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In einem der letzten Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius hatte sich ein armer Winzer mit seinem Weibe in einer einsamen Hütte hoch oben im Sabinergebirge niedergelassen. Sie waren Fremdlinge und lebten in der größten Einsamkeit, ohne jemals von irgendeinem Menschen aufgesucht zu werden. Aber eines Morgens sah dieser Arbeiter, als er seine Tür öffnete, zu seiner großen Verwunderung ein Weib auf der Schwelle kauern. Sie trug einen einfachen, grauen Mantel und sah aus, als wäre sie recht arm. Als sie sich jedoch erhob und auf ihn zutrat, erschien sie dessenungeachtet so ehrfurchtgebietend, daß er daran denken mußte, was die alten Sagen von den Göttinnen berichten, die in der Gestalt von greisenhaften Frauen den Menschen nahen.
»Freund,« sprach die Greisin zu dem Winzer, »Du mußt Dich nicht darüber verwundern, daß ich nachts auf Deiner Schwelle geschlafen habe. Meine Eltern haben einst diese Hütte bewohnt, und ich wurde hier vor fast neunzig Jahren geboren. Ich erwartete, sie leer und verlassen zu finden. Ich wußte nichts davon, daß Menschen sich darin niedergelassen hatten.«
»Ich wundere mich gar nicht, daß Du erwartet hast, die Hütte leer und verlassen zu finden, die so hoch oben inmitten des öden Gebirges liegt,« entgegnete der Winzer. »Aber ich und mein Weib stammen aus einem fernen Lande, und wir armen Fremdlinge fanden keine bessere Wohnstätte. Und nach der langen Wanderung, die Du in Deinem hohen Alter unternommen hast, wirst Du müde und hungrig sein. Da ist es Dir sicher willkommener, daß diese Hütte von Menschen anstatt von Wölfen aus dem Sabinergebirge bewohnt ist. Du findest drinnen nun doch ein Bett, auf dem Du ruhen kannst, und wenn Du vorlieb nehmen willst, soll für Dich eine Schale Ziegenmilch und ein Stück Brot bereit sein.«
Die Greisin lächelte ein wenig, aber dieses Lächeln war so flüchtig, daß es nicht den Ausdruck tiefen Kummers zu verdrängen vermochte, der auf ihrem Antlitz ruhte. »Ich habe meine ganze Jugend hier oben auf den Bergen verlebt,« antwortete sie. »Und ich habe es bis heute noch nicht verlernt, einen Wolf aus seiner Höhle zu verjagen.«
Und sie sah wirklich so stark und kräftig aus, daß der Arbeitsmann gar nicht bezweifelte, daß sie trotz ihres hohen Alters noch Kraft genug habe, um mit den wilden Tieren des Waldes zu kämpfen.
Er wiederholte indessen seine Aufforderung, und die Greisin trat in die Hütte. Sie setzte sich mit den armen Leuten an den Tisch und teilte ohne Zögern ihr bescheidenes Mahl. Aber obwohl sie sehr befriedigt zu sein schien, das grobe, in der Milch aufgeweichte Brot zu essen, fragten sich die beiden Eheleute: »Woher mag die greise Pilgerin kommen? Sie hat sicherlich häufiger Fasanen auf silbernem Gerät gegessen, als Ziegenmilch aus irdenen Krügen getrunken.«
Zuweilen blickte sie beim Essen auf und sah sich prüfend um, als wolle sie sich in der Hütte zurechtfinden. Die ärmliche Behausung mit ihren nackten Lehmwänden und dem festgestampften Lehmboden war wohl kaum verändert. Sie zeigte sogar ihren Wirtsleuten noch einige Spuren von Hunden und Hirschen, die ihr Vater einst zur Freude seiner kleinen Kinder dorthin gezeichnet hatte. Und hoch oben auf einem Wandbrett glaubte sie die Scherben eines Tonkruges zu erkennen, in den sie selber einst die Milch zu gießen pflegte.
Aber die Eheleute sagten sich: »Es mag sein, daß sie in dieser Hütte zur Welt kam, aber sie muß im Leben noch sehr viel anderes ausgerichtet haben, als Ziegen zu melken und Käse und Butter zu bereiten.«
Sie merkten auch, daß sie mit ihren Gedanken oft weit weg war, und daß sie schwer und sorgenvoll seufzte, wenn sie wieder zu sich kam. Schließlich stand sie von der Mahlzeit auf, dankte freundlich für die ihr gewährte Gastfreundschaft und schritt zur Tür hin.
Aber da erschien sie dem Winzer so verlassen und arm und kläglich, daß er ausrief: »Wenn ich mich nicht irre, so war es, als Du nachts hier mühsam heraufklommst, nicht Deine Absicht, die Hütte so bald wieder zu verlassen. Bist Du wirklich so arm, wie Du aussiehst, so wirst Du gewiß den Wunsch gehabt haben, den Rest Deiner Tage hier zu verleben. Aber nun willst Du von dannen gehen, weil ich und mein Weib die Hütte mit Beschlag belegt haben.«
Die Greisin leugnete nicht, daß er richtig geraten hatte. »Die Hütte, die so lange Jahre verlassen dastand, gehört ebenso gut Dir wie mir,« entgegnete sie. »Mir steht kein Recht zu, Dich daraus zu vertreiben.«
»Es ist gleichwohl die Hütte Deiner Eltern, und so hast Du sicherlich mehr Anspruch darauf als ich. Ueberdies sind wir jung, und Du bist alt. Darum sollst Du hierbleiben, und wir werden von dannen ziehen.«
Als die Greisin diese Worte vernahm, war sie höchlichst verwundert. Sie wandte sich auf der Schwelle um und starrte den Mann an, als hätte sie nicht begriffen, was er mit seinen Worten meinte.
Doch nun mischte sich auch das junge Weib in das Gespräch.
»Wenn mir ein Rat erlaubt ist,« sagte sie zu ihrem Manne, »so möchte ich Dich bitten, die würdige Greisin zu fragen, ob sie uns nicht als ihre Kinder betrachten will, die bei ihr bleiben und sie pflegen dürfen. Was würden wir ihr dadurch helfen, daß wir ihr die armselige Hütte schenkten und sie dann verließen? Wie schrecklich wäre es für sie, hier in dieser Einöde allein zu hausen. Und wovon sollte sie denn leben? Es wäre ebenso, als ließen wir sie Hungers sterben.«
Da schritt die Greisin auf die jungen Eheleute zu und betrachtete sie aufmerksam. »Warum redet Ihr so zu mir?« fragte sie. »Warum erweiset Ihr mir Barmherzigkeit? Ihr seid ja Fremdlinge in diesem Lande.«
Und die junge Frau antwortete ihr: »Es geschieht darum, weil wir selber einmal der großen Barmherzigkeit teilhaftig geworden sind.«
Und also geschah es, daß die Greisin in der Hütte des Winzers wohnen blieb, und sie faßte eine große Freundschaft für die jungen Eheleute. Aber dessenungeachtet sagte sie ihnen niemals, von wannen sie gekommen war und wer sie sei, und sie begriffen, daß die Fremde eine Frage danach nicht gut aufgenommen hätte.
Eines Abends jedoch, als die Arbeit getan war und sie alle drei, ihr Nachtmahl verzehrend, auf der großen, flachen Felsplatte saßen, die als Schwelle zur Hüttentür führte, erblickten sie einen alten Mann, der den Bergpfad erstieg.
Es war ein großer, kräftig gebauter Mann mit den breiten Schultern eines Ringkämpfers. Sein Gesicht zeigte einen finsteren, unfreundlichen Ausdruck. Die Stirn sprang über die tiefliegenden Augen vor, und die Linien um den Mund drückten Bitterkeit und Verachtung aus. Er näherte sich in straffer Haltung und mit schnellen Bewegungen.
Der Mann war sehr einfach gekleidet, und der Winzer dachte bei seinem Anblick: Das ist ein alter Legionär, der seinen Abschied bekommen hat und nun in seinen Heimatsort zurückwandert.
Als der Fremdling bei den Essenden angelangt war, blieb er wie zweifelnd stehen. Der Arbeiter, der wußte, daß dieser Weg ein kleines Stück oberhalb der Hütte ein Ende hatte, legte den Löffel aus der Hand und rief dem Manne zu: »Bist Du irre gegangen, Fremdling, da Du zu dieser Hütte gekommen bist? Niemand pflegt sich sonst die Mühe zu machen, hier heraufzuklettern, es sei denn, er bringe einem von uns, die wir hier hausen, Botschaft.«
Während er diese Frage stellte, trat der Fremdling näher.
»Ja, es ist so, wie Du sagst,« antwortete er. »Ich habe den Weg verfehlt, und nun weiß ich nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll. Wenn Du mir hier eine Weile Ruhe gönnen und mir dann sagen willst, welchen Weg ich wählen muß, um einen Gutshof zu erreichen, so wäre ich Dir dankbar.«
Bei diesen Worten setzte er sich auf einen der großen Steine, die vor der Hütte lagen. Die junge Frau fragte ihn, ob er nicht an ihrer Mahlzeit teilnehmen wolle, er jedoch lehnte es lächelnd ab. Dagegen zeigte es sich, daß er sehr geneigt war, sich mit ihnen zu unterhalten, während sie weiteraßen. Er fragte die jungen Eheleute nach ihrem Leben und nach ihrer Arbeit, und sie gaben ihm einfach und offen Bescheid.
Plötzlich wandte sich der Arbeiter an den Fremdling und begann ihn auszufragen: »Du siehst, in welcher Einöde und wie einsam wir hier leben,« sagte er. »Es ist wohl ein Jahr vergangen, seit ich mit anderen Menschen als Hirten und Winzern geredet habe. Aber kannst Du als einer, der aus dem Feldlager kommt, uns nicht ein wenig über Rom und den Kaiser berichten?«
Kaum hatte der Mann diese Frage gestellt, so bemerkte sein junges Weib auch sogleich, daß die Greisin ihm einen warnenden Blick zuwarf und mit der Hand ein Zeichen machte, sich mit seinen Worten recht in acht zu nehmen.
Der Fremdling aber erwiderte ganz freundlich: »Ich sehe, daß Du mich für einen Legionär hältst, und Du hast damit in der Tat nicht so unrecht, obwohl ich schon längst den Dienst verlassen habe. Für uns Kriegsleute hat es unter der Regierung des Tiberius nicht viel Arbeit gegeben. Und dennoch war er einst ein großer Feldherr. Das war in seinen Glückstagen. Nun aber denkt er an gar nichts anderes, als sich vor Verschwörungen zu schützen. In Rom reden alle Menschen davon, daß er in der vergangenen Woche, nur auf einen leeren Verdacht hin, den Senator Titius ergreifen und hinrichten ließ.«
»Der arme Kaiser, er weiß nicht mehr, was er tut!« rief die junge Frau. Sie erhob die Hände und schüttelte voll Mitleid und Verwunderung den Kopf.
»Da hast Du wirklich recht,« erwiderte der Fremdling, während ein Ausdruck tiefster Schwermut sein Gesicht überflog. »Tiberius weiß, daß ihn alle Menschen hassen, und das wird ihn noch zum Wahnsinn treiben.«
»Was redest Du?« entgegnete die junge Frau. »Warum sollten wir ihn hassen? Wir beklagen es ja nur, daß er nicht mehr der große Kaiser ist wie zu Anfang seiner Regierung.«
»Du irrst Dich,« sprach der Fremdling. »Alle Menschen hassen und verachten Tiberius. Und weshalb sollten sie es nicht tun? Er ist ja nur noch ein grausamer und herzloser Tyrann. Und in Rom glaubt man, daß er von nun an noch hartherziger werden wird, als er es jemals war.«
»Ist denn irgend etwas geschehen, das ihn zu einem noch schrecklicheren Unhold machen könnte, als er schon war?« fragte der Mann.
Als er dies sagte, bemerkte die junge Frau, daß die Greisin wieder ihr Warnungszeichen gab, aber so verstohlen, daß der Mann es nicht gewahrte.
Der Fremdling antwortete ihm freundlich, während ein sonderbares Lächeln um seine Lippen irrte.
»Du hast vielleicht erzählen hören, daß Tiberius bisher in seiner Umgebung einen Freund besaß, auf den er sich fest verlassen konnte, und der ihm stets die Wahrheit sagte. Alle anderen, die an seinem Hofe leben, sind Glücksjäger und Heuchler, die seine bösen und heimtückischen Handlungen ebenso loben und preisen wie seine guten und vortrefflichen. Dennoch gab es, wie ich sagte, einen einzigen Menschen, der niemals fürchtete, ihn den Wert seiner Handlungen erkennen zu lassen. Dieses Wesen, das mutiger war als alle seine Senatoren und Feldherren, war des Kaisers alte Amme, Faustina.
»Ei, freilich, ich hörte von ihr reden,« sprach der Arbeiter. »Man erzählte mir, daß der Kaiser ihr allzeit in Freundschaft zugetan war.«
»Ja, Tiberius wußte ihre Hingebung und Treue zu schätzen. Er hat die arme Bäuerin, die einst aus einer elenden Hütte in den Sabinerbergen herabgestiegen war, wie seine zweite Mutter behandelt. Solange er selbst in Rom weilte, ließ er sie ein Haus auf dem Palatin bewohnen, um sie stets in seiner Nähe zu haben. Keine von Roms vornehmsten Matronen hatte es besser als sie. Sie wurde in einer Sänfte durch die Straßen getragen und war wie eine Kaiserin gekleidet. Als der Kaiser nach Capri übersiedelte, mußte sie ihn dorthin begleiten, und er ließ für sie ein Landhaus kaufen, voll von Sklaven und kostbarem Hausrat.«
»Sie hat es fürwahr gut gehabt,« sagte der Mann.
