien abgehalten wurden. Ritter und Knechte sahen den syrischen Tänzerinnen zu. Die vollen Becher kreisten, es wurde um die Kriegsbeute gewürfelt, und – –«

»Man hörte Narren zu, die alberne Märchen erzählten,« fiel Raniero ein. »War das nicht auch eine große Sünde?«

Der Narr lachte und nickte Raniero zu, als wollte er sagen: ›Warte, Dir werde ich es noch heimzahlen.‹«

»Nein, unterbrecht mich nicht,« bat er nochmals. »Ein armer Narr vergißt so leicht, was er sagen wollte. Ja, also der heilige Petrus fragte unseren Heiland mit strengster Stimme, ob er finde, daß jene Leute ihm große Ehre machten. Natürlich mußte unser Heiland darauf entgegnen, daß er dies durchaus nicht fände. Und Sankt Peter sprach: ›Sie waren Räuber und Mörder, ehe sie ihre Heimat verließen, und noch heute sind sie Mörder und Räuber. Dieses ganze Kriegsabenteuer hättest Du ebenso gut hintertreiben können. Gutes kann dabei nicht herauskommen.‹«

»Ei, ei, Narr!« rief Raniero mit warnender Stimme. Aber der Narr schien eine Ehre darein zu setzen, zu erforschen, wie weit er wohl gehen könnte, ohne daß sich jemand auf ihn stürzte, um ihn hinauszuwerfen. Also fuhr er unverzagt fort:

»Unser Herr neigte nur das Haupt, wie jemand, der einsieht, daß er gerecht bestraft wird. Aber fast in demselben Augenblick beugte er sich eifrig vor und blickte aufmerksamer als zuvor auf die Erde hinab. Da guckte auch Sankt Peter hinunter und fragte: ›Wonach schaust Du denn nur?‹«

Der Narr beschrieb dies mit einem sehr lebendigen Mienenspiel. Alle Ritter sahen unseren Heiland und Sankt Peter vor Augen, und sie wollten gar zu gern erfahren, was unser Heiland wohl erblickt haben mochte.

»Unser Heiland erwiderte, es sei eigentlich nichts,« erzählte der Narr, »aber er blickte jedenfalls aufmerksam hinunter. Sankt Peter folgte der Richtung seines Blickes, konnte aber nichts anderes entdecken als ein großes Zelt, vor dem ein paar Sarazenenköpfe an langen Lanzen aufgespießt waren, und wo eine Menge prächtiger Teppiche, goldener Tischgeräte und kostbarer Waffen aufgestapelt lagen, die in der heiligen Stadt erbeutet waren. In jenem Zelt ging es ebenso zu wie in allen anderen Lagerzelten. Dort saßen viele Ritter, die ihre Becher leerten. Der einzige Unterschied mochte darin bestehen, daß dort noch mehr gelärmt und getrunken wurde als in allen anderen Zelten. Sankt Peter vermochte es nicht zu begreifen, weshalb unser Heiland so befriedigt darauf hinblickte, daß seine Augen geradezu vor Freude strahlten. Petrus meinte, noch niemals zuvor so viele harte und schreckliche Gesichter bei einem Zechgelage beisammen gesehen zu haben. Und der Wirt dieser Gasterei, der obenan saß, war der schrecklichste unter allen. Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unheimlich groß und ungeschlacht, mit einem glutroten Gesicht, das von Narben und Rissen wie zerfetzt war, er hatte harte Fäuste und eine kräftige, polternde Stimme.«

Hier stockte der Narr einen Augenblick, als fürchte er, noch weiter zu gehen. Raniero und den anderen Rittern machte es jedoch ein großes Vergnügen, so von sich selber reden zu hören, und sie lachten nur über seine Keckheit.

»Du bist ein freches Bürschlein,« rief Raniero ihm zu, »nun laß uns aber hören, worauf das hinauskommen soll!«

Und der Narr sprach weiter: »Endlich redete unser Heiland ein paar Worte, die Sankt Peter aufklärten, worüber er sich so sehr gefreut hatte. Er fragte Sankt Peter, ob er sich irre oder ob es sich wirklich so verhielte, daß einer der Ritter ein brennendes Licht neben sich stehen habe.« Bei diesen Worten zuckte Raniero zusammen. Zornig griff er nach einer schweren Weinkanne, um sie dem Narren ins Gesicht zu schleudern, aber er bezwang sich, um erst zu hören, ob der freche Gauch zur Ehre oder Unehre seines Namens reden würde.

»Sankt Peter gewahrte nun,« erzählte der Narr weiter, »daß jenes Zelt zwar ganz von Fackeln erleuchtet war, daß aber neben einem der Ritter wirklich eine brennende Wachskerze stand. Es war eine hohe, dicke Kerze, die bestimmt war, vierundzwanzig Stunden hintereinander zu brennen. Da der Ritter keinen Leuchter besaß, hatte er, um sie feststehend zu erhalten, eine Menge Steine um sie her aufgehäuft.«

Bei diesen Worten brach die Tischgesellschaft in ein lautes Gelächter aus. Alle wiesen auf eine Kerze hin, die neben Raniero auf dem Tisch stand, und die ganz genau der Beschreibung des Narren entsprach. Doch Raniero stieg das Blut zu Kopfe, denn es handelte sich um die Kerze, die er vor einigen Stunden am heiligen Grabe hatte anzünden dürfen. Er konnte sich nicht entschließen, sie erlöschen zu lassen.

»Als Sankt Peter diese Kerze sah, wußte er allerdings, worüber sich unser Heiland so innig freute, aber er konnte es dennoch nicht lassen, mitleidig über ihn zu lächeln. ›Ach so,‹ sagte er, ›das war jener Ritter, der morgens hinter dem Grafen von Bouillon als erster die Mauer erstieg, und der am Abend vor allen anderen sein Licht am heiligen Grabe anzünden durfte.‹ – ›Ja, so ist es,‹ antwortete unser Heiland, ›und wie Du siehst, hat er sein Licht noch brennen.‹«

Der Narr sprach jetzt sehr schnell, während er von Zeit zu Zeit Raniero lauernd anblickte. »Sankt Peter konnte es noch immer nicht lassen, unseren Heiland ein wenig spöttisch anzulächeln. ›Kannst Du denn nicht begreifen, weshalb er jenes Licht weiterbrennen läßt?‹ fragte er. ›Du glaubst gewiß, daß er an Deine Qualen und an Deinen Tod denkt, wenn er es betrachtet. Aber der denkt an gar nichts anderes als an die Ehre, die ihm erwiesen wurde, da man ihn nächst Gottfried von Bouillon als den tapfersten Helden des Heeres anerkannte.‹« Bei diesen Worten lachten alle Gäste Ranieros. Und er bezwang seinen heftig auflodernden Zorn und lachte auch, wußte er doch genau, daß alle es höchst lächerlich finden würden, wenn er nicht auf den Scherz einginge.

