Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Letzte Lebensjahre.

Auserwählt zum Bücherschreiben
Und verdammt zum Schriftverwalten,
Sollst den Einband du bekleiben,
Statt den Inhalt zu gestalten.
Freund, du musst in Lettern kramen,
Doch von deinem kurzen Namen
Werden mehr als viere bleiben.

Mit diesen Versen begrüsste Ludwig Pfau die Ernennung meines Vaters zum Universitätsbibliothekar in Tübingen, die am Schluss des Jahres 1863 erfolgte. Wie untergeordnet und kärglich bezahlt der Posten auch war, er bedeutete doch nach so viel Stürmen einen Friedensport. Von allen bürgerlichen Ämtern war das eines Bibliothekars das einzige, das seinen natürlichen Neigungen entsprach, und mehr noch fiel ins Gewicht, dass der Aufenthalt in einer Universitätsstadt jetzt das Studium der Söhne ermöglichte. Doch mischte sich auch diesem kargen Glück noch ein Tropfen Wermut bei, da einer seiner liebsten Freunde, der Philologe Bacmeister, gleichfalls ein von der damaligen Enge erdrücktes poetisches Talent, mit in Vorschlag gewesen und freiwillig zurückgetreten war, um mit dem verehrten Dichter nicht zu konkurrieren.

Die Ernennung meines Vaters, bei der die alten 293 Freunde in Stuttgart und Adalbert Keller in Tübingen eifrig zusammen wirkten, kam mit Hilfe des liberalen Ministeriums Golther zustande und wurde von der ganzen Presse Schwabens mit Befriedigung aufgenommen. Zu Anfang Dezember reiste er, zunächst allein, nach Tübingen, um seine neue Stellung anzutreten.

Tübingen war damals noch eine fast mittelalterliche Stadt mit den Reizen und Schattenseiten einer solchen. Auch heute, nach all der stillosen Modernisierung, die darüber ergangen ist, bietet das hochgelagerte Städtchen dem Beschauer, der vom Bahnhof kommt, von seinem Hügelrücken noch ein äusserst charakteristisches und ausdrucksvolles Profil. Die langgestreckte Häuserzeile der Neckarhalde, die sich hoch über dem Flusse aufbaut, darüber Türme und Häusergruppen in kühnen Überschneidungen, das Ganze gekrönt von der massiven Wucht des altehrwürdigen Schlosses, und diesseits des Neckars die langen Alleen mit ihren dichten Laubdächern voll Vogelgesang, die in dreifachem Zug den Lauf des Flusses begleiten – diese Silhouette ist zum Glück gar nicht zu verderben. Damals stand aber auch noch die alte stimmungsvolle Neckarbrücke mit ihrer steilen hölzernen Stiege nach dem von den zwei Neckararmen umfassten und mit hohen Platanen bestandenen »Wörth« hinunter, und am oberen Stadtende schwang sich der vielbesungene Hirsauer Steg über den Fluss. Die Neckarbrücke führte zum Neckartor, das freilich nur im Namen 294 erhalten und aus der Struktur der engen, hier zusammenlaufenden Gassen zu erkennen war. Und auch diese Strassen »grad und krumm«, waren noch erheblich krümmer als heute. Längs dem steilen, zwischen dem Abhang des Österbergs und einer hohen Mauer eingezwängten Mühlgässchen stürzte sich die Ammer laut brausend und schäumend herab, um sich mit dem stilleren Neckar zu vereinigen. Doch lebte auch dieser noch in Jugendfreiheit, die er zuweilen durch schrankenloses Übertreten missbrauchte; ich erinnere mich einer solchen Überschwemmung, bei der auch die sonst so wasserarme Steinlach lustig mittat, so dass die ganze Gegend, von den Weinhalden des Österbergs aus gesehen, einem uferlosen Meere glich, in dem die Spitzen der Kastanien-, Linden- und Platanenalleen lange grüne Furchen zogen und der Bahnhof wie eine verzauberte Insel zu schwimmen schien. Ausserhalb der Stadt, die damals noch mit dem Neckartore abschloss, frei an den Fuss des Österbergs gelehnt, mit dem Blick auf die Neckarbrücke, lag das verwaiste Uhlandhaus, um das immerdar eine stille Weihe schwebte. Der Dichter war ein halbes Jahr vor unserm Einzug in Tübingen gestorben. Der Uhlandsche Garten, der in Terrassen den Hügel hinanstieg, war wie die Uhlandsche Poesie: regelmässig, bürgerlich-korrekt und wohlgepflegt, dabei doch lauter lebendige, vollsaftige Natur; lange, sauber geschnittene, etwas nüchterne Hecken wechselten mit 295 grossen Schattenbäumen, tief gewurzelt wie die deutsche Sage, und besonders die schwerbeladenen Fruchtsträucher sind mir in imponierender Erinnerung – es war dies nämlich eines der wenigen Häuser, wo meine Mutter Besuch machte und wohin sie auch mich zuweilen mitnahm. In den weiten klösterlichen Räumen des Hauses, die von der Witwe unverändert erhalten wurden, wehte die stille kalte Luft der Ewigkeit. Hier, wohin kein Klatsch und keine niedrigen Interessen den Weg fanden, waltete Emilie Uhland, selbst wie eine Abgeschiedene, ernst und streng, mit ihren Erinnerungen und mit der Verwaltung ihres Besitzes beschäftigt. Sie war eine achtunggebietende, von der Kleinlichkeit der andern Frauen völlig freie Gestalt, aber man konnte kein Herz zu ihr fassen, denn sie hatte eine seltsame Unnahbarkeit an sich – Hoheit kann ich es nicht nennen, dafür war es zu abgezirkelt und steifleinen – etwa wie eine gestrenge Oberamtmännin oder Äbtissin aus einem früheren Jahrhundert. Man konnte sich nicht denken, dass dieser strenge Mund je zu einem Liebeslied gelächelt habe; die Uhlandsche Muse war ja auch an Liebesliedern karg. Die einsame, kinderlose Frau stellte in jenen Tagen Uhlands Briefe zusammen, um sie als Manuskript für die Freunde drucken zu lassen, auch diese herb und unpersönlich und allem Gleissen abhold, wie der Mann selbst, der seine Lorbeerkränze in die Küche trug.

296 Eng und dumpf wie die Gassen, war damals auch der Geist der Einwohnerschaft. Nur wie ein flüchtiger Anachronismus fuhr die Eisenbahn durch das fortschrittentlegene Tal, das mit seinen Anschauungen und seinem Treiben noch im Mittelalter steckte. In der »unteren Stadt« wohnte ein Volk, dessen Schmutz, Elend und unheimlich elementare Roheit selbst die wenig kulturverwöhnten Einwohner der oberen erschreckte. In den besseren Stadtteilen war der Student unumschränkter Herr des Pflasters, das er nicht selten nach einem Gelage auch am hellen Tag mit der ganzen Länge seiner Person okkupierte, die herankommenden Fuhrwerke zu einem breiten Bogen zwingend. Es gibt eine sehr ergötzliche Schilderung der Sitten und Gewohnheiten der Tübinger Studenten aus dem sechzehnten Jahrhundert; diese traf in der zweiten Hälfte des neunzehnten noch mannigfach zu. Noch hallte von Brücke zu Brücke und aus allen Neckarfenstern der antidiluvianische Ruf »Jockele sperr!«, wenn unten die biederen Schwarzwaldflösser vorüberfuhren. Statt der Weltpolitik, die es noch nicht gab, absorbierte die gegenseitige Stellung der Studentenkorporationen das öffentliche Interesse, und die Kämpfe der weissen und der roten Rose können zu ihrer Zeit den Bürgern von England nicht wichtiger erschienen sein als denen von Tübingen die Händel der roten, grünen und blauen Mützen. Es gab sogar noch förmliche Studentenschlachten auf den Strassen, bei denen alles, was Couleur 297 trug, sich beteiligen musste; ich erinnere mich einer solchen, die eine ganze Nacht dauerte und wobei die Kämpfenden wiederholt das alte Rathaus stürmten, um ihre Gefangenen zu befreien. Auch der endlose Krieg der Studentenschaft mit Nachtwächtern und Polizeidienern brachte Abwechslung ins Leben. Nun sollte man denken, dass eine Bürgerschaft, die an den Anblick solcher Burschenfreiheit gewöhnt war, auch sonst einer heiteren und freien Weltauffassung gehuldigt hätte. Dem war aber nicht so. Vielmehr rächte sich der »Philister« für die schrankenlose Freiheit, die er dem Studenten seit Jahrhunderten zugestand, durch um so grössere Feindseligkeit gegen alles neue und ungewohnte, das von anderer Seite kam. Die Zustände waren dorfartig ohne die ländliche Harmlosigkeit. Aus der kleinen Stadt, die schon so viel Grosse beherbergt hatte, fielen Strahlen des Geistes weit über die Lande, aber dieses Licht war nur in der Ferne wahrnehmbar, im Innern blieb es stockfinster. – Auch der gesellschaftliche Boden war schwierig, weil die kleinstädtischen Verhältnisse bis in die akademischen Kreise nachwirkten, die überdies durch wissenschaftliche und politische Fehden vielfach gespalten waren. Mein Vater hatte darum wohlweislich die Antrittsbesuche schon alle vor unserer Ankunft allein absolviert, denn er wusste wohl, dass seine Frau jede gesellschaftliche Konvention hasste und mit ihrer impulsiven Natur wenig geeignet war, den tausendfältigen 298 Rücksichten, die auf diesem Boden gefordert wurden, Rechnung zu tragen. So behielt sie freie Hand, sich ihren Umgang selbst zu wählen. Zunächst war alles eitel Sonnenschein. Meine Mutter, die den Geburtsadel so niedrig angeschlagen hatte, aber um so grössere Ehrfurcht vor den akademischen Würden hegte, fühlte sich mit den Ihrigen unmittelbar an die Brüste der Weisheit versetzt, und für uns Kinder war jeder Wechsel an sich ein Hochgenuss. Zum Umzug war wieder die unermüdliche Tante Bertha erschienen, und dass wir die letzte Nacht in Kirchheim auf dem Boden schlafen durften, weil die Betten schon vorausgeschickt waren, das setzte der Glückseligkeit die Krone auf. In Tübingen erwartete uns der Vater an der Bahn, um uns in die von ihm gemietete Wohnung zu führen. Bei der Einfahrt durchzuckte das Herz der Gattin die düstere Ahnung, dass dies die letzte Station auf des Dichters Lebensreise sei und dass sie ihn in diesem Boden einst werde betten müssen. Doch sein gutes Aussehen verscheuchte gleich das schwarze Gespenst. Das neue Haus lag einige hundert Schritte vom Bahnhof entfernt an der Steinlach, einem eiskalten Flüsschen, das mehr Kiesel als Wasser führte, uns aber gleichwohl, sobald nur der Schnee schmolz, zum baden lockte. Jenseits der Steinlach dehnte sich eine grosse Wiese mit Schiessständen aus, die von der Studentenschaft täglich zum Exerzieren benutzt wurde; auch gab es grosse Aufzüge daselbst mit Waffen und Fahnen, denn 299 die Jugend war damals gerade sehr kriegerisch gestimmt, und das Lied »Schleswig-Holstein meerumschlungen« tönte Tag und Nacht durch die Strassen. Beim Einzug gab es einen neuen Jubel, denn ein guter Geist hatte schon für uns gewaltet: wir fanden in der Speisekammer alle Gaben Gottes aufgespeichert, ganze Körbe voll Äpfel und getrockneter Früchte, Würste an Bindfaden aufgehängt und viele andere gute Dinge, die eine Jugendfreundin unserer Grossmutter Brunnow, die »Kriegsministerin« von Miller, die in Tübingen dem Hause eines Schwiegersohns vorstand und mir als eine sehr resolute Dame mit tiefer männlicher Stimme in Erinnerung steht, zu unserer Überraschung dorthin geschafft hatte. Am Abend wurde uns dann noch ein herzlicher Willkomm im Hause des alten Justizrats Karl Maier zuteil, jenes schwäbischen Poeten, an dessen unschuldiger Muse Heine so oft sein Mütchen gekühlt hat. Der hochbetagte, aber sehr temperamentvolle Herr schloss gleich meine Mutter, zu der ihn politische Übereinstimmung hinzog, aufs zärtlichste ins Herz, und beide pflegten sich von nun an bei jeder Gelegenheit in Versen anzusingen. Auch uns jungem Volk wurde viel Freundlichkeit von ihm zuteil, denn der Dichter der Blumen und des Frühlings hatte ein Kindergemüt, das sich auf den Umgang mit Kindern verstand. Bei seinen hohen Jahren war er noch so leichtfüssig, dass er uns einmal auf einem Spaziergang zum Schrecken seiner Töchter voll 300 Ungestüm zum Wettlauf aufforderte, wobei wir zum Glück die Erleuchtung hatten, ihn nicht ins Gefährliche zu steigern, sondern uns nach kurzem Rennen besiegt zu geben. Während der wenigen Jahre, die ihm noch beschieden waren, gehörte der alte Herr mit seinen zwei unverheirateten Töchtern, die ihm haushielten, zum nächsten Freundeskreis meiner Eltern.

