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Es waren einmal arme Leute, ein Mann, ein Weib und deren kleiner Sohn. Die gingen in dem großen Tempel zu Jerusalem umher. Der Sohn war ein ungewöhnlich schönes Kind. Er hatte weichgelocktes, langes Haar und seine Augen strahlten wie Sterne.
Man hatte ihn nicht eher in den Tempel gebracht, als bis er groß genug war, um alles zu begreifen, was er dort sah, und nun waren seine Eltern mit ihm gekommen, ihm alle die Pracht und Herrlichkeit zu zeigen. Da gab es lange Reihen von Säulen und vergoldete Altäre, da gab es heilige Männer, die ihre Schüler belehrten, da war der Hohepriester mit seinem Brustschild von Edelsteinen, da gab es Vorhänge aus Babylon, die mit goldenen Rosen durchwirkt waren, da sah man die mächtigen Kupferpforten, die so schwer waren, daß dreißig Männer Mühe hatten, sie in ihren Angeln hin und herzuschwingen.
Aber der Knabe, der erst zwölf Jahre war, machte sich nicht viel daraus, all dies zu sehn. Seine Mutter erzählte ihm, daß alles, was sie ihm hier zeigten, das Merkwürdigste auf dieser Welt sei. Sie sagte ihm, es würde nun wohl sehr lange dauern, ehe er noch einmal so etwas zu sehen bekäme. In dem ärmlichen Nazareth, wo sie wohnten, konnte man nur die grauen Gassen angucken.
Doch ihre Ermahnungen halfen nicht recht. Der kleine Knabe sah so aus, als würde er gern aus dem herrlichen Tempel fortlaufen, wenn er nur in den engen Gassen von Nazareth hätte spielen dürfen.
Seltsam aber war, daß die Eltern immer vergnügter und froher wurden, je gleichgültiger der Knabe sich gebärdete. Sie winkten einander über seinen Kopf hinweg zu und waren eitel Zufriedenheit.
Schließlich sah der Kleine so matt und erschöpft aus, daß die Mutter glaubte, man hätte ihm zuviel zugemutet, und sie sprach: »Wir sind zu lange mit Dir umhergegangen. Komm, Du mußt Dich nun ein Weilchen gut ausruhen!«
Sie setzte sich an einer Säule nieder und sagte ihm, er solle sich auf die Erde legen und den Kopf in ihren Schoß betten. Das tat er auch und schlummerte sofort ein. Gleich darauf sagte die Frau zu dem Manne: »Ich habe mich vor nichts so geängstigt, wie vor der Stunde, die ihn in den Tempel von Jerusalem führen sollte. Ich glaubte, er würde für immer hier bleiben wollen, sobald er das Gotteshaus zu sehen bekäme.«
Und der Mann sprach: »Auch ich habe diese Reise gefürchtet. Zur Zeit seiner Geburt geschahen viele Zeichen und Wunder, die darauf hindeuteten, daß er ein mächtiger Herrscher werden soll. Aber was könnte die Königswürde ihm wohl anderes bringen als Sorgen und Gefahren? Ich habe es stets gesagt, daß es für ihn und für uns das beste wäre, wenn er nichts anderes würde als ein einfacher Zimmermann in Nazareth.«
»Seit seinem fünften Jahr«, antwortete die Mutter bedächtig, »sind keine Wunder um seinetwillen geschehen. Und er selber erinnert sich an nichts von alledem, was in seiner frühen Kindheit sich zugetragen hat. Er ist jetzt ganz wie ein Kind unter Kindern. Gottes Wille geschehe, aber ich fange fast an zu hoffen, daß der Herr in seiner Gnade einen anderen für die großen Schicksale auserwählen wird und mein Sohn bei mir bleiben darf.«
»Was mich betrifft,« sagte der Mann, »so bin ich sicher, daß wir nicht zu bangen brauchen, wenn er nur nichts von den Zeichen und Wundern erfährt, die sich in seinen ersten Lebensjahren begeben haben.«
»Ich spreche mit ihm niemals über all das Wunderbare,« sagte die Frau. »Dennoch fürchte ich stets, daß sich ohne mein Dazutun irgend etwas ereignen könnte, was ihn darüber aufklären wird, wer er ist. Vor allem fürchtete ich, ihn in diesen Tempel zu bringen.«