Er allein setzte nun das Gespräch mit dem Fremden fort. Sein Weib saß stumm dabei und beobachtete, welch eine Veränderung mit der Greisin vorgegangen war. Seit der Ankunft des Fremden hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Ihr sanftes, freundliches Aussehen war verschwunden. Sie hatte ihr Essen beiseite geschoben und sich starr und aufrecht gegen den Türpfosten gelehnt, von wo sie mit strengem, versteinertem Antlitz gerade vor sich hinblickte.
»Es lag in des Kaisers Absicht, ihr ein glückliches Leben zu bereiten,« sprach der Fremdling. »Aber trotz all seiner Wohltaten hat auch sie ihn jetzt verlassen.«
Die Greisin zuckte bei diesen Worten zusammen, und die junge Frau legte sanft beruhigend die Hand auf ihren Arm. Dann begann sie mit ihrer warmen, milden Stimme zu sprechen. »Ich kann es dennoch nicht glauben, daß die alte Faustina bei Hofe so glücklich gewesen ist, wie Du meinst,« sagte sie, indem sie sich dem Fremdling zuwandte. »Ich bin dessen gewiß, daß sie Tiberius wie ihren eigenen Sohn geliebt hat. Wohl kann ich begreifen, wie stolz sie auf seine edle Jugend gewesen ist, und kann es darum auch verstehen, welch ein Kummer es für sie war, als er sich in seinem Alter dem Mißtrauen und der Grausamkeit hingab. Sicherlich hat sie ihn jeden Tag ermahnt und gewarnt. Es war für sie furchtbar, immer umsonst zu bitten. Sie hat es schließlich wohl nicht mehr ertragen, ihn tiefer und tiefer sinken zu sehen.«
Bei diesen Worten beugte sich der Fremdling überrascht ein wenig vor. Doch das junge Weib blickte nicht zu ihm auf. Sie hatte die Augen gesenkt und sprach sehr leise und ehrerbietig.
»Du hast die alte Frau vielleicht richtig beurteilt,« antwortete er. »Faustina war in der Tat bei Hofe nicht glücklich. Dennoch wirkt es sonderbar, daß sie den Kaiser in seinem hohen Alter verließ, nachdem sie ein ganzes Menschenalter durch bei ihm ausgeharrt hatte.«
»Was redest Du?« fragte der Mann. »Die alte Faustina hat also den Kaiser für immer verlassen?«
»Sie hat sich heimlich von Capri fortgeschlichen,« sagte der Fremdling. »Sie ist ebenso arm weggegangen, wie sie gekommen war. Von ihren Schätzen hat sie nicht das geringste mitgenommen.«
»Und der Kaiser weiß nicht, wohin sie sich begeben hat?« fragte die junge Frau mit ihrer sanften Stimme.
»Nein, niemand ist sicher, welchen Weg die Greisin eingeschlagen hat. Man hält es jedoch für wahrscheinlich, daß sie in ihren heimatlichen Bergen eine Zuflucht gesucht habe.«
»Und der Kaiser weiß auch nicht, weshalb sie fortgegangen ist?« fragte die junge Frau.
»Nein, der Kaiser weiß nichts darüber. Er kann doch nicht annehmen, daß sie ihn verließ, weil er einmal zu ihr sagte, auch sie diene ihm nur, wie alle anderen, um Lohn und Geschenke zu erhalten. Sie weiß doch, daß er niemals an ihrer Uneigennützigkeit gezweifelt hat. Er hat auch noch immer gehofft, daß sie freiwillig zu ihm zurückkehren würde, denn niemand weiß besser als sie, daß er nun gar keinen Freund mehr hat.«
»Ich kenne sie nicht,« sprach die junge Frau, »und dennoch glaube ich, Dir sagen zu können, weshalb sie den Kaiser verlassen hat. Jene alte Frau wurde einst inmitten dieser Berge zu Einfachheit und frommer Sitte erzogen und hat sich stets hierher zurückgesehnt. Dennoch hätte sie den Kaiser sicherlich niemals verlassen, wenn er sie nicht beleidigt hätte. Aber ich begreife es sehr wohl, daß sie, nachdem dies geschehen war, glaubte, jetzt, am Ende ihrer Lebenszeit, an sich selber denken zu dürfen. Wenn ich ein armes Weib aus den Bergen wäre, würde ich wahrhaftig ganz wie sie gehandelt haben. Ich würde denken, daß ich genug getan hätte, da ich meinem Herrn ein ganzes Leben lang gedient habe. Ich würde alles Wohlleben und alle Kaisergunst aufgeben, um meine Seele mit Lauterkeit und Gerechtigkeit zu erfüllen, ehe sie zur langen Fahrt von mir scheidet.«
Der Fremdling blickte ernst und schwermütig die junge Frau an. »Du denkst nicht daran, daß des Kaisers Gebaren furchtbarer werden wird als je zuvor. Nun gibt es niemanden, der ihn beruhigen könnte, wenn Mißtrauen und Menschenverachtung sich seiner bemächtigen. Stelle Dir vor,« fuhr er fort und bohrte seine finsteren Blicke tief in die des jungen Weibes, »in der ganzen Welt gibt es nunmehr keinen, den er nicht haßte, keinen, den er nicht verachtete, keinen einzigen.«
Bei diesen Worten der bittersten Verzweiflung machte die Greisin eine hastige Bewegung und wandte sich ihm zu, aber das junge Weib blickte ihm fest in die Augen und erwiderte: »Tiberius weiß, daß Faustina wiederkehrt, wann auch immer er es wünscht. Doch zuvor muß sie wissen, daß ihre alten Augen nicht mehr Laster und Schändlichkeit an seinem Hofe schauen müssen.«
Alle hatten sich bei diesen Worten erhoben, doch der Winzer und sein Weib stellten sich vor die Greisin, als wollten sie sie schützen.
Der Fremdling sprach kein Wort mehr, betrachtete jedoch die Greisin mit fragenden Blicken. Ist dies auch Dein letztes Wort? schien er sagen zu wollen. Die Lippen der Greisin zitterten und vermochten kein Wort hervorzubringen.
»Wenn der Kaiser seine alte Dienerin geliebt hat, so mag er ihr auch Ruhe für die letzten Lebenstage gönnen,« sprach das junge Weib.
Der Fremdling zögerte noch, aber plötzlich erhellte sich sein finsteres Gesicht. »Meine Freunde,« sprach er, »was man auch von Tiberius sagen mag, so gibt es doch eines, was er besser gelernt hat als andere, und das ist – der Verzicht. Ich habe Euch nur noch eines zu sagen: Wenn die alte Frau, von der wir sprachen, diese Hütte aufsuchen sollte, so nehmt sie gut auf. Des Kaisers Gunst ist jedem gewiß, der ihr beisteht.«
Er hüllte sich in seinen Mantel und entfernte sich auf demselben Wege, auf dem er gekommen war.
Von nun an sprachen der Winzer und sein Weib niemals mehr mit der alten Frau über den Kaiser. Doch wunderten sie sich, daß sie in ihrem hohen Alter noch die Kraft besessen hatte, all dem Reichtum und der Macht zu entsagen, an die sie solange gewöhnt war. Oft fragten sie sich: »Ob sie nicht doch bald zu Tiberius zurückkehren möchte? Sie liebt ihn gewiß noch immer. Sie hat ihn doch nur in der Hoffnung verlassen, ihn dadurch zur Besinnung zu bringen und seinem sündhaften Leben und Treiben zu entfremden.
»Ein so alter Mann wie der Kaiser wird niemals ein neues Leben beginnen,« sagte der Arbeiter. »Wie willst Du ihn von seiner großen Menschenverachtung heilen? Wer könnte vor ihn hintreten und ihn Menschenliebe lehren? Ehe dies geschehen ist, kann er von seinem Mißtrauen und seiner Grausamkeit nicht befreit werden.«
»Du weißt, daß es einen gibt, der dies in Wahrheit vermöchte,« sprach sein Weib. »Ich denke oft daran, wie wohl eine Begegnung der beiden ablaufen würde. Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.«
Die Greisin schien ihr früheres Leben durchaus nicht zu entbehren. Nach einiger Zeit gebar die junge Frau ein Kind, und da die Alte dies nun warten und hüten mußte, schien sie so zufrieden, daß man glauben konnte, sie habe alle ihre Sorgen vergessen.
Jedes halbe Jahr einmal pflegte sie sich in ihren langen, grauen Mantel zu hüllen und nach Rom hinab zu wandern. Aber dort suchte sie keinen Menschen auf, sondern ging geradeswegs nach dem Forum. Dort blieb sie vor einem kleinen Tempel stehen, der auf einer Seite des prächtig geschmückten Marktplatzes sich erhob. Dieser Tempel bestand eigentlich nur aus einem ungewöhnlich großen Altar, der auf einem marmorgepflasterten Hof unter freiem Himmel errichtet war. Auf der Höhe des Altars thronte Fortuna, die Glücksgöttin, und an seinem Fuße stand eine Statue des Tiberius. Rund um den Hof zogen sich Gebäude für die Priester, Schuppen für Brennholz und Ställe für die Opfertiere.
Die Wanderung der alten Faustina erstreckte sich niemals weiter als bis zu diesem Tempel, wohin alle jene pilgerten, die für Tiberius Glück erflehen wollten. Wenn sie hineinblickend gesehen hatte, daß die Göttin und die Kaiserstatue mit Blumen bekränzt waren, daß das Opferfeuer flammte, daß Scharen ehrfürchtiger Beter vor dem Altar versammelt waren, und wenn sie hörte, daß die leisen Hymnen der Priester ringsumher erklangen, dann kehrte sie um und wanderte wieder nach den Bergen hinauf.
Dadurch erfuhr sie, ohne irgendeinen Menschen fragen zu müssen, daß Tiberius noch unter den Lebenden weilte, und daß es ihm wohl erging.
Als sie diese Wanderung zum drittenmal unternahm, harrte ihrer eine schmerzliche Ueberraschung. Sie fand bei ihrer Annäherung den kleinen Tempel verödet und leer.
Kein Feuer flammte vor der Statue, und kein einziger Beter war zu erblicken. Vertrocknete Kränze hingen noch immer an der einen Seite des Altars, aber dies war auch alles, was von dessen früherer Herrlichkeit zeugte. Die Priester waren verschwunden, und die Kaiserstatue, die unbehütet dastand, war beschädigt und mit Schmutz beworfen.
Die Greisin wandte sich an den ersten besten Vorübergehenden und fragte:
»Was hat das zu bedeuten? Ist Tiberius tot? Haben wir einen neuen Kaiser?«
»Nein,« entgegnete der Römer, »Tiberius ist noch Kaiser, aber wir haben aufgehört, für ihn zu beten. Unsere Gebete können ihm nicht mehr helfen.«
»Mein Freund,« sprach die Greisin, »ich wohne weit entfernt in den Bergen, wo man nichts davon erfährt, was draußen in der Welt geschieht. Willst Du mir wohl sagen, welches Unglück den Kaiser betroffen hat?«
»Das schrecklichste Unglück, das man sich denken kann,« sagte der Mann. »Er ist von einer Krankheit befallen, die man in Italien noch gar nicht kannte, die aber im Morgenlande häufig vorkommen soll. Seit dieses Uebel den Kaiser ergriffen hat, ist sein Antlitz ganz verwandelt, seine Stimme gleicht der eines grunzenden Tieres, und seine Zehen und Finger verfaulen. Und gegen diese Krankheit soll es kein Heilmittel geben! Man glaubt, daß er nach einigen Wochen sterben wird, und falls er nicht stirbt, muß man ihn absetzen, denn ein so kranker, elender Mann kann nicht länger die Regierung in Händen halten. Du begreifst also, daß er abgetan ist. Es nützt nichts, von den Göttern Glück für ihn herabzuflehen. Und es lohnt sich auch gar nicht,« setzte er mit leisem Lächeln hinzu. »Von ihm hat keiner mehr etwas zu fürchten oder zu hoffen. Weshalb sollten wir uns also um seinetwillen noch Mühe machen?«
Er grüßte und ging, die Greisin aber blieb wie betäubt stehen.
Zum erstenmal in ihrem Leben brach sie zusammen und sah aus wie jemand, den das Alter gebrochen hat. So stand sie mit gebeugtem Rücken und schwankendem Haupte da, und ihre Hände tappten kraftlos in der Luft umher.
Sie sehnte sich danach, diese Stelle zu verlassen, konnte aber die Füße nur langsam bewegen und ging strauchelnd weiter. Sie blickte ringsumher, um etwas zu finden, was ihr als Stab dienen könnte.
Dennoch gelang es ihr nach einigen Augenblicken, mit ungeheurer Willensanspannung ihre Mattigkeit zu überwinden. Sie richtete sich wieder auf und zwang sich, mit festen Schritten durch die volksbelebten Straßen zu gehn.
Eine Woche später erstieg die alte Faustina die steilen Abhänge der Insel Capri. Es war ein heißer Tag, und das entsetzliche Gefühl des Alters und der Mattigkeit überkam sie wieder, während sie auf gewundenen Stegen und auf den in die Felsen gehauenen Stufen sich zu der Villa des Tiberius emporschleppte.
Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie zu merken begann, wie sehr sich alles während ihrer Abwesenheit gewandelt hatte. Auf diesen Treppen waren früher stets große Scharen von Menschen hinauf und hinab geeilt. Hier hatte es von Senatoren gewimmelt, die sich von riesenhaften Libyern tragen ließen, und hier erschienen Sendlinge aus den Provinzen, die von langen Sklavenzügen begleitet waren, es kamen Aemter suchende und vornehme Männer, die zu den Festen des Kaisers eingeladen waren.
Heute waren diese Treppen und Pfade gänzlich verödet. Die graugrünen Eidechsen waren die einzig lebenden Geschöpfe, welche die Greisin auf ihrem Wege sah.
Sie war bestürzt, daß alles bereits dem Verfall nahe schien. Die Krankheit des Kaisers konnte höchstens einige Monate gedauert haben, und dennoch wucherte schon Gras in den Spalten zwischen den Marmorfliesen. Edle Gewächse, die in schönen Gefäßen geprangt hatten, waren vertrocknet, und rohe Zerstörer hatten, von niemandem gehindert, an mehreren Stellen die Balustraden niedergebrochen.
Aber am seltsamsten berührte sie doch dieses gänzliche Fehlen von Menschen. Wenn es auch allen Fremdlingen verboten war, sich auf dieser Insel zu zeigen, so mußten doch wohl die endlosen Scharen von Kriegsknechten und Sklaven, von Tänzerinnen und Musikanten, von Köchen und Tafeldeckern, von Palastwachen und Gartenarbeitern, sie alle, die zum kaiserlichen Haushalt gehörten, da sein.
Erst als Faustina die oberste Terrasse erreichte, bemerkte sie ein paar alte Sklaven, die auf den Treppenstufen vor der Villa saßen. Als sie sich ihnen näherte, standen sie auf und verneigten sich tief vor ihr.
»Sei gegrüßt, Faustina!« sagte der eine. »Gott sendet Dich, unser Unheil zu mildern.«
»Was geht hier vor, Milo?« fragte Faustina. »Warum ist es hier so öde und leer? Man sagte mir doch, daß Tiberius noch immer auf Capri wohne.«
»Der Kaiser hat alle seine Sklaven weggejagt, weil er uns beargwohnt, einer habe ihm vergifteten Wein zu trinken gegeben, und dadurch sei die Krankheit entstanden. Er hätte auch mich und Tito weggejagt, wenn wir uns nicht geweigert hätten, ihm zu gehorchen. Du weißt doch, daß wir unser ganzes Leben lang dem Kaiser und seiner Mutter gedient haben.«
»Ich frage nicht nur nach seinen Sklaven. Wo sind die Senatoren und die Feldherren? Wo sind des Kaisers Vertraute und alle die Speichellecker?«
»Tiberius will sich nicht mehr vor Fremden zeigen,« sagte der Sklave. »Der Senator Lucius und Macro, der Anführer der Leibwache, kommen jeden Tag her, um seine Befehle entgegenzunehmen. Sonst darf niemand in seine Nähe kommen.«
Faustina hatte die Treppe erstiegen, um in die Villa zu gehn. Der Sklave schritt vor ihr her, und im Weitergehen fragte sie ihn:
»Was sagen die Aerzte von der Krankheit des Tiberius?«
»Keiner von ihnen versteht diese Krankheit zu behandeln. Sie wissen nicht einmal, ob das Uebel schnell oder langsam tötet. Aber ich kann Dir nur sagen, Faustina, daß Tiberius sicher sterben muß, wenn er sich, wie bisher, weigert, Nahrung zu sich zu nehmen, aus Angst vor Vergiftung. Und ich weiß auch, daß ein kranker Mensch es nicht aushalten kann, Tag und Nacht zu wachen, wie der Kaiser tut, weil er fürchtet, im Schlaf ermordet zu werden. Wenn er Dir vertrauen wollte, wie in früheren Tagen, so könnte es Dir vielleicht gelingen, ihn zum Essen und zum Schlafen zu bestimmen. Dadurch könntest Du sein Leben um viele Tage verlängern.«
Der Sklave geleitete Faustina durch viele Gänge und Höfe bis zu einer Terrasse, wo Tiberius sich aufzuhalten pflegte, um die Aussicht über die schönen Meeresbuchten und den stolzen Vesuv zu genießen.
Als Faustina die Terrasse betrat, erblickte sie ein grausiges Geschöpf mit geschwollenem Angesicht und tierischen Zügen. Seine Hände und Füße waren mit weißen Binden umwickelt, aber aus den Binden streckten sich halb abgefaulte Finger und Zehen heraus. Und die Kleidung dieses Menschen war staubig und besudelt. Man sah, daß er unfähig war, aufrecht zu gehen, und daß er nur auf der Terrasse herumkriechen konnte. Er lag mit geschlossenen Augen am fernsten Ende der Balustrade und bewegte sich nicht einmal, als der Sklave und Faustina herankamen.
Aber Faustina flüsterte dem voranschreitenden Sklaven zu: »Was bedeutet das, Milo, wie kommt ein solcher Mensch hier auf die Kaiserterrasse? Beeile Dich und schaffe ihn fort!« Doch kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als sie auch schon gewahrte, daß der Sklave sich vor dem am Boden liegenden, elenden Menschen tief zur Erde neigte.
»Cäsar Tiberius,« sprach er, »endlich habe ich Dir eine frohe Botschaft zu bringen.« Zugleich wandte sich der Sklave nach Faustina um, fuhr aber bestürzt zurück und vermochte kein Wort mehr zu reden.
Er erblickte nicht mehr die stolze Matrone, die so stark ausgesehen hatte, daß man vermuten konnte, ihr Alter würde dem einer Sibylle gleichkommen. In kraftloser Greisenhaftigkeit war sie zusammengesunken, und eine gebeugte, alte Frau mit trübem Blick und mit tastenden Händen sah der Sklave vor sich.
Zwar hatte man Faustina erzählt, daß der Kaiser schrecklich verändert sei, aber sie hatte doch keinen Moment aufgehört, sich ihn als den kräftigen Mann vorzustellen, der er noch gewesen war, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Auch hatte sie jemanden sagen hören, daß diese Krankheit langsam wirke, und daß sie eine Reihe von Jahren brauche, um einen Menschen zu entstellen. Hier jedoch war sie so reißend fortgeschritten, daß sie den Kaiser bereits nach wenigen Monaten unkenntlich gemacht hatte.
Faustina wankte auf den Kaiser zu, vermochte aber nicht zu sprechen, sondern blieb stumm und weinend neben ihm stehn.
»Bist Du nun gekommen, Faustina?« sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Hier liege ich und bilde mir ein, daß Du bei mir stehst und über mich weinst. Ich wage es nicht, aufzublicken, weil ich fürchte, es könnte ein Trug sein.«
Da setzte die Greisin sich zu ihm. Sie hob seinen Kopf und bettete ihn in ihren Schoß.
Aber Tiberius blieb ganz still liegen, ohne sie anzublicken. Ein köstliches Ruhegefühl umfing ihn, und im nächsten Augenblick versank er in tiefen Schlaf.
Einige Wochen später wanderte einer der kaiserlichen Sklaven der einsamen Hütte in den Sabinerbergen zu. Es war gegen Abend, und der Winzer stand mit seinem Weibe in der Tür, um die Sonne im fernen Westen sinken zu sehn. Der Sklave bog vom Wege ab und trat grüßend auf sie zu. Dann zog er einen mächtigen Beutel aus seinem Rocke und legte ihn in des Mannes Hand.
»Dies sendet Dir Faustina, die Greisin, gegen die Ihr barmherzig gewesen seid,« sprach der Sklave. »Sie bittet Dich, Du mögest Dir für dieses Geld einen eigenen Weinberg kaufen und eine Wohnstätte bauen, die nicht so hoch oben in den Lüften schwebt wie des Adlers Horst.«
»Also die greise Faustina lebt wirklich noch?« rief der Mann aus. »Wir haben in Klüften und Sümpfen nach ihr geforscht. Als sie nicht zu uns zurückkehrte, glaubte ich schon, sie hätte in diesen elenden Bergen ihren Tod gefunden.«
»Erinnerst Du Dich nicht,« fiel sein Weib ein, »daß ich an ihren Tod nicht glauben wollte? Habe ich Dir nicht gesagt, sie sei zum Kaiser zurückgekehrt?«
»Ja,« bestätigte der Mann, »das hast Du gesagt, und ich freue mich, daß Du recht hattest, nicht nur weil Faustina so reich genug wurde, um uns in unserer Armut beizustehen, sondern auch um des armen Kaisers willen.«
Der Sklave wollte sich nun sogleich verabschieden, um vor Einbruch der dunklen Nacht bewohnte Gegenden zu erreichen, aber die beiden Eheleute wollten es nicht zugeben. »Du mußt noch bis morgen bei uns bleiben,« baten sie. »Wir können Dich nicht heimkehren lassen, ehe Du uns alles berichtet hast, was Faustina seither erlebt hat. Warum ist sie zum Kaiser zurückgekehrt? Wie war die Begegnung? Sind sie nun glücklich, wieder vereint zu sein?«
Der Sklave gab ihren Bitten nach. Er folgte ihnen in die Hütte und erzählte beim Nachtmahl von des Kaisers Krankheit und von der Rückkehr Faustinas.
Als der Sklave seine Erzählung beendet hatte, sah er, daß die Eheleute unbeweglich, wie betäubt vor Staunen dasaßen. Ihre Blicke waren zu Boden gesenkt, als wollten sie die Erregung, die sie überwältigt hatte, nicht verraten.
Schließlich blickte der Mann auf und sprach zu seinem Weibe: »Glaubst Du nicht, daß dies göttliche Fügung ist?«
»Ja,« sprach die junge Frau, »der Herr hat uns gewiß über das Meer nach dieser Hütte gesandt. Gewiß lag dies in seiner Absicht, da er die alte Frau hier an unsere Tür führte.«
Als die Frau so gesprochen hatte, wandte sich der Winzer an den Sklaven.
»Freund!« sprach er zu ihm. »Du sollst Faustina eine Botschaft von mir überbringen. Wiederhole sie ihr Wort für Wort! Dein Freund, der Winzer aus den Sabinerbergen, entbietet Dir seinen Gruß. Du hast die junge Frau gesehen, die mein Weib ist. Erschien sie Dir nicht lieblich in ihrer Schönheit und blühend in Gesundheit? Und dennoch litt dieses junge Weib einst an derselben Krankheit, die jetzo Tiberius ergriffen hat.«
Der Sklave schüttelte verwundert den Kopf, aber der Winzer sprach mit immer wachsendem Nachdruck.
»Wenn Faustina sich weigern sollte, meinen Worten zu glauben, so sage ihr, daß ich und mein Weib aus Palästina in Asien herstammen, wo diese Krankheit häufig vorkommt! Und es gibt dort ein Gesetz, nach dem die Aussätzigen aus Städten und Dörfern verjagt werden müssen, um in öden Gegenden zu hausen und sich Wohnstätten in Gräbern und Felsenhöhlen zu suchen. Sage Faustina, daß mein Weib in solch einer Felsenhöhle von kranken Eltern geboren wurde! Und in ihrer Kindheit war sie gesund, als sie aber zur Jungfrau erblüht war, wurde sie von der Krankheit befallen.«
Als der Winzer dies gesagt hatte, neigte der Sklave freundlich lächelnd sein Haupt und sprach zu ihm: »Wie sollte Faustina dies glauben? Sie hat ja Dein Weib in seiner Gesundheit und Schönheit gesehen? Und sie weiß ja, daß es kein Heilmittel gegen die Krankheit gibt.«
Der Mann jedoch entgegnete: »Es wäre für sie das beste, wenn sie mir glauben wollte. Aber ich bin auch nicht ohne Zeugen. So mag sie Kundschafter nach Nazareth in Galiläa senden. Dort wird jedermann meine Aussage bestätigen.«
»Ist Dein Weib vielleicht durch die Wundertätigkeit irgend eines Gottes geheilt worden?« fragte der Sklave.
