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Was verstehende und anerkennende Freundschaft von den Unbilden des Schicksals vergüten kann, das ist Hermann Kurz zu jener Zeit in reicher Fülle vergütet worden. Allen voran war ihm schon das Herz des Grössten zugeflogen: seit dem ersten schönen Buocher Sommer verband ihn innige Freundschaft mit Eduard Mörike, den der jüngere Dichter bereits im »Wirtshaus gegenüber« als den neuen Heros der Poesie gefeiert hatte, darin der ganzen Kritik weit vorangehend; Mörikes Operntext »Die Regenbrüder« wurde der Grund zur persönlichen Annäherung. Krankheit hatte den Verfasser gehindert, die liebliche Dichtung zu vollenden, da ergänzte Hermann Kurz auf die Bitte des Komponisten Ignaz Lachner die fehlenden letzten Szenen mit so geschickter Hand, dass niemand die Bruchstellen erkennen wird. So leicht und elastisch war damals seine Muse, dass er das fremde Werk, an das der Verfasser auch in der Rekonvaleszenz sich nicht zu rühren getraute, in vier Stunden zu Ende brachte. Mörike war hocherfreut, und es begann der beglückendste briefliche Austausch zwischen beiden. Der 96 dreiundzwanzigjährige Hermann Kurz erhielt den Vertrauensauftrag, des älteren Freundes Gedichte für die erste Buchausgabe zu ordnen, unterbreitete dagegen jenem sein eigenes Bändchen zur Zensur und nahm jeden Wink des Gereifteren mit Freuden an. Denn auf diesem Boden herrschte Mörike mit seinem rein lyrischen Instinkte unumschränkt. Hermann Kurz, dem schon damals reizende Lieder gelungen waren und der später in seinem freien Schluss des »Tristan« eine so mächtige lyrische Kraft ausströmte, sollte doch seine vollsten Lorbeern auf einem andern Gebiete pflücken, wo er in der deutschen Literatur keinen Meister über sich erkannte.
Abgesehen von dieser direkten Zensur vermag ich übrigens keinen Einfluss Mörikes auf die Lyrik meines Vaters wahrzunehmen, dafür war schon ihr Naturell zu verschieden. Auch wäre ein solcher chronologisch schwer zu erklären, da meines Vaters erstes und einziges Bändchen Gedichte früher erschien als die Gedichtsammlung Mörikes. Dagegen höre ich in Hermann Kurz' Jugendliedern zuweilen Töne heraus, die mich an Thomas Moore erinnern, mit dem er frühe vertraut war, wie denn auch von den englischen Dichtern, die er übersetzte, keiner so völlig restlos in seinen Versen aufgegangen ist wie dieser. Ich vermisse schmerzlich in der neuen Sammlung »Das Paradies und die Peri«, denn auf dieser Übersetzung liegt ein Glänzen und 97 Flimmern der Sprache, das sie zu einer völlig eigenen Schöpfung macht.