»Du kannst Dich freuen, daß die Gefahr überstanden ist,« entgegnete der Mann. »Bald haben wir ihn wieder bei uns in Nazareth.«
»Ich habe mich vor den Weisen im Tempel gefürchtet,« sprach die Frau. »Ich hatte Angst vor den Wahrsagern, die hier auf ihren Betteppichen sitzen. Ich glaubte, wenn er ihnen vor Augen käme, würden sie sich erheben, sich vor dem Kinde neigen und es als den König des Landes Judäa grüßen. Es ist sonderbar, daß sie seine Herrlichkeit nicht erkennen. Ist ihnen doch ein solches Kind noch niemals vor Augen gekommen!«
Eine Weile saß sie schweigend da und betrachtete das Kind. »Ich kann es kaum verstehen,« sagte sie schließlich. »Ich glaubte, wenn er diese Richter zu sehen bekäme, die im Hause des Geheiligten sitzen, um die Zwistigkeiten der Leute zu schlichten, und diese Lehrer, die zu ihren Schülern reden, und diese Priester, die dem Herrn dienen, so würde er aufwachen und sagen: ›Hier ist es, um hier unter diesen Richtern, diesen Lehrern, diesen Priestern zu leben, bin ich geboren worden.‹«
»Was wäre das wohl für ein Glück, inmitten dieser Säulengänge eingesperrt zu sitzen?« unterbrach sie der Mann. »Für ihn ist es besser, auf den Hügeln und Bergen bei Nazareth umherzuschweifen.«
Die Mutter seufzte ein wenig und sprach: »Bei uns daheim ist er so glücklich. Wie zufrieden ist er, wenn er den Schafherden auf ihren einsamen Wanderungen folgen darf, oder wenn er auf die Felder hinausgehen kann, um der Arbeit der Landleute zuzuschauen! Ich kann es nicht glauben, daß wir unrecht gegen ihn handeln, wenn wir ihn für uns selber zu behalten suchen.«
»Wir ersparen ihm nur das größte Leid,« antwortete der Mann.
Sie fuhren fort, sich in dieser Weise zu unterhalten, bis das Kind aus seinem Schlummer erwachte.
»Sieh da,« rief die Mutter, »hast Du Dich nun gut ausgeruht? Steh auf, denn der Tag neigt sich, und wir müssen zu unserem Zeltlager zurückkehren.«
Sie befanden sich im entlegensten Teil des Tempelgebäudes, als sie dem Ausgang zustrebten.
Einige Augenblicke später mußten sie ein altes Gewölbe durchwandern, das noch aus jener Zeit herstammte, als zum erstenmal ein Tempel an dieser Stelle errichtet worden war, und dort stand, an eine Wand gelehnt, ein altes Flügelhorn aus Kupfer. Es war ungeheuer lang und schwer und glich fast einer Säule, die man an den Mund setzen sollte, um darauf zu blasen. Es stand dort verbeult und zerschrammt, innen und außen voller Staub und Spinngewebe und von einem kaum sichtbaren Pergamentstreifen umschlungen, den altertümliche Buchstaben bedeckten. Es mochten wohl tausend Jahre vergangen sein, seit jemand versucht hatte, einen Ton daraus hervorzulocken.
Als aber der kleine Knabe das riesige Horn erblickte, blieb er verwundert stehen und fragte: »Was ist das?«
»Das ist das große Horn, das die Stimme des Weltenfürsten genannt wird,« antwortete die Mutter. »Mit diesem Horn rief Moses die in der Wüste zerstreuten Kinder Israel zusammen. Nach seiner Zeit hat niemand mehr vermocht, ihm einen einzigen Ton zu entlocken. Aber er, der dies vermag, wird einst kommen und alle Völker der Erde unter seiner Herrschaft vereinigen.«
Sie lächelte bei diesen Worten, denn sie hielt die Weissagung für ein altes Märchen. Aber der kleine Knabe blieb vor dem großen Horn stehen, bis sie ihn wegrief. Er wäre gern noch dageblieben, um es recht lange und gründlich zu betrachten, denn gerade das Horn gefiel ihm am besten von allem, was er bisher in dem Tempel gesehen hatte.