Das meinem Vater zugefallene Amt war alles eher als eine Sinekure. Es bestand vorzugsweise im Rechnungswesen, und der kärgliche Gehalt war in den ersten Jahren mit starken Abzügen belastet, weshalb sich die Lage vorerst nur wenig gebessert fand. Im September schrieb er an den ihm befreundeten Germanisten Pfeiffer:

»Es ist ein hartes Jahr, das ich zurückzulegen im Begriffe bin, auch amtlich. Da habe ich nun zwar die ärgsten Berge abgetragen, aber es bleibt noch immer viel Schreiberei und Rechnerei. Zudem ist die Einrichtung des Bibliotheksverwaltungszimmers so, dass man nicht leicht etwas für sich tun kann, und die Nebenstunden zu Hauptstunden zu machen, das ist eine Kunst, die man lernen muss.«

Indessen lernte er schnell auch diese Kunst. Sein Jugendfreund Klüpfel, der Schwiegersohn Schwabs, den er an der Bibliothek zum Kollegen hatte, erleichterte ihm die ersten Schritte im Amt. Er lebte, wie mir einer seiner jüngeren Kollegen schreibt, still und unverdrossen seiner Pflicht, war unermüdlich, wenn es galt, für andere einen 301 schwierigen literarischen Nachweis zu liefern, und ein Jeder konnte sich seiner entgegenkommenden Gefälligkeit erfreuen. Die Amtsstunden waren von neun bis zwölf und von zwei bis vier Uhr. Da der Weg nach der auf Schloss Hohentübingen befindlichen Bibliothek ein weiter war, pflegte er am Mittag gar nicht nach Hause zu kommen, meine Mutter trug ihm täglich in einem Körbchen etwas Fleischbrühe, Gerstenschleim oder dergleichen hinauf. Er benutzte alsdann die Mittagspause zu eigener schriftstellerischer Arbeit, deren Manuskript er in seinem Stehpult im grossen Bibliothekssaal unter den Rechnungen verborgen hielt wie ein Schüler die verpönten Allotria unter den Schulheften. In diesen Stunden, wo er in der weiten Bücherwelt völlig allein war, fühlte er sich behaglich wie in einer ihm unterstellten Provinz. Zuweilen wurde das eine oder andere von uns am Mittag dorthin mitgenommen und durfte dann unter seiner Führung die grossen Bücherschätze oder die Gipsabgüsse nach Antiken besichtigen, allein das Trappistenschweigen, das uns in den weiten hallenden Räumen auferlegt war, wirkte zu beklemmend, und wir blieben lieber draussen im Freien, um uns in der grünen Wildnis bei dem zerschossenen Melacsturm umherzutreiben oder das weit vorgeschobene Schänzchen zu ersteigen, das damals noch keine Last als die seiner ehrwürdigen Linden trug und das einen stolzen Rundblick auf das grüne lachende Neckargelände zur Linken und das düstere Ammertal zur 302 Rechten gewährte. – Erst um vier Uhr wanderte er nach Hause, um auf dem Zimmer seine erste und einzige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Danach arbeitete er noch bis Mitternacht am eigenen Pult, wobei er langsam eine halbe Flasche Wein und in späteren Jahren noch ein Glas Grog austrank. Die literarischen Ergebnisse dieser Jahre sind vorwiegend gelehrter Natur: die kargen Mussestunden gestatteten der Phantasie keine freien Flüge mehr, während andererseits die Bibliothek seinen wissenschaftlichen Studien reiches Material und fortgesetzte Anregung bot. Auch diese Arbeiten geben nach Inhalt und Umfang von rastloser geistiger Tätigkeit Zeugnis. Leider kam der Plan einer Sammlung seiner grösseren und kleineren Aufsätze literarhistorischen Inhalts, dem die künstlerische Form einen Anspruch an dauerndes Interesse gibt, nie zustande, sie liegen vielfach in Zeitschriften zerstreut, und manche unter ihnen sind mir niemals auch nur vor die Augen gekommen. Die im Jahr 1865 in der Beilage der ›Allgemeinen Zeitung‹ veröffentlichten Studien »Zur Geschichte des Romans Simplicissimus und seines Verfassers« trugen ihm von der Universität Rostock den Doktortitel honoris causa ein; es war dies die einzige äussere Auszeichnung, die ihm im Leben widerfuhr. Auch Übersetzungen in Vers und Prosa beschäftigten ihn wieder wie in der Jugendzeit und zeigen ihn in seiner unterdessen noch gereiften sprachlichen Meisterschaft. 1867 erschienen seine »Lustigen Weiber von 303 Windsor« mit Einleitung und Anmerkungen,William Shakespeares dramatische Werke. Herausgegeben von Friedrich Bodenstedt. und im folgenden Jahr, das für ihn ein besonders fruchtbares war, die »Neun Zwischenspiele des Cervantes«,Bibliothek ausländischer Klassiker. Hildburghausen, Verlag des Bibliographischen Instituts. 1868. ausserdem eine lange Reihe von Untersuchungen über Gottfried von Strassburg und das Gottesurteil seiner Zeit,Später noch einmal gedruckt im Jahrgang XV. der Germania. Wien. Druck und Verlag von Carl Gerolds Sohn. 1870. sowie das höchst interessante Büchelchen »Zu Shakespeares Leben und Schaffen,«München. Carl Merhoffs Verlag. 1868. das in eben so tiefgründiger wie überraschender Beweisführung ein pikantes Stückchen altwürttembergischer Hofgeschichte, die sogenannte »Badenfahrt« mit einer Szene aus den Lustigen Weibern verknüpft. In diesen zwei Arbeiten ist es von ganz besonderem Reiz, wie neben der streng methodischen Forschung der sichere dichterische Instinkt hergeht, der sich in ihren Dienst gestellt hat um die verborgenen Anregungen und inneren Notwendigkeiten aufzuspüren, die auf einen grossen Dichtergenius gewirkt haben, und wie er dadurch zu Resultaten gelangt, die der blossen forschenden Gelehrsamkeit nimmermehr erreichbar wären. Als ständiger Mitarbeiter am Shakespeare-Jahrbuch und an Pfeiffers Germania sah er jetzt 304 wenigstens seine wissenschaftlichen Schriften nach Gebühr gewürdigt.

