Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war zur Zeit, als Gott der Herr die Welt erschuf, und nicht nur Himmel und Erde, sondern auch alle Tiere und Pflanzen, denen er zugleich ihre Namen gab.
Aus jener Zeit ließen sich viele Geschichten erzählen, und wenn man sie alle kennen würde, so hätte man auch eine Erklärung für alles in der Welt, was man jetzt nicht begreifen kann.
Damals geschah es eines Tages, als der Herrgott im Paradiese saß und die Vögel anmalte, daß die Farben in seinen Farbentöpfen ein Ende nahmen, so daß der Stieglitz farblos geblieben wäre, wenn der liebe Gott nicht alle seine Pinsel an seinen Federn abgewischt hätte.
Und damals geschah es auch, daß der Esel seine langen Ohren bekam, weil er sich seinen Namen nicht merken konnte. Er vergaß ihn, sobald er einige Schritte auf den paradiesischen Fluren gemacht hatte, und dreimal kam er zurück und fragte nach seinem Namen, so daß der liebe Gott schließlich etwas ungeduldig wurde, ihn an beiden Ohren faßte und zu ihm sprach: »Dein Name ist: Esel, Esel, Esel.«
Und während er also redete, zog er des Esels Ohren lang und länger, auf daß er ein besseres Gehör bekäme und sich dessen erinnerte, was man ihm sagte.
An demselben Tage fand auch die Bestrafung der Bienen statt. Denn als die Biene erschaffen war, begann sie sogleich Honig zu sammeln. Und Mensch und Tier, die den lieblichen Duft einatmeten, kamen herbei, um ihn zu kosten. Aber die Biene wollte alles für sich selber behalten und verjagte durch ihre giftigen Stiche alle, die sich der Honigwabe näherten. Das sah der liebe Gott, und flugs rief er die Biene herbei, um ihr eine Strafe aufzuerlegen: »Ich verlieh Dir die Gabe Honig zu sammeln, der das allersüßeste in der Schöpfung ist, aber damit gab ich Dir nicht das Recht, gegen Deine Nächsten hart zu sein. Nun denke daran daß jede Biene, die jemanden sticht, der ihren Honig kosten will, den Stich mit dem Tode zu büßen hat!«
Ach ja, das war damals, als die Grille blind wurde und die Ameise ihre Flüglein einbüßte; es geschah so viel Seltsames an jenem Tage.
Gott der Herr saß den ganzen Tag über erhaben und mild auf seinem Thron und erschuf und hauchte Odem ein, und gegen Abend verfiel er darauf, noch einen kleinen grauen Vogel zu erschaffen.
»Denke daran, daß Du Rotkehlchen heißen sollst!« sagte der liebe Gott zu dem Vogel, als er fertig geworden war. Und er setzte ihn auf seine Handfläche und ließ ihn fliegen.
Und als das Vöglein eine Weile umhergeflogen war und die schöne Erde betrachtet hatte, auf der es nun leben sollte, spürte es auch Lust, sich selber zu beschauen. Da merkte es, daß es ganz grau war, und daß seine Brust ebenso grau wie alles andere aussah. Das Rotkehlchen drehte und wendete sich hin und her und spiegelte sich im Wasser, aber es vermochte kein einziges rotes Federchen an sich zu entdecken.
Da flog das Vöglein zum lieben Herrgott zurück.
Unser lieber Herrgott saß gütig und mild auf seinem Thron, aus seinen Händen lösten sich Schmetterlinge, die sein Haupt umflatterten, Tauben gurrten auf seinen Schultern und rings um ihn her entsproßten der Erde Rosen, Lilien und Tausendschönchen.
Das Herz des Vögleins pochte vor Angst heftig in seiner kleinen Brust, aber in leichten Bogen flog es näher und näher auf den lieben Herrgott zu und setzte sich schließlich auf seine Hand.