»Ja,« erwiderte der Arbeiter. »Es ist so gewesen, wie Du sagst. Eines Tages drang ein Gerücht bis zu den Kranken, die in der Wildnis hausten:
›Sehet, in der Stadt Nazareth, in Galiläa, ist ein großer Prophet erstanden. Er ist voll der Kraft von Gottes Geist, und er vermag Eure Krankheit zu heilen, wenn er nur mit seiner Hand Eure Stirn berührt.‹ Aber die Kranken, die in ihrem Elend dalagen, wollten nicht glauben, daß dieses Gerücht Wahrheit sei, und sie sprachen: ›Uns vermag niemand zu heilen. Seit den Tagen der großen Propheten hat niemand einen einzigen von uns aus seinem Unglück erretten können.‹
Aber es war eine unter ihnen, die da glaubte, und diese eine war eine junge Magd. Sie verließ die anderen, um sich einen Weg nach der Stadt Nazareth zu suchen, wo der Prophet seine Wohnstatt hatte. Und eines Tages, als sie über weite Ebenen wanderte, begegnete sie einem hochgewachsenen Manne mit bleichem Antlitz, dessen Haar in gleichmäßigen, schwarzen Locken herabhing. Seine dunklen Augen leuchteten wie Sterne und zogen sie zu ihm hin. Aber noch ehe sie sich trafen, rief sie ihm zu: ›Komm mir nicht nahe, denn ich bin eine Unreine! Doch sage mir, wo ich den Propheten aus Nazareth finden kann.‹ – Doch der Mann näherte sich ihr immer mehr, bis er dicht vor ihr stand, dann fragte er: ›Warum suchst Du den Propheten aus Nazareth?‹ – ›Ich suche ihn, auf daß er seine Hand an meine Stirn lege, um mich von meiner Krankheit zu heilen.‹ – Da trat der Mann auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Stirn. – Sie aber sprach zu ihm: ›Was hilft es mir, daß Du Deine Hand auf meine Stirn legst? Du bist doch kein Prophet?‹ – Da lächelte er ihr zu und sprach: ›Gehe nun zur Stadt, die dort auf dem Bergesabhang liegt, und zeige Dich den Priestern!‹
Die Kranke dachte bei sich selbst: Er spottet meiner, weil ich glaube, daß ich geheilt werden kann. Durch ihn werde ich nicht erfahren, was ich wissen möchte. Und sie ging weiter. Gleich darauf sah sie einen Mann, der zur Jagd auszog, über die weite Ebene reiten. Als er so nahe war, daß er sie hören konnte, rief sie ihm zu: ›Nähere Dich mir nicht, ich bin eine Unreine! Doch sage mir, wo ich den Propheten aus Nazareth finden kann!‹ – ›Was begehrst Du von dem Propheten?‹ fragte der Mann und ritt langsam auf sie zu. – ›Ich möchte nur, daß er seine Hand auf meine Stirn lege, damit ich von meiner Krankheit genese.‹ Aber der Mann ritt noch näher heran und fragte: ›Von welcher Krankheit wünschest Du geheilt zu werden? Du bedarfst doch keines Arztes.‹ – ›Erkennst Du denn nicht, daß ich eine Unreine bin?‹ sagte sie. ›Ich bin von kranken Eltern in einer Felsenhöhle geboren worden.‹ Doch der Mann ritt immer näher heran, denn sie war schön und rosig wie eine frisch erblühte Blume. – ›Du bist die schönste Jungfrau im Lande Judäa,‹ rief er aus. – ›Spotte nicht auch Du meiner,‹ entgegnete sie. ›Ich weiß, daß mein Angesicht zerfressen ist und meine Stimme wie das Geheul wilder Tiere.‹ Er aber blickte ihr tief in die Augen und sprach: ›Deine Stimme erklingt so hold wie das Murmeln des Frühlingsbaches, das über Kieselgestein rieselt, und Dein Antlitz ist zart wie ein weißes Seidentüchlein.‹
Gleichzeitig ritt er so nahe heran, daß sie ihr Gesicht in den blanken Beschlägen, die seinen Sattel schmückten, erkennen konnte. ›Hier kannst Du Dich spiegeln,‹ sagte er. Sie tat also und sah ein Antlitz, das zart und weich war, wie frisch entfaltete Schmetterlingsflügel. – ›Was spiegelt sich dort ab? Das ist nicht mein Gesicht.‹ – ›Ja, doch, es ist Dein Antlitz,‹ antwortete der Reiter. – ›Aber klingt meine Stimme nicht wie Röcheln? Klingt sie nicht wie das Wagenrasseln auf steinigem Wege?‹ – ›Nein, sie erklingt wie das lieblichste Lied eines Zitherspielers,‹ antwortete der Reiter.
Sie wandte sich um und wies auf den Weg hinaus. – ›Weißt Du, wer jener Mann ist, der dort eben hinter den zwei Eichen verschwindet?‹ fragte sie den Reiter. – ›Das ist ja der, nach dem Du eben fragtest, der Prophet aus Nazareth,‹ antwortete der Mann.
Da schlug sie in höchster Verwunderung die Hände zusammen, und Tränen traten in ihre Augen. – ›O, Du Heiliger! O, Du Träger von Gottes Macht!‹ rief sie aus. ›Du hast mich geheilt!‹
Und der Reiter hob sie in den Sattel und brachte sie zur Stadt auf dem Bergesabhang, ging mit ihr zu den Aeltesten und den Priestern und erzählte, wie er sie gefunden hatte. Sie alle befragten ihn ganz genau, als sie aber vernahmen, daß die Jungfrau in der Wildnis von kranken Eltern geboren sei, wollten sie nicht an ihre Heilung glauben und sprachen: ›Gehe dorthin zurück, von wannen Du gekommen bist! Wenn Du krank warst, so mußt Du Dein Leben lang diese Krankheit tragen. Du darfst nicht in diese Stadt kommen, weil Du uns mit Deiner Krankheit anstecken würdest.‹
Sie aber entgegnete ihnen: ›Ich weiß, daß ich genesen bin, denn der Prophet aus Nazareth hat seine Hand auf meine Stirn gelegt.‹
Als sie diese Worte vernahmen, riefen sie: ›Wer ist er, daß er die Unreinen zu Reinen machen könnte? Es ist alles nur ein Blendwerk der bösen Geister. Kehre zu den Deinen zurück, auf daß Du nicht uns alle ins Verderben bringst!‹
Sie wollten die Magd nicht für geheilt erklären und verboten ihr, in der Stadt zu bleiben. Und sie verkündeten, daß jeder, der ihr Schutz und Obdach gewähren würde, auch als unrein gelten solle.
Als die Priester dieses Urteil gesprochen hatten, sagte die Jungfrau zu dem Manne, der sie draußen auf dem Felde gefunden hatte: ›Wohin soll ich nun gehen? Muß ich wieder in die Wildnis hinaus zu den Kranken wandern?‹
Doch der Mann hob sie wiederum auf sein Pferd und sprach zu ihr: ›Nein, Du sollst mitnichten zu den Kranken in ihre Felsenhöhlen gehn, sondern wir beide werden mitsammen über das Meer ziehen, in ein anderes Land, das keine Gesetze für Reine und Unreine kennt. Und sie – –«
Als aber der Winzer bis hierher gekommen war, erhob sich der Sklave und unterbrach ihn. »Du, brauchst mir nichts mehr zu erzählen. Stehe lieber auf und geleite mich des Weges, denn Du kennst das Gebirge, damit ich noch in dieser Nacht den Heimweg antreten kann und nicht bis morgen warten brauche! Der Kaiser und Faustina können Deine Botschaft keinen Augenblick zu früh erfahren.«
Als der Winzer den Sklaven durch die Berge geleitet hatte und wieder seine Hütte betrat, fand er sein Weib noch wach.
»Ich kann nicht schlafen,« sagte sie. »Ich denke daran, daß die beiden sich begegnen werden. Jener, der alle Menschen liebt, und dieser, der sie alle haßt. Es ist, als müßte diese Begegnung den Lauf der Welt in andere Bahnen lenken.«
Die alte Faustina war in dem fernen Palästina, auf dem Wege nach Jerusalem. Sie hatte nicht gewollt, daß einem anderen als ihr der Auftrag anvertraut werde, den Propheten zu suchen und ihn zum Kaiser zu geleiten. Sie hatte sich dabei sicherlich gedacht: »Das, was wir von diesem fremden Manne wünschen, ist etwas, was wir ihm weder mit Gewalt noch durch Geschenke entlocken können. Doch vielleicht erfüllt er unsere Bitte, wenn ihm jemand zu Füßen sinkt und ihm die Not des Kaisers schildert. Wer aber könnte die rechte Fürbitte für Tiberius tun, wenn nicht diejenige, die durch sein Unglück ebenso bitter leidet wie er selbst?«
Die Hoffnung, Tiberius zu erretten, hatte Faustina verjüngt. Ohne Beschwerden hatte sie die lange Seefahrt nach Jaffa überstanden, und nach Jerusalem reiste sie nicht in der Sänfte, sondern zu Pferde. Sie schien die mühsame Reise ebenso gut zu ertragen wie die edlen Römer, die Kriegsknechte und die Sklaven, die ihr Gefolge bildeten.
Die Wanderung von Jaffa nach Jerusalem erfüllte das Herz der Greisin mit Freude und lichter Hoffnung. Es war um die Frühlingszeit, und die Ebene von Saron, durch die sie einen vollen Tag ritten, war ein einziger leuchtender Blumenteppich. Auch am zweiten Tage, als sie die Berge von Judäa erreicht hatten, fehlte es an Blumen nicht. Alle die vielgestaltigen Berge, zwischen denen der Weg sich hinschlängelte, waren mit Obstbäumen bepflanzt, die in reichster Blüte prangten. Und wenn die Reisenden sich an den weißrosigen Blüten der Aprikosen- und Pfirsichbäume satt gesehen hatten, konnten sie ihre Augen auf dem jungen Weinlaub ruhen lassen, das sich zwischen den schwarzbraunen Rebenstämmen hervordrängte, und dessen Wachstum so schnell war, daß man glaubte, ihm mit den Blicken folgen zu können.
Aber nicht allein die Blumen und das Frühlingsgrün machten diese Wanderung heiter. Am meisten trugen dazu alle die Menschenscharen bei, die sich an diesem Morgen auf dem Wege nach Jerusalem befanden. Von allen Nebenwegen und Stegen, von einsamen Höhen und aus den entlegensten Winkeln des Flachlandes kamen die Wanderer. Sobald sie auf der Landstraße waren, die nach Jerusalem führte, vereinigten sich die Getrennten zu großen Scharen und zogen unter frohem Jubel dahin. Ein alter Greis auf schaukelndem Kamel war von seinen Söhnen und Töchtern, seinen Schwiegertöchtern, Eidamen und Enkelkindern umgeben, die alle neben ihm hinschritten. Es war eine so große Familie, daß sie allein schon einem kleinen Heer gleichkam. Eine alte Mutter, die zum Gehen zu schwach war, wurde von ihren Söhnen auf den Armen getragen, und sie ließ es stolz geschehen, während die Menschenmenge ehrfurchtsvoll zur Seite wich.
Es war ein Morgen, der auch den Traurigsten mit Freude erfüllen konnte. Der Himmel war nicht klar, sondern mit einer schwachen, weißgrauen Wolkenschicht überzogen, aber keiner der Weggenossen dachte auch nur im entferntesten daran, sich zu beklagen, daß der stechende Sonnenglanz dadurch gedämpft war. Unter diesem verschleierten Himmel strömten die Düfte der blühenden Bäume und des frischen Laubes nicht so schnell wie sonst in die Weite hinaus, sondern schwebten ruhig über Wegen und Feldern. Und der schöne Tag. der mit seiner matten Helligkeit und seiner Windstille an die Ruhe und den Frieden der Nacht gemahnte, schien allen den vorwärts strebenden Menschen etwas von seinem Wesen mitzuteilen, so daß sie zwar fröhlich, jedoch auch feierlich dahinzogen. Sie sangen mit gedämpfter Stimme uralte Hymnen oder spielten auf seltsamen, altertümlichen Instrumenten, aus denen Töne drangen, die dem Summen der Mücken oder dem Zirpen der Grillen ähnlich waren.
Als die greise Faustina inmitten all dieser Menschen dahinritt, wurde sie von deren Eifer und Freude angesteckt. Sie trieb ihren Renner zu hurtiger Gangart, während sie zu einem jungen Römer, der neben ihr herritt, sprach: »Ich träumte heute Nacht von Tiberius. Er bat mich, diese Reise nicht aufzuschieben, sondern just heute nach Jerusalem zu ziehen. Es ist, als wollten die Götter mir eine Mahnung senden, es nicht zu verabsäumen, an diesem herrlichen Morgen dorthin zu eilen.«
Gerade in diesem Augenblick hatten sie den Gipfel eines langgestreckten Bergrückens erreicht, und dort hielt sie unwillkürlich ihr Pferd an. Vor ihr lag ein weiter, tiefer Talkessel, von herrlichen Bergen umkränzt, und aus der dunklen, schattigen Tiefe des Tales erhob sich der gewaltige Felsen, der auf seinem Gipfel die Stadt Jerusalem trug.
Aber die kleine Bergstadt, die mit ihren Mauern und Türmen gleich einem kronenartigen Geschmeide auf der flachen Felsenhöhe ruhte, war an jenem Tage tausendfach vergrößert. Alle Anhöhen um das Tal waren von bunten Zelten und Menschenscharen bedeckt.
Faustina erkannte, daß die ganze Bevölkerung des Landes sich in Jerusalem versammelte, um irgendeinen hohen Feiertag zu begehen. Die entfernter Wohnenden waren schon angelangt und hatten ihre Zelte aufgeschlagen und eingerichtet, wogegen die in der Nähe der Stadt Wohnenden erst heranzogen. Von all den lichten Bergeshöhen sah man sie kommen, wie eine ununterbrochene Flut von weißen Gewändern, Gesängen und Festfreude.
Die Greisin betrachtete eine Zeit die wogenden Menschenscharen und die langen Zeltreihen. Dann sprach sie zu dem jungen Römer, der neben ihr herritt:
»Wahrlich, Sulpicius, das ganze Volk scheint nach Jerusalem gekommen zu sein.«
»So ist es,« erwiderte der Römer, der von Tiberius zum Begleiter Faustinas ausersehen worden war, weil er mehrere Jahre in Judäa zugebracht hatte. »Sie feiern jetzt ihr großes Frühlingsfest, und zu diesem ziehen alle Menschen, ob alt, ob jung, nach Jerusalem.«
Faustina dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich freue mich, daß wir gerade an dem Tage in diese Stadt gekommen sind, wo das Volk seinen Feiertag begeht. Es ist das beste Zeichen, daß die Götter unserem Vorhaben gnädig sind. Bist Du nicht auch der Meinung, daß er, den wir suchen, der Prophet aus Nazareth, höchstwahrscheinlich auch nach Jerusalem gekommen ist, um an diesem Fest teilzunehmen?«
»Du hast recht, Faustina,« antwortete der Römer. »Er ist wahrscheinlich schon jetzt hier in Jerusalem. Das ist fürwahr eine göttliche Fügung. So kräftig und gesund Du auch bist, sollst Du Dich doch glücklich preisen, daß Du die lange und beschwerliche Wanderung nach Galiläa wohl unterlassen kannst.«
Er ritt sogleich auf einige Wanderer zu, die eben vorbeizogen, und fragte sie, ob sie glaubten, daß der Prophet aus Nazareth sich in Jerusalem aufhalte.