Seine Gesundheit schien sich in jenen ersten Tübinger Jahren sehr zu erholen. Die Nerven waren ruhig, und er hatte keine Zeit sich zu viel in sich selbst zu kehren, weil die Aussenwelt mit ihren Ansprüchen dazwischen stand. Trotz gewisser Schikanen im Amte fühlte er sich zufrieden, einen festen Boden unter den Füssen zu haben. Jeden Donnerstag-Abend opferte er der Geselligkeit in einem geschlossenen Professorenkreis, der sich in der »Post« zusammenfand. Die Ereignisse von 1866 verschoben aber bald die geselligen Beziehungen und trieben meinen Vater aus diesem Zirkel wieder heraus. Die Fluten der Erregung gingen, solange wir mit Preussen im Kriege lagen und noch lange danach, viel zu hoch, als dass politische Gegner friedlich am gleichen Tische sitzen, geschweige im Privatleben Freunde bleiben konnten. Die ganze Stadt teilte sich in zwei feindliche Lager, es gab nur noch »Preussen« und »Antipreussen«. Die Anwesenheit vieler norddeutscher Familien, deren Lebensstil von dem der einheimischen abstach, und der Umstand, dass die scharenweise nach Tübingen kommenden norddeutschen Studenten oft beim besten Willen nicht den rechten Ton mit den Landeskindern trafen, mochte die politische Spaltung noch verschärfen, wie ja der Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschen damals noch viel weniger ausgeglichen war, als heute. So griff 305 abermals die Politik tief in die persönlichen Verhältnisse hinein, zerriss alte Bande und knüpfte neue. Mein Vater war noch immer grossdeutsch gesinnt und konnte in dem Kampf, der sich entspann, weder mit Österreich noch mit Preussen sympathisieren, am wenigsten freilich mit dem letzteren, dem er die Entfesslung des Kriegsdämons schuld gab; dass dieser Krieg die Einheit Deutschlands im Schosse barg, ahnte damals niemand. Er hielt sich zu denen, die die preussische Politik bekämpften; schien doch um jene Zeit für die Mehrzahl der Süddeutschen und besonders für die alten Achtundvierziger das blosse Wort »Preussen« alles zu enthalten, was es freiheitsfeindliches und bekämpfenswertes auf Erden gab. Selbst in unseren Kinderköpfen arbeiteten damals hochgeschwungene, wenn auch sehr verworrene patriotische Phantasien gegen den vermeintlichen Feind der deutschen Zukunft, wir schmiedeten Kriegslieder bis herab zum Jüngsten, und lebhaft erinnere ich mich, wie, als eines Tages vom Hechingischen her preussisches Militär bei uns einrückte und gerade vor unserem Haus ein mit schwarzweissen Fähnchen besteckter Wagen hielt, ich mir grosse Mühe gab, den Tag, wo das geschehen konnte, für den schwärzesten meines Lebens anzusehen.

Da das Haus an der Steinlach kalt und zugig war und der grobe Hausbesitzer überdies mit meinen Eltern in einem beständigen Kriege lag, der schliesslich bis zum Prozess führte, so zogen 306 wir im April 1867 aus und liessen uns in einem auf dem Marktplatz gelegenen altersgrauen Haus mit spitzem Giebel und schön geschnitzter altertümlicher Holztreppe nieder, das einem Konditor gehörte. Es hatte seinen Haupteingang in der düstern Kronengasse, – von dort aus lag unsere Wohnung im zweiten Stock; von der andern Seite aber blickten die Fenster turmhoch auf den tiefgelegenen Marktplatz hinab und waren voll Sonne. Im Erdgeschoss, das vom Markt aus den ersten Stock bildete, lag ein vielbesuchtes Studentencafé, wo es meist die ganze Nacht nicht stille wurde. Oft kamen im Morgengrauen nachtschwärmende Gäste, die, wenn sie die Haustür geschlossen fanden, vor unseren Fenstern sangen und jubilierten oder wohl auch fluchten und wetterten. Mein Vater fand daher erst seine Ruhe, als nach einiger Zeit noch zwei Mansardenstübchen frei wurden, wohin er sich mit seiner Arbeit flüchten konnte; das eine enthielt sein grünes Stehpult und den runden Tisch, worauf man ihm das Essen stellen musste und der für gewöhnlich ganz mit Büchern und Broschüren bedeckt war, sowie einen Lehnstuhl, von dem er wenig Gebrauch machte, da er beim Arbeiten wie beim Essen zu stehen pflegte, das andere sein Bett und sein wenig umfangreiches Büchergestell – das Gros seiner Bibliothek war nämlich beim Wegzug aus Karlsruhe im Gewahrsam eines Freundes zurückgeblieben, der nichts mehr davon herausgab. – Es waren die dürftigsten Räume des 307 Hauses, aber die einzigen, wo er sich vor Störung sicher fühlte. Der Hausbesitzer war ein Pole mit Namen Genschowsky; zu ihm und seiner Familie, die aus Frau und Schwester bestand, traten wir sämtlich in das freundlichste Verhältnis. Diese einfachen Menschen fassten für den Dichter, der unter ihrem Dach wohnte, eine tiefe Verehrung, die er ihnen durch traulichen Verkehr vergalt. Manche Abendstunde, wenn der Laden nach dem Marktplatz geschlossen war, sass er drunten in dem kleinen Stübchen der Konditorei, das zwei Stockwerke tiefer als die Strasse lag, und unterhielt sich mit den freundlichen Hauswirten. Besonders die Frau, eine prächtige Schwäbin, voll Charakter und Mutterwitz, zog ihn durch ihr kernhaftes Wesen an.

Lieb war ihm auch der Blick von den Fenstern nach dem alten Marktplatz, auf dessen Gesumme er schon als Student gerne von seines Rudolf Kauslers Giebelfenster hinabgehorcht hatte: uns gegenüber das ehrwürdige Rathaus mit seinem Storchennest auf dem abschüssigen Giebeldach und den zu jener Zeit noch nicht renovierten Wandbildern, davor der schöne altertümliche Neptunsbrunnen und rings auf den leichtgesenkten Platz mündend die düstern, gekrümmten, steil abfallenden Gassen; das alles bot ein einheitliches höchst charaktervolles Bild, das man nicht leicht vergessen wird. Hier fand wöchentlich zweimal der Gemüsemarkt statt, wo die weibliche 308 Jugend mit kleinen Körbchen am Arm und sittig von den Müttern begleitet, von der flanierenden Studentenschaft in Augenschein genommen wurde; im Frühjahr und Herbst aber zog die grosse Messe die ganze Land- und Stadtbevölkerung auf diesem Räume zusammen, und es war ein fröhliches Bild, wie sich die Steinlachbauern in ihren langen Leinwandschössen und die hübschen Bauernmädchen mit rotem Mieder und langen blonden Zöpfen, das kokette Mützchen schief auf dem Kopf, zwischen der dichtgekeilten Bürger- und Studentenschaft durchdrängten. Vom Marktplatz waren nur wenige Schritte bis zum Aufstieg des Schlosses, der sogenannten »Burgstaige«, was aber meinem Vater, der gleichwohl fortfuhr, die Mittage auf der Bibliothek zu verbringen, eher zum Nachteil gereichte, weil die ihm so nötige Bewegung im Freien dadurch wegfiel.

Kaum dass die Existenz gesichert war, so brachen neue schwere Sorgen über die Familie herein.

Noch in dem zugigen Haus an der Steinlach, während eines besonders grimmigen Winters war unser damals fünfjähriger Bälde, zuvor das Bild der blühendsten Gesundheit, an akutem Gelenkrheumatismus, der in der Stadt herrschte, erkrankt. Er hatte drei Wochen in heftigen Schmerzen verbracht, dann war die Krankheit gewichen, und man hielt ihn für genesen; dass mit diesem Anfall der Grund zu seinem langen 309 Leiden und frühen Tode gelegt war, ahnte zum Glück noch niemand. Doch seitdem klopfte die Krankheit alljährlich aufs neue bei ihm an, und im zehnten Lebensjahr entwickelte sich daraus ein gefährlicher Herzfehler. Immer schwerer wurden nun die Heimsuchungen, immer kürzer die Intervalle, wo es ihm vergönnt war, wie ein gesunder Mensch zu leben. Das Leiden verhinderte ihn am regelrechten Schulbesuch, da er nur im Sommer, wo er sich leidlich wohl fühlte, im Gymnasium hospitieren konnte; so war er zumeist auf den mütterlichen Unterricht und später auf eigenes Studium sowie auf Lektüre angewiesen. Auch von den Jugendfreuden blieb er ausgeschlossen, denn das arme Herz ertrug keine rasche Bewegung und musste mit der Zeit sogar vor freudigen Aufregungen behütet werden. Doch mit seinen lebendigen Interessen schuf er sich nach und nach eine geistige Welt, die ihm das Versagte ersetzte. Umgeben von Vögeln und anderem Getier, das er liebte, lag er in seinem Bette lesend und studierend; sein Lieblingsfach war die Zoologie, in der er sich mit der Zeit gründliche Kenntnisse aneignete. Wenn er sich nicht selbst beschäftigen konnte, so musste man ihm vorlesen oder Geschichten erzählen – durch ihn kam ich zum Prosaschreiben, denn ich musste ihm Märchen erfinden, die er dann auch niedergeschrieben sehen wollte oder gelegentlich selber niederschrieb, wie sie aus meinem Munde kamen. Machte die Krankheit eine 310 Pause, so genoss niemand seliger als er die wiedergeschenkte Sonne. Und je mehr sein äusserer Kreis sich durch das Leiden verengte, desto intensiver entwickelte sich seine Genussfähigkeit: er war zuletzt imstande, aus dem Anblick einer blühenden Pflanze Freuden zu saugen, wie sie den Gesunden, Glücklichen völlig unbekannt sind. Da dem kranken Kinde nichts verwehrt wurde, hätte er leicht der Quälgeist des ganzen Hauses werden können, aber sein Wesen war voll Sonnenschein; den Neid kannte er nicht, er nahm von seinem Bette aus an unsern Jugendfreuden teil, und nie kam eine Klage über sein Schicksal in seinen Mund, noch liess er seinen Mut niederschlagen. Er hatte eine zarte ritterliche Verehrung für das andere Geschlecht, und den hübschesten unter den jungen Mädchen, die unser Haus besuchten, pflegte er in stammelnden Versen, die der Kindlichkeit seines Wesens entsprachen, zu huldigen. Poetisches Talent besass er freilich nicht, dafür war er mit seinem Idealismus, seinem Humor, seiner unverwüstlichen Heiterkeit und Naivität selber ein Stück lebendiger Poesie. Und wie er als Knabe lange die stammelnde Kindersprache beibehielt, die ihm etwas Rührend-unbehilfliches gab, so folgte ihm die Gewohnheit, sich langsam und mit naiver Originalität auszudrücken, auch in die Jünglingsjahre hinüber. Er hatte einen schönen, einfach kräftigen Kopf von ausgesprochen altdeutschem Schnitt, aber durch das Leiden vergeistigt und mit einem 311 Siegel von Unschuld und Reinheit gezeichnet, das ihn wie ein Wesen aus anderen Welten erscheinen liess. Niemand wird seine strahlende Siegermiene und das geheimnisvolle Lächeln seiner Mundwinkel vergessen, der ihn als Einundzwanzigjährigen in Florenz auf dem Totenbette liegen sah.