Sie waren noch nicht lange gegangen, als sie in einen großen, weiten Tempelhof kamen. Hier lag im Felsengrunde eine tiefe, breite Schlucht, die noch aus der Urzeit stammte. König Salomo hatte die Untiefe nicht ausfüllen lassen wollen, als er den Tempel auf diesem Felsen erbaute. Er hatte keine Brücke darüber schlagen lassen, kein Geländer vor der abschüssigen, jähen Tiefe errichtet. Statt dessen hatte er eine scharfgeschliffene Stahlklinge, die mehrere Ellen lang war, mit der Schneide nach oben über den Abgrund spannen lassen. Und nun, nach einer Unendlichkeit von Jahren und Wechselfällen, lag die Klinge noch immer über der tiefen Schlucht. Aber sie war nun beinahe verrostet und nicht mehr sicher an ihren Endpunkten befestigt, so daß sie schwankte und schaukelte, sobald jemand mit schwerem Schritt über den Tempelhof ging. Als die Mutter den Knaben auf einem Umweg an dem Abgrund vorbeiführte, fragte er sie: »Was für eine Brücke ist das?«
»Die ist von König Salomo angelegt worden,« antwortete die Mutter, »und wir nennen sie die Paradiesbrücke. Wenn Du auf der schwankenden Brücke, deren Scheide dünner ist als ein Sonnenstrahl, den Abgrund überschreiten kannst, so bist Du sicher, ins Paradies zu kommen.« Und sie lächelte und eilte weiter, aber der Knabe blieb stehen und betrachtete die feine, schwankende Stahlklinge, bis die Mutter ihn rief.
Als er ihr folgte, seufzte er darüber, daß sie ihm die beiden wunderbaren Dinge nicht schon früher gezeigt hatte, wo er noch Zeit genug gehabt hätte, sie gut zu betrachten. Sie gingen nun, ohne sich aufzuhalten, bis sie zu dem mächtigen Eingangsportikus mit seinen fünffachen Säulenreihen gelangten. In einer Ecke standen dort zwei Säulen von schwarzem Marmor, die auf demselben Postament so nahe aneinander errichtet waren, daß sich kaum ein Strohhalm dazwischen durchschieben ließ. Sie waren hoch und majestätisch, mit reich geschmückten Kapitälen gekrönt, um die sich eine Reihe seltsam geformter Tierköpfe hinzog. Aber nicht ein Zoll breit dieser herrlichen Säulen war ohne Schrammen und Risse, sie waren beschädigt und abgenutzt wie nichts sonst im Tempel. Selbst der Steinboden war an dieser Stelle blankgescheuert und ein wenig vertieft durch die Reibung, die von den Tritten zahlloser Füße erzeugt worden war.
Und wieder hielt der Knabe seine Mutter zurück und fragte sie: »Was sind das für Säulen?«
»Das sind Säulen, die unser Erzvater Abraham aus dem fernen Chaldäa nach Palästina hergebracht hatte, und die er die Pforte der Gerechtigkeit nannte. Wer sich zwischen ihnen durchzudrängen vermag, der ist gerecht vor Gott und hat niemals eine Sünde begangen.«
Der Knabe blieb stehen und blickte mit großen Augen die Säulen an.
»Du willst doch nicht etwa versuchen, Dich zwischen ihnen durchzudrängen?« fragte die Mutter und lachte. »Du siehst, wie der Steinboden um sie her von den vielen Menschen abgenutzt ist, die es versucht haben, sich durch den schmalen Spalt zu zwängen, aber Du kannst mir glauben, daß es keinem einzigen geglückt ist. Doch jetzt beeile Dich! Ich höre das Dröhnen der Kupfertore. Die dreißig Tempeldiener stemmen ihre Schultern dagegen, um sie in Bewegung zu setzen.«
Der kleine Knabe jedoch lag die ganze Nacht im Zelt wach auf seinem Lager und sah nichts anderes vor sich als die Pforte der Gerechtigkeit, die Paradiesbrücke und die Stimme des Weltenfürsten. Niemals zuvor hatte er von so wunderbaren Dingen gehört. Und er konnte sich der Gedanken daran nicht entschlagen. Am nächsten Morgen war es ebenso. Er vermochte an nichts anderes zu denken. Heute sollten sie die Heimreise antreten. Die Eltern hatten sehr viel damit zu tun, ihr Zelt abzubrechen, um es auf dem Kamel zu verladen, auch war noch mancherlei zu ordnen. Sie sollten nicht allein reisen, sondern in Gesellschaft vieler Verwandten und Nachbarn, und da so viele Leute mit dabei waren, ging ihnen das Einpacken sehr langsam von der Hand.