»Wir haben ihn alljährlich um diese Zeit dort gesehen,« antwortete einer der Wandernden: »Sicherlich ist er auch in diesem Jahr gekommen, denn er ist ein frommer und gerechter Mann.«
Ein Weib streckte die Hand aus, wies auf einen östlich von der Stadt gelegenen Berg hin und sprach: »Siehst Du dort den mit Olivenbäumen bewachsenen Bergabhang? Dort pflegen die Galiläer ihre Zelte aufzuschlagen, und dort wirst Du die sicherste Auskunft über ihn erhalten, den Du suchest.«
Sie zogen weiter, gelangten auf einem gewundenen Wege nach dem Talkessel hinunter und ritten dann den Berg Zion hinauf, um die Stadt auf seinem Gipfel zu erreichen. Der steil emporführende Weg war hier an beiden Seiten von niedrigen Mauern begrenzt, und auf diesen hockten und lagen zahllose Bettler und Krüppel, welche die Barmherzigkeit der Vorübergehenden anriefen.
Während des langsamen Aufstiegs trat eine der jüdischen Frauen auf Faustina zu und sprach, indes sie ihr einen auf der Mauer hockenden Bettler zeigte: »Sieh, dort sitzt ein galiläischer Mann. Ich entsinne mich, ihn unter den Jüngern des Propheten gesehen zu haben. Der wird Dir sagen, wo Du ihn finden kannst, den Du suchest.«
Faustina ritt mit Sulpicius auf jenen Bettler zu. Es war ein armer, alter Mann mit einem langen, halb ergrauten Bart. Sein Gesicht war von Hitze und Sonnenglut tief gebräunt, und seine Hände zeigten Arbeitsschwielen. Er verlangte nicht nach Almosen; er war so tief in kummervolle Gedanken versunken, daß er nicht einmal zu den Vorüberziehenden aufblickte.
Er vernahm es auch gar nicht, daß Sulpicius ihn anredete, so daß dieser seine Frage einigemal wiederholen mußte.
»Mein Freund, man sagte mir, Du seiest ein Galiläer. Daher bitte ich Dich, mir zu sagen, wo ich den Propheten aus Nazareth finden kann.«
Der Galiläer schrak heftig zusammen und blickte verstört umher. Als er jedoch endlich verstand, was man von ihm wollte, packte ihn ein mit Entsetzen gemischter Zorn. »Was redest Du?« schrie er ihm zu. »Warum fragst Du mich nach jenem Manne? Ich weiß nichts von ihm. Ich bin kein Galiläer.«
Nun mischte sich das jüdische Weib ins Gespräch: »Ich sah Dich doch in seiner Gesellschaft. Fürchte Dich nicht, sondern sage dieser vornehmen Römerin, die des Kaisers Freundin ist, wo sie ihn am schnellsten finden kann!«
Der entsetzte Jünger wurde jedoch immer heftiger und schrie: »Sind denn heute alle Menschen toll geworden? Ist ein böser Geist in sie gefahren, daß sie alle auf einmal kommen, um mich nach jenem Manne zu fragen? Warum will mir denn keiner glauben, wenn ich es doch versichere, daß ich diesen Propheten gar nicht kenne? Ich komme nicht aus seiner Gegend. Ich habe ihn noch niemals gesehen.«
Sein Ungestüm zog die Aufmerksamkeit auf ihn hin, und einige Bettler, die neben ihm auf der Mauer saßen, widersprachen ihm gleichfalls:
»Du gehörtest ganz sicherlich zu seinen Jüngern. Wir alle wissen, daß Du mit ihm aus Galiläa gekommen bist.«
Aber der Mann erhob beide Arme gen Himmel empor und rief: »Ich konnte es heute drinnen in Jerusalem um jenes Mannes willen nicht mehr aushalten, und nun läßt man mich nicht einmal hier draußen inmitten der Bettler in Frieden. Warum wollt Ihr es mir nicht glauben, wenn ich sage, daß ich ihn nie gesehen habe?«
Faustina wandte sich mit einem Achselzucken ab und sprach: »Laß uns weiterziehen. Dieser Mann ist wahnsinnig. Von ihm werden wir nichts erfahren können.«
Sie zogen weiter bergaufwärts. Als Faustina kaum zwei Schritte vom Stadttor entfernt war, rief die Israelitin, die ihr zur Auffindung des Propheten hatte verhelfen wollen, sie möge sich in acht nehmen. Sie zog die Zügel an und sah, daß dicht vor den Hufen ihres Pferdes ein Mann am Boden lag. Im Staube war er hingestreckt, wo das Gedränge am dichtesten war, und es war ein Wunder, daß er nicht längst von Tieren oder Menschen niedergetreten worden war.
Der Mann lag auf dem Rücken und starrte mit erloschenen, glanzlosen Augen zum Himmel empor. Er lag regungslos, obwohl die Kamele ihre schweren Füße dicht neben ihm auf den Boden setzten. Er war armselig gekleidet und obendrein mit Staub und Erde befleckt. Dazu hatte er so viel Sand über sich gebreitet, daß es den Anschein gewann, als suche er sich zu verbergen, um leichter überritten oder zerstampft zu werden.
»Was bedeutet das? Warum liegt dieser Mann hier auf dem Wege?« fragte Faustina.
Alsogleich begann der am Boden Liegende den Vorüberziehenden zuzurufen: »Brüder und Schwestern, bei Eurer Barmherzigkeit, führet Eure Pferde und Lasttiere über mich hin! Weichet mir nicht aus! Zerstampfet mich zu Staub! Ich verriet unschuldig Blut! Zerstampfet mich zu Staub!«
Sulpicius faßte Faustinas Pferd am Zügel und lenkte es beiseite. »Das ist ein Sünder, der Buße tun will,« sagte er. »Laß Dich dadurch nicht länger aufhalten! Dieses Volk ist sehr absonderlich, und man muß diese Menschen ihre eigenen Wege gehen lassen.«
Der Mann am Boden fuhr fort zu rufen: »Setzet Eure Fersen auf mein Herz! Lasset Eure Kamele meine Brust zerstampfen und die Esel ihre Hufe in meine Augen bohren!«
Doch Faustina meinte, nicht vorüberreiten zu können, ohne daß sie versuchte, den Unglücklichen zum Aufstehen zu bewegen. Sie wartete noch immer neben ihm.
Die Israelitin, die ihr schon einmal hatte beistehen wollen, drängte sich nun wieder bis zu ihr hin. »Auch dieser Mann gehörte zu den Jüngern des Propheten,« sagte sie. »Soll ich ihn nach seinem Meister fragen?«
Faustina nickte bejahend. Das Weib beugte sich über den am Boden Liegenden und fragte:
»Was habt Ihr Galiläer denn heute mit Eurem Meister getan? Ich treffe Euch auf Wegen und Stegen zerstreut, ihn aber erblicke ich nirgends.«
Aber während ihrer Frage hob der Mann im Straßenstaube sich auf seine Knie empor. »Welch ein böser Geist hat Dir eingegeben, mich nach ihm zu fragen?« sagte er mit einer Stimme, die in Verzweiflung bebte. »Du siehst doch, daß ich mich in den Straßenstaub geworfen habe, um zertreten zu werden. Ist Dir das noch nicht genug? Mußt Du nun auch noch kommen und mich fragen, was ich mit ihm getan habe?«
»Ich begreife nicht, was Du mir vorzuwerfen hast,« antwortete die Israelitin. »Ich möchte ja nur erfahren, wo Du Deinen Meister gelassen hast.«
Als sie die Frage wiederholte, sprang der Mann auf und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
»Wehe Dir, daß Du mich nicht in Frieden sterben lassen willst!« rief er. Und indem er sich durch die Volksmenge Bahn brach, die sich vor dem Stadttor zusammendrängte, stürzte er, vor Entsetzen aufheulend, von dannen, und seine zerfetzten Gewänder umflatterten ihn wie dunkle Flügel.
»Mich dünkt es, daß wir zu einem Volk von Wahnwitzigen gekommen sind,« sagte Faustina, als sie den Mann entfliehen sah. Der Anblick dieser Jünger des Propheten hatte sie tief betrübt. Konnte ein Mann, der solche Wahnsinnigen in seiner Jüngerschar hatte, etwas für den Kaiser tun?
Auch die Israelitin sah kummervoll aus und sprach mit tiefem Ernst zu Faustina:
»Gebieterin, zögere nicht den aufzusuchen, den Du finden möchtest! Ich fürchte, daß ihn ein Unglück heimgesucht hat, denn seine Jünger sind so von Sinnen, daß sie es nicht ertragen können, von ihm auch nur reden zu hören.«
Faustina ritt mit ihrem Gefolge endlich durch das Torgewölbe. Sie kamen durch enge, düstere Gassen, in denen es von Menschen wimmelte. Es schien fast unmöglich, dort vorwärts zu kommen. Mal auf mal mußten die Reitenden ihre Pferde anhalten. Die Sklaven und die Kriegsknechte bemühten sich vergeblich, den Weg frei zu machen. Die Menschen drängten sich unaufhörlich in einem dichten, unhemmbaren Strome vorbei.
»Wahrhaftig,« sprach die Greisin zu Sulpicius, »Roms Straßen sind im Vergleich mit diesen Gassen stille, ruhige Gärten zu nennen.«
Sulpicius erkannte bald, daß fast unüberwindliche Schwierigkeiten ihrer warteten, und sagte:
»Man wird in diesen überfüllten Straßen wohl leichter gehen als reiten können. Vorausgesetzt, daß Du nicht gar zu müde bist, würde ich Dir raten, bis zum Palast des Landpflegers zu Fuß zu gehen. Zwar ist es eine weite Strecke, wenn wir aber reiten sollen, so werden wir ganz gewiß nicht vor Mitternacht hingelangen.«
Faustina war sofort einverstanden. Sie stieg vom Pferde und übergab es einem der Sklaven. Dann begannen die Römer insgesamt ihre Fußwanderung durch die Stadt.
Sie gelang ihnen weit besser. Ziemlich rasch drangen sie bis zum Herzen der Stadt vor, und eben zeigte Sulpicius Faustina eine halbwegs breite Straße, die sie bald erreichen mußten.
»Sieh, Faustina, wenn wir nur erst in diese Straße gelangen, so ist es überstanden, denn sie führt uns gerade nach unserer Herberge.«
Aber als sie eben in diese Straße einbiegen wollten, stießen sie auf das ärgste Hindernis.
Denn in demselben Augenblick, da Faustina an der Straße war, die sich vom Palast des Landpflegers bis zur Pforte der Gerechtigkeit und bis nach Golgatha hinzog, geleitete das Volk dort einen Gefangenen, der hinausgeführt wurde, um ans Kreuz geschlagen zu werden. Eine Schar junger, erregter Menschen raste vor ihm her. Sie stürmten wild durch die Straße, sie streckten wie in Begeisterung die Arme empor und stießen ein unverständliches Freudengebrüll aus, weil sie bald etwas sehen sollten, was sich ihnen nicht jeden Tag darbot.
Ihnen folgten Scharen von Menschen in Seidengewändern. Sie schienen zu den vornehmsten und höchsten Personen der Stadt zu gehören. Hinter ihnen schritten Frauen, von denen viele bitterlich weinten. Eine Gruppe von Bettlern und Krüppeln stieß ein ohrenzerreißendes Geschrei aus. Die Verzweifelten riefen:
»O Gott! Rette ihn! Sende Deine Engel herab und errette ihn! Sende ihm einen Helfer in seiner bittersten Not!«
Endlich nahten einige römische Söldner auf großen Pferden. Sie wachten darüber, daß keiner aus der Volksmenge zu dem Gefangenen stürze und ihn zu befreien versuche. Gleich hinter ihnen kamen die Henkersknechte, die den Mann geleiten mußten, der gekreuzigt werden sollte. Sie hatten ihm ein großes, schweres Holzkreuz auf die Schultern geladen, er aber war zu schwach für diese Last. Sie drückte ihn so, daß sein Körper sich darunter tief zum Boden niederbeugte. Sein Haupt war so tief gesenkt, daß niemand sein Antlitz erkennen konnte.
Faustina stand am Eingang der kleinen Nebengasse und sah der schweren Wanderung des zum Tode Verurteilten zu. Staunend gewahrte sie, daß er einen Purpurmantel trug und eine Dornenkrone auf sein Haupt gedrückt worden war.
»Wer ist der Mann?« fragte sie.
Einer der Umstehenden antwortete ihr: »Das ist einer, der sich zum Kaiser machen wollte.«
»So muß er den Tod für etwas erleiden, das wenig erstrebenswert ist,« sprach die Greisin wehmütig.