Mit Mörikes Freundschaft war dem jungen Dichter eine neue Welt aufgegangen. So nah die Jugendgenossen seinem Herzen standen, er hatte doch Saiten, auf denen sie nicht spielen konnten, deren Töne erst gegen Mörike laut wurden. Wer sehen will, was die zwei an Humor und Phantasie ebenbürtigen Freunde einander mit vollen Händen gaben, der lese den von J. Bächtold herausgegebenen Kurz-Mörikebriefwechsel.Stuttgart, Kröner 1885. Ich habe zu diesen köstlichen von Geistes- und Lebensfülle sprudelnden Briefen noch einen kleinen Nachtrag zu liefern, der eine Lücke zwischen No. 18 und 19 ausfüllen und verschiedene unverständliche Stellen, besonders das auf ein Petschaft meines Vaters bezügliche Wortspiel en vain und en vin erklären soll. Zum Verständnis der Situation ist es nötig zu wissen, dass Mörike und Hermann Kurz sich persönlich noch nicht kannten, als schon der wärmste Austausch zwischen ihnen im Gange war. Man nahm damals selbst eine so kleine Reise wie zwischen Cleversulzbach und Stuttgart umständlich; besonders der empfindsame Mörike scheute nicht nur einen geistigen Luftwechsel, sondern auch jeden fremden schärferen Luftzug, der ihm in sein stilles Haus wehen konnte. Deshalb war die von beiden Teilen ersehnte Zusammenkunft wieder und wieder verschoben 98 worden. Unterdessen hatte Hermann Kurz' jüngerer Bruder Ernst, der die Begeisterung für den Dichter des »Maler Nolten« teilte, ihn auf einer Reise in seinem Pfarrhaus aufgesucht und war gleichfalls mit ihm in Zusammenhang geblieben. Mörike schrieb dem jungen Mann einen Brief nach Heilbronn, wo dieser am Oberamtsgericht (Polizeihaus) als Revisionsassistent angestellt war, um ihm zu erzählen, wie ein Traum ihn kürzlich auf scherzhafte Weise durch Vermittlung des Adressaten mit seinem Bruder Hermann persönlich bekannt gemacht habe. Dieser Traum hat so ganz das schnurrig-märchenhafte, das Mörikes Phantasie eigen war, und ist dabei so konsequent durchgeführt, dass er, wie dieser selbst bemerkt, ebenso gut seine wache Erfindung sein könnte. Ich glaube daher, allen Verehrern Mörikes eine Freude zu machen, indem ich den Brief mit Auslassung einiger unwichtiger Notizen am Schluss wortgetreu hersetze. Er lautet:
Mein Lieber!
Ich war die ganze Zeit teils unpässlich teils mit so mancherlei Halbgeschäften behängt, dass ich nun freilich etwas spät, doch nichts desto weniger herzlich Ihnen mein Vergnügen darüber ausspreche, dass Sie in hiesiger Nachbarschaft bleiben. Es lässt sich in Heilbronn gewiss behaglich leben, und wenn die Leute auch sehr irdisch daselbst denken, man kann doch bleiben, was man ist.
99 Ich habe Ihnen vor einiger Zeit einen Besuch abgestattet, wiewohl nur im Traum. Weil er zu den lustigen und sinnreichen gehört, kann ich nicht umhin ihn zu erzählen.
Ich kam mit meinem Bruder Louis in Ihr Zimmer, statt Ihrer war aber Ihr Herr Bruder Hermann im Zimmer. Er kannte mich nicht und ich ihn ebenso wenig. Er sagte endlich: Ich weiss nicht, wen ich die Ehre habe usw. worauf ich halb im Scherz antwortete, wir seien zwar hier auf dem Polizeihause, allein ich könnte ihn versichern, wir seien ganz unverdächtige Personen. Sofort sprach man gleichgültige Dinge, vom Heilbrunner Theater u. dgl. und sass einander ziemlich steif gegenüber. Ein Hausknecht kam herein und sagte: es ist jetzt angespannt, meine Herrn! Da fiel mir ein, wir waren nicht sowohl auf der Polizei