Der kleine Knabe half nicht bei der Arbeit, sondern saß ganz still in all dem Wirrwarr und Jagen und dachte an die drei wunderbaren Dinge.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er noch genügend Zeit hätte, um in den Tempel zu gehen und die drei Wunderdinge noch einmal zu betrachten. Es war noch sehr viel einzupacken. Er konnte vor dem Aufbruch recht gut zurück sein. Schnell eilte er von dannen, ohne jemandem zu sagen, was er vorhatte. Er glaubte, es sei nicht notwendig. Er würde ja bald zurückkehren.
Auch dauerte es nicht lange, bis er den Tempel erreichte, und er trat in die Säulenhalle, in der die beiden schwarzen Marmorsäulen standen.
Sobald er sie erblickte, strahlten seine Augen vor Freude. Er setzte sich auf den Steinboden neben ihnen nieder und starrte zu ihnen empor. Als er daran dachte, daß jemand, der sich zwischen diesen zwei Säulen durchdrängen könnte, vor Gott gerecht sei und niemals eine Sünde begangen habe, vermeinte er, noch niemals etwas so Wundersames gesehen zu haben.
Er dachte daran, wie herrlich es sein müßte, sich zwischen diesen beiden Säulen hindurchzuzwängen, aber sie standen so dicht beieinander, daß es unmöglich war, es auch nur zu versuchen. Ohne daß er es wußte, saß er wohl eine Stunde lang unbeweglich vor den Säulen. Er aber glaubte, daß er sie nur einige Augenblicke betrachtet habe.
Nun begab es sich, daß dort in der Säulenhalle, wo der kleine Knabe saß, die Richter des Hohen Rates versammelt waren, um in den Streitsachen des Volkes zu richten. Die ganze Halle war voll von Menschen. Einige klagten über verschobene Grenzsteine, andere über den Raub von Schafen, die man aus der Herde weggeführt und mit falschen Zeichen versehen hatte, manche verklagten Schuldner, die nicht bezahlen wollten. Unter all den anderen befand sich auch ein reicher Mann in schleppenden Purpurgewändern. Er führte eine arme Witwe vor Gericht, die ihm einige Sekel Silber schuldig sein sollte. Die arme Witwe jammerte und sagte, der reiche Mann tue ihr unrecht. Sie habe ihm bereits einmal ihre Schuld bezahlt, nun wolle er sie nochmals dazu zwingen, aber das vermöge sie nicht. Sie sei so arm, daß sie, falls die Richter sie zur Zahlung verurteilten, gezwungen wäre, ihre Töchter dem reichen Manne als Sklavinnen zu überlassen.
Der Höchste im Rat wandte sich an den reichen Mann und sprach zu ihm: »Wagst Du einen Eid darauf zu leisten, daß dieses arme Weib Dir das Geld noch nicht bezahlt hat?«
Da antwortete der Reiche: »Herr, ich bin ein reicher Mann. Würde ich mir die Mühe machen, mein Geld von dieser armen Witwe zu verlangen, wenn ich nicht das Recht dazu hätte? Ich schwöre es Dir, so wahr und gewiß niemals jemand durch die Pforte der Gerechtigkeit schreiten wird, so gewißlich ist diese Frau mir die Summe schuldig, die ich verlange.«
Als die Richter diesen Eid vernommen hatten, glaubten sie seiner Rede und verurteilten die arme Witwe dazu, ihm ihre Töchter als Sklavinnen zu übergeben. Aber der kleine Knabe saß dicht daneben und hatte alles gehört. Er sagte sich: »Wie gut wäre es doch, wenn jemand durch die Pforte der Gerechtigkeit gelangen könnte! Dieser reiche Mann hat gewiß nicht die Wahrheit geredet. Wie schrecklich ist es für die alte Frau, ihre Töchter zu Sklavinnen hergeben zu müssen.« Er sprang auf das Piedestal, auf dem sich die beiden Säulen erhoben, und blickte durch den zwischen ihnen befindlichen Spalt.