Der Verurteilte wankte unter dem Kreuze. Seine Schritte wurden immer langsamer. Die Henkersknechte hatten einen Strick um seinen Leib geschlungen und begannen daran zu zerren, um ihn schneller vorwärts zu treiben. Als sie aber den Strick fester anzogen, sank der Mann um und blieb mit dem Kreuze über sich liegen.
Da entstand ein gewaltiger Lärm. Die römischen Reiter vermochten nur mit großer Mühe das Volk zurückzuhalten. Sie zogen ihre Schwerter gegen einige Frauen, die vorzudringen suchten, um dem Niedergesunkenen beizustehen. Die Henkersknechte wollten ihn mit Schlägen und Stößen zwingen, sich zu erheben, er aber vermochte es nicht des Kreuzes wegen. Schließlich packten einige von ihnen das Kreuz an, um es aufzuheben.
Da richtete er sein Haupt empor, und die greise Faustina sah sein Antlitz. Die Wangen zeigten Striemen von den Schlägen, und von seiner durch die Dornenkrone verwundeten Stirn perlten Blutstropfen herab. Das Haar hing, klebrig von Schweiß und Blut, in wirren Strähnen um sein Haupt. Seine Lippen waren fest geschlossen, bebten jedoch, als kämpften sie, um einem Schrei zu wehren. Die Augen starrten, von Tränen erfüllt, fast erloschen vor Qual und Erschöpfung.
Doch unter dem Angesicht dieses halbtoten Menschen sah die Greisin wie in einer Vision ein schönes, bleiches Antlitz mit herrlichen, majestätischen Augen und sanftmütigen Zügen, und ihr Herz erbebte plötzlich in Trauer und Rührung über des fremden Mannes Unglück und Erniedrigung.
»O, was hat man Dir getan, Du armer Mensch?« rief sie aus und trat ihm einen Schritt entgegen, während ihr Tränen in die Augen traten. Bei dieses gepeinigten Menschen Not vergaß sie ihren eigenen Gram und ihre Unruhe. Ihr wollte schier das Herz vor Mitleid brechen. Gleich den anderen Frauen wollte sie hineilen, um ihn seinen Henkern zu entreißen.
Der Hingesunkene sah, daß sie auf ihn zukam, und er kroch näher an sie heran. Es war, als ob er erwartet hätte, bei ihr Schutz zu finden gegen alle jene, die ihn verfolgten und peinigten. Er umklammerte ihre Kniee. Er schmiegte sich an sie, wie ein Kind, das bei seiner Mutter Rettung sucht.
Die Greisin beugte sich über ihn, und obwohl ihre Tränen strömten, empfand sie die seligste Freude darüber, daß er schutzflehend zu ihr gekommen war. Mit einem Arm umfaßte sie seinen Nacken, und so wie eine Mutter vor allem die Tränen ihres Kindes trocknet, legte sie ihr Schweißtuch von kühlem feinsten Linnen auf sein Angesicht, um die Tränen und das Blut fortzuwischen. Aber in diesem Augenblick hatten die Henkersknechte das Kreuz aufgehoben. Und nun kamen sie und rissen den Gefangenen an sich. Ungeduldig über die Verzögerung, schleppten sie ihn in wilder Hast fort. Dem Todgeweihten entrang sich ein Stöhnen, als man ihn von der eben gefundenen Freistatt fortriß, aber er leistete keinen Widerstand.
Faustina umklammerte ihn, um ihn zurückzuhalten, und als sie erkannte, daß ihre schwachen, alten Hände nichts vermochten, und ihn erbarmungslos fortführen sah, da überkam sie eine Empfindung, als hätte ihr jemand ihr eigenes Kind geraubt, und sie rief: »Nein, nein! Nehmt ihn mir nicht fort! Er darf nicht sterben! Es kann nicht sein, daß er sterben soll!«
Sie empfand den furchtbarsten Schmerz und Zorn, weil man ihn fortführte. Sie wollte ihm nach und mit den Henkersknechten kämpfen, um den Unglücklichen zu befreien. Aber bei dem ersten Schritt wurde sie vor Schwindel fast ohnmächtig. Sulpicius beeilte sich, sie mit seinem Arm zu stützen, um sie vor dem Umsinken zu bewahren.
Er bemerkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen kleinen, dunkeln Laden und trug sie hinein. Es gab dort weder Stühle noch Bänke, aber der Ladenbesitzer war barmherzig. Er holte einen Teppich herbei und bereitete für die Greisin ein Lager auf dem Steinboden. Sie war nicht bewußtlos, hatte aber ein so heftiges Schwindelgefühl, daß sie sich nicht aufrecht erhalten konnte, sondern sich niederlegen mußte.
»Sie hat heute einen langen Ritt hinter sich, und der Straßenlärm und das Gedränge waren zuviel für sie,« sagte Sulpicius zu dem Kaufmann. »Sie ist sehr alt, und so stark ist doch niemand, daß ihn das Alter nicht bezwingen könnte.«
»Dies ist sogar auch ein schwerer Tag für einen, der noch nicht alt ist,« entgegnete der Kaufmann. »Die Luft ist fast zu drückend beim Atmen. Es sollte mich nicht wundern, wenn ein schweres Unwetter losbräche.« Sulpicius beugte sich über die Greisin. Sie war eingeschlummert und schlief nach all der Anstrengung und all dem Aufruhr des Gemüts mit stillen, regelmäßigen Atemzügen.
Er trat in die Ladentür, um die Volksmenge zu beschauen, während er auf das Erwachen der Schläferin wartete.
Der römische Landpfleger zu Jerusalem hatte eine junge Frau, und diese träumte in der Nacht vor Faustinas Einzug in die Stadt einen langen Traum.
Ihr träumte, sie stehe auf dem Dache ihres Hauses und sehe auf den großen schönen Hofplatz hinunter, der nach morgenländischer Sitte mit Marmorfliesen ausgelegt und mit edlen Gewächsen bepflanzt war.
Auf dem Hof sah sie alle Kranken, Blinden und Lahmen der Welt versammelt. Sie sah die Pestkranken mit ihren von Beulen geschwollenen Leibern, die Aussätzigen mit halbzerfressenen Gesichtern, die Lahmen, die sich nicht bewegen konnten, sondern hilflos am Boden lagen, und alle die Siechen, die sich in Schmerzen und Qualen wanden. Und alle drängten sich zum Eingang hin, und etliche der Vordersten pochten mit harten Schlägen an die Tore des Palastes.
Schließlich sah sie, daß ein Sklave die Pforte öffnete und auf die Schwelle trat: dann vernahm sie, daß er die Siechen nach ihrem Begehren fragte.
Da antworteten sie ihm und sprachen: »Wir suchen den großen Propheten, den Gott zur Erde hinabgesandt hat. Wo ist der Prophet von Nazareth, er, der über alle Pein Macht hat? Wo ist er, der uns von allen unseren Leiden zu erlösen vermag?«
Und der Sklave antwortete ihnen in hochfahrendem, nachlässigem Tone, so wie Diener in den Palästen zu tun pflegen, wenn sie arme Fremdlinge abweisen:
»Es nützt Euch nichts, nach dem großen Propheten zu suchen. Pilatus hat ihn getötet.«
Da erhob sich unter all den Kranken ein Klagen und Jammern und Zähneknirschen, daß sie nicht imstande war, es mit anzuhören. Ihr Herz schien vor Mitleid zu zerspringen, und heiße Tränen entströmten ihren Augen. Aber sobald sie zu weinen anfing, war sie erwacht.
Bald jedoch war sie wiederum eingeschlafen, und wieder träumte ihr, sie stehe auf dem Dache ihres Hauses und blicke zum großen Hof hinab, der so geräumig war wie ein Marktplatz.
Und siehe, der Hof war voll von Menschen, die wahnsinnig und toll oder von bösen Geistern besessen waren. Und sie sah solche, die nackt waren, und andere, die sich in ihr langes Haar hüllten, und manche, die sich Strohkränze und Mäntel aus Gras geflochten hatten und Könige zu sein wähnten, und etliche waren, die auf der Erde krochen und sich für Tiere hielten, und solche, die beständig über einen Kummer weinten, dem sie keinen Namen zu geben wußten, und solche, die schwere Steine herbeischleppten, die sie für Gold ausgaben, und solche, die da meinten, daß die bösen Geister aus ihrem Munde redeten. Und sie sah, daß alle diese Menschen sich nach der Pforte des Palastes zu wälzten, und daß die in der vordersten Reihe klopften und pochten, um hinein zu gelangen.
Schließlich öffnete sich die Pforte, und ein Sklave trat auf die Schwelle und fragte: »Wonach steht Euer Verlangen?«
Da riefen sie und sprachen: »Wo ist der große Prophet von Nazareth, er, der von Gott gesandt ist, uns unsere Seele und unsere Vernunft wiederzugeben?«
Und sie vernahm die in gleichgültigstem Ton gegebene Antwort des Sklaven:
»Es nützt Euch nichts, nach dem großen Propheten zu suchen. Pilatus hat ihn getötet.«
Da er also gesprochen hatte, stießen die Wahnsinnigen einen Schrei aus, der dem Geheul wilder Tiere glich, und sie begannen in ihrer Verzweiflung sich selbst zu zerfleischen, bis ihr Blut auf den Boden troff. Und als sie, die dies träumte, all jener Menschen Verzweiflung sah, rang sie ihre Hände und wehklagte. Und ihr eigenes Klagen hatte sie erweckt.
Und abermals war sie eingeschlummert, und wieder befand sie sich im Traume auf dem Dache ihres Hauses. Und rings um sie her saßen ihre Sklavinnen, um ihr auf Zymbeln und Zithern vorzuspielen, und die Mandelbäume streuten ihre hellen Blütenblätter auf sie herab, und die Kletterrosen dufteten.
Und während sie dort saß, rief eine Stimme ihr zu: »Gehe bis zur Balustrade vor, die Dein Dach umgibt, und schaue von dort in Deinen Hof hinab.«
Sie aber weigerte sich im Traum und sprach: »Ich mag nicht noch mehr von jenen Menschen sehen, die sich heute nacht auf meinem Hof drängen.«
In demselben Augenblick hörte sie von dorther Kettengerassel und schwere Hammerschläge und ein Aufschlagen von Holz auf Holz. Ihre Sklavinnen unterbrachen ihr Spielen und Singen, liefen zur Balustrade des Daches und blickten hinunter. Auch sie selber vermochte nicht, ruhig zu sitzen, sondern folgte ihnen und blickte auf den Hof hinab.
Da sah sie, daß der Hof ihres Hauses von allen armen Gefangenen der Welt überfüllt war. Sie erblickte all jene, die sonst in dunkeln Kerkerhöhlen, in schwere Eisenketten geschlossen, verschmachteten. Sie erkannte jene, die in den finsteren Bergwerken arbeiteten und die ihre Hämmer herbeigeschleppt hatten, und sie sah die Ruderknechte der Kriegsschiffe mit ihren schweren, eisenbeschlagenen Rudern. Und jene, die zum Kreuzestod verurteilt waren, schleppten ihre Kreuze, und die enthauptet werden sollten, kamen mit ihren Richtbeilen. Und sie erblickte jene, die nach fremden Ländern in die Sklaverei geschleppt wurden, und deren Augen vor Heimweh flackerten und brannten. Sie sah all jene elenden Sklaven, die wie Lasttiere arbeiten mußten, und deren Rücken von Geißelhieben bluteten.
Alle diese Unglückseligen riefen einstimmig und sprachen: »Oeffnet, öffnet!«
Da trat der Sklave, der die Eingangspforte hütete, heraus und fragte sie: »Was ist es, wonach Ihr verlanget?«
Und sie antworteten wie die anderen: »Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der zur Erde herabgekommen ist, um den Gefangenen die Freiheit und den Sklaven das Glück wiederzugeben.«
Aber der Sklave antwortete ihnen mit müdem und gleichgültigem Ton: »Ihr werdet ihn hier nicht finden. Pilatus hat ihn getötet.«
Nach diesen Worten vermeinte sie, die träumte, einen solchen Ausbruch von Wut und Hohn unter den Unglücklichen zu vernehmen, daß der Himmel und die Erde erbebten. Sie selber war wie erstarrt vor Entsetzen, ein krampfhaftes Zittern durchfuhr ihren Leib, und sie erwachte.
Als sie nun ganz wach war, richtete sie sich in ihrem Bette auf und sprach vor sich hin: »Ich will nicht mehr träumen. Ich werde mich jetzt die ganze Nacht durch wach halten, auf daß es mir erspart sei, nochmals so Furchtbares sehen zu müssen.«
Aber fast in demselben Augenblick hatte der Schlaf sie aufs neue übermannt, sie sank in die Kissen zurück und war eingeschlummert.
Und abermals träumte sie, sie sitze auf dem Dache ihres Hauses, und ihr kleiner Sohn laufe dort oben hin und her und spiele mit seinem Ball.
Da vernahm sie eine Stimme, die zu ihr sprach: »Geh zur Balustrade, die das Dach umgibt, und sieh, wer jene sind, die wartend auf Deinem Hof stehen.«
Sie aber, die träumte, sprach vor sich hin: »Ich habe heute nacht zu viel Elend gesehen. Ich könnte es nicht mehr ertragen. Ich will bleiben, wo ich bin.«
In diesem Augenblick warf ihr Knabe den Ball so weit, daß er über die Balustrade flog, und das Kind lief hin und kletterte auf das Geländer. Da erschrak sie heftig. Sie eilte ihm nach und griff nach dem Kinde.