»Aber unser Heiland widersprach seinem lieben Sankt Peter und fragte ihn: ›Merkst Du denn nicht, wie besorgt er um die Wachskerze ist? Er schützt die Flamme mit der Hand, sobald jemand den Zeltvorhang lüftet, weil er fürchtet, ein Luftzug könnte sie verlöschen. Und er hat unablässig mit dem Abwehren der Nachtfalter zu tun, die um das Licht schwirren und die Flamme zu ersticken drohen.‹«

Das Gelächter wurde noch ausgelassener, denn der Narr hatte die reine Wahrheit gesagt. Raniero hatte immer größere Mühe, sich zu beherrschen. Er glaubte, es nicht zu ertragen, daß jemand mit der heiligen Lichtflamme seinen Spott trieb.

»Gleichwohl war Sankt Peter mißtrauisch,« fuhr der Narr fort. »Er fragte unseren Heiland, ob er jenen Ritter kenne, und sprach: ›Er ist nicht gerade einer, der häufig zur Messe geht oder den Betschemel sehr abnutzt.‹ Aber unser Heiland ließ sich nicht irre machen und sprach in feierlichem Tone: ›Sankt Peter, Sankt Peter! Denke daran, was ich Dir sage. Jener Ritter wird von nun an frommer werden als Gottfried! Woher sollten Milde und Frömmigkeit auch ausgehen, wenn nicht von meinem Grabe? Du wirst Raniero di Ranieri noch Witwen und bedrängten Gefangenen helfen sehen. Du wirst ihn noch sehen, wie er Kranke und Betrübte pflegen und behüten wird, so wie er eben jetzt die heilige Lichtflamme behütet.‹«

Ein maßloses Gelächter unterbrach den Narren. Alle, die Ranieros Art und Leben kannten, fanden das alles sehr spaßhaft. Ihm selber jedoch war Scherzen und Lachen vergangen. Er sprang auf und wollte den Narren handgreiflich zurechtweisen. Dabei stieß er so heftig gegen den Tisch – der nichts anderes war als eine auf lose Bücke gelegte Tür – daß dieser wackelte und die Kerze umfiel. Nun aber erwies sich, wieviel Raniero daran lag, das Licht brennend zu erhalten. Er überwand seinen Jähzorn und ließ sich ruhig Zeit, das Licht aufzurichten und die Flamme wieder zu entfachen. Aber als er damit fertig war, war der Narr längst aus dem Zelt geeilt, und Raniero sagte sich, daß es sich nicht der Mühe lohne, ihn im Dunkel der Nacht zu verfolgen. »Ich treffe ihn schon ein andermal,« murrte er und setzte sich nieder.

Die Tischgenossen hatten indessen ihr Gelächter eingestellt, aber einer von ihnen wandte sich an Raniero, um den Scherz fortzusetzen. »Eins steht aber fest, Raniero, diesmal wirst Du der Madonna in Florenz nicht Deine kostbarste Kriegsbeute senden können.«

Raniero fragte ihn, weshalb er wohl, nach seiner Meinung, gerade diesmal seinem alten Brauche nicht treu bleiben sollte. Und der Ritter antwortete:

»Aus dem einen Grunde, weil das kostbarste Gut, das Du diesmal errungen hast, jene Lichtflamme ist, die Du angesichts des ganzen Heeres in der heiligen Grabeskirche entzünden durftest. Und die wirst Du doch wohl nicht nach Florenz senden können.«

Und wieder lachten die anderen Ritter, aber Raniero war jetzt in einer solchen Gemütsverfassung, daß er die allerverwegenste Tat hätte vollbringen können, nur um ihrem Gelächter ein Ende zu machen. Kurz entschlossen rief er einen alten Waffenträger herbei und sagte zu ihm: »Rüste Dich zu einer langen Fahrt, Giovanni! Morgen sollst Du mit dieser heiligen Lichtflamme nach Florenz ziehen.«

Aber der Waffenträger setzte diesem Befehl ein festes Nein entgegen und sagte: »Das ist etwas, was ich nicht auf mich nehmen werde. Wie sollte es wohl möglich sein, mit einer Lichtflamme nach Florenz zu reiten? Sie würde erloschen sein, ehe ich noch dieses Lager verlassen hätte.«

Raniero fragte einen seiner Mannen nach dem anderen. Von allen wurde ihm die gleiche Antwort zuteil. Sie schienen seinen Befehl kaum für Ernst zu halten.

Die fremden Ritter, die Ranieros Gäste waren, lachten immer lauter und lustiger, als es sich erwies, daß keiner von seinen Mannen seinen Befehl ausführen wollte.

Raniero geriet in immer größere Erregung. Schließlich verlor er die Geduld und rief aus: »Diese Lichtflamme wird dennoch nach Florenz gebracht werden, und da kein anderer damit hinreiten will, werde ich es selber tun.«

»Bedenke Dich wohl, ehe Du solches gelobst!« rief ein Ritter. »Du verläßt ein Fürstentum.«

»Ich schwöre es Euch, daß ich diese Lichtflamme nach Florenz bringen werde!« rief Raniero. »Ich werde etwas vollbringen, was kein anderer auf sich nehmen wollte.«

Der alte Waffenträger verteidigte sich. »Herr, für Dich ist es ein ander Ding. Du kannst ein großes Gefolge mitnehmen, mich aber wolltest Du allein aussenden.«

Doch Raniero war wie außer sich und überlegte seine Worte nicht mehr. Er sprach: »Auch ich werde allein hinziehen.« Und damit hatte Raniero seinen Zweck erreicht. Alle im Zelt Anwesenden hörten auf zu lachen. Entsetzt saßen sie da und starrten ihn an.

»Warum lacht Ihr nun nicht mehr?« fragte Raniero. »Dieses Vorhaben ist doch nur ein Kinderspiel für einen tapferen Mann.«

3

In der Morgendämmerung des nächsten Tages stieg Raniero zu Pferde. Er war in voller Rüstung, hatte aber einen groben Pilgermantel um die Schultern geworfen, damit der Panzer nicht gar zu sehr von den Sonnenstrahlen durchglüht würde. Er war mit Schwert und Keule bewaffnet und ritt ein gutes Pferd. In der Hand hielt er eine brennende Kerze, und am Sattel hatte er ein mächtiges Bündel langer Wachskerzen befestigt, um die Flamme nicht aus Mangel an Nahrung hinsterben zu lassen.

Raniero ritt langsam durch die von Zelten dicht besetzte Lagergasse, und alles ging soweit gut. Es war so früh, daß die Nebel, die aus den tiefen Tälern rings um Jerusalem emporstiegen, sich noch nicht zerteilt hatten, und Raniero ritt wie durch eine mattweiße Nacht. Das ganze Lager schlief noch, und Raniero kam leicht an den Wachtposten vorüber. Niemand rief ihn an, denn der dichte Nebel machte ihn unsichtbar, und die fußhohe, dichte Staubschicht ließ nichts von den Hufschlägen des Pferdes vernehmen.