als vielmehr auf der Post; wir gingen alle drei hinaus und stiegen in die Diligence. Es sass bereits ein Herr darin, der eine Kappe mit sehr breitem Stulp und einen abgetragenen grauen Mantel trug. Die Unterhaltung war gering. Er drehte den Kopf hin und her, ganz leise schnüffelnd, als wäre was Unheimliches im Wagen, welches wohl gar von einem oder dem andern der Passagiere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte sich beinahe beleidigt finden können. Ich überzeugte mich jedoch, dass dieser Ängstlichkeit etwas Krankhaftes und Idiosynkratisches zugrunde liegen müsse, und fing an, im stillen ihn 100 aufrichtig zu bedauern. Auf einmal nahm er einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen Sie, meine Herrn, ich bin Korrektor und Faktor in der J. G. Cottaschen Offizin und habe diese einträgliche Stellung einer sonderbaren Eigenschaft zu danken, die mir zuweilen sehr beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein Druckfehler oder dergleichen in meiner Nähe befindet, so fühle ich es und bin dadurch aufs unangenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher doch die Güte, ein wenig bei sich nachzusehen, ob Sie nicht irgendein Erratum bei sich tragen. Sie werden mich dadurch äusserst erleichtern. Auf dieses zog jeder von uns aus der Tasche, was er etwa Gedrucktes haben mochte; er nahm die Papiere in die Hand, gab sie jedoch nach einem oberflächlichen Befühlen mit dem Bedauern zurück, dass hierin der Fehler nicht enthalten sei. Nun hatte ich zufällig ein Briefkouvert Ihres Herrn Bruders mit hervorgezogen. Sogleich gerieten die Finger des Korrektors in eine zitternde Bewegung, und ich gab ihm das Papier. Er drehte es um, besah das Siegel, und seine Gesichtszüge erheiterten sich plötzlich. Nun sehen Sie, meine Herrn, da stehen über dem Amor, der einen Vogel lockt, die Worte: C'est résister en vain;Die Inschrift des Petschafts hatte wirklich diesen Fehler. es 101 wird jedoch wohl en vin heissen müssen. Wir wunderten uns alle sehr, am meisten aber schien Ihr Herr Bruder erstaunt, nicht sowohl über diese Entdeckung als vielmehr wie ich zu diesem Briefe gekommen. Er fasste sich jedoch sehr schnell und fragte lächelnd den Korrektor, ob er nun ganz befriedigt sei? Ich könnte es nicht sagen, versetzte jener, es ist noch was zurück. – Womit ich Ihnen vielleicht dienen kann, erwiderte Ihr Herr Bruder und reichte seinen Siegelring hin, dessen graviertes Stahlplättchen vollkommen jenem Briefpetschaft entsprach. Ich sah ihn an, er lachte, rief meinen Namen aus und wir umarmten uns aufs fröhlichste. Zugleich warf der Korrektor seinen Mantel zurück, und als ich ihm recht ins Gesicht sah, waren Sie's, der diese Komödie spielte, um mich und Ihren Hermann auf diese lustige Art einander zu entdecken.
Ist das nicht ein musterhafter Traum? Man sollte meinen, er wäre wachend gemacht. Schicken Sie ihn gelegentlich Ihrem Herrn Bruder. Ich habe ihm vor ein paar Tagen auch eine Siegelringsgeschichte aufgetischt, und er wird denken, ich gehe recht drauf aus, die Leute zu petschieren.
Wir sind durch den Schnee neuerdings wieder so tief in den Januar zurückversetzt, dass es immer noch nicht überzeitig scheint, wenn 102 ich Ihnen den Glückwunsch zum Neujahr jetzt noch heimgebe. Bleiben Sie nur gesund. Das übrige kann man für lauter Segen nehmen. Viel Grüsse.
Der Ihrige
M.
Klevers. d. 18. Feb. 1838.