Dabei warf sie jedoch einen Blick hinunter und sah abermals, daß der Hof voller Menschen war.
Und es standen dort alle Menschen der Erde, die in Kriegen verwundet worden waren. Sie kamen mit verstümmelten Leibern und mit tiefen, offenen Wunden, aus denen Blut rann, so daß der ganze Hof davon überflutet war.
Und neben ihnen drängten sich dort all jene Menschen der Erde zusammen, die ihre Lieben auf den Schlachtfeldern verloren hatten. Es waren die Vaterlosen, die ihre Beschützer betrauerten, und die jungen Frauen, die nach ihren Herzlichsten riefen, und die Greisinnen, die nach ihren Söhnen seufzten.
Die Vordersten drängten sich nach der Tür hin, und ganz wie zuvor kam der Türhüter und öffnete.
Er fragte all diese in Kampf und Streit Verwundeten: »Was sucht Ihr in diesem Hause?«
Und sie antworteten: »Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der Krieg und Feindschaft abschaffen und den Frieden auf Erden bringen wird. Wir suchen ihn, der die Schwerter zu Sensen umschmieden wird und die Speere zu Winzermessern.«
Da antwortete der Sklave ein wenig ungeduldig: »Kommt nun nicht mehr wieder, mich zu plagen! Ich habe es Euch schon oft genug gesagt: Der große Prophet ist nicht hier. Pilatus hat ihn getötet.«
Dann schloß er das Tor. Doch sie, die träumte, dachte an all den Jammer, der nun laut werden würde. »Ich mag ihn nicht hören,« rief sie und stürzte von der Balustrade fort. In demselben Augenblick erwachte sie. Und nun merkte sie, daß sie vor Angst aus ihrem Bett gesprungen war und auf dem kalten Steinboden stand.
Abermals hatte sie sich vorgenommen, in dieser Nacht nicht mehr zu schlafen, und wieder hatte der Schlaf sie übermannt, so daß sie die Augen schloß und zu träumen begann.
Nochmals saß sie auf dem Dache ihres Hauses, und an ihrer Seite stand ihr Gatte. Sie erzählte ihm ihre Träume, und er machte sich darüber lustig. Da vernahmen sie wieder eine Stimme, die zu ihr sprach: »Geh und sieh die Menschen, die auf Deinem Hof warten.«
Sie aber sagte sich: »Ich will sie nicht schauen. Ich habe heute nacht schon zu viel Unglückliche gesehen.«
Da vernahm sie drei harte Schläge gegen die Pforte, und ihr Gatte trat zur Balustrade hin, um zu sehen, wer da in sein Haus eintreten wolle.
Doch kaum hatte er sich über das Geländer gebeugt, als er auch schon seiner Frau winkte, heranzukommen.
»Kennst Du wohl diesen Mann?« fragte er, hinunterweisend.
Als sie nun in den Hof hinabblickte, erkannte sie, daß es dort von Reitern und Pferden wimmelte. Sklaven waren damit beschäftigt, von Eseln und Kamelen die schweren Lasten abzuladen. Es schien, als sei ein vornehmer Reisender angelangt.
Der stand vor der Eingangspforte. Es war ein hochgewachsener, alter Mann mit breiten Schultern, der schwermütig und finster aussah.
Die Träumende erkannte den Fremdling sogleich und flüsterte ihrem Gatten zu: »Das ist Cäsar Tiberius, der nach Jerusalem gekommen ist. Kein anderer kann es sein.«
»Auch ich glaube ihn zu erkennen,« sprach ihr Mann und legte den Finger auf seine Lippen, zum Zeichen, daß sie schweigen und lauschen möge, was unten im Hof gesprochen wurde.
Sie sahen, daß der Türwächter heraustrat und den Fremdling fragte: »Wer ist es, den Du suchest?«
Und der Fremdling antwortete: »Ich suche den großen Propheten von Nazareth, dem Gott Wunderkräfte verliehen hat. Der Kaiser Tiberius ruft ihn, auf daß er ihn von einer schrecklichen Krankheit befreien möge, die kein anderer Arzt zu heilen vermag.«
Als er gesprochen hatte, neigte sich der Sklave in tiefer Demut und sprach: »Herr, zürne nicht, aber Dein Wunsch ist unerfüllbar.«
Da wandte sich der Kaiser an seine Sklaven, die unten am Hofeingang warteten, und erteilte ihnen einen Befehl.
Und die Sklaven liefen herzu. Etliche trugen in ihren Händen reiches Geschmeide, andere hielten Schalen, in denen große Mengen echter Perlen lagen, und wieder andere schleppten Säcke mit Goldmünzen.
Der Kaiser wandte sich an den Sklaven, der die Pforte hütete, und sprach: »Dies alles soll sein eigen werden, wenn er Tiberius helfen will. Allen Armen der Welt kann er damit Reichtum verleihen.«
Und der Türhüter neigte sich noch tiefer als zuvor und sprach: »Herr, zürne Deinem Knechte nicht, aber Dein Verlangen ist unerfüllbar.«
Da winkte der Kaiser abermals seinen Sklaven, und etliche von ihnen liefen herzu und brachten ein reichgesticktes Gewand, an dem ein Brustschild von Juwelen erglänzte.
Und der Kaiser sprach zu dem Sklaven: »Schau her! Was ich ihm hier biete, ist die Herrschaft über Judäa. Er soll sein Volk als dessen höchster Richter regieren. Nur soll er zuvor mir folgen, um Tiberius zu heilen.«
Und der Sklave neigte sich noch tiefer zur Erde hinab und sprach: »Herr, es steht nicht in meiner Macht, Dir zu helfen.«
Da winkte der Kaiser abermals, und seine Sklaven eilten mit einem goldenen Stirnreif und einem Purpurmantel herbei.
»Sieh,« sprach er, »dies ist des Kaisers Wille: Er gelobt, ihn zu seinem Erben einzusetzen und ihm die Herrschaft über die ganze Welt zu verleihen. Er soll die Macht haben, die ganze Erde nach dem Willen seines Gottes zu lenken. Möge er nur zuvor seine Hand ausstrecken, um Tiberius zu heilen.«
Da sank der Sklave zu des Kaisers Füßen nieder und rief mit wehklagender Stimme: »Herr, es steht nicht in meiner Macht, Dir zu gehorchen. Er, den Du suchst, weilt nicht mehr hier auf Erden. Pilatus hat ihn getötet.«
Als die junge Frau erwachte, war es schon heller, lichter Tag, und ihre Sklavinnen standen wartend bereit, um ihr beim Ankleiden dienstbar zu sein.
Sie war sehr still und nachdenklich, während man sie ankleidete, fragte jedoch schließlich die Sklavin, die ihr das Haar ordnete, ob ihr Gatte schon aufgestanden sei.
Und sie erfuhr, daß er abberufen worden sei, um über einen Verbrecher Gericht zu halten.
»Ich hätte ihn sehr gern gesprochen,« sagte die junge Frau.
»Herrin, das wird jetzt während des Verhörs schwerlich angehen. Wir werden es Dich wissen lassen, sobald es beendet ist,« entgegnete die Sklavin.
Sie schwieg nun, bis sie mit dem Ankleiden fertig war. Dann fragte sie: »Hat jemand unter Euch von dem Propheten aus Nazareth gehört?«
»Der Prophet von Nazareth ist ein jüdischer Wundermann,« antwortete rasch eine der Sklavinnen.
»Seltsam, Herrin, daß Du gerade heute nach ihm fragst,« sagte eine andere Sklavin. »Denn gerade der ist es, den die Juden zum Palast hergeführt haben, um ihn vom Landpfleger verhören zu lassen.«
Alsogleich gebot sie, daß jemand hinausgehe und nachfrage, welcher Schuld er angeklagt sei, und eine der Sklavinnen entfernte sich. Als sie zurückkehrte, berichtete sie: »Sie klagen ihn an, daß er sich zum König über dieses Land erheben wolle, und sie fordern von dem Landpfleger, daß er den Kreuzestod über ihn verhängen möge.«
Als die Gattin des Landpflegers diese Worte vernahm, entsetzte sie sich und sprach: »Ich muß mit meinem Gatten reden, sonst wird am heutigen Tage hier ein schreckliches Unglück geschehen.«
Als nun die Sklavinnen abermals versicherten, daß es unmöglich sei, erbebte sie und begann zu weinen. Und eine ihrer Dienerinnen wurde von Mitleid ergriffen und sprach: »Wenn Du eine schriftliche Botschaft an den Landpfleger senden willst, so werde ich versuchen, sie ihm zu übermitteln.«
Und alsogleich nahm sie einen Stift und schrieb einige Worte auf eine kleine Wachstafel, die man Pilatus überbrachte.
Doch ihn selber traf sie den ganzen Tag nicht allein an, denn als er die Juden abgefertigt und man den Verurteilten zum Richtplatz geführt hatte, war die Essensstunde gekommen, und Pilatus hatte zu dieser Mahlzeit einige Römer eingeladen, die in Jerusalem weilten. Der Anführer der Truppen, ein junger Meister der Beredsamkeit und noch etliche Gäste sonst waren erschienen.
Es war jedoch kein sehr frohes Mahl, denn die junge Gattin des Landpflegers saß während der ganzen Zeit stumm und betrübt dabei, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen.
Als die Tischgäste fragten, ob sie krank sei oder Kummer habe, erzählte der Landpfleger lachend von der Botschaft, die sie ihm frühmorgens übersandt hatte. Und er trieb seinen Scherz mit ihr, daß sie glauben konnte, ein römischer Landpfleger werde sich in seinem Urteilsspruch durch die Träume eines Weibes beeinflussen lassen.
Sie antwortete leise und tieftraurig: »Dies ist wahrlich kein Traum gewesen, sondern eine Mahnung, die uns von den Göttern gesandt war. Du hättest jenen Mann zum mindesten noch diesen einen Tag leben lassen sollen.«
Alle sahen, daß sie ernstlich bekümmert war. Und sie schien auch keinem Trost zugänglich zu sein, wie sehr sich die Tischgäste auch mühten, sie durch fesselnde Gespräche ihre nichtigen Träume vergessen zu machen.
Aber nach einer Weile hob jemand den Kopf und fragte: »Was ist das? Haben wir so lange bei Tisch gesessen, daß der Tag sich schon seinem Ende zuneigt?«
Nun blickten alle auf und bemerkten, daß sich eine schwache Dämmerung herabsenkte. Ganz besonders merkwürdig war es zu beobachten, wie das bunte Farbenspiel, das auf allen Dingen und Wesen der Natur ruht, langsam erlosch, so daß alles einfarbig grau erschien.
Und gleich allem anderen verloren auch ihre eigenen Gesichter die Farbe. »Wir gleichen wirklich den Toten,« sprach der junge Meister der Beredsamkeit erschauernd. »Unsere Wangen sind ja grau und unsere Lippen schwarz.«
Als die Dunkelheit immer tiefer wurde, wuchs auch das Entsetzen der jungen Frau. »Ach, Freund,« rief sie schließlich, »glaubst Du noch immer nicht, daß die Unsterblichen Dich warnen wollen? Sie zürnen, daß Du einen heiligen und schuldlosen Mann zum Tode verurteilt hast. Ich meine nun, daß er, wiewohl jetzt schon ans Kreuz geschlagen, doch ganz sicherlich noch nicht tot sein kann. Laß ihn vom Kreuze abnehmen! Mit meinen eigenen Händen will ich seine Wunden heilen. Gewähre Du es nur, daß man ihn ins Leben zurückrufe!«
Pilatus aber erwiderte lachend: »Ganz sicherlich hast Du recht, dies als ein Zeichen der Götter anzusehen. Doch keinesfalls lassen sie die Sonne ihren Schein verlieren, weil ein jüdischer Irrlehrer zum Kreuzestode verurteilt worden ist. Dagegen können wir wohl erwarten, daß bedeutsame Ereignisse eintreten werden, die das ganze Reich angehen. Wer kann es wissen, wie lange der alte Tiberius – – –«
Er sprach nicht weiter, denn die Finsternis war so tief geworden, daß er nicht einmal den vor ihm stehenden Weinpokal sehen konnte. Er unterbrach also seinen Satz und befahl den Sklaven, schleunigst einige Lampen herbeizuschaffen.
Als es so hell geworden war, daß er die Gesichter seiner Gäste zu erkennen vermochte, mußte er die Verstimmung bemerken, die auf allen lastete.
»Sieh nur,« sprach er ein wenig ärgerlich zu seiner Gattin. »Es scheint mir wirklich, daß es Dir geglückt ist, mit Deinen Träumen die frohe Stimmung unseres Kreises zu zerstören. Aber wenn es schließlich so sein muß, daß Du heute an nichts anderes zu denken vermagst, dann laß uns lieber hören, was Du geträumt hast. Erzähle uns alles, dann werden wir versuchen, die Deutung zu finden.«
Hierzu war die junge Frau sofort bereit. Und während sie Traum nach Traum erzählte, wurden die Gäste immer ernster und ernster. Sie hörten auf, ihre Becher zu leeren, und ihre Stirnen zogen sich in tiefe Falten. Der einzige, der fortfuhr zu lachen und alles für Täuschung der Sinne hielt, war der Landpfleger selber.