Raniero gelangte bald aus dem Bereich des Lagers und schlug den Weg nach Jaffa ein. Der Weg war hier besser, aber um der Lichtflamme willen ritt er beständig ganz langsam. In dem dichten Nebel brannte die Flamme mit einem rötlichen, zitternden Schein. Fortdauernd schwirrten große Insekten herbei, die sich mit zuckenden Flügelschlägen gerade ins Licht hineinstürzten. Raniero hatte viel Mühe, es zu schützen. Er war aber in bester Stimmung und fand noch immer, daß dieses ganze Unternehmen das reine Kinderspiel sei.

Indessen ermüdete das Pferd durch diesen verlangsamten Ritt und setzte sich in Trab. Sofort begann die Lichtflamme in dem stärkeren Luftzug heftig zu flackern. Es nützte nichts, daß Raniero sie mit Hand und Mantel zu decken suchte. Er merkte, daß sie ganz nahe daran war, zu erlöschen.

Doch hatte er gar keine Lust, die Sache so bald aufzugeben. Er hielt das Pferd an und überlegte eine ganze Weile, was wohl zu tun wäre. Schließlich schwang er sich aus dem Sattel und versuchte rücklings zu reiten, um mit seinem Leibe die Flamme vor Wind und Luftzug schützen zu können. Es gelang ihm auch so, sie brennend zu erhalten, doch überzeugte er sich, daß die Reise beschwerlicher sein würde, als er anfangs geglaubt hatte. Sobald er die Berge, die Jerusalem umgeben, hinter sich gelassen hatte, schwand der Nebel. Er ritt nun durch tiefste Einsamkeit dahin. Es gab dort weder Menschen noch Behausungen, weder grüne Bäume noch Pflanzen, man sah nur kahle Berghöhen.

Auf dem weiteren Wege wurde Raniero von Räubern angefallen. Es war lockeres Gesindel, das unbefugt dem Heere folgte und von Raub und Plünderung lebte. Sie hatten sich hinter einem Berghügel verborgen, und Raniero, der rücklings auf seinem Pferde saß, wurde ihrer erst gewahr, als sie ihn bereits umringt hatten und ihre Schwerter schwangen.

Es waren zwölf Männer. Sie sahen sehr verkommen aus und ritten jämmerliche Klepper. Raniero erkannte sogleich, daß es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde, diese Schar zu durchbrechen und von dannen zu reiten. Aber er wußte auch, daß dies nur zu bewerkstelligen wäre, wenn er die Kerze von sich würfe. Und er fand doch, daß er nicht so leicht von seinem Vorhaben ablassen konnte, nachdem er in der vergangenen Nacht so stolze Worte gesprochen hatte.

Er sah also keinen anderen Ausweg, als mit den Räubern ein Uebereinkommen zu treffen. Er sagte ihnen, daß sie ihn wohl schwerlich überwältigen würden, falls er sich verteidige, denn er sei stark bewaffnet und reite ein gutes Pferd. Da er aber durch ein Gelübde gebunden sei, wolle er ihnen nicht Widerstand leisten, sondern sie kampflos nehmen lassen, wonach sie gelüstete, nur sollten sie geloben, seine Kerze nicht zu verlöschen. Die Räuber hatten einen harten Kampf erwartet. Sie waren mit Ranieros Vorschlag sehr zufrieden und begannen sofort, ihn auszuplündern. Sie nahmen ihm die Rüstung und das Roß, Waffen und Geld. Nur den groben Mantel und die beiden Kerzenbündel ließen sie ihm. Doch ihr Versprechen, die Lichtflamme nicht zu verlöschen, hatten sie ehrlich gehalten.

Einer von ihnen hatte sich auf Ranieros Pferd geschwungen. Als er merkte, welch ein prächtiges Tier es war, schien er ein wenig Mitleid für den Ritter zu empfinden und rief ihm zu: »Sieh, wir wollen nicht gar zu hart gegen einen Christen verfahren. Du sollst mein altes Pferd zum Weiterreiten bekommen.« Es war eine erbärmliche Kracke, die sich so starr und steif bewegte, als wäre sie aus Holz.

Als die Räuber endlich weggeritten waren und Raniero sich bereit machte, die elende Mähre zu besteigen, sagte er sich: »Diese Lichtflamme muß mich wirklich behext haben. Nur um ihretwillen reite ich jetzt wie ein verrückter Bettler meines Wegs.«

Er fand selber, daß er am klügsten daran täte, umzukehren, weil sein Vorhaben ja doch unausführbar sein würde. Aber ein so sehnsüchtiges Verlangen überkam ihn, es dennoch zu vollbringen, daß er der Lust, es weiter zu versuchen, nicht widerstehen konnte.

Er ritt also seines Weges dahin. Noch immer sah er ringsumher dieselben kahlen, hellgelben Höhen.

Nach einer Weile kam er an einem jungen Hirten vorüber, der vier Ziegen hütete. Als Raniero die Tiere auf dem kahlen Felde weiden sah, fragte er sich, ob sie etwa Erde fräßen.

Jener Hirt hatte wohl einst eine größere Herde besessen, die die Kreuzfahrer ihm geraubt haben mochten. Als er nun einen Christen allein heranreiten sah, suchte er ihm alles erdenkliche Böse anzutun. Er stürzte auf ihn zu und schlug mit seinem Hirtenstabe nach der Kerze.

Raniero war durch die Lichtflamme so behindert, daß er sich nicht einmal gegen den Hirten verteidigen konnte. Er zog nur die Kerze dichter an sich heran, um sie zu schützen. Der Hirt schlug noch einigemal danach, blieb dann aber höchst verwundert stehen und hörte auf, nach der Kerze zu schlagen. Er sah, daß Ranieros Mantel in Brand geraten war, ohne daß dieser etwas tat, das Feuer zu ersticken, solange die Lichtflamme in Gefahr schwebte. Da schien der Hirt sich seiner Tat zu schämen. Lange folgte er Raniero nach, und an einer Stelle, wo der Weg sehr schmal war und sich zwischen zwei Abgründen hinzog, trat er hinzu und führte das Pferd am Zügel.

Raniero dachte lächelnd, daß der Hirt ihn sicher für einen heiligen Mann halte, der Buße tue.

Gegen Abend traf Raniero auf seinem Wege viele Menschen. Es hatte sich nämlich bereits in der Nacht an der Küste entlang das Gerücht von Jerusalems Fall verbreitet, und gar viele Leute hatten sich sofort angeschickt, hinauf zu wandern. Es waren Pilger, die schon jahrelang die Gelegenheit erharrt hatten, nach Jerusalem zu gelangen, und es waren frischgelandete Truppen und vor allem waren darunter Kaufleute, die mit ganzen Fuhren von Lebensmitteln dorthin eilten.

Als diese Scharen Raniero begegneten, der rücklings, mit einer brennenden Kerze in der Hand, angeritten kam, riefen sie: »Ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger!«

Die meisten dieser Leute waren Italiener, und Raniero vernahm es, wie sie in seiner eigenen Muttersprache riefen: Pazzo, pazzo! was bedeutet: ein Verrückter, ein Verrückter!