»Ach, daß es doch nicht so unmöglich wäre!« seufzte er. Dies arme Weib dauerte ihn so sehr. Er dachte jetzt gar nicht daran, daß jeder, der sich durch diese Pforte zu zwängen vermochte, gerecht und sündenlos wäre. Nur um des armen Weibes willen wünschte er es zu vollbringen. Er stemmte seine Schulter zwischen die Vertiefung, als wolle er sich einen Weg bahnen.
In diesem Augenblick schauten alle dort anwesenden Menschen nach der Pforte der Gerechtigkeit hin. Denn es dröhnte in dem Gewölbe, und es sang in den alten Säulen, die sich auseinander schoben, eine zur rechten und eine zur linken Seite, und sie ließen gerade so viel Raum frei, daß der schlanke Körper des Knaben zwischen ihnen hindurchgleiten konnte.
Das erregte die höchste Verwunderung und großes Aufsehen. Im ersten Augenblick waren alle sprachlos. Die Leute starrten nur beständig den kleinen Knaben an, der ein so großes Wunder vollbracht hatte. Der Aelteste unter den Richtern faßte sich zuerst. Er befahl, den reichen Kaufmann zu ergreifen und vor den Hohen Rat zu führen. Und er verurteilte ihn, seine ganze Habe der armen Witwe zu übergeben, weil er in Gottes Tempel einen falschen Eid geschworen hatte.
Da dies abgetan war, fragte der Richter nach dem Knaben, der sich durch die Pforte der Gerechtigkeit gedrängt hatte, aber als die Menschen nach ihm Umschau hielten, da war er verschwunden. Denn in demselben Augenblick, da die Säulen auseinanderglitten, war er wie aus einem Traum erwacht und hatte sich seiner Eltern und der Heimkehr erinnert. »Jetzt muß ich mich aber beeilen, damit die Eltern nicht auf mich warten müssen,« sagte er sich. Er wußte aber gar nicht, daß er eine ganze Stunde vor der Pforte der Gerechtigkeit gesessen hatte, sondern wähnte, dort nur ein paar Minuten verweilt zu haben, und nun meinte er, daß er wohl auch noch Zeit hätte, einen Blick auf die Paradiesbrücke zu werfen, ehe er den Tempel verließe.
Und mit leichten Schritten glitt er durch die Volksmenge und gelangte zur Paradiesbrücke, die in einem ganz anderen Teil des großen Tempels lag.
Als er aber die scharfe Stahlklinge sah, die den Abgrund überbrückte, und daran dachte, daß ein Mensch, der über diese Brücke wandern könnte, sicher sei, ins Paradies zu gelangen, da meinte er, daß dies doch das allermerkwürdigste sei, was er jemals gesehen hätte, und er setzte sich am Rande des Abgrundes nieder, um die Stahlklinge zu betrachten.
Er dachte daran, wie herrlich es sein müßte, ins Paradies zu gelangen, und wie gern er diese Brücke überschreiten würde. Aber gleichzeitig erkannte er, daß es ganz unmöglich sei, dies auch nur zu versuchen.
Zwei Stunden lang grübelte und sann er in dieser Weise, wußte aber nichts davon, daß so viel Zeit verflossen war. Er dachte nur unablässig an das Paradies.
Auf dem Hof, in dem sich der tiefe Abgrund befand, war auch ein großer Opferaltar errichtet, um den weißgekleidete Priester schritten, die das Altarfeuer hüteten und Opfergaben entgegennahmen. Es standen auch viele opfernde Menschen dort und eine große Menge solcher, die dem Gottesdienst nur zuschauten. Nun kam ein armer, alter Mann des Weges daher. Er trug ein sehr kleines, mageres Lamm, das überdies noch von einem Hunde gebissen worden war, so daß es eine klaffende Wunde hatte.