Man hat oft von einer Ähnlichkeit der beiden Dichterphysiognomien gesprochen; ich muss gestehen, dass ich nicht recht weiss, worin ich sie suchen soll, wenn es nicht in der blossen Stammesgenossenschaft ist. Mörikes Dichtung entspringt dem Traumleben, nur dass seine Visionen so deutlich sind wie Bilder der Wirklichkeit. Hermann Kurz dagegen wurzelt im Leben, das ihm seine ewig-typischen Wahrheiten zukehrt. Darum sucht er auch, wie er einmal Mörike bekannte, »aus dem Wald des Märchens immer gleich wieder eine Strasse ins Leben hinauszubrechen«. Denn dort lag seine wahre Kraft, wogegen bei Mörike der Schritt aus der Märchenwelt ins Leben fast immer einen Schritt vom Wege bedeutete. In Mörike herrscht das musikalische Element vor, in meinem Vater das plastische. Auch an Temperament sind sie so verschieden wie möglich. Mörike lebte ausschliesslich mit den Instinkten; alles Untersuchen, Erörtern geht ihm gegen die Natur, kaum, dass er es über sich gewinnen kann, ein bestimmtes Urteil auszusprechen, das dann freilich, weil rein aus dem Instinkte 103 geflossen, unwiderstehlich ist. Auch den »engen Rosenbanden der Dichtung« entfliegt er, wie er selbst einmal gesteht, nur allzu gern, um nur noch in ihrem reinen Dufte »als im Elemente« zu leben, – seine Faulheit nannte sein Freund und Altersgenosse Friedrich Vischer diesen Zug unumwunden, aber er gehörte zu ihm, man möchte den Dichter beileibe nicht anders haben. Diese naive Freude am Dasein und So-sein, das Hinspinnen der Tage in Traum und Märchen war von Hause aus nicht des feurigen Hermann Kurz Sache, den die Sicherheit und Gegenwärtigkeit des Urteils und die Kampfbereitschaft kennzeichnen. Freilich wurde er so gut wie jeder andre, der in Mörikes Bannkreis trat, von der Zaubersphäre magisch festgehalten, dass auch er sich als Bewohner von Orplid fühlte oder in den Wäldern Buochs mit dem Sichern Mann und dem närrischen Wispel Versteckens spielte. Ein betriebsamer Schriftsteller von heute, der gewohnt ist, jedes Goldkörnchen für die Öffentlichkeit auszumünzen, müsste schaudern, wenn er sähe, wieviel Zeit und Laune die beiden Dichter an ein nur dem Eingeweihten verständliches Spiel und andres poetisches Privatgaudium rückten. Die Mitteilung, dass Mörike auf das Grab von Schillers Mutter in Cleversulzbach ein Steinkreuz mit eigenhändig gemeisselter Inschrift gesetzt hatte, beantwortete Hermann Kurz durch einen Schwank in »barfüssigen« Hexametern (diese Versart, die sich in der dramatischen Form sehr überraschend 104 ausnimmt, war ihm durch Mörike neuerdings wieder besonders lieb geworden). Darin wird die Wiederauffindung dieses Kreuzes nach dreihundert Jahren in einem Deutschen Reich unter hohenstaufischer Kaiserkrone und Mörikes künftige Herrlichkeit als des anerkannten rechtmässigen Erben Goethes dargestellt.Jakob Bächtold scheint diesen Schwank, dessen Kenntnis ich der Güte des Herrn Professors H. Fischer verdanke, nicht gekannt zu haben, sonst hätte er ihn gewiss dem von ihm herausgegebenen Kurz-Mörike-Briefwechsel als ergänzenden Bestandteil einverleibt. Mörike diente dem Freunde dagegen in müssigen Stunden mit scherzhaft-phantastischen Zeichnungen und mit drastischen, stark gepfefferten Gedichten, die ihres Inhalts wegen nicht mitteilbar sind, – er liebte nämlich unter Freunden das Derb-Natürliche, das ihm ein notwendiges Gegengewicht gegen die traumhafte Zartheit seiner Poesie war. Im Gegensatz zu den leichten graziösen Bewegungen seiner ernsten Muse kleidete er diese possenhaften Urwüchsigkeiten gern in ein streng klassisches Gewand, so dass sie durch den Gegensatz doppelt komisch wirken. Sie gehören, so wenig sie für die Öffentlichkeit taugen, zur intimeren Physiognomie des Dichters mit.