Raniero, der sich den ganzen Tag über so gut im Zaum zu halten gewußt hatte, wurde durch diese ständig wiederkehrenden Rufe heftig erregt. Er schwang sich plötzlich aus dem Sattel und begann mit seinen harten Fäusten die Rufer zu züchtigen. Als die Leute aber merkten, wie schwer die fallenden Schläge waren, da entstand eine allgemeine Flucht, und bald stand er ganz allein auf der Landstraße.

Nun kam er wieder zur Besinnung. »Sie hatten wahrhaftig recht, als sie Dich einen Verrückten nannten, sagte Raniero, indem er sich nach der Kerze umschaute, ohne zu wissen, was er damit angefangen hatte. Endlich sah er, daß sie vom Wege in einen Graben hinabgekollert war. Die Flamme war erloschen, aber er sah in einem dürren Grasbüschel dicht daneben Feuer glimmen und erkannte sofort, daß das Glück ihm hold sei, denn nur die Kerze konnte vor ihrem Erlöschen das Gras in Brand gesteckt haben.

»Das hätte einen erbärmlichen Abschluß nach soviel Mühe geben können,« meinte er, während er die Kerze an ihrem eigenen Feuer entzündete und wieder sein Pferd bestieg. Er war tief gedemütigt, und es schien ihm jetzt nicht mehr recht glaublich, daß seine Pilgerfahrt ihm gelingen würde.

Gegen Abend kam Raniero nach Ramle und suchte dort eine Herberge auf, in der die Karawanen zu übernachten pflegten. Es war ein großer, gedeckter Hof. Rings um ihn zogen sich kleine Holzverschläge hin, wo die Reisenden ihre Pferde einstellen konnten. Stuben gab es dort nicht, sondern die Menschen mußten neben ihren Tieren schlafen.

Es war schon alles überfüllt, aber der Wirt schaffte trotzdem noch Platz für Raniero und sein Pferd. Er brachte auch Futter für das Tier und Essen für den Ritter.

Als Raniero sich so gut behandelt fand, sagte er sich: »Ich möchte fast glauben, daß die Räuber mir einen Gefallen damit getan haben, als sie mir meine Rüstung und mein Pferd abnahmen. Sicher komme ich mit meiner Bürde leichter durchs Land, wenn man mich für wahnsinnig hält.«

Als Raniero sein Pferd in den Stand geführt hatte, setzte er sich auf ein Bund Stroh und behielt die Kerze in den Händen. Er hatte die Absicht, nicht einzuschlafen, sondern sich die ganze Nacht wach zu halten.

Aber kaum hatte er sich niedergesetzt, als er auch schon einschlummerte. In seiner schrecklichen Uebermüdung streckte er sich im Schlaf der Länge nach aus und schlief bis zum Morgen.

Als er erwachte, sah er weder die Lichtflamme noch die Kerze. Er durchsuchte das Stroh, fand sie aber nirgends und sagte sich: »Irgend jemand wird sie mir abgenommen und verlöscht haben.«

Und er wollte sich selber glauben machen, daß er froh sei, weil nun alles aus und vorbei wäre und er ein an sich unmögliches Vorhaben nun endlich aufgeben mußte.

Aber bei diesem Gedanken empfand er zugleich eine gewisse Leere und eine tiefe Sehnsucht.

Er glaubte, noch niemals ein stärkeres Verlangen nach dem Gelingen eines Unternehmens gehabt zu haben als eben jetzt.

Er führte sein Pferd hinaus, striegelte es und legte ihm den Sattel an.

Als er fertig war, kam der Wirt der Karawanserei mit einer brennenden Kerze auf ihn zu und sagte in fränkischer Mundart: »Ich mußte Dir gestern Dein Licht aus der Hand nehmen, weil Du fest eingeschlafen warst, aber hier gebe ich es Dir zurück.«

Raniero ließ ihn nichts von seinen Empfindungen merken, sondern sagte ganz ruhig: »Du hast klug daran getan, das Licht auszulöschen.«

»Ich habe es nicht ausgelöscht,« sagte der Mann. »Ich sah, daß Du es brennend herbrachtest, und so dachte ich, es könnte für Dich Gewicht haben, daß es weiter brenne. Wenn Du siehst, wieviel kürzer es geworden ist, wirst Du erkennen, daß es die ganze Nacht durch gebrannt hat.«

Raniero strahlte vor Freude. Er belobte den Wirt recht herzlich und ritt in bester Stimmung weiter.

4

Als Raniero von Jerusalem aufbrach, beabsichtigte er, den Seeweg von Jaffa nach Italien zu nehmen. Er änderte jedoch diesen Beschluß, nachdem die Räuber ihn seines Geldes beraubt hatten, und wählte den Weg über Land.

Es war eine lange Reise. Von Jaffa nordwärts zog er an der syrischen Küste entlang. Dann ging die Reise nach Westen, längs der Halbinsel von Kleinasien. Und wieder ging es nördlich nach Konstantinopel hinauf. Von dort hatte er noch eine reichlich lange Strecke bis nach Florenz zurückzulegen. Während dieser ganzen Zeit lebte Raniero von milden Gaben.

Zumeist waren es Pilger, die nun in Massen nach Jerusalem strömten, die ihr kärgliches Brot mit ihm teilten. Obwohl Raniero oft ganz allein ritt, wurde ihm niemals die Zeit lang, auch verstrichen seine Tage nicht einförmig. Er mußte stets die Lichtflamme schützen, die ihn nie sorglos sein ließ. Nur eines Windstoßes oder eines Regentropfens bedurfte es ja, und es wäre aus und vorbei mit ihr gewesen.

Während Raniero auf einsamen Wegen ritt und nur daran dachte, die Lichtflamme am Leben zu erhalten, fiel ihm plötzlich ein, daß er schon früher einmal etwas Aehnliches beobachtet haben müsse. Er hatte einst einen Menschen über etwas wachen sehen, was ebenso schonungsbedürftig war wie eine Lichtflamme. Das Ganze stand ihm vorerst so unklar vor Augen, daß er sich fragte, ob er es vielleicht nur geträumt hätte. Aber während er einsam durch das Land zog, kam ihm unablässig der Gedanke wieder, daß er bereits früher einmal Aehnliches beobachtet haben müsse.

»Es ist, als hätte ich Zeit meines Lebens von gar nichts anderem reden hören,« sagte er.

Eines Abends ritt Raniero in eine Stadt hinein. Es war Feierabend, und die Frauen standen in den Türen und schauten nach ihren Männern aus. Eine unter ihnen war hochgewachsen und schlank, sie hatte tiefernste Augen. Bei ihrem Anblick dachte er an Francesca degli Uberti.