Der Mann ging mit dem Lamm hin zu den Priestern und bat, es opfern zu dürfen, sie aber versagten ihm die Bitte. Eine so armselige Gabe dürfe er dem Herrn nicht darbringen, sagten sie ihm. Der Alte flehte, sie möchten doch um der Barmherzigkeit willen das Lamm annehmen, denn sein Sohn liege todkrank danieder, und er besitze nichts anderes, was er Gott für seine Genesung opfern könnte. Er sprach: »Ihr müsset es mich opfern lassen, denn sonst dringt mein Gebet nicht zu Gottes Angesicht, und mein Sohn wird sterben.«
»Du darfst nicht glauben, daß ich kein Mitleid für Dich hege,« sprach der Priester, »aber das Gesetz verbietet uns, ein verletztes Tier zu opfern. Deine Bitte zu erfüllen ist so unmöglich, wie es unmöglich ist, die Paradiesbrücke zu überschreiten.«
Der kleine Knabe saß nicht weit entfernt, so daß er alles gehört hatte. Er dachte sogleich daran, wie schade es wäre, daß niemand die Brücke überschreiten konnte. Vielleicht durfte der Arme seinen Sohn behalten, wenn das Lamm geopfert wurde.
Der alte Mann verließ traurig den Tempelhof, und der Knabe stand auf, ging zu der schwankenden Brücke und betrat sie mit seinem Fuß.
Er dachte ganz und gar nicht daran, daß er sie überschreiten wollte, um des Paradieses sicher zu sein. Seine Gedanken galten einzig und allein dem Armen, dem er so gern helfen wollte. Aber er zog den Fuß zurück und flüsterte: »Es ist unmöglich. Sie ist viel zu alt und verrostet, sie würde mich nicht einmal tragen.«
Aber noch einmal eilten seine Gedanken zu dem Armen, dessen Sohn im Sterben lag. Und wieder setzte er den Fuß auf die Schwertklinge.
Da fühlte er, daß sie aufhörte zu schwanken und unter seinen Füßen breit und fest wurde.
Und beim nächsten Schritte merkte er, daß die Luft rings umher ihn stützte. Sie trug ihn, als wäre er ein Vogel und hätte Schwingen.
Aber als der Knabe über die Klinge schritt, drang ein lieblicher Ton bebend daraus hervor, und einer von denen, die auf dem Tempelhof standen, wandte sich um, als er den Ton vernahm. Er stieß einen lauten Schrei aus, so daß sich auch alle die anderen umwandten, und nun gewahrten sie den kleinen Knaben, der auf der Stahlklinge vorwärts schritt.
Und große Bestürzung und Verwunderung bemächtigten sich aller, die dort standen. Die ersten, die wieder zur Besinnung kamen, waren die Priester, Sie sandten sogleich einen Boten nach dem Armen aus, und als er kam, sprachen sie zu ihm: »Gott hat ein Wunder getan, um uns zu zeigen, daß ihm Deine Gabe wohlgefällig ist. Gib Dein Lamm her, wir werden es opfern!«
Als dies vollbracht war, fragten sie nach dem kleinen Knaben, der über den Abgrund geschritten war. Aber da sie sich nach ihm umschauten, konnten sie ihn nicht finden. Denn sobald der Knabe über den Abgrund geschritten war, kam ihm der Gedanke an die Heimkehr und an die Eltern. Er war sich dessen nicht bewußt, daß der Morgen und der Vormittag bereits vergangen waren, sondern er sagte sich: »Ich muß mich nun tüchtig beeilen, damit sie nicht auf mich warten müssen. Ich will nur noch schnell einen Blick auf das Horn des Weltenfürsten werfen.«
Und er glitt durch die Menge und eilte mit leichten Schritten nach dem dämmerigen Säulengang, wo das kupferne Horn an der Wand lehnte. Als er es erblickte und daran dachte, daß ein Mensch, der ihm einen Ton entlocken könnte, alle Völker der Erde unter seiner Herrschaft vereinigen würde, meinte er noch niemals etwas so Merkwürdiges gesehen zu haben, und setzte sich daneben nieder und betrachtete es aufmerksam.
Er dachte daran, wie erhaben es sein müßte, alle Menschen auf der Erde an sich zu ziehen, und wie herzlich er wünschte, auf dem alten Horn blasen zu können. Aber er begriff, daß dies unmöglich sei, und wagte nicht einmal den Versuch.