Zweimal kam ein Riss in diese schöne Freundschaft: der erste, wobei man sich vorübergehend das ›Du‹ aufkündigte, war schnell geheilt, wie der Streit zweier Liebenden, und machte den Bund nur fester. Der zweite, der in die 105 Mannesjahre fiel, entsprang aus dem Unterschied der Naturen und wurde zu einer Kluft, die sich erst kurz vor dem Tode der beiden Dichter wieder schliessen sollte. In beiden Fällen war es der Jüngere, Aufbrausendere, der das Trennungswort sprach, aber beide Male hat Mörike sich brüderlich zum gleichen Teil der Schuld bekannt. Wohl nicht mit Unrecht; vielleicht war im Freundschaftsverkehr der milde Mörike sogar der Schwierigere von beiden. Liess er doch nach der schriftlichen Annäherung genau ein Jahr verstreichen, bevor er den mit so warmer Liebe umfassten Freund von Angesicht zu sehen sich getraute. Seine Reizbarkeit war so gross, dass er oft die Stimme seiner liebsten Freunde nicht ertragen konnte, und an solchen Tagen tat man gut, ihm aus dem Wege zu bleiben. Auch konnte er sich plötzlich in unberechenbare Launen versteifen. Als der allgefeierte Ludwig Tieck im Anfang der vierziger Jahre zu Justinus Kerner nach Weinsberg kam, hatte er sich eine Zusammenkunft mit Mörike, den er sehr hochstellte, in dem gastlichen Hause ausgebeten; an diese sollte sich auch eine Begegnung des berühmten Gastes mit den jüngeren Dichtern Hermann Kurz und Rudolf Kausler (dem grossen Tieck-Verehrer!) knüpfen, die für die weltfremden schwäbischen Poeten von den wichtigsten Folgen sein konnte. In letzter Stunde weigerte sich Mörike zu kommen, »weil ja Tieck auch zu ihm kommen könnte«, und alles fiel ins Wasser. Der gute Kerner war 106 so verzweifelt über den Querstrich, den ihm der Freund machte, dass er in einem Briefe viermal schrieb: »Es ist entsetzlich!« Ganz unrecht hatte er nicht, wenn auch die Freunde über sein Pathos lachten.
Der definitive Bruch fand bei einer politischen Debatte in dem stürmevollen Jahr Achtundvierzig statt und verkürzte beide für den Rest ihres Lebens um den schönsten Verkehr. Darum hat Mörikes Sonne nicht über meiner Kindheit geschienen; kaum dass mein Vater, der in späteren Jahren so schweigsam geworden war, seinen Namen nannte. Aber im Herzen dauerte die alte Liebe fort, und endlich, zwei Jahre vor seinem Tode, brach Hermann Kurz den Bann, indem er bei der Veröffentlichung von Mörikes »Mozart auf der Reise nach Prag« im »Deutschen Novellenschatz« dem Freund und Dichter seine unveränderte Gesinnung öffentlich aussprach. Mörike kam ihm mit gleicher Herzlichkeit entgegen, aber ein Wiedersehen war ihnen nicht mehr vergönnt.
Im Winter nach meines Vaters Tod – ich trat eben ins zwanzigste Jahr – führte mich bei einem Besuch in Stuttgart der gute Onkel Ernst zu Mörike. Die Persönlichkeit des Dichters, der sich den Siebzigen näherte, hatte etwas unendlich Harmonisches, Zartes und zugleich Weltfremdes, man sah ihm an, dass er nur in der ländlichen Idylle, nicht in der modernen Welt des Dampfes heimisch war. Mich begrüsste er mit den überraschenden Worten, dass er jetzt zum 107 erstenmal eine Amerikanerin vor sich sehe. Als Onkel Ernst ihm erklärte, wer ich sei, unterdrückte er eine tiefe Bewegung. Beim Abschied zog Mörike mich zur Seite und trug mir mit tiefem Ernst seine Grüsse »Dorthin« auf. Ich konnte sehen, wie die alte Zeit mächtig in ihm emporgequollen war.