Zum Glück blieb dem Vaterherzen der Schmerz dieses Verlustes erspart. Man wusste zwar schon damals, dass dem Jüngsten nur ein kurzes Dasein beschieden sein konnte, und beide Eltern suchten ihm deshalb, soviel es die kargen Glücksumstände gestatteten, jeden Wunsch zu erfüllen, aber man sah das Verhängnis noch in weiter Ferne. Die Mutter widmete sich schon damals ganz dem kranken Sohn und sollte allmählich mit ihm zu einer Person verwachsen, dass eins die Gedanken des andern erriet. Wenn die schweren Anfälle der Atemnot und der Herzbeklemmungen kamen, sass sie oft wochenlang Nacht für Nacht an seinem Lager, und später, als das Leiden zunahm, verlernte sie das Schlafengehen ganz: ans Fussende seines Bettes hingekauert, nickte sie höchstens noch auf Minuten ein und wurde von ihm, der den Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht mehr kannte, gleich wieder zu langen Gesprächen aufgerüttelt. So schlimm wurde es freilich erst in Florenz, in seinen letzten Lebensjahren, in Tübingen gab es immer wieder Pausen, die noch ab und zu der Illusion Raum liessen. Zur Zeit, wo die beiden älteren Brüder Medizin 312 studierten, widmeten auch sie ihre Zeit und ihre junge Erfahrung dem Leidenden, und ganz besonders war es Alfred, der oft auf die studentische Geselligkeit verzichtete, um die Nachtwachen seiner Mutter zu teilen, was ihm bei seinem auf jauchzende Lebenslust gerichteten Temperament doppelt hoch von ihr angeschlagen wurde.

Das Leben dieser beiden Brüder, die dem väterlichen Namen soviel Ehre gemacht haben, ist von mir anderwärts geschildert worden; hier kann bloss ihr Jugendbild Raum finden, das jene veredelten Züge nur eben ahnen liess. Sie brachten um jene Zeit mit ihrer überschäumenden Jugendkraft viel Stürme in das häusliche Dasein. Die zwei, die sich später in so fester Freundschaft zusammenschlossen, dass nichts ihren Bund trüben konnte, die ein Jahr uns hinwegnahm, weil der unerwartete Tod des Älteren auch die strotzende Lebenskraft und -lust des Jüngeren brach, diese zwei haben lange Zeit gebraucht, um sich innerlich zusammenzufinden. Sie mussten sich zueinander durchkämpfen, um ihres gemeinsamen Blutes so recht inne zu werden, und vielleicht war das mit ein Grund, dass sie sich später so fest umfassten. Ich glaube, dass es gerade die bedeutenderen Naturen sind, die sich auch das, was ihnen schon in der Wiege zufiel, wie die Bruderliebe, erst noch erkämpfen müssen , um es ganz zu haben, und ich denke mir sogar die Dioskuren in ihrer Jugend als feindliche Brüder. Der Vater nahm auch den 313 Krieg seiner zwei ältesten Söhne, die damals wie zwei sich bekämpfende Elemente erschienen, nicht so tragisch wie die Mutter, er kannte sein Blut und erinnerte sich, wie viel auch er mit seinem Bruder hatte ringen müssen, bevor ihr Bund fest geschlossen wurde. Es ist gewiss so schön nach aussen, wie beglückend nach innen, wenn eine Familiengruppe von Anfang an fest zusammenhält im Glauben, Wollen und Meinen, aber es deutet nicht auf künftige kräftig entwickelte Persönlichkeiten. In unsrem Hause war es anders, alle bedauerten es ohne es ändern zu können: ein jeder Kopf hatte seine eigene Art, die Dinge anzusehen, und obgleich sich das nach aussen nur als vielfache Nuancierung derselben Weltanschauung darstellte, erschienen diese Abweichungen nach innen oft wie eine grosse Kluft.

Edgar war mit siebzehn Jahren Student; seine Begabung war so gross, dass er auch durch die glänzendsten Leistungen niemand in Erstaunen setzte, vielmehr als in einem Schuljahr das ihm sonst regelmässig zuerkannte Prämium einmal ausblieb, erregte es der Mutter schmerzlichstes Befremden, so sehr war man gewohnt, ihn immerdar in der vordersten Reihe zu sehen. Alfred dagegen sass mit Unlust auf der Schulbank, und da des Bruders reissende Fortschritte den Vergleich herausforderten, galt der arme Junge eine Zeitlang für unbegabt, hielt sich auch selbst dafür, was ihm einmal bittere Tränen auspresste zum grössten Erbarmen unseres Vaters, der ihm nun 314 verdoppelte Liebe zuwandte, um ihn zu trösten. Doch erwies sich diese Fürsorge als unnötig, denn kaum, dass der physische Kraftüberschuss dem Knaben gestattete sich zu sammeln, entwickelte er in feuriger Lerngier gleichfalls ganz ausgezeichnete Gaben, und sein vorzügliches Gedächtnis ersetzte ihm, was der ältere an schöpferischer Eigenkraft voraus hatte. Erst nach völlig erlangter Reife aber sollte sich in ihm die strahlende Liebenswürdigkeit entwickeln, mit der er später jeden, der seinen Weg kreuzte, bezaubert hat. Dem Vater wurde gerade noch die Freude zuteil, auch den zweiten Studenten im Hause zu sehen; wie Alfred heimlich das Physicum bestand, um die Mutter mit seinem Erfolg zu überraschen, und seine ferneren Fortschritte, mit denen er sich eifrig auf Edgars Fersen hielt, während in dem dritten Sohne Erwin das künstlerische Talent durchbrach, das ihn von einer mit Unlust besuchten Schule weg in sein natürliches Fahrwasser trieb, das alles sollte er nicht mehr erleben.

Edgar trat, nachdem er den grüblerischen, schweigsamen Knaben abgelegt hatte, an der Schwelle des Jünglingsalters in ein Stadium von hochfliegendem, fast zur Schwärmerei gehendem Idealismus und stellte Anforderungen an die menschliche Natur, wie sie nirgends erfüllt werden. Jünglingsfreundschaften erfasste er mit heiliger Glut und litt bitter von dem Kontrast seiner hochgespannten Erwartungen mit der Realität des Lebens. In diesem Alter, das bei begabten 315 Naturen ganz der Idee gewidmet ist, warf er sich auf das Studium der sozialen Probleme und nahm, da sein feuriges Temperament ihn nicht lange bei der Theorie verharren liess, an der sozialistischen Propaganda teil. Es waren die mütterlichen Weltverbesserungsträume, nur ins Männliche potenziert, wie er überhaupt in seinem Wesen vielfach nach der Mutter geartet war; ihr bewegliches Blut führte ihn denn auch frühe hinaus in die Welt, wo seine Führer- und Heldennatur sich zu ihrer wahren Bestimmung entwickeln konnte und wo der Zug zum Absonderlichen, der in ihm lag, sich nur noch als Originalität und vollkommene Unabhängigkeit im Denken und Handeln äusserte. Seine Entwicklung ging stossweise unter heftigen Zuckungen vor sich, deren jede ihn um ein sichtbares Stück auf seinem Wege vorwärts brachte. Natürlich fehlte es dabei an Harmonie und wohnlich war es damals nicht in seiner Nähe. Er war wie eine immer zuckende, züngelnde Flamme. Aufs intensivste durchdrungen von dem, was er gerade für das richtige hielt, ertrug er keinen Widerspruch, am wenigsten von der Schwester, die jünger war als er und mit der er in der Kindheit jeden Gedanken, jede Regung geteilt hatte. Noch immer hingen wir aneinander wie zur Zeit, wo wir gemeinsam von einem Wikingerschiff träumten, mit dem wir die Meere befahren und ferne Länder entdecken wollten, aber auch ich musste mir jetzt meine eigenen Wege suchen. Seine Liebe rührte mich ebenso oft, wie mich 316 seine Tyrannei empörte. Er warb glühend um Gegenliebe, wollte mir aber keine Freiheit lassen und empfand jeden selbständigen Gedanken als ein an ihm begangenes Unrecht. Man musste alle Diskussionen vermeiden, aber ihn schmerzte schon das Schweigen, wenn er darin eine andere Meinung las. In weit höherem Masse als später befriedigte ihn damals eine rein materialistische Weltauffassung, mit der ich niemals etwas anfangen konnte, und er sah in meinem Offenlassen der metaphysischen Türen den ersten Schritt zum Aberglauben. Politische und soziale Fragen mussten wir gleichfalls vermeiden, denn er suchte das Heil in einer völlig neuen Gesellschaftsordnung, und ich sehnte mich nach höheren Kulturformen: sein Schlagwort war »frei«, das meinige »schön«; wir hätten sie ebenso gut austauschen können, denn im Grunde wollten wir doch beide dasselbe, und häufig genug war bei unseren erregtesten Kontroversen der Unterschied nicht grösser, als einstmals im Kinderwägelchen zwischen Zidde und Didde. In der Literatur fanden wir uns wieder, allein selbst hier gab es Gebreiten, wo es nicht geheuer war. Auch durch eine seltsame catonische Strenge, wie sie oft den Übergang vom Knaben zum Jüngling zeichnet, erschwerte er der Schwester und sich selbst das Leben, denn harmlose Tanzvergnügen, denen ich mich gerne hingab, verursachten ihm Schmerz, da er sie als verwerflich betrachtete. Oft stellten sich wohlmeinende junge Freunde, die beiden 317 Teilen gleich ergeben waren, als Puffer dazwischen, um die Ausbrüche seines leidvollen Unmuts auf sich selber abzulenken. In schmerzlichen Gedichten, worin noch der frühere Zusammenklang nachzitterte, klagten wir einander gegenseitig dieser Entfremdung an, die doch von keinem Teile gewollt war. Bald aber hatte er dieses wunderliche Stadium durchlaufen, er legte den Cato ab und warf sich mit einer überraschenden Wendung in die stärksten Wogen des Lebens, ohne seine Innerlichkeit und seinen Idealismus dabei einzubüssen. Dieser Umschwung fiel mit seinem Übergang aus der Philologie in die Medizin zusammen, der von mir mit Jubel begrüsst wurde, weil ich das deutliche Gefühl hatte, dass bei den Eigenheiten seines Wesens die Philologie ihn abseits vom Leben geführt hätte. Bei den Eltern erregte das »Umsatteln« zuerst einige Bestürzung, allein er verwischte schnell diesen Eindruck, indem er nicht nur das in dem ersten Fach verbrachte Semester wieder einholte, sondern in seinem Lauf alle Mitstrebenden hinter sich liess. Auch das ausgelassene Schwelgen und Schwärmen, dem er sich jetzt ergab, hielt seine Fortschritte nicht auf, denn die durchtollten Nächte waren ihm kein Hindernis, des Morgens so zeitig ins Kolleg zu wandeln, wie das bedächtigste Muttersöhnchen, und sein Kopf blieb auch inmitten der lautesten Zerstreuung zur Arbeit gesammelt. Schon damals brausten über sein Jünglingsherz Stürme, die man seiner mädchenhaft-zarten, 318 vergeistigten Erscheinung nicht zutraute. Dieses intensive Erleben begann jetzt die anfängliche Einseitigkeit seines Wesens auszugleichen, und die starke äussere Tätigkeit, zu der ihn die neue Berufswahl führte, liess kein Verbohren ins Abstrakte mehr zu. Während er so aus den Seltsamkeiten seines Knabenalters herausschritt, entwickelte sich jetzt in ihm eine unwiderstehliche Intensität des Wollens und Tuns, die ihn wie eine aus dem Rohr geschleuderte Kugel erscheinen liess.