Und nun wurde ihm plötzlich klar, worüber er vorher nachgegrübelt hatte. Er mußte daran denken, daß Francescas Liebe sicherlich einer Lichtflamme geglichen hatte, die sie stets brennend erhalten wollte, in steter Furcht, daß Raniero sie in ihrem Herzen auslöschen könnte. Er wunderte sich selber über diesen Gedanken, war aber mehr und mehr davon durchdrungen, daß es sich ganz so verhielt. Und er begann zum erstenmal zu begreifen, weshalb Francesca ihn verlassen hatte, und daß Waffenruhm sie ihm nicht wiederzugewinnen vermochte.

 

Die Reise Ranieros ging nur sehr langsam vonstatten. Und nicht zum wenigsten deshalb, weil er sie bei jedem ungünstigen Wetter unterbrechen mußte. Er saß dann in irgend einer Karawanserei und bewachte die Lichtflamme, das waren sehr schwere Tage.

Als nun Raniero eines Tages über den Libanon ritt, merkte er plötzlich, daß ein Unwetter im Anzug war. Er befand sich hoch oben zwischen und über gefährlichen Schluchten und Abgründen, weit entfernt von allen menschlichen Behausungen. Endlich gewahrte er auf einem Felsenvorsprung ein sarazenisches Heiligengrab. Es war ein kleiner, viereckiger Steinbau mit einem gewölbten Dach. Er hielt es für das beste, dort Zuflucht zu suchen.

Kaum war Raniero eingetreten, als ein Schneesturm losbrach, der zwei Tage raste. Zugleich wurde es so entsetzlich kalt, daß er fast erfroren wäre.

Raniero wußte zwar, daß es draußen auf dem Berge Zweige und Reisig im Ueberfluß gab, so daß es ihm nicht schwer geworden wäre, Brennholz genug für ein tüchtiges Feuer zu sammeln. Er betrachtete jedoch die Lichtflamme, die er trug, als so heilig, daß er nichts anderes damit anzünden wollte als die Kerzen vor dem Altar der heiligen Jungfrau.

Das Unwetter wurde immer heftiger, und schließlich kam ein wütendes Gewitter mit Blitz und Donner.

Und ein Blitzstrahl schlug dicht vor dem Grabe ein und zündete einen Baum. Und dadurch hatte Raniero Feuer für seinen Holzstoß, ohne daß er die heilige Flamme antasten mußte.

 

Als Raniero dann später durch einen verödeten Teil der Berggegend von Cilicien ritt, ging es mit seinen Kerzen zur Neige. Der Vorrat, den er aus Jerusalem mitgenommen hatte, war längst verbraucht. Er war aber nicht in Verlegenheit geraten, weil er bisher noch immer an christlichen Gemeinden vorbeigekommen war, von denen er sich neue Kerzen erbetteln konnte.

Doch nun war es mit seinem ganzen Vorrat aus, und er fürchtete, seine Pilgerfahrt müsse ein vorzeitiges Ende nehmen.

Als die Kerze so tief heruntergebrannt war, daß die Flamme ihm beinahe seine Hand versengte, sprang er vom Pferde herab, sammelte Zweige und verdorrtes Gras und entzündete dies mit dem brennenden Kerzenstümpfchen. Aber es gab nicht viel Brennbares auf dem öden Berge, und das Feuer schien bald zu verlöschen.

Indessen Raniero sich noch darüber grämte, daß die heilige Flamme nun doch hinsterben solle, vernahm er vom Wege her frommen Gesang und sah, daß eine Prozession von Wallfahrern, mit Kerzen in den Händen, den Berg erstieg. Sie waren auf dem Wege zu einer Felsenhöhle, in der ein heiliger Mann gelebt hatte, und Raniero schloß sich ihnen an. Es war auch eine Greisin unter ihnen, der das Gehen recht schwer wurde. Dieser half Raniero, indem er sie bergan schleppte.

Als sie ihm dankte, bat er sie durch Zeichen um ihre Kerze, die sie ihm alsogleich gab, worauf auch noch mehrere andere ihm die Kerzen schenkten, die sie in ihren Händen trugen.

Schnell löschte er alle aus, eilte den Pfad hinab und entzündete eine der Kerzen an der letzten Glut des Feuers, das durch die heilige Flamme entstanden war.

 

Eines Tages war es um die Mittagsstunde sehr heiß geworden, und Raniero hatte sich im dichten Gebüsch zum Schlafen niedergelegt. Er war fest eingeschlafen, und seine brennende Kerze stand zwischen mehreren Steinen neben ihm. Bald nachdem er eingeschlummert war, begann es zu regnen, und es dauerte ziemlich lange, bis er erwachte. Als er endlich aus dem Schlaf emporfuhr, war der Boden ringsumher naß, und er wagte kaum, nach der Kerze hinzublicken, aus Furcht, daß sie erloschen sein könnte.

Aber sie brannte still und gleichmäßig im Regen, und Raniero erkannte auch bald den Grund dieser Erscheinung: Zwei kleine Vöglein flogen flatternd über der Flamme hin und her. Sie schnäbelten sich und hielten ihre kleinen Schwingen ausgebreitet, wodurch sie die Lichtflamme vor dem Regen schützten.

Raniero nahm sofort seine Kappe ab und hängte sie über die Kerze. Dann streckte er die Hand nach den kleinen Vögeln aus, weil er sie gern streicheln wollte. Und sie flogen nicht fort, sondern ließen sich ruhig von ihm haschen.

Raniero war sehr verwundert, daß die Tierchen keine Furcht vor ihm hatten, und er sagte sich: »Es rührt daher, daß sie wissen, wie ich nunmehr keinen anderen Gedanken habe, als das zu schützen, was das am meisten Verletzliche ist, und deshalb ängstigen sie sich nicht vor mir.«

 

Raniero kam auf seinem Ritt in die Nähe von Nicäa. Dort begegnete er einigen Rittern aus dem Abendlande, die ein neues Hilfsheer nach dem heiligen Lande führten. Unter ihnen befand sich Robert Taillefer, der ein Troubadour war und als wandernder Ritter die Welt durchzog.

Als Raniero in seinem zerschlissenen Pilgermantel, mit der Kerze in seiner Hand, dahergeritten kam, riefen die Kriegsleute, wie gewöhnlich alle, die ihm begegneten: »Ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger!« Doch Robert Taillefer gebot ihnen Schweigen und fragte den Reiter:

»Bist Du solchermaßen weit hergezogen?«

Und Raniero antwortete: »So wie Du mich hier siehst, reite ich von Jerusalem daher.«

»Und ist auf diesem lange Wege Deine Kerze nicht oftmals erloschen?«

»An meiner Kerze brennt noch dieselbe Flamme, die in Jerusalem entzündet ward,« antwortete Raniero.