Nur einmal sollte ich noch das Glück haben, Mörike wiederzusehen, als er sich im Sommer 1874 mit seiner Schwester Klärchen zum letzten Male in seinem frühgeliebten Bebenhausen aufhielt, dessen romantische Lage und edler Klosterbau es ihm angetan hatten. Ich besuchte ihn mit meiner Mutter von dem nahen Tübingen aus. Er war jenes Tages in der besten Laune, mitteilsam und voll schalkhaften Humors, der in vielfarbigen Lichtern spielte. Von den drolligen Geschichten, die er über sich selbst zum besten gab, ist mir die Anekdote unvergesslich, wie er einstmals als Lehrer am Katharinenstift in Stuttgart seinen jugendlichen Zuhörerinnen über Goethes Iphigenie sprach und gerade beim Vortrag des Monologs »Heraus in eure Schatten«, vom Bedürfnis nach seinem Schnupftuch getrieben, rückwärts nach der Tasche griff, etwas Weisses, Langes herauszog und zur Nase führte, wobei ihm die ungewohnte Rauheit und Härte des Stoffes auffiel. Aber unbeirrt im Sprechen fortfahrend, wollte er das Tuch wieder in die Tasche stecken, doch nun schien es ihm wie verhext; er stopfte und stopfte und konnte nicht 108 damit zu Ende kommen, je mehr er hineinschob, desto länger wurde es, bis er zuletzt den Kampf aufgab und das Tuch hängen liess. Als er es nach einiger Zeit von neuem langte, kam es ebenso lang aus der Tasche wieder heraus und nun sah er – o Schrecken! –, dass es eine Fenstergardine war, was er bearbeitet hatte. »Aber denken Sie sich,« setzte er am Schluss der Geschichte mit Befriedigung hinzu, »ein ganzer Saal voll mutwilliger junger Mädchen und auch nicht eine, die zu ihres Lehrers Nöten den Mund verzog! Sie sassen sämtlich in heroischer Fassung da, als ob sie nichts gesehen hätten.« – In der Tat war die Verehrung der weiblichen Jugend für den einzigen Mann eine ausserordentliche. – Während wir so im Grünen auf Bänken und Stühlen um einen verwitterten Holztisch sassen, und ich mir die Physiognomie des Dichters beim Sprechen betrachtete, kam über mich die absurde, aber unabweisliche Vorstellung, dass dieser grosse Kopf eines schwäbischen Landpfarrers mit den etwas schlaffen Zügen und den stehenden grämlichen Falten nur eine scherzhafte oder schützende Maske sei, unter der jeden Augenblick ein feiner jugendlicher Griechenkopf oder ein lächelnder Ariel zum Vorschein kommen könnte. Die beiden alten Geschwister begleiteten uns auf dem Rückweg ein Stück weit durch Wiesen und Wald. Schwester Klärchen, die auf dem schmalen Fussweg mit meiner Mutter voranging, erzählte ihr, während Mörike und ich unter andern Gesprächen folgten, von 109 geheimnisvollen jenseitigen Manifestationen, woran beide Geschwister glaubten; soll ja sogar bei Mörikes Brautwahl die Mystik eine Rolle gespielt haben. Indes mochte doch die Schwester diese Dinge buchstäblicher nehmen als der Dichter selbst, denn wenn Mörike geheimnisvolle Töne anschlug, so gingen sie aus dem feierlichen leicht ins spielende über, und man fühlte, dass er selbst die Grenze nicht festhielt.
Beim Abschied wurde mit den Geschwistern ein Wiedersehen verabredet, aber übers Jahr um die gleiche Zeit, als ich mit meiner Mutter und einer Freundin von einer mehrtägigen Schwarzwaldwanderung zurückkam, empfing uns auf der Schwelle des Hauses die Nachricht vom Tode Mörikes.
Es war mir, als sei mit diesem Liebling seiner Jugend die Zeit meines Vaters nun erst ganz zu Grabe gegangen. 110