Alle diese Entwicklungsphasen der Jugend spielten sich ab, ohne dass der Vater darauf eine Einwirkung zu üben suchte oder sie nur zu sehen schien. Vor allem hütete er sich, unseren hochgehenden Jugendmut durch seine Enttäuschung und Resignation niederzuschlagen. Um keine Illusion wollte er uns bringen, er, der so viele Illusionen begraben hatte, und ein jedes sollte sich, soweit es an ihm lag, nach seinen eigenen innersten Gesetzen entwickeln. Nicht einmal über poetische Dinge gab er mir je den leisesten Wink, noch sprach er ein Wort über den massenhaft von mir verschlungenen Lesestoff. Unermüdlich trug er mir von der Bibliothek die Heinebände herunter, in deren Lektüre ich unterschiedslos schwelgte, obgleich ich wusste, dass er diesen Dichter nur sehr mit Auswahl liebte, was ich ihm damals sogar ein wenig übel nahm. Sein einziger Protest gegen meinen Kultus bestand in den Worten: »Du wirst vielleicht auch einmal anders darüber denken;« eine Prophezeiung, die erst 319 viele Jahre später eintraf, als vor meinen Augen der Flitter dieses Dichters abfiel und seine echte Poesie in neuer Stärke hervortrat; da lernte ich die väterliche Weisheit bewundern, die mir keine Erkenntnisse aufdrängen wollte, die für mein Lebensalter verfrüht waren. Meine eigenen poetischen Versuche, die ihm hinter meinem Rücken vorgelegt wurden – er las sie, lächelte, streichelte meinen Kopf, aber er sagte mir kein Wort darüber. Er hatte überhaupt eine heilige Scheu vor dem Wachstum der jungen Seele und hielt jedes willkürliche Eingreifen für frevelhaft, ganz im Gegensatz zu der »Treibhausungeduld« der Mutter, wie er gelegentlich deren Drängen und Schieben nannte. Mich besonders behandelte er gar nicht als das Kind, das ich war, sondern so, wie nach des alten Tacitus Zeugnis die Frauen von unseren germanischen Urvätern behandelt wurden. Er liess, was aus meinem Kindermunde kam, wie eine Eingebung gelten, wozu die Ähnlichkeit unserer Instinkte viel beitragen mochte: wenn ihm Menschen missfielen, – das waren neben den rohen oder kleinlichen vor allem solche, die er »naturlos« nannte – so fühlte ich das an meiner eigenen instinktiven Abneigung, denn Persönlichkeiten wurden nie erörtert, er liess jeden in seinem Zusammenhang gelten und legte sein Urteil nur in die schweigende Stellung, die er gegen ihn einnahm.

Je weniger er seine dichterische Welt mehr gestalten konnte, desto mehr beschäftigte ihn ihr 320 inneres Weben; man scheute sich, ihn anzusprechen. In tiefem Schweigen lebte er neben uns, meist mit einem Abglanz seiner höheren Welt auf den Zügen, niemals mürrisch oder verdrossen, aber ebensowenig fröhlich, ich erinnere mich kaum, ihn einmal lachen gehört zu haben. Den Kopf aufrecht und die Augen voll Glanz, die Hände auf den Rücken gelegt, die hohe Gestalt noch unberührt vom Alter, so sah man ihn auf den Strassen, in den Alleen Tübingens vor sich hingehen, und oft blieben die jungen Leute stehen, um sich diese ungewöhnliche Erscheinung einzuprägen. Verkehr pflegte er wenig. Sein nahes Reutlingen besuchte er zuweilen, nicht allzu oft, um den Duft der Erinnerung nicht zu gefährden. Unter unseren jungen Freunden war ein Philologe ihm besonders lieb; wenn dieser ihn auf dem Spaziergang begleitete und die Rede auf vergleichende Sprachforschung brachte, ein Gebiet, das ihn von jeher tief interessiert hatte, da lebte er auf, ein inneres Glänzen hob an, und mit einem Male wurde er mitteilsam. Nur die Welt seiner Phantasie durfte nicht aufgestört werden; jeden Versuch, den er machte, hineinzugreifen und sie zu formen, hatte einen vulkanischen Ausbruch zur Folge, bei dem alle Gestaltung unmöglich wurde, und das erregte Nervensystem brauchte alsdann lange Zeit, sich wieder zu beruhigen. Sein rhythmisches Gefühl war so empfindlich geworden, dass ihn jede heftige unruhige Bewegung reizte, er litt darunter, wenn man auf der Strasse 321 nicht mit ihm Takt hielt oder Begegnende zwischendurchgehen liess. Omina, nicht mehr geglaubt, aber von einer früheren Menschheit der Empfindung vererbt, mochten mitspielen: er hasste es, wenn man mit dem linken Fusse zuerst in sein Zimmer trat. In den letzten Jahren konnte es ihm in diesen Dingen niemand ausser mir mehr völlig recht machen; daher wurde ich meist gerufen, ihn auf dem Spaziergang zu begleiten, er bot mir dann ritterlich den Arm, was er schon zu tun pflegte, als ich nur eben an seinem Ellbogen hinaufzuwachsen begann, aber er setzte meist seinen stummen Monolog fort. Ein luftigeres Band hat wohl nie Kinder mit ihrem Vater verbunden; als er geschieden war, hielt sein Andenken die Hinterbliebenen beinahe fester zusammen, als zuvor seine leibliche Gegenwart.

Er seinerseits wusste wenig von unserem Leben. Glücklicherweise sah er auch nicht, was das Verhängnis, anders zu sein als andere, seiner Tochter auf diesem Boden für eine schwierige Stellung bereitete. Als ich aus dem Traum der Kindheit aufwachte, fand ich mich rings von einer feindlichen Welt umgeben, die mich mit einer Erbitterung verfolgte, deren Ursache mir völlig dunkel war. – »Sie leben Ihrer Zeit um fünfzig Jahre voraus,« pflegte unser Freund und Hausarzt, der treffliche Dr. Gärttner, meiner Mutter zu sagen. Dieses Vorausleben, woran sie sich von Jugend auf gewöhnt hatte, erregte jetzt unter den Pfahlbürgern Tübingens einen ganz anderen 322 Anstoss, als vor Zeiten in dem weltmännisch-toleranten Kreis, dem sie durch Geburt angehört hatte. Allein die Bosheit konnte doch nicht so recht an sie heran. Ihr Trieb zum Helfen und Wohltun, der sich nie genug tat, war zu bekannt, und ihre Anspruchslosigkeit und Nichtbeachtung des Äusseren, die ihr etwas Unpersönliches gaben, entwaffneten das Übelwollen. Man wusste überdies ganz gut, dass ihrem streitbaren und fröhlichen Gemüt die Kritik des Philisteriums nur ein willkommener Scherz gewesen wäre. Also liess man sie gelten, wie man am Ende jeden gelten lässt, dem man nicht beikommen kann. Ihre freien Reden über philosophische Dinge zogen der Familie in dieser kleinbürgerlichen Welt den Ruf des Atheismus zu (ein komisches Wort, nebenbei gesagt, bei dem ich mir nie etwas denken konnte); weil sie sich aber jahraus jahrein mit den waschechtesten Frommen der Stadt auf den Pfaden des Wohltuns begegnete, flösste sie diesen persönlich so warme Sympathien ein, dass sich kein Tadel an sie selbst heranwagte. Dagegen hatten die Söhne in der Schule den Strauss auszufechten, diese standen ihren Mann, und bald nahm die alma mater sie in ihre Arme, deren Zöglinge dem Philister heilig und unantastbar waren. Einen um so günstigeren Angriffspunkt bot die heranwachsende Tochter, die von der Aussenwelt, ihren Meinungen und Konventionen überhaupt nichts wusste. Durch die versäumten Antrittsbesuche stand unser Haus abseits des 323 gesellschaftlichen Verkehrs, somit kannte man uns im Grunde gar nicht, und die Legendenbildung hatte ein um so freieres Feld. Ich wurde auch in Tübingen nicht in die Schule geschickt, weil meine Eltern von den damaligen Mädchenschulen nicht viel Gutes erwarteten, daher hatte ich keine Mädchenfreundschaften, und von klein auf nur an den Umgang der Brüder und ihrer Freunde gewöhnt, wusste ich gar nicht mit dem eigenen Geschlechte umzugehen. Die häusliche Abgeschlossenheit, der ungewöhnliche Rufname und die noch ungewöhnlichere Erziehung machten mich zu einem Gegenstand des Misstrauens, als ich noch in den Kinderschuhen ging und die Welt mit Kinderaugen ansah. Die befremdendsten Dinge wurden gemunkelt, darunter auch, dass ich die klassischen Sprachen triebe, und das letztere war sogar richtig. Nun gab es aber nichts, das von der weiblichen Moral strenger verdammt wurde. Grund genug für die fortschrittsdurstige Mama, nicht mit ihrem Erziehungsprogramm hinter dem Berge zu halten. Jedoch der Bannfluch traf nicht sie, die ihn gerne getragen hätte, sondern das Kind allein. Ich musste es als einen Teil der Weltordnung hinnehmen, dass mir, wo ich vorüberging, gehässige Blicke, böse Reden und gelegentliche Steinwürfe folgten. Als ich heranwuchs und persönlich auf den Plan trat, wurde es noch viel schlimmer. Die Kultur des Äusseren war ja ebenso verpönt wie die des Geistes: die Bescheidenheit musste sich durch Ungeschmack 324 ausweisen, körperliche Übungen, vor allem das Reiten, galten bei einem Mädchen für einen Frevel gegen menschliche und göttliche Ordnung, der selbst die Behörden alarmierte. Sogar die Hefe der »unteren Stadt« mit ihrem dumpfen Aberglauben wurde allmählich gegen die Übeltäterin aufgehetzt, für die das Fest der Jugend durch diese Verfolgungen einen geheimnisvoll tragischen Untergrund bekam; es war wie ein Tanzen auf grollendem Vulkan, so lange das Ansehen des Vaters die Familie deckte. Nach seinem Hinscheiden verging nur kurze Frist, so war das ganze Geschlecht des Heimatdichters Hermann Kurz ausgewandert, um sich auf fremdem Boden anzusiedeln, wo drei seiner Söhne die letzte Ruhestatt gefunden haben.