Da sprach Robert Taillefer zu ihm: »Auch ich bin einer von jenen, die eine Flamme tragen, und ich möchte sie ewig brennend erhalten. Vielleicht vermagst Du, der seine Kerze brennend von Jerusalem bis hierher getragen hat, mir zu künden, was ich tun muß, auf daß sie nimmer erlösche.«

Und Raniero erwiderte: »Herr, das ist ein gar mühselig Tun, wiewohl es geringfügig erscheinen mag. Ich möchte Euch nie und nimmer zu solch einem Beginnen zureden, denn diese kleine Flamme fordert von Euch, daß Ihr gänzlich unterlasset, an irgend etwas anderes zu denken. Sie gestattet Euch nicht, eine Herzliebste zu haben, so Ihr danach Verlangen traget, auch dürfet Ihr um der Flamme willen nimmer wagen, an einem Trinkgelage teilzunehmen. Ihr dürfet an nichts anderes denken als an diese Flamme, und keine andere Freude darf Euch erfüllen. Aber warum ich Euch am allermeisten widerrate, die gleiche Pilgerfahrt zu unternehmen, die ich jetzt versucht habe, das ist der Gedanke an das Gefühl der beständigen Unsicherheit. Wie vielen Gefahren Ihr auch die Flamme entrissen haben möget, so könntet Ihr Euch doch keinen Augenblick sicher wähnen, sondern müßtet in steter Angst schweben, daß der nächste Augenblick Euch dennoch ihrer berauben könnte.«

Doch Robert Taillefer hob stolz sein Haupt und entgegnete ihm: »Was Du für Deine Lichtflamme getan hast, das werde auch ich für die meine zu tun vermögen.«

 

Raniero war nach Italien gekommen. Er ritt eines Tages über einsame Gebirgspfade hin. Da eilte plötzlich ein Weib auf ihn zu und bat ihn um Feuer von seiner Kerze. »Unser Feuer ist erloschen, meine Kinder hungern. Leihe mir Dein Licht, auf daß ich die Flammen auf meinem Herde entzünden kann, um Brot für sie zu backen!«

Sie streckte die Hand nach der Kerze aus, aber Raniero gab sie ihr nicht, weil er nicht wollte, daß jene Flamme etwas anderes entzünden sollte als die Kerzen vor dem Bildnis der heiligen Jungfrau.

Doch das Weib sprach zu ihm: »Gib mir Feuer, Pilger, denn das Leben meiner Kinder ist die Flamme, die ich brennend erhalten muß!« Und um dieser Worte willen ließ Raniero sie den Docht in ihrer Lampe an seiner Flamme entzünden.

Einige Stunden später ritt Raniero in ein Dorf. Es lag hoch im Gebirge, so daß dort bittere Kälte herrschte. Ein junger Bauer stand am Wege und betrachtete den armen Reiter in seinem zerschlissenen Pilgermantel. Rasch zog er seinen kurzen Mantel aus und warf ihn jenem Armen zu. Aber der Mantel fiel gerade auf das Licht und verlöschte die Flamme.

Da gedachte Raniero jenes Weibes, das Feuer von ihm entliehen hatte. Er ritt zu ihr zurück und entzündete seine Kerze an dem heiligen Feuer.

Als er weiterreiten wollte, sprach er zu ihr: »Du sagtest, daß die Lichtflamme, die in Deiner Obhut steht, das Leben Deiner Kinder sei. Kannst Du mir nun auch den Namen der Lichtflamme nennen, die ich auf langen Wegen hergetragen habe?«

»Wo wurde Deine Lichtflamme entzündet?« fragte das Weib. Und Raniero antwortete:

»Sie wurde an Christi Grab entzündet.«

»Dann kann ihr Name wohl nur Milde und Menschenliebe sein,« erwiderte sie.

Raniero lachte über diese Antwort, denn es dünkte ihn gar zu absonderlich, daß gerade er als Apostel und Träger solcher Tugenden gelten sollte.

 

Raniero ritt zwischen lieblichen, blauschimmernden Hügelketten dahin. Er merkte, daß er in der Nähe von Florenz war.

Da kam ihm der Gedanke, daß er nun bald von seiner Lichtflamme befreit sein würde. Er gedachte seines Zeltes in Jerusalem, das er voller Kriegsbeute zurückgelassen hatte, und an die tapferen Krieger, die noch immer in Palästina waren, und die sich freuen würden, wenn er wiederum das Kriegshandwerk aufnehmen und sie zu Siegen und Eroberungen führen würde.

Da merkte Raniero, daß er bei diesen Vorstellungen nicht die mindeste Freude empfand, sondern daß seine Gedanken eine ganz andere Richtung einschlugen.

Und er erkannte zum erstenmal, daß er nicht mehr derselbe Mann war, als welcher er Jerusalem verlassen hatte. Denn jener Ritt mit der Lichtflamme hatte ihn gelehrt, sich an all denen zu freuen, die friedfertig, klug und barmherzig waren, und die Wilden und Streitsüchtigen zu verabscheuen.

Er ward frohen Mutes, so oft er an Menschen dachte, die friedlich in ihrem Heim schafften, und plötzlich überkam ihn das Verlangen, wieder in seine einstige Werkstatt einzuziehn, um dort schöne, kunstvolle Arbeiten zu vollenden.

»Wahrhaftig! Diese Flamme hat mich gänzlich verwandelt,« sagte er sich. »Ich glaube, sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.«

5

Zur Osterzeit ritt Raniero in Florenz ein. Rücklings auf dem Pferde sitzend, die Kapuze tief über das Gesicht herabgezogen und die brennende Kerze in der Hand haltend, war er kaum durch das Stadttor geritten, als auch schon ein Bettler aufsprang und das gewohnte: »Pazzo, pazzo!« rief.

Auf diesen Ruf stürzte sogleich ein Straßenjunge aus einem Torweg herbei, und ein Tagedieb, der schon lange nichts anderes zu tun gehabt hatte, als am Boden zu liegen und in den Himmel zu starren, sprang auf und rief mit den anderen beiden:

»Pazzo, pazzo!«

Da nun ihrer drei schrien, genügte der Lärm, um sämtliche Straßenjungen auf die Beine zu bringen. Diese kamen denn auch aus allen Ecken und Winkeln herbeigerannt, und sobald sie Raniero in seinem zerschlissenen Pilgermantel auf seiner erbärmlichen Mähre erblickten, riefen sie: »Pazzo, pazzo!«

Doch an diesen Ruf war Raniero nun schon lange gewöhnt. Er ritt ruhig durch die Straßen, ohne der Rufenden sonderlich zu achten.

Sie aber begnügten sich nicht damit, zu rufen, sondern einer von ihnen sprang empor und wollte die Kerze ausblasen.

Raniero erhob die Hand mit der Kerze und suchte gleichzeitig sein Pferd anzutreiben, um der Bande zu entkommen.

Sie aber hielten gleichen Schritt mit ihm und taten, was sie nur vermochten, um die Kerze auszulöschen.

Je mehr Raniero sich bemühte, die Flamme zu schützen, desto hitziger wurden sie. Sie sprangen einander auf den Rücken, pusteten ihre Backen auf und bliesen mit aller Kraft. Sie warfen ihre Mützen nach der Kerze. Einzig und allein weil ihrer so viele waren, die sich gegenseitig hin und her drängten, gelang es ihnen nicht, die Lichtflamme zu verlöschen.