Da fragte der himmlische Vater, was es von ihm wünsche, und das Vöglein antwortete:
»Ich möchte Dich nur noch etwas fragen.«
»Was willst Du also wissen?«
»Warum soll ich denn Rotkehlchen heißen, wenn ich doch vom Schnabel bis zur Schwanzspitze ganz grau bin? Warum werde ich Rotkehlchen genannt, wenn ich doch kein einziges rotes Federchen besitze?«
Und das Vöglein blickte mit seinen großen, schwarzen Augen flehend zu Gott dem Herrn empor und wandte das Köpfchen hin und her. Rundum erblickte es Fasanen, deren rotes Gefieder leicht mit Goldstaub gesprenkelt war, Papageien mit buschigen, roten Halskragen, Hähne mit roten Kämmen, und nun erst die Schmetterlinge, Goldfische und Rosen. Natürlich dachte das Vöglein bei diesem Anblick, wie wenig dazu gehörte – und wenn es nur ein einziger, kleiner Tropfen Farbe auf seiner Brust wäre – um es zu einem schönen Vogel zu machen, so daß sein Name passen würde.
»Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich doch ganz grau bin?« wiederholte das Vöglein und erwartete, daß der liebe Gott sagen würde: »Ach, mein kleiner Freund, ich merke, daß ich vergessen habe, die Federn auf Deiner Brust rot anzumalen, aber warte nur einen Augenblick, dann wird die Sache bald erledigt sein.«
Doch der liebe Gott lächelte nur mild und sprach: »Ich habe Dich Rotkehlchen genannt, und Rotkehlchen sollst Du heißen, doch mußt Du selber zusehen, daß Du Dir Deine roten Brustfedern verdienen magst.« Und dann erhob Gott der Herr die Hand und ließ den Vogel aufs neue in die Welt hinausflattern.
Der Vogel flog in tiefem Sinnen durch das Paradies. Was sollte ein so kleiner Vogel, wie er, eigentlich tun, um sich rote Federn zu verdienen?
Das einzige, woran er noch zu denken vermochte, war die Wahl seiner Behausung in einem Dornenbusch. Zwischen den Stacheln des dichten Dornenrosengestrüpps baute er sein Nest. Er schien zu hoffen, daß ein Rosenblatt sich an seine kleine Kehle heften würde, um ihr seine Farbe zu verleihen.
Eine unendliche Zeit war seit jenem Tage verflossen, der der fröhlichste aller Erdentage gewesen ist. Seit jener Zeit hatten Tiere und Menschen das Paradies verlassen und sich über die Erde verbreitet. Und die Menschen hatten es so weit gebracht, daß sie das Land beackern konnten und das Meer zu befahren wußten, sie schafften sich Kleidung und Schmuckgeräte, ja, sie hatten schon vor langer Zeit gelernt, große Tempel und mächtige Städte, wie Theben, Rom und Jerusalem, zu erbauen.
Dann nahte ein neuer Tag, dessen man in der Geschichte der Welt noch lange gedenken sollte. Und am Morgen jenes Tages saß nun ein Rotkehlchen auf einem kleinen, nackten Hügel vor den Mauern Jerusalems und sang seinen Jungen vor, die inmitten eines niedrigen Dornenbusches in ihrem kleinen Nest ruhten.
Vogel Rotkehlchen erzählte seinen Kleinen von dem wunderbaren Schöpfungstage und von der Namengebung, wie es bisher jedes Rotkehlchen seinen Jungen erzählte, von dem allerersten her, das Gottes Ruf vernommen hatte und aus des Schöpfers Hand hervorgegangen war.
»Und nun seht,« schloß es traurig seinen Bericht, »so viele Jahre sind seit dem Schöpfungstage dahin, so viele Rosen sind verblüht, so viele junge Vögel sind aus dem Ei gekrochen, daß niemand sie zu zählen vermag, jedoch das Rotkehlchen ist noch immer ein kleiner, grauer Vogel. Noch ist es ihm nicht geglückt, der roten Brustfedern teilhaftig zu werden.«
Die kleinen jungen Vögelchen sperrten die Schnäbelchen weit auf und fragten, ob ihre Vorfahren sich denn gar nicht bemüht hätten, irgendeine Heldentat zu vollbringen, um die unschätzbare rote Farbe zu erringen.