In jenem seltsamen, mir selber kaum mehr glaubhaften Krieg, den eine ganze Stadt mit einem kaum erwachsenen Mädchen führte, gab es für mich nur eine Waffe, von der ich immer und immerzu den ausgiebigsten Gebrauch machte: die ganze feindselige Umwelt als nicht-existent zu betrachten. Ich wusste nichts, rein gar nichts von den Personen, aus denen sie sich zusammensetzte; ich verschloss absichtlich mein Ohr, wenn Namen genannt oder Persönlichkeiten erörtert wurden. Dies ist der Grund, weshalb ich die letzte Umgebung meines Vaters nicht mit den Farben des Lebens malen kann, denn mit der Schar der Widersacher sind leider auch die Wohlgesinnten, die eine freundliche Ausnahme 325 machten, in meiner Erinnerung verblasst. Ich habe diesen namenlos gewordenen Guten in meinem Herzen einen Altar errichtet, wie die Athener dem unbekannten Gotte; aber die gewaltsam verwischten Bilder wieder hervorzuzaubern vermag ich nicht. Jeden Pflasterstein aus der Stadt meiner Jugend kenne ich auswendig, über ihre Bewohner aber wusste ich mir eine absichtliche Unkenntnis zu erwerben, die auf mich selber in späteren Jahren wahrhaft komisch wirkte. Nur so konnte ich mich vor der Gefahr retten, ein völlig verzerrtes Weltbild ins Leben hinüberzunehmen.

Die letzten Jahre meines Vaters waren vorzugsweise von der Redaktion des deutschen Novellenschatzes ausgefüllt. Dieses Unternehmen, das er mit Heyse an Stelle des verunglückten Kalenders gegründet hatte, erwies sich als unendlich segensreich. Es lieferte die Mittel zu einem etwas bequemeren Dasein und gab dem Dichter bei seinem leicht erweckten Optimismus die Hoffnung, seinen Kindern dereinst doch noch ein Vermögen zu hinterlassen, eine Hoffnung, die sich zwar nicht mehr erfüllen sollte, die aber doch seinen Lebensabend noch einigermassen erhellte. Der Novellenschatz des Auslands, der noch hinzutrat, gewährte ihm die Freude, seine heranwachsende Tochter zur Mitarbeiterin zu haben, da ich die in Vorschlag gebrachten fremdsprachigen Novellen gleichfalls zu lesen bekam und auch einige zur Übersetzung zugewiesen erhielt, denn ich hatte schon vom zwölften Jahre an durch 326 Übersetzungen für Zeitschriften meinen Stil geübt und mir damit auch ein kleines Nadelgeld erworben. Der Novellenschatz gab meinem Vater nicht nur zum erstenmal das Gefühl eines gewissen Wohlstandes, er trieb ihn auch aus seiner Vereinsamung heraus, indem er ihn zum schriftlichen Verkehr mit den zeitgenössischen Autoren nötigte und zugleich seinen halbverschollenen Namen wieder unter die Leute brachte.

Zu Anfang des Jahres 1870 trat eine literarische Aufforderung an ihn heran, die für ihn eine Quelle reinster Freude wurde. Paul Konewka, der begabte Silhouettenschneider, wünschte, dass Hermann Kurz den Text zu seinen Fallstaffbildern schreibe, und erschien selber auf ein paar Tage in Tübingen, um sich mündlich mit dem Dichter auszusprechen. Mein Vater fand ebenso grosses Wohlgefallen an des Künstlers Persönlichkeit, wie an den Werken seiner Hand. Konewka war polnischer Abkunft, aber als Deutscher geboren, ein noch junger Mann von gewinnendem und bescheidenem Wesen, der slawische Beweglichkeit mit deutscher Kernhaftigkeit verband. In einer Gartenwirtschaft am Neckar verbrachten wir einen heiteren Abend mit ihm, wobei er allerlei Proben seiner Kunst zum besten gab, mit der Geschwindigkeit eines Hexenmeisters zu unsrem Ergötzen springende Häslein, lauschende Rehe und anderes Getier, dazwischen in bedachtsamerem Tempo auch menschliche Schattenrisse, worunter den meinigen, schnitt.

327 Mein Vater ging mit der grössten Lust ans Werk. Durch seine Übersetzung der »Lustigen Weiber« und seine langjährigen Shakespearestudien, die sich ja mit Vorliebe auf den Spuren des dicken Ritters bewegen, lag ihm der Gegenstand besonders nahe, daher niemand geeigneter war, als er, den geistreichen Fallstaffzyklus des Künstlers mit gleicher Fülle von Geist zu interpretieren. Wenn die Bilder die Vorstellung erwecken, als hätte der Künstler bei dem berühmten Wirt zum Hosenbande mitgekneipt, um die extravagante Gesellschaft in ihrer ganzen Lebenswahrheit gleich heimlich unterm Tische abzukonterfeien, so macht der Verfasser des Textes nicht minder den Eindruck, als ob er aus persönlicher Bekanntschaft seine Erläuterungen hinzufüge. Sie waren ja auch in der Tat sein alter intimer Umgang, diese tollen Kumpane, denen er seit lange ihre heimlichsten Beziehungen und ihre sonderbarsten »Humore« abgefragt hatte. Eine ganz beträchtliche Dosis Spezial-Studium der Elisabethischen Zeit ist hier in perlenden Champagner aufgelöst, um dem Leser ganz unmerklich unterm Schaume eingegeben zu werden. Fast perlt es dann und wann ein wenig gar zu stark. Neben den Shakespeareschen Einfällen quellen des Verfassers eigene in unaufhörlichem Sprudel, mit Anspielungen und Zitaten vermischt, von denen einige schon während er schrieb, nicht mehr allverständlich waren, denn es ist mitunter, als redete er zu einem imaginären Publikum, bestehend aus 328 seinen Jugendfreunden, die aber damals zum Teil schon gestorben waren. Konewka selbst war einen Augenblick betreten über die Fülle, die ihm entgegenquoll; es schien ihm fast, als ob der Text, statt die individualisierenden Züge seiner Schattenrisse zu erklären, diese zu einer blossen Illustration herabdrücke. Doch das kleine Wölkchen zerstreute sich schnell; der Künstler sah wohl ein, dass er dem souveränen Humoristen, den er aufgerufen hatte, auch Raum lassen musste, sich neben ihm auszuleben, und dass andererseits seinen eigenen Intentionen nicht liebevoller nachgegangen werden konnte, als es hier geschehen war. Im Juli 1870 war das Werk fertig, allein der Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs verzögerte sein Erscheinen, und als es ein Jahr später vor die Öffentlichkeit trat, da lag der Schöpfer der heiteren Bilder schon im Grabe, von tückischer Krankheit auf der Höhe des Schaffens weggerafft. Sein Verlust traf meinen Vater tief, er hatte den liebenswürdigen Künstler mit seiner ganzen Wärme umfasst, wie das Nachwort zu »Fallstaff und seine Gesellen«Fallstaff und seine Gesellen von Paul Konewka, Text von Hermann Kurz. Strassburg. Druck und Verlag von Moritz Schauenburg. bezeugt.

Unterdessen hatten ungeheure Erschütterungen die Welt völlig umgestaltet. Wer kann sich heute die Zeit noch ausmalen, wo es kein Deutschland gegeben hat und wo der Deutsche im 329 Ausland nur ein verwehtes Blatt im Winde war? Es scheint, als wäre dieses Reich von je gewesen. Und doch liess erst die französische Kriegserklärung und der mit elementarer Gewalt sich vollziehende Zusammenschluss aller deutschen Stämme ahnen, dass es auch für uns Deutsche ein Gesamtvaterland geben könne. Freilich war es für den Partikularismus, der alles, was vom deutschen Norden kam, mit Misstrauen betrachtete, ein schweres Stück, sich dem so lange bekämpften Preussen als dem kriegerischen Oberhaupte anzuschliessen, nicht minder befremdend erschien es den alten Achtundvierzigern, dass eben jener Preussenkönig, der als Kronprinz die Sache der Revolution blutig niedergeworfen hatte, jetzt vom Genius der Geschichte zur Verwirklichung des alten Traums vom Deutschen Reiche berufen wurde, und mancher sah sich durch diesen jähen Umschwung der Dinge völlig aus der Bahn geworfen und verkannte das lang ersehnte Gut um der Hand willen, die es endlich der Nation reichte. Nicht so mein Vater. Er war nie ein starrköpfiger Partikularist und nie ein zielloser Schwärmer gewesen; was er im Jahre Achtundvierzig gewollt hatte, das wollte er noch: kein Wolkenkuckucksheim, sondern ein grosses und grossgesinntes Deutschland und innerhalb desselben ein im Geist und in der Freiheit verklärtes, heimlich trautes Schwabenland. Auch Ströme Blutes waren ihm dafür nicht zu teuer, und freudig begrüsste er den »bittern Kelch des Heils«. Seine Augen glänzten 330 heller und heller bei jeder neuen Siegesbotschaft, und als Sedan gefallen war, fügte er seinem »Türsenmärchen«, das auf die Entzweiung der deutschen Stämme anspielte und mit dem ironisch bitteren Vers geschlossen hatte:

Es gibt ja keinen Bruderzwist
Und keinen Oger mehr –

die jubelnde Strophe hinzu:

Doch ja, den Oger gibts zur Frist
In seiner stolzen Babel,
Doch der begrabne Bruderzwist
Macht ihn erst recht zur Fabel.
Ein Zorn im Volk, ein Mut im Heer,
Vorüber Hohn und Spott,
Und lächelnd reicht er uns den Speer,
Der alte Siegesgott.