Ein tolles Treiben herrschte auf der ganzen Straße. In den Fenstern lagen lachende Menschen als Zuschauer. Niemand empfand Mitleid für den Wahnsinnigen, der seine Lichtflamme schützen wollte. Es war Kirchzeit, und viele Kirchenbesucher begaben sich zur Messe. Auch diese blieben stehen und schauten lachend dem Spiel zu.

Raniero stand nun aufrecht im Sattel, um die Kerze zu schützen. Er sah verwildert aus. Die Kapuze war herabgeglitten, und man sah sein Antlitz, das abgezehrt und bleich wie das eines Märtyrers war. Die Kerze hatte er emporgehoben, so hoch er es vermochte.

Die ganze Straße war ein einziges wüstes Gewimmel. Auch die älteren Leute begannen an dem Spiel teilzunehmen. Die Weiber wehten mit ihren Kopftüchern, und die Männer schwangen ihre Baretts. Alle bemühten sich, die Kerze auszulöschen.

Raniero ritt an einem Hause vorüber, das einen Balkon aufwies. Dort stand eine Frau. Sie neigte sich über das Geländer, entriß ihm die Kerze und eilte damit in ihre Zimmer.

Die ganze Menschenmenge brach in schallendes Gelächter und in Jubelrufe aus, Raniero aber wankte im Sattel und stürzte zu Boden.

Als er nun zerschlagen und ohnmächtig dalag, zog sich die ganze Volksmenge sogleich zurück.

Niemand wollte sich des Ohnmächtigen annehmen. Nur sein Pferd blieb neben ihm stehen.

Sobald die Straße menschenleer war, trat Francesca degli Uberti, mit einer brennenden Kerze in der Hand, aus ihrem Hause. Sie war noch immer schön, ihre Züge hatten einen sanften Ausdruck, und ihre Augen waren ernst und tief.

Sie trat auf Raniero zu und neigte sich über ihn. Er lag bewußtlos da, aber sobald der Lichtschein sein Gesicht traf, bewegte er sich und fuhr empor. Es war, als stehe er gänzlich im Bann dieser Lichtflamme. Da Francesca sah, daß er wieder bei Bewußtsein war, sprach sie: »Hier hast Du Deine Kerze. Ich habe sie Dir entrissen, weil ich erkannte, wie sehr Dir daran lag, sie brennend zu erhalten. Ich wußte nicht, wie ich Dir auf andere Weise helfen sollte.«

Raniero hatte sich bei dem Sturz vom Pferde übel zerschlagen und zerschunden. Doch nun konnte ihn nichts mehr zurückhalten. Er richtete sich langsam auf. Er wollte gehen, schwankte jedoch und wäre fast hingestürzt. Da versuchte er sein Pferd zu besteigen. Francesca half ihm dabei. »Wohin willst Du reiten?« fragte sie, als er wieder im Sattel saß. »Ich will zur Domkirche,« antwortete er. »Dann will ich Dich geleiten, denn ich will zur Messe gehen,« sprach sie, faßte den Zügel und führte das Pferd durch die Straßen.

Francesca hatte Raniero sofort wiedererkannt. Er aber sah nicht, wer sie war, denn er nahm sich nicht Zeit und Muße, sie zu betrachten. Er blickte nur unablässig auf die Lichtflamme hin.

Auf dem ganzen Wege schwiegen sie. Raniero dachte nur an seine Lichtflamme und wie er sie wohl in diesen letzten Augenblicken sicher behüten könnte. Francesca aber konnte kein Wort hervorbringen, weil sie innerlich fühlte, daß sie keinen klaren Bescheid über das haben wollte, was sie fürchtete. Sie konnte nur annehmen, daß Raniero als Wahnsinniger heimgekehrt sei. Doch obwohl sie fast überzeugt davon war, mochte sie doch lieber nicht mit ihm reden, um nicht die volle Bestätigung dessen zu erlangen.

Nach einer Weile hörte Raniero ein Schluchzen neben sich. Er blickte zur Seite und erkannte Francesca degli Uberti, die weinend neben ihm herschritt. Aber Raniero sah sie nur einen Augenblick an und sprach kein Wort zu ihr. Er wollte einzig und allein an die Lichtflamme denken.

Er ließ sich zur Sakristei hinführen. Dort stieg er vom Pferde und dankte Francesca für ihre Hilfe, blickte sie aber noch immer nicht an, sondern schaute nur auf die Lichtflamme hin. Dann betrat er ganz allein die Sakristei und suchte die Priester auf.

Francesca ging in die Kirche. Es war am Karfreitag der Osterwoche, und zum Zeichen der Trauer standen noch alle Kerzen unangezündet auf den Altären. Francesca fühlte, daß jede Flamme der Hoffnung, die in ihr gebrannt hatte, nun auch erloschen sei.

In der Kirche herrschte eine sehr feierliche Stimmung. Viele Priester standen vor den Altären. Im Chore saßen zahlreiche Domherren, an ihrer Spitze der Bischof.

Nach einer Weile merkte Francesco, daß eine gewisse Erregung unter den Priestern entstand. Fast alle, die nicht bei der Messe beteiligt waren, erhoben sich und schritten in die Sakristei. Schließlich folgte ihnen der Bischof.

Als die Messe zu Ende war, betrat einer der Priester den Chor und redete zur Gemeinde. Er berichtete, daß Raniero di Ranieri aus Jerusalem heiliges Feuer nach Florenz gebracht hätte. Er erzählte, was der Ritter unterwegs erduldet und gelitten hatte. Und er pries ihn über alle Maßen.

Staunend lauschte die ganze Gemeinde seinen Worten. Francesca hatte niemals eine so glückselige Stunde erlebt. »O Gott, dies ist mehr Glück, als ich zu ertragen vermag,« flüsterte sie mit einem Seufzer.

Der Priester sprach lange und begeistert. Zuletzt rief er mit mächtiger Stimme: »Nun könnte es Euch zwar als etwas Geringfügiges erscheinen, daß eine Lichtflamme hier nach Florenz gebracht worden ist. Aber ich sage Euch: Betet zu Gott, daß er Florenz viele Träger des ewigen Feuers schenken möge, dann wird unsere Stadt zu großer Macht gelangen und die gebenedeiteste unter allen Städten werden!«

Als der Priester seine Rede beendet hatte, wurden die Hauptportale der Domkirche weit geöffnet, und eine Prozession, so gut sie in der Eile geordnet werden konnte, hielt ihren Einzug. Domherren, Mönche und Priester schritten durch den Mittelgang auf den Hauptaltar zu. Ganz zuletzt kam der Bischof, und an seiner Seite befand sich Raniero in demselben Mantel, den er auf der ganzen Pilgerfahrt getragen hatte.

Als Raniero jedoch über die Kirchenschwelle trat, erhob sich ein Greis und schritt ihm entgegen. Es war Oddo, der Vater jenes armen Gesellen aus Ranieros Werkstatt, der sich um seinetwillen erhängt hatte.

