Isolde Kurz
Hermann Kurz
Isolde Kurz

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Des Dichters Jugendjahre

Hermann Kurz ist am 30. November 1813 zu Reutlingen geboren, der ehemaligen freien Reichsstadt, die ein Dezennium zuvor württembergisch geworden war. Die Eindrücke, die er dort empfing, haben all seinem späteren Dichten und Schaffen die Grundfarbe gegeben. Ich selber kenne die altertümliche, von den Geistern der Döffinger Schlacht umschwebte Jugendstadt meines Vaters nur aus seinen Dichtungen; das Reutlingen, das ich später mit Augen sah, ist davon so völlig verschieden, dass es mir niemals möglich war, beide in ein Bild zusammenzufassen. Seine Eltern waren, als ich zur Welt kam, lange tot. Überhaupt kannte ich keinen von seinen früheren Angehörigen, als seinen einzigen Bruder, der ihn um wenige Jahre überlebte. In meiner Kinderphantasie spielte die mütterliche Familie, das alte Freiherrngeschlecht von Brunnow, unter dessen Reliquien wir heranwuchsen, eine grosse Rolle, während der väterlichen Vorfahren nie von uns gedacht wurde. Das war sehr begreiflich: mein Vater sprach uns nicht von ihnen, und meine Mutter hatte sie nicht gekannt. Sein Schweigen rührte jedenfalls zum Teil davon her, dass er diese Gestalten schon in Poesie verwandelt hatte 15 und dass es ihm gegen die Natur ging, das dichterische Gewebe in seinem Geiste wieder aufzulösen und den nackten historischen Inhalt herauszuholen. Für ihn waren sie nunmehr völlig das, was seine Phantasie aus ihnen gemacht hatte. Ich hielt also, bevor ich seine »Familiengeschichten« kannte, nicht viel auf diese ehrsamen Reutlinger Glockengiesser und Spritzenmeister, und mit der Offenherzigkeit, die Kindern eigen ist, sagte ich eines Tages zu meinem Vater: »Es ist eigentlich doch recht schade, dass unsere Mama nicht lieber einen Standesgenossen geheiratet hat, dann wäre ich jetzt auch eine Geborene.« Er antwortete lächelnd, aber doch mit einem gewissen Nachdruck: »Du bist schief gewickelt, liebes Kind, wenn du dir viel auf deine mütterlichen Ahnen einbildest, die als Raubritter auf ihren festen Burgen sassen und harmlose Wanderer plünderten. Da waren deine Ahnen väterlicherseits ganz andere Leute: regierende Bürgermeister und Senatoren einer kleinen Republik, die über Leben und Tod, über Krieg und Frieden zu entscheiden hatten.« Diese Worte imponierten mir sehr, und von da an betrachtete ich die Reutlinger Vorfahren mit ganz anderen Augen, obgleich ich mich in ihre harte und enge Welt doch nicht hineinzudenken vermochte.

Des Dichters Geburtshaus in Reutlingen

Sie reichen urkundlich bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, wo sie als freie Bauern auf ihrem eigenen Erb und Lehen sassen. Um 1483 war ein Hanns Kurtz von Österreich mit einem 16 Grundstück bei Kirchentellinsfurt belehnt worden. Von da an verschwindet der Name Kurtz nicht mehr aus den Annalen der freien Reichsstadt. Es wird seinen Trägern nachgerühmt, sie hätten frühe das Streben gezeigt, zur geistigen Aristokratie des Landes aufzurücken. Jedenfalls erscheinen sie schon in den ältesten Urkunden als ein freimütiges, unternehmendes, wohl auch etwas hochfahrendes, dabei aber kernhaftes und tüchtiges Geschlecht, das alsbald mit persönlichen Zügen hervortritt. Auch die Wander- und Abenteurerlust, die viele Glieder späterhin weit über die Erde verstreut hat, zeigt sich zeitig: im 16. Jahrhundert begleitet ein Sebastian Kurtz Kaiser Karl V. als Fuggerscher Agent nach Italien und wird durch seine Aufzeichnungen zur wichtigen Geschichtsquelle für den Schmalkaldischen Krieg. Die Familie schrieb sich abwechselnd Kurtz, Kurz und Curtius; unser Zweig hielt an dem älteren »tz« fest, bis im Jahre Achtundvierzig mein Vater, seinem sonst so ausgeprägten historischen Sinn entgegen, das »t« aus dem Namen strich, weil jetzt jeder Zopf fallen müsse. Die Nachkommen haben aus Pietät die von ihm bestimmte Schreibart beibehalten, obwohl sie stets das Aufgeben der älteren Form bedauerten. Unser Familienwappen, ein goldener Löwe, der, auf grünem Dreiberg stehend, eine schwarze Hausmarke in den Pranken hält, wurde im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts verliehen. Ein anderer Zweig, der bald ausstarb, erhielt für die in Kriegszeiten dem Kaiser 17 geleisteten Dienste ein Wappen, worauf der römische Ritter Curtius dargestellt ist, wie er auf weissem Ross in goldener Rüstung in den von Flammen umzüngelten Abgrund sprengt. Unsern Ast begründete ein Michael Kurtz, der zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts an der Spitze einer grossen Werkstatt für Glocken und Feuerspritzen stand und seine Erzeugnisse durch die Schweiz und einen grossen Teil Deutschlands versandte. Von ihm wird berichtet, er sei einmal auf vierzehn Tage in den Turm gesetzt worden, weil er gegen die vielen Steuern opponierte, und bei seiner Freilassung habe er einen Schein ausstellen müssen, dass er nicht, wie er gedroht, den einen oder andern Ratsherrn, wenn sie bei seinem Haus vorüber in die Kirche gingen, niederschiessen würde. Man traute ihm zu, dass er der Mann wäre, seine Drohung wahr zu machen, denn man hatte ein mit zwei Kugeln geladenes Feuerrohr bei ihm gefunden. Auf diesen Feuerkopf folgte sein ebenso energischer Sohn Johannes, jener vielgewanderte Ururahn mit dem spanischen Leibfluch und dem »bordierten Hütlein«, bei dem meines Vaters Familiengeschichten beginnen. Das »bordierte Hütlein«, das der wackere Zunftmeister und Ratsherr als Zeichen seiner Würde trug, wurde in der Verwandtschaft sprichwörtlich bis auf unsere Generation; denn so oft einer aus der Familie den Kopf etwas hoch trug, hiess es von ihm: »er hat das bordierte Hütlein auf«. Dieser Johannes, der sich im Ausland in seiner Kunst sehr 18