Er verargte es der Zeit nicht, dass sie waffenklirrend über sein Triasideal hinweggeschritten war, und liess das ungreifbare schwarzrotgoldene Traumbild fahren für die nüchternere aber festgefügte schwarzweissrote Wirklichkeit. Als das Reich gegründet war, nahm er, der sonst allem öffentlichen Auftreten auswich, seinen Jüngsten an die Hand und reihte sich mit ihm dem festlichen Umzug ein.

Seine einstigen Parteigenossen befanden sich in einer schwierigen Lage. Weil der Charakterlose mit dem Erfolge geht, mag sich mancher gesträubt haben, den Willen der Geschichte anzuerkennen, nur um nicht den Vorwurf der Charakterlosigkeit auf sich zu laden. Dagegen galten vielleicht andere für charakterlos, die ihrer 331 wirklichen inneren Überzeugung folgten, indem sie sich offen zu der neuen Ordnung der Dinge bekannten. Die an dem alten Programm festhielten, waren von der Zeit überholt und über Bord geworfen. Dass sie dem, was die allgemeine Begeisterung forderte, widerstrebten und an dem Neugeschaffenen nur die Mängel zu sehen schienen, das umgab sie sogar mit einem Scheine von Gehässigkeit. Sie waren mit ihrem Volke nicht mehr einig und stürzten, um freilich wieder hervorgeholt zu werden, als man erkannte, dass in einem gesunden Staatsleben eine Opposition nicht zu entbehren ist, weil ihre Gebilde sonst versteinern. Die Volkspartei hat denn auch diese Tage überdauert, nachdem sie lange die undankbarste aller Rollen mit gewiss widerstreitenden Empfindungen gespielt hat. Einer aber spielte sie aus vollem Herzen, ein völlig mit sich einiger Charakter, geschaffen, nur die eine Seite der Dinge zu sehen, unser alter Freund Hopf. Ihm blieb Preussen nach wie vor das »moderne Mazedonien«, dem er »keinen Mann und keinen Groschen« gönnte. Er konnte denn auch seinen Posten im Landtag behaupten, weil der ganz Überzeugte und ganz Selbständige immer recht behält.

Es war ein Glück für meinen Vater, dass ihn sein früher Rücktritt aus dem politischen Leben gleich von vornherein auf eine höhere Warte gestellt hatte. Er konnte es frei und freudig anerkennen, dass das Reich die Gedanken von Achtundvierzig verwirklicht hatte, wenn auch in einer 332 zum Teil noch unfertigen und verbesserungsbedürftigen Gestalt. In der Buchausgabe seiner Geschichtsbilder aus der Melacszeit, die 1871 unter dem Titel »Aus den Tagen der Schmach« erschien, hat er sich noch einmal mit seiner politischen Vergangenheit auseinandergesetzt und von der Wandlung seines Innern, die eine seiner Natur selbstverständliche Entwicklung war, Zeugnis abgelegt. Nicht alle seine Freunde haben ihn damals verstanden, wenn auch niemand wagte, seine Haltung zu bemäkeln, und die alten Bande der Liebe und Treue blieben diesmal von den politischen Lüften unversehrt. –

Ein Volk wandelt nicht ungestraft unter Siegespalmen. Die Jahre, die auf unseren grossen nationalen Aufschwung folgten, sind vielleicht mit von den hässlichsten und ideallosesten gewesen, die Deutschland gesehen hat. Es galt jetzt vor allem reich zu werden, um den neugewonnenen Rang nach aussen zu behaupten. Aber wenn die grossen Staatsumwälzungen nicht mit Rosenwasser gemacht werden, der wirtschaftliche Kampf ist noch minder wohlriechend. Hier fiel er zusammen mit der von auswärts kommenden materialistischen Zeitströmung, die die letzten Reste des altersschwach gewordenen deutschen Idealismus hinwegfegte. Dieser Idealismus war ein allzu innerlicher gewesen, dem es an allem mangelte, was zur äusseren Kultur nötig ist. Vergebens hatte Goethe gestrebt, seine Nation einer breiteren ästhetischen Entwicklung entgegen zu 333 führen, als noch die Mittel zu einer solchen durchaus fehlten. Ehe ein Volk Kunstschätze sammeln und schaffen, seine Plätze und Häuser schmücken und sein Sichtbares pflegen kann, muss es das Geld dazu haben. Aber mit den wirtschaftlichen Interessen, die zunächst im Vordergrunde standen, ging leider eine allgemeine Verrohung und ein wildes Strebertum, wie man es zuvor noch nicht gesehen hatte, Hand in Hand. Die Überspannung des nationalen Selbstgefühls und die masslose Schmähung des gestürzten Feindes, zu dessen einheitlicher Kultur man immer noch aufzublicken hatte, verzerrten vollends die edlen Züge des deutschen Volks; denn der Deutsche ist von Natur viel zu breit angelegt, um nationalen Dünkel zu haben, und um so schlechter steht ihm dieser zu Gesicht. Der Materialismus in Wissenschaft und Kunst vollendete noch die allgemeine Verwilderung der heranwachsenden Generation, die die grossen Schlachten nicht mitgeschlagen, aber sich an den Siegesfesten mit berauscht hatte. Wer in jenen Tagen ein Kulturideal in der Seele trug, der fühlte sich inmitten des allgemeinen Rausches völlig einsam.

Diese Phase des deutschen Geisteslebens zu sehen, blieb meinem Vater erspart, aber er war gegen die ersten Anzeichen nicht blind, und sie trieben ihn zu schmerzlicher Opposition. Doch er rechnete auf die Unverwüstlichkeit des deutschen Idealismus. In unserem Hause waren wie immer die Empfindungen geteilt. Die »violette 334 Republik« spielte jetzt in allen Farben. Der Zeiger unsres Mütterleins wies unverrückt auf Achtundvierzig. Edgar, damals im Stadium höchsten Brausens, erhoffte von der noch ganz jungen Sozialdemokratie die rasche Besserung der Schäden und bekämpfte in mir den ästhetischen Aristokratismus, der ihm doch selbst nicht minder im Blute lag. Unser Vater schwieg wie immer und liess den gärenden Wein verbrausen.

An der Schwelle der Sechzig war er äusserlich noch wenig gealtert, die Augen bewahrten ihren Glanz, Gang und Haltung waren aufrecht, die seidenweichen Haare noch lichtbraun und der Bart nicht allzustark meliert, aber auf sein Inneres begann sich eine Müdigkeit zu legen. »Wenn ich euch versorgt wüsste,« sagte er eines Tages, als er in der Frühe vor seinem Gang zum Schlosse noch zu uns ins Zimmer trat, »so dürfte jetzt wohl ein Morgen kommen, wo ich nicht mehr erwachte.« Dieser Morgen war schon näher, als er ahnte.

Aufnahme vom Sommer 1873

Im Juli 1873 fand in der Lindenallee zu Tübingen die Enthüllung des Uhlanddenkmals statt, wozu die ganze Stadt ein Festgewand anlegte. Die Hitze war glühend an jenem Mittag, ich erinnere mich deutlich des Feuerstroms, der vom Himmel niederrann, denn ich kam trotz des Sonnenschirms mit verbrannter Schulter vom Festplatz. Unser Vater aber musste der Feier mit unbeschütztem Haupte anwohnen und brachte einen leichten Sonnenstich nach Hause. Von da 335 an war sein Befinden gestört. Eine novellistische Arbeit, mit der er sich beschäftigte, jagte die schlummernden Dämonen noch weiter auf. Die »beiden Tubus« sollten in den Novellenschatz aufgenommen werden, aber der bisherige Schluss sagte dem Verfasser nicht mehr zu, und da in der Geschichte Fäden angesponnen waren, die ins Weite deuteten, nahm er diese auf und verknüpfte sie zu einer Fortsetzung. Er führte die beiden Jugendfreunde Wilhelm und Eduard in einem bedeutsamen Augenblick während der Achtundvierziger Bewegung wieder zusammen, und da sollte es nun zu der unerwarteten aber psychologisch höchst wahrscheinlichen Wendung kommen, dass der biedere daheimgebliebene Wilhelm, einst der Stolz seiner hausbackenen Sippe, ein Umstürzler geworden ist, den die Polizei verfolgt, der Vagabund Eduard dagegen, der Auswürfling des »Landexamens«, kehrt als Methodistenprediger aus Amerika zurück, ist aber im übrigen der alte gute Kerl geblieben und trotz eines reaktionären Anflugs (denn in Amerika hat er sich einen nüchternen Weltsinn geholt, der die Unreife der politischen Ideale seines Freundes übersieht) rettet er nach der Sprengung des Rumpfparlaments durch seine Findigkeit und alte Ortskenntnis den immer gleich unpraktisch gebliebenen Wilhelm aus der Fährnis. In der erhöhten Stimmung flossen dem Dichter die Einfalle und Bilder massenweise zu, er klagte, dass er gar nicht alles festhalten könne, und man hörte ihn oft allein im 336 Zimmer laut auflachen. Aber der Guss sollte nicht mehr gelingen; die eigentliche künstlerische Tätigkeit war gehemmt, es blieb alles in chaotischem Zustand. Dieser Reiz, der die innere Welt in quirlende Bewegung brachte, trieb alles hervor, was sonst still in der Tiefe lag. Auch die Umarbeitung des Sonnenwirts trat ihm wieder vor die Seele und der Tristan. Schon während er »Fallstaff und seine Gesellen« schrieb, war eine ähnliche Unruhe in ihm gewesen; diesmal aber nahm sie beängstigende Formen an. Den Hut in der Hand, um sich die Stirn zu kühlen, den Kragen gelockert und das sonst eher blasse Gesicht gerötet, stürmte er eilig geradeaus, um so rasch wie möglich einen Feldweg zu gewinnen. Zur Begleitung wollte er nur mich, und ich trug durch Wochen die Verantwortung, ihn von diesen Gängen jedesmal sicher heimzubringen, woran ich aber schon in viel zarterem Alter gewöhnt worden war. Die langen geschlängelten Wege machten ihn ungeduldig, ich musste mit ihm quer durch die Felder, über Gräben und Bäche, was seiner sonst so skrupulösen Schonung fremder Rechte ganz widersprach. Immer fürchtete ich eine unliebsame Begegnung mit irgend einem groben Bauern, die in diesem Erregungszustand eine schlimme Wendung nehmen konnte, allein hier zeigte sich jener tiefe innere Zusammenhang, in dem er mit der Seele seines Volkes stand: die geringen Leute begegneten ihm, auch ohne ihn zu kennen, immer und überall mit instinktiver 337 Hochachtung. Bewundernswert war es auch, wie er stets den rechten Ton mit ihnen traf. Er stieg nicht zu ihnen hinab, noch minder drückte er auf sie, er hob sie leise zu sich herauf und hinterliess in jedem, mit dem er gesprochen hatte, ein Gefühl beglückter Dankbarkeit. – Er selber nannte diese Erregungszustände seine glücklichsten Zeiten, der Geist der Jugend war alsdann über ihm, er sah alles schön; mittelmässige Verse, die ihm zur Zensur vorgelegt wurden, lobte er überschwenglich, ganz alltägliche Mädchengesichter erschienen ihm wie verwandelt, er konnte auf der Strasse stehen bleiben und mich auf das Wunder aufmerksam machen: »Sieh nur, wie die Soundso sich veredelt hat, sie ist ja eine Schönheit geworden.« Jeden begegnenden Steinlachbauern stellte er zum Gespräch, und in Gesellschaft sprudelte er von Geist und Liebenswürdigkeit. Dr. Gärttner, ein feinsinniger, kluger und gebildeter Mann, der ihn auf einer seiner Wanderungen begleiten sollte, um seinen Zustand zu beobachten, kam entzückt und wie berauscht zurück und sagte mit glänzenden Augen und gerötetem Gesicht: »Nein, dieser Mann ist nicht krank, nicht aufgeregt, er ist nur gestimmt von seinen inneren Schätzen mitzuteilen.« So war es diesem Geist gegeben, noch in seiner beginnenden Zerstörung andere zu bereichern und zu erheben. Mama und ich teilten aber den Optimismus des Hausarztes nicht, wir fühlten zu deutlich, dass es anders stand. Auch Heyse, der von ihr heimlich 338 gerufen, damals nach Tübingen kam, war betreten über das jugendliche Ungestüm, mit dem der Freund ihm auf der Schlossbibliothek entgegenflog. Aus jener Zeit stammt seine letzte Photographie, die bald nach dem Uhlandsfest gemacht wurde und die von dem Andrang des Blutes nach dem Kopfe etwas Gedunsenes hat, das ihm nicht natürlich war.