Als dieser Mann vor dem Bischof und vor Raniero stand, neigte er sich vor ihnen beiden und sprach mit so erhobener Stimme, daß alle in der Kirche es vernehmen konnten: »Es ist ein herrlich Ding für Florenz, daß Raniero mit heiligem Feuer von Jerusalem gekommen ist. Dergleichen ist niemals zuvor berichtet oder vernommen worden. Vielleicht könnten deshalb auch manche aufstehen und sagen, daß es nicht möglich sei. Darum bitte ich, der ganzen Gemeinde kundzutun, welche Beweise und Zeugen Raniero mitgebracht hat, die es glaubhaft machen können, daß dieses Feuer in Wahrheit zu Jerusalem entzündet worden ist.«

Da Raniero diese Worte vernahm, sprach er: »Nun helfe mir Gott! Wie könnte ich wohl Zeugen beibringen? Ich habe die Pilgerfahrt allein unternommen. Da müßten Wüsten und Einöden kommen, um für mich Zeugnis abzulegen.«

»Raniero ist ein ehrenfester Ritter,« sprach der Bischof, »und wir glauben ihm auf sein Wort.«

»Raniero konnte wohl selber vermuten, daß hierüber Zweifel entstehen würden,« entgegnete Oddo. »Er wird daher auch nicht ganz allein geritten sein. Da werden ja seine jungen Knappen für ihn zeugen können.«

Da eilte Francesca degli Uberti aus der Volksmenge auf ihn zu und rief: »Wozu bedürfen wir der Zeugen? Alle Frauen von Florenz wollen einen Eid ablegen, daß Raniero die Wahrheit spricht.«

Raniero lächelte und sein Antlitz strahlte für einen Augenblick. Aber dann wandte er seine Blicke und seine Gedanken wieder der Lichtflamme zu.

Es entstand nun ein großer Tumult in der Kirche. Einige sagten, Raniero dürfe die Kerzen auf dem Altar nicht entzünden, ehe seine Sache erwiesen sei. Zu diesen Widersachern gesellten sich viele seiner ehemaligen Feinde.

Da erhob sich Jacopo degli Uberti und sprach zugunsten Ranieros:

»Ich denke, hier wissen wohl alle, daß nicht allzu große Freundschaft zwischen mir und meinem Eidam geherrscht hat, jetzt aber wollen wir – sowohl ich als auch meine Söhne – uns für ihn verbürgen. Wir glauben ihm, daß er diese Großtat vollbracht hat, und wir begreifen, daß jemand, der es vermocht hat, ein solches Vorhaben bis zum Ende durchzuführen, ein kluger, bedächtiger und edelgesinnter Mann sein muß. Wir werden ihn demnach mit Freuden in unserer Mitte aufnehmen.«

Aber Oddo und viele andere waren nicht gesonnen, Raniero das heißerstrebte Glück zu vergönnen. Sie sammelten sich zu einem dichten Haufen, und es war leicht zu erkennen, daß sie ihre Forderung nicht aufgeben würden.

Raniero begriff, daß sie, falls nun ein Kampf entstände, vor allem seine Lichtflamme gefährden würden. Während er die Augen beständig auf seine Widersacher geheftet hielt, hob er die Kerze so hoch empor, wie er es nur vermochte.

Er sah todesmatt und verzweifelt aus. Man merkte ihm an, daß er doch nur eine Niederlage erwartete, obwohl er möglichst auszuharren gedachte. Was konnte es ihm nun frommen, wenn er die Flamme entzünden durfte? Oddos Worte hatten ihm den Todesstreich versetzt. Wenn der Zweifel einmal erweckt war, so würde er sich auch verbreiten und verstärken. Ihm war es, als habe Oddo bereits für immer seine Lichtflamme ausgelöscht.

Ein kleiner Vogel flatterte durch die großen offenen Portale in die Kirche hinein. Er flog just auf Ranieros Kerze zu, der sie nicht schnell genug zurückziehen konnte. Der Vogel stieß dagegen und verlöschte die Flamme.

Ranieros Arm sank herab, und Tränen traten in seine Augen. Aber im ersten Augenblick empfand er dennoch eine gewisse Erleichterung. Es war besser, als daß Menschen diese Flamme vernichtet hätten.

Der kleine Vogel setzte seinen Flug innerhalb der Kirche fort, er flatterte verwirrt hin und her, wie Vögel zu tun pflegen, wenn sie in einen geschlossenen Raum geraten.

Plötzlich durchbrauste ein lauter Ruf die ganze Kirche: »Der Vogel brennt! Die heilige Lichtflamme hat seine Flügel entzündet!«

Der kleine Vogel piepste ängstlich. Er flog wenige Augenblicke wie eine flatternde Flamme unter dem hohen Chorgewölbe umher. Dann sank er schnell herab und fiel tot auf dem Altar der Madonna nieder.

Aber in demselben Augenblick stand Raniero vor dem Altar. Er hatte sich einen Weg durch die Menge der Kirchenbesucher gebahnt, nichts hatte ihn aufhalten können. Und an den Flammen, die des Vogels Schwingen verzehrten, entzündete er die Kerzen vor dem Altar der Madonna.

Da erhob der Bischof seinen Stab und rief: »Gott wollte es! Gott hat für ihn gezeugt!«

Und alles Volk in der Kirche, sowohl seine Freunde als auch seine Widersacher, vergaßen ihre Zweifel und ihr Staunen. Von diesem Gotteswunder begeistert, riefen sie: »Gott wollte es! Gott hat für ihn gezeugt!«

 

Von Raniero bleibt nur noch zu berichten, daß er fortan sein Leben lang viel Glück und Ansehen genoß. Er war klug, bedächtig und barmherzig. Aber das Volk in Florenz nannte ihn allzeit Pazzo di Raniero, zur Erinnerung daran, daß man ihn für verrückt gehalten hatte. Und dies wurde für ihn ein Ehrentitel. Er wurde der Stammvater eines Adelsgeschlechts, das den Namen Pazzo annahm und sich noch bis auf den heutigen Tag also nennt.

Des weiteren wäre noch zu erwähnen, daß es in Florenz Sitte wurde, alljährlich am Karfreitag ein Fest zu feiern, das der Erinnerung an Ranieros Heimkehr mit dem heiligen Feuer geweiht ist, und bei dem man stets einen künstlichen Vogel brennend durch den Dom fliegen läßt. Auch in diesem Jahr wird man das Fest sicherlich auf diese Weise gefeiert haben, falls nicht neuerdings eine Aenderung eingetreten ist.

Aber ob es wahr ist – wie viele annehmen –, daß die Träger heiligen Feuers, die in Florenz gelebt und diese Stadt zu einer der herrlichsten auf Erden gemacht haben, sich Raniero zum Vorbild wählten und dadurch den Mut fanden, sich aufzuopfern, zu leiden und auszuharren, darüber wollen wir schweigen.

Denn welche Wirkungen von jenem Licht hervorgebracht worden sind, das in dunklen Zeiten von Jerusalem ausgegangen ist, das läßt sich weder messen noch zählen.


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