Auf diese Weise verbrachte er dort mehrere Stunden, ohne zu wissen, wie die Zeit verging. Er dachte einzig und allein daran, was man dabei empfinden würde, wenn man alle Menschen auf Erden unter seiner Herrschaft vereinigte.
Aber in diesem kühlen Säulengang saß ein heiliger Mann und belehrte seine Schüler. Und er wandte sich eben an einen der Jünglinge, die zu seinen Füßen saßen, und sagte ihm, er sei ein Betrüger. Sein Geist habe ihm verraten, daß der Jüngling ein Fremdling und kein Israelit sei. Und nun fragte der Heilige ihn, weshalb er sich unter einem falschen Namen unter seinen Schülern eingeschlichen hätte.
Da erhob sich der fremde Jüngling und antwortete, er sei durch öde Wüsten gewandert und habe weite Meere durchschifft, um die wahre Weisheit und die Lehre vom einzigen Gott verkünden zu hören. Und er sprach zum Heiligen: »Meine Seele verschmachtete vor Sehnsucht. Aber ich wußte, daß Du mich nicht unterweisen würdest, wenn ich mich nicht als Israelit bekannt hätte. Und ich belog Dich, auf daß meine Sehnsucht gestillt würde. Ich flehe Dich an, mich bei Dir bleiben zu lassen.«
Aber der Heilige erhob sich, streckte die Arme gen Himmel und rief: »Du darfst so wenig bei mir bleiben, wie jemand aufstehen wird, um auf dem großen Kupferhorn zu blasen, das wir die Stimme des Weltenfürsten nennen. Es ist Dir nicht einmal erlaubt, diese Stelle des Tempels zu betreten, weil Du ein Heide bist. Hebe Dich weg von hier, sonst werden meine anderen Schüler sich auf Dich werfen und Dich in Stücke reißen, denn Deine Gegenwart schändet den Tempel.«
Aber der Jüngling blieb stehen und sprach: »Ich werde nirgendwo anders hingehen, wo meine Seele keine Nahrung fände. Lieber will ich hier zu Deinen Füßen sterben.«
Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Schüler des Heiligen sich erhoben, um den Fremden zu verjagen. Und als er sich wehren wollte, warfen sie ihn nieder und wollten ihn töten.
Der Knabe aber saß ganz nahe, so daß er alles gehört und gesehen hatte, und er sagte sich: »Das ist eine große Hartherzigkeit. Ach, könnte ich doch das Kupferhorn blasen, so wäre ihm sicher geholfen!«
Er erhob sich und legte seine kleine Hand auf das Horn. In diesem Augenblick wünschte er nicht mehr, es deshalb zu seinen Lippen emporheben zu können, weil der, der es vermochte, ein großer Herrscher werden würde, sondern nur, weil er hoffte, jemandem helfen zu können, dessen Leben in Gefahr war.
Und mit seinen kleinen Händen umfaßte er das Kupferhorn und versuchte es zu heben. Da fühlte er, daß das ungeheure Horn sich von selber bis zu seinen Lippen erhob. Und als er nur aufatmete, drang ein starker klingender Ton aus dem Horn, der den ganzen weiten Umkreis des Tempels durchhallte.
Da wandten sich aller Augen, und sie sahen, daß es ein kleiner Knabe war, der mit dem Horn an den Lippen dastand und ihm Töne entlockte, die alle Gewölbe und Säulen erbeben machten.
Und alsogleich senkten sich alle jene Hände, die schon erhoben waren, um den fremden Jüngling zu erschlagen, und der heilige Lehrer sprach zu ihm:
»Komm und setze Dich hier zu meinen Füßen nieder, wie Du früher saßest! Gott hat ein Wunder getan, um mir ein Zeichen zu geben, daß es ihm wohlgefiele, Dich in die Glaubenslehren zu seiner Anbetung einzuweihen.«
Als der Tag sich seinem Ende zuneigte, eilten ein Mann und ein Weib nach Jerusalem. Sie sahen erschrocken und beunruhigt aus und riefen jedem Vorübergehenden zu: »Wir haben unseren Sohn verloren. Wir glaubten, er sei mit unseren Verwandten oder Nachbarn mitgegangen, aber keiner von ihnen hat ihn gesehen. Ist jemand von Euch unterwegs einem einzelnen Kinde begegnet?«
Und alle, die von Jerusalem kamen, antworteten ihnen: »Euren Sohn haben wir nirgend gesehen, aber im Tempel haben wir das schönste Kind der Welt gesehen. Es war wie ein Engel des Himmels anzuschauen und hat die Pforte der Gerechtigkeit durchschritten.«
Sie hätten das Alles gern ganz genau erzählt, die Eltern hatten jedoch keine Zeit, ihnen zuzuhören.