Aufnahme vom Sommer 1873

Als die Hitze nachliess, begann die Aufregung sich zu legen, und allmählich trat eine Ermattung ein, die mit leiser Traurigkeit gefärbt war. An einem Sonntag, als wir andern einen Ausflug vor die Stadt gemacht hatten, kam er allein mit Alfred nach, und wir begegneten den beiden auf der Landstrasse, wo sie nach ein paar ausgetauschten Worten ihren Weg fortsetzten. Als ich ihm nachsah, durchzuckte mich eine böse Ahnung. Er trug zwar den Kopf hoch wie immer, aber der stürmende Gang der letzten Wochen hatte einem apathischen, fast trägen Schritte Platz gemacht, und es gab mir einen Stich, dass er sein Halstuch, einen länglichen schwarz und weiss karrierten Wollschal, den er zum Schutz gegen plötzliche Winde mitgenommen hatte, lässig am Boden schleifen liess. Dieser plötzliche Umschlag deutete mir nichts Gutes. Aber mit dem Optimismus der Jugend suchte ich mir einzureden, dass eine solche Ermattung die natürliche Folge der langen Aufregungszustände und Vorbote einer sicheren Genesung sei.

Ich weiss nicht, wieviele Tage später es war, 339 dass er über rheumatische Schmerzen in der Brust klagte. Dr. Gärttner verordnete Ruhe und Bettwärme. Der Herbst war unterdessen mit früher und scharfer Kälte eingezogen, die Öfen wurden schon geheizt, und man hielt die Unpässlichkeit für eine Folge des plötzlichen Witterungswechsels. Drei Tage gelang es, den Patienten mit kurzen Unterbrechungen im Bett zu halten. Am Morgen des 10. Oktober stand er jedoch wieder auf, und Dr. Gärttner erklärte das Übel für gehoben. Doch blieb eine Schwere über dem scheinbar Genesenen und über dem ganzen Hause. Er selber fühlte, dass etwas mit ihm vorging, aber er verbarg es den Angehörigen; nur gegen einen von ihm vorgezogenen jungen Hausfreund, der an jenem Morgen Abschied nahm, um ins Ausland zu gehen, äusserte er sich über sein ihm selber unverständliches Übelbefinden. Am Nachmittag war ich eine Stunde lang bei ihm auf seinem Stübchen. Er bewegte sich matt und langsam, aber er bediente noch seinen Ofen selbst, wie er es gewohnt war, nur beim Aufrichten seufzte er tief und griff mit der Hand nach der Brust. Danach sass er in seinem engen Lehnstuhl an der Wand, seine Gedanken schienen über weite Strecken hinzuwandern und dann wieder am Nahen zu haften; halb klang es wie Traum, halb wie prophetisches Schauen. Er sprach auch von Personen, was er selten tat. Zuweilen entgleiste ihm die Satzbildung, doch blieb mir, was er sagen wollte, ganz verständlich. Es schien mir, als sei er am 340 Einschlafen, und so verliess ich ihn. Die ungewohnten kalten Schweissperlen, die ich auf seiner Stirn fühlte, gaben mir ein Gefühl der Beklemmung mit, doch ahnte ich nicht die einbrechende Katastrophe.

Edgar holte mich mit einem Freund zum Spazierengehen ab; man hatte mir Bewegung verordnet, weil seit Wochen eine dumpfe Beängstigung mir den Schlaf nahm. Der Hausarzt hatte noch kurz zuvor wiederholt, dass jede Spur von Gefahr beseitigt sei, und so ging ich. Es war ein schneidend kalter klarer Herbstabend. Auf dem Rückweg zwischen Lustnau und Tübingen kam uns der sechzehnjährige Erwin entgegengestürzt und rief uns die Todesbotschaft zu. Dann sprang er über den Strassenrand und verschwand in den Wiesen. Einen Augenblick standen wir starr, und ich war völlig ausserstande, das Gehörte zu glauben. Aber Edgar schnellte auf und rannte blitzschnell der Stadt zu – er war schon Arzt und kannte den Tod. Wir andern folgten in atemloser Eile. Wir fanden den Entseelten im Bette liegend, ein Lächeln der Verklärung im friedvollen Antlitz.

»In voller Manneskraft wünschte ich plötzlich abzufahren, ehe das Alter mir ein schwächliches Unterducken aufnötigen kann,« hatte Hermann Kurz einmal als Jüngling in sein Taschenbuch geschrieben. Diesen einen Wunsch wenigstens hat dem Vielgeprüften das Schicksal erfüllt.

Er hatte bald nach meinem Weggang zur 341 Ruhe verlangt. Die Mutter war ihm beim Entkleiden behilflich gewesen und hatte ihn schlafend verlassen, um nach ihrem gleichfalls bettlägerigen Jüngsten zu sehen. Nach einer Weile hörte sie einen erschütternden Schrei, der aus des Vaters Dachkammer drang. Sie flog die Treppe hinauf, da sass er aufgerichtet im Bett, kurze konvulsivische Schreie drängten sich aus seiner Brust, die blauen Augen rollten und strahlten noch einmal das intensive dunkle Feuer aus, für das sie in der Jugend berühmt gewesen, so dass der unheimlichschöne Anblick sich der einzigen Zeugin trotz dem Schrecken auf ewig einprägte. Sie rief nach Josephinen und als die Flinkere von beiden flog sie selbst nach dem Arzt, der in der Nachbarschaft wohnte, aber ehe sie nur auf der Strasse war, hatte er den Kopf auf Josephinens Schulter sinken lassen und war, von der Getreuen unterstützt, verschieden. Das Herz war ihm zweimal mitten durchgerissen. – Die Leichenöffnung, die am 11. Oktober stattfand und bei der sein Sohn Edgar den Mut hatte, zugegen zu sein, erwies auch die chronische Entzündung der Hirnhäute, durch die die oft berufenen Nervenstörungen erzeugt waren.

Dass wir seinen Lieblingswunsch nicht erfüllen und nach würdigem Brauch der Vorzeit den entseelten Leib der Flamme übergeben konnten, fiel uns allen schwer aufs Herz. So weit war die Zeit noch nicht fortgeschritten. Am 12. Oktober musste der Sonnenfrohe in die dunkle Erde versenkt werden. Das Begräbnis fand, wie es der 342 Absicht des Verstorbenen entsprach, ohne geistliche Mitwirkung statt, doch waren in dem langen Trauerzug, an dem die ganze Stadt teilnahm, gleichwohl beide theologische Fakultäten vollzählig vertreten. Auch der Glockenklang, den er geliebt hatte, fehlte nicht auf seinem letzten Weg, nur der Männerchor mit seinem Bardenlied »Stumm schläft der Sänger« konnte der Ferien halber nicht zusammengebracht werden. Sein einziger Bruder rief dem Entschlafenen den Scheidegruss ins Grab, und über den Dichter sprach J. G. Fischer schöne weihevolle Worte. Eine trauernde Muse erhebt sich auf seiner Schlummerstatt, von hohen Tannen umgeben, ihrem Sockel ist ein Reliefbild des Verstorbenen von der Hand seines Sohnes Erwin eingefügt. Hölderlin und Uhland sind seine Schlafgefährten. So erwartet er seine Auferstehung im Geist und Herzen des deutschen Volkes.

Grabmonument des Dichters in Tübingen

(wurde nebst der umgebenden Anlage im Jahre 1906 von der Stadt zu dauernder Erhaltung und Pflege übernommen)

 


 


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