»Wir alle taten, was wir konnten,« sang das Vöglein, »aber es ist keinem von uns geglückt. Schon das erste Rotkehlchen begegnete einmal einem anderen Vogel, der sein ganzes Ebenbild war, und sogleich begann es ihn mit solcher Heftigkeit zu lieben, daß es seine Brust erglühen fühlte. ›Ach,‹ dachte es da, ›jetzt begreife ich alles. Der liebe Gott meint, daß ich glühend lieben müsse, um meine Brustfedern durch die Liebesglut meines Herzens rot zu färben.‹ Aber es gelang ihm nicht, wie es keinem nach ihm gelungen ist, und auch Euch niemals gelingen wird.«
Die kleinen jungen Vögelchen zwitscherten betrübt, und sie trauerten schon darüber, daß die rote Farbe niemals ihre kleine, flaumige Brust schmücken sollte.
»Wir hatten auch auf unseren Gesang gehofft,« sang das alte Vöglein in langen, gehaltenen Tönen. »Schon das erste Rotkehlchen sang so schön, daß seine kleine Brust sich in Begeisterung weitete und es neu zu hoffen wagte. ›Ach,‹ dachte es, ›meine Brustfedern werden sich von der Sangesglut in meiner Seele rot färben.‹ Aber es gelang ihm nicht, wie es keinem nach ihm gelungen ist, und wie es auch Euch nicht gelingen wird.«
Abermals hörte man ein betrübtes Zwitschern aus den schwachbefiederten Kehlen der jungen Vögelchen.
»Wir hofften auch auf unseren Mut und auf unsere Tapferkeit. Schon das erste Rotkehlchen kämpfte mutig mit anderen Vögeln, und seine Brust glühte vor Kampfbegier. ›Ach,‹ dachte es, ›meine Brustfedern werden sich von der Kampflust in meinem Herzen rot färben.‹ Aber es gelang ihm nicht, wie es keinem nach ihm gelang und auch keinem von Euch gelingen wird.«
Die kleinen jungen Vögelchen zwitscherten voll Zuversicht, daß sie es dennoch versuchen wollten, die erstrebte Belohnung zu gewinnen, aber der Vogel antwortete ihnen betrübt, daß es ganz unmöglich wäre. Was konnten sie erhoffen, wenn es so vielen ausgezeichneten Vorfahren nicht gelungen war, das Ziel zu erreichen? Was konnten sie denn noch mehr tun als lieben, singen und kämpfen? Was vermochten – –
Der Vogel vollendete seinen Satz nicht, denn aus einem der Tore Jerusalems kam eine große Menschenmenge dahergezogen, und die Scharen stürmten zu dem Hügelgelände empor, auf dem sich das Vogelnest befand.
Es nahten Reiter auf stolzen Rossen, Kriegsknechte mit langen Speeren, Henkersknechte mit Nägeln und Hämmern, und es zogen feierlich schreitende Priester und Richter, schluchzende Weiber, und allen voran eine Masse wildumherjagendes, niederes Volk herbei, ein widerwärtiges, heulendes Gefolge von Landstreichergesindel.
Der kleine, graue Vogel saß bebend auf dem Rande seines Nestes. Er fürchtete jeden Augenblick, daß der kleine Dornbusch niedergetrampelt und seine Jungen getötet werden könnten. »Nehmt Euch in acht,« zwitscherte er den kleinen wehrlosen Geschöpfchen zu, »kriecht ganz dicht zusammen und gebt keinen Laut von Euch! Hier kommt ein Pferd, das dicht über uns hinschreitet! Dort naht ein Kriegsknecht mit eisenbeschlagenen Sandalen! Da stürmt die ganze wilde Horde heran!«
Plötzlich stellte der Vogel seine Warnungsrufe ein, er blieb still und stumm und vergaß beinahe die Gefahr, in der sie alle schwebten.
Dann hüpfte er rasch in sein Nest hinein und breitete die kleinen Schwingen über seine Jungen.
»Nein, das ist zu schrecklich,« zwitscherte er. »Ich will Euch vor diesem Anblick bewahren. Dort sollen drei Missetäter ans Kreuz geschlagen werden.«
Und er breitete seine kleinen Schwingen so weit aus, daß die Jungen nichts davon sehen konnten. Sie vernahmen nur dröhnende Hammerschläge, lautes Wehklagen und das tobende Geschrei der Volksmenge.
Das Rotkehlchen folgte dem ganzen furchtbaren Schauspiel mit Augen, die sich vor Entsetzen weiteten. Es konnte seine Blicke von den drei Unglücklichen nicht abwenden.
»Wie doch die Menschen grausam sind!« zwitscherte der Vogel nach einer Weile. »Es genügt ihnen nicht, diese armen Geschöpfe ans Kreuz zu nageln, und da haben sie dem einen auch noch eine stachlichte Dornenkrone aufs Haupt gepreßt. Ich sehe deutlich, daß die Dornen seine Stirn verwundet haben, so daß Blut herabsickert. Und dieser Mann ist so schön und schaut mit so sanften Blicken um sich, daß jedermann ihn lieben müßte. Bei dem Anblick seiner Leiden ist mir, als durchbohre ein spitzer Pfeil mein Herz.«
Das Mitleid des kleinen Vogels mit dem Dornengekrönten vertiefte sich mehr und mehr.
»Wenn ich mein Bruder, der Adler, wäre, würde ich die Nägel, die seine Hände durchbohren, herausziehen und mit den starken Klauen alle seine Peiniger verjagen.«
Das Rotkehlchen sah, wie das Blut auf des Gekreuzigten Stirn herabsickerte, und vermochte nicht, noch länger stille in seinem Nest zu sitzen.
»Bin ich auch nur klein und schwach, so müßte ich dennoch irgend etwas für diesen armen Gepeinigten tun können,« zwitscherte es vor sich hin. Und es verließ sein Nest und flog in die Luft hinaus. In weiten Bogen umkreiste es mehrmals den Gekreuzigten, ohne daß es wagte, sich ihm zu nähern. Denn es war ein scheuer kleiner Vogel, der niemals gewagt hatte, in die Nähe eines Menschen zu kommen. Aber allmählich faßte es Mut, flog auf die Kreuze zu und zog mit seinem kleinen Schnabel einen spitzen Stachel aus der Stirn des Gekreuzigten.
Doch während es dies tat, fiel ein Tropfen vom Blute des Gekreuzigten auf die Brust des Vögleins herab. Dieser verbreitete sich schnell und färbte alle die kleinen, zarten Federn der Kehle ganz rot.
Und der Gekreuzigte öffnete seine Lippen und flüsterte dem Vogel zu: »Um Deiner Barmherzigkeit willen hast Du nun errungen, was Dein Geschlecht seit Erschaffung der Welt erstrebt hat.«
Als der Vogel wieder in sein Nest kam, zwitscherten seine Kleinen ihm zu: »Deine Brust ist ja rot, Deine Kehlfederchen sind röter als Rosen!«
»Das ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen Mannes. Der wird verschwinden, sobald ich in einem Bächlein oder in einer klaren Quelle bade,« zwitscherte der Vogel zur Antwort.
Aber wie oft auch das Rotkehlchen badete, die rote Farbe verschwand nicht mehr von seiner Brust, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch auf ihren Brustfedern, wie sie noch bis auf den heutigen Tag auf jedes Rotkehlchens Brustfedern leuchtet.