Als sie wieder eine Strecke gegangen waren, begegneten sie anderen Menschen und fragten sie nach ihrem Sohne. Doch die von Jerusalem kamen, wollten nur von dem schönsten Kinde berichten, das aussehe, als sei es vom Himmel herabgestiegen, und die Paradiesbrücke überschritten hatte.
Sie hätten noch bis zum späten Abend davon erzählt, doch der Mann und das Weib hatten keine Zeit zuzuhören, sondern eilten zur Stadt.
Sie rannten Straße auf, Straße ab, ohne das Kind zu finden. Endlich standen sie vor dem Tempel.
Im Vorbeischreiten sagte die Frau: »Da wir nun doch einmal hier sind, laß uns auch hineingehen, um zu sehen, was es mit dem Kinde für eine Bewandtnis hat, von dem sie sagen, es sei vom Himmel herabgestiegen!« Sie gingen hinein und fragten, wo sie das Kind finden könnten.
»Geht dort geradeaus bis zu der Halle, wo die heiligen Lehrer mit ihren Schülern sitzen. Dort ist das Kind. Die alten Gelehrten haben es in ihre Mitte gesetzt, sie befragen es, und es befragt sie, und alle verwundern sich höchlichst über den Knaben. Alles Volk steht draußen auf dem Tempelhof, um einen Schimmer von ihm wahrzunehmen, der des Weltenfürsten Stimme zu seinen Lippen emporgehoben hat.«
Der Mann und das Weib bahnten sich den Weg durch die Volksmenge, und sie erkannten, daß das Kind inmitten der weisen Lehrer ihr eigener Sohn war. Aber sobald die Frau das Kind erkannt hatte, begann sie zu weinen.
Und der Knabe, der inmitten der weisen Männer saß, hörte jemand weinen und erkannte, daß es seine Mutter war. Da stand er auf und ging zu seiner Mutter, und die Eltern nahmen ihn in ihre Mitte und schritten mit ihm aus dem Tempel hinaus.
Aber die Mutter weinte unablässig, und das Kind fragte sie: »Warum weinst Du? Ich kam ja zu Dir, sobald ich Deine Stimme vernahm.«
»Sollte ich nicht weinen?« fragte die Mutter. »Ich glaubte, Du wärest für mich verloren.«
Sie verließen die Stadt, und das Dunkel brach herein, und die Mutter weinte noch immer.
»Warum weinst Du?« fragte das Kind. »Ich wußte nichts davon, daß der Tag vergangen war. Ich glaubte, es sei noch frühmorgens, und ich kam zu Dir, sobald ich Deine Stimme vernahm.«
»Muß ich nicht weinen?« sprach die Mutter. »Ich habe Dich den ganzen Tag gesucht. Ich glaubte, Du wärest für mich verloren.«
Sie wanderten die ganze Nacht durch, und die Mutter weinte unablässig.
Als der Tag aufdämmerte, fragte das Kind: »Warum weinst Du? Ich habe nicht nach eigenem Ruhme begehrt, aber Gott hat mich diese Wunder tun lassen, weil er diesen drei armen Menschen beistehen wollte. Und sobald ich Deine Stimme vernahm, bin ich zu Dir zurückgekehrt.«
»Mein Sohn,« antwortete die Mutter, »ich weine, weil Du dennoch für mich verloren bist. Du wirst mir niemals mehr angehören können. Von nun an wird Gerechtigkeit Deines Lebens Ziel sein und das Paradies Deine Sehnsucht, und Deine Liebe wird alle die armen Menschen umfangen, die die Erde erfüllen.«