Als die Erzählung beendet war, sprach der junge Rhetor: »Dies ist wahrlich doch mehr als ein Traum, denn heute sah ich zwar nicht den Kaiser, jedoch seine alte Freundin Faustina in Jerusalem einziehen. Ich wundere mich nur, daß sie noch nicht im Palast des Landpflegers erschienen ist.«
»Es geht ja wirklich ein Gerücht um, daß der Kaiser an einer furchtbaren Krankheit leide,« erzählte der Anführer der Truppen. »Auch mir erscheint es glaublich, daß der Traum Deiner Gattin eine von den Göttern gesandte Warnung sein könnte.«
»Es wäre nicht unmöglich, daß Tiberius Boten hergesandt hätte, um den Propheten an sein Krankenlager zu berufen,« stimmte der junge Rhetor bei.
Der Anführer der Truppen wandte sich mit tiefem Ernst an Pilatus: »Falls der Kaiser wirklich auf den Einfall gekommen ist, diesen Wundertäter zu sich rufen zu lassen, so wäre es besser für Dich und für uns alle, daß er ihn lebend vorfände.«
Pilatus entgegnete halb zornig: »Ist es diese Finsternis, die Euch zu Kindern gemacht hat? Man könnte wirklich glauben, daß Ihr alle seiet in Traumdeuter und Propheten verwandelt worden.«
Jedoch der Hauptmann wurde immer dringender und sprach: »Vielleicht ließe sich noch jetzt das Leben dieses Mannes retten, wenn Du eiligst einen Boten ausschickst.«
»Ihr wollt mich also zu einem Narren machen,« antwortete der Landpfleger. »Sagt selber, wohin würde es in diesem Lande mit Recht und Ordnung kommen, wenn man in Erfahrung brächte, daß der Landpfleger einen Verbrecher begnadigte, weil seine Frau einen bösen Traum hatte?«
»Es ist aber doch Wahrheit und kein Traum, daß ich Faustina in Jerusalem gesehen habe,« warf der junge Rhetor ein.
»Ich übernehme es, mein Vorgehen in dieser Sache dem Kaiser gegenüber zu vertreten,« sprach Pilatus. »Er wird einsehen, daß dieser Schwärmer, der sich ohne jede Gegenwehr von meinen Knechten mißhandeln ließ, nicht die Macht besessen hätte, ihm zu helfen.«
Sobald diese Worte gefallen waren, erdröhnte das ganze Haus wie von einem heftig grollenden Donnerschlage, und ein Erdbeben machte den Boden erzittern. Der Palast des Landpflegers blieb zwar unbeschädigt stehen, aber einige Minuten später hörte man von allen Seiten das schreckenerregende Getöse von zusammenstürzenden Häusern und zu Boden fallenden Pfeilern und Säulen.
Sobald eine Menschenstimme sich vernehmlich machen konnte, rief der Landpfleger einen Sklaven herbei. »Eile zum Richtplatz hinaus und befiehl in meinem Namen, daß der Prophet aus Nazareth vom Kreuze genommen werde!«
Der Sklave eilte fort. Die Tischgesellschaft begab sich vom Speisesaal nach dem Peristyl, um unter freiem Himmel zu sein, falls das Erdbeben sich wiederholen sollte. Niemand wagte ein Wort zu äußern, während sie die Wiederkehr des Sklaven erharrten.
Er kam sehr bald zurück und blieb vor dem Landpfleger stehen.
»Du fandest ihn noch lebend?« fragte dieser.
»Herr, er war dahingeschieden. Und in demselben Augenblick, als er den Geist aufgab, hat das Erdbeben eingesetzt.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als man von der Außenpforte her einige harte Schläge vernahm. Bei diesen Schlägen zuckte jeder zusammen, und alle sprangen auf, als hätte ein zweites Erdbeben die Stadt erschüttert.
Gleich darauf kam ein Sklave.
»Die edle Faustina und Sulpicius, des Kaisers Angehörige, entbieten Dir ihren Gruß. Sie sind mit der Bitte hergekommen, Du mögest ihnen helfen, den Propheten von Nazareth aufzusuchen.«
Im Peristyl erhob sich ein leises Gemurmel, und man vernahm gedämpfte Schritte. Als der Landpfleger umherblickte, erkannte er, daß seine Freunde von ihm gewichen waren, wie von einem, der dem Unheil verfallen ist.
Die alte Faustina war in Capri ans Land gestiegen und begab sich zum Kaiser. Sie berichtete ihm, was sie erlebt hatte, und wagte kaum ihn anzuschauen. Während ihrer Abwesenheit hatte die Krankheit grauenhafte Fortschritte gemacht, und sie sagte sich: »Gäbe es bei den Himmlischen Barmherzigkeit, so hätten sie mich sterben lassen, um mich davor zu bewahren, diesem armen, gepeinigten Menschen sagen zu müssen, daß nun alle Hoffnung dahin ist.«
Doch zu ihrem Staunen hörte Tiberius sie mit der größten Gleichgültigkeit an. Als sie ihm nun berichtete, daß gerade am Tage ihrer Ankunft in Jerusalem der große Wundertäter gekreuzigt worden sei, und wie nahe daran sie gewesen sei, ihn zu erretten, da begann sie unter dem Druck ihrer getäuschten Hoffnung bitterlich zu weinen.
Aber Tiberius sagte nur: »Darüber grämst Du Dich also wirklich? Ach, Faustina, ein ganzes in Rom verbrachtes Leben hat Dich nicht von dem Glauben an Zauberer und Wundertäter befreit, den Du während Deiner Kindheit in den Sabinerbergen mit der Luft eingeatmet hast?«
Da erkannte die Greisin, daß Tiberius niemals Hilfe von dem Propheten aus Nazareth erwartet hatte.
»Weshalb hast Du mich also diese Fahrt nach dem fernen Lande unternehmen lassen, wenn Du sie überhaupt für ganz nutzlos hieltest?«
»Du bist mein einziger Freund,« antwortete der Kaiser. »Weshalb sollte ich Dir eine Bitte abschlagen, solange ich noch die Macht habe, sie zu erfüllen?«
Doch es kränkte die Greisin, daß der Kaiser ihrer gespottet hatte.
»Sieh, das ist Deine alte Tücke,« rief sie aufbrausend. »Gerade das kann ich am wenigsten an Dir leiden.«
»Du hättest nicht zu mir zurückkehren sollen,« sagte Tiberius. »In Deinen Bergen hättest Du fortan bleiben müssen.«
Einen Augenblick schien es, als sollten die beiden, die so oft aneinandergeraten waren, wieder einen Streit ausfechten, doch die Heftigkeit der Greisin legte sich alsbald. Die Zeiten waren entschwunden, in denen sie ernstlich mit dem Kaiser hadern konnte. Sie senkte die Stimme, konnte aber nicht gänzlich auf den Versuch verzichten, dennoch recht zu behalten.
»Dieser Mann ist in Wahrheit ein Prophet gewesen,« sprach sie. »Ich habe ihn gesehen. Als sein Blick dem meinen begegnete, glaubte ich, er sei ein Gott. Ich muß wahnsinnig gewesen sein, als ich ihn in den Tod gehen ließ.«
»Ich bin froh, daß Du ihn sterben ließest,« entgegnete Tiberius. »Er war ein Majestätsverbrecher und ein Aufwiegler.«
Faustina war nahe daran, wieder vom Zorn übermannt zu werden.
»Ich habe in Jerusalem mit vielen seiner Freunde von ihm gesprochen,« warf sie ein. »Er hat niemals die Verbrechen begangen, deren man ihn anklagte.«
»Sollte er auch nicht gerade diese Verbrechen begangen haben, so war er doch wohl keinesfalls besser als irgendein anderer Mensch,« sprach der Kaiser in mattem Tone. »Wo wäre wohl der Mensch zu finden, der während seiner Lebenszeit nicht tausendfach den Tod verdient hätte?«
Diese Worte des Kaisers bestimmten nun Faustina etwas zu tun, wozu sie sich bis dahin noch nicht hatte entschließen können. »Ich werde Dir also einen Beweis für seine Macht geben,« sprach sie. »Eben erzählte ich Dir, daß ich mein Schweißtuch über sein Antlitz gebreitet hatte. Es ist dasselbe Tuch, das ich jetzt hier in meiner Hand halte. Willst Du es einen Augenblick betrachten?«
Sie breitete das Tuch vor dem Kaiser aus, und er erblickte dort den schattengleichen Abriß eines Menschenangesichts.
Die Stimme der Greisin bebte vor Rührung, als sie weiterberichtete: »Jener Mann erkannte, daß ich ihn liebte. Ich weiß nicht, durch welche Macht er es vermochte, mir sein Bild zu hinterlassen. Doch bei seinem Anblick füllen sich meine Augen mit Tränen.«
Der Kaiser beugte sich vor und betrachtete das Bild, das aus Blut und Tränen und den schwarzen Schatten der Leiden gestaltet zu sein schien. Und allmählich trat das ganze Antlitz deutlich hervor, wie es sich dem Schweißtuch eingeprägt hatte. Er erkannte die Blutstropfen auf der Stirn, die stachlichte Dornenkrone, das von Blut verklebte Haar und den Mund, dessen Lippen vor Leiden zu beben schienen.
Immer tiefer beugte er sich auf das Bild hinab. Klarer und klarer trat das Antlitz hervor. Aus den schattenhaften Linien sah er plötzlich die Augen wie von verborgenem Leben erstrahlen. Und während sie ihm das furchtbarste Leid offenbarten, zeigten sie ihm eine Reinheit und Hoheit, wie er sie nimmer zuvor erschaut hatte.
Er lag auf seiner Ruhebank und sog dieses Bild mit den Blicken ein. »Ist dies ein Mensch?« flüsterte er leise und weich. »Ist dies ein Mensch?«
Dann lag er wieder still da und versenkte sich in das Anschauen des Bildes. Tränen strömten über seine Wangen herab. »Ich betraure Deinen Tod, Du Ungekannter,« flüsterte er. Schließlich rief er aus:
»Faustina, warum hast Du diesen Mann sterben lassen? Er würde mich geheilt haben.«
Und wieder versank er in Betrachtung des Bildes.
»Du Mensch!« sprach er nach einer Weile. »Kann ich auch nicht mehr durch Dich erlöst werden, so kann ich Dich doch rächen. Meine Hand wird schwer auf jenen lasten, die mich Deiner beraubt haben.«
Wieder lag er eine geraume Zeit still da, dann aber ließ er sich zur Erde hinabgleiten und sank vor dem Bilde auf die Knie.
»Du bist ein Mensch,« sagte er. »Du bist der, dessen ansichtig zu werden ich nimmer glaubte.« Er wies auf sich, sein zerstörtes Gesicht und seine von Eiter zerfressenen Hände. »Ich und alle anderen, wir sind Raubtiere und Ungeheuer, aber Du bist ein Mensch.«
Er beugte den Kopf so tief vor dem Bilde, daß er den Boden berührte. »Erbarme Dich meiner, Du Ungekannter!« flehte er, und seine Tränen benetzten die Steine.
»Wenn Du noch lebtest, so würde Dein Anblick allein mich heilen,« sprach er dann wieder.
Die arme, alte Faustina erschrak darüber, was sie getan hatte. Sie dachte, daß es klüger gewesen wäre, hätte sie dem Kaiser das Bild nicht gezeigt. Von Anfang an hatte sie gefürchtet, daß sein Kummer zu übermächtig sein würde, wenn er es zu sehen bekäme.
Und in ihrer Verzweiflung über des Kaisers Kummer riß sie das Bild an sich, als wollte sie ihm dessen Anblick entziehen.
Da sah der Kaiser auf. Und siehe da, seine Gesichtszüge hatten sich gänzlich verwandelt, und er war wieder so wie vor seiner Krankheit. Es war, als hätte dieses Leiden seine Wurzel und Nahrung einzig und allein in dem Haß und der Menschenverachtung gehabt, die sein Herz erfüllten, und als hätte die Krankheit in demselben Augenblick weichen müssen, in dem er Liebe und Mitleid empfand.
Am nächsten Tage sandte Tiberius drei Boten aus. Der erste Bote ging nach Rom mit dem Befehl, daß der Senat eine Untersuchung anstellen solle, wie der Landpfleger in Palästina sein Amt verwalte, und ihn bestrafe, wenn es sich erweisen sollte, daß er das Volk unterdrücke und Unschuldige zum Tode verurteile.
Der zweite Bote wanderte zu dem Winzer und seiner Frau, um ihnen zu danken und sie für den Rat zu belohnen, den sie dem Kaiser erteilt hatten. Auch sollte er ihnen berichten, wie alles abgelaufen war.
Als sie dies vernommen hatten, weinten sie leise, und der Mann sprach: »Ich bin sicher, daß ich mein Leben lang darüber nachgrübeln werde, was geschehen wäre, wenn die beiden sich begegnet wären.« Aber die Frau erwiderte: »Es konnte nicht sein. Schon der Gedanke, daß die beiden sich begegnen sollten, wäre unfaßlich. Gott, der Herr, wußte, daß die Welt dazu nicht reif war.«
Der dritte Bote ging nach Palästina und brachte einige von Jesu Jüngern nach Capri, wo diese die Lehre zu verkündigen begannen, die der Gekreuzigte gepredigt hatte.
Als diese Jünger in Capri landeten, lag die alte Faustina auf dem Sterbebette. Aber sie konnten die Greisin noch vor ihrem Tode zur Bekennerin des großen Propheten weihen und taufen. Und in der Taufe erhielt sie den Namen Veronika, weil es ihr beschieden war, der Menschheit das wahre Abbild ihres Heilands und Erlösers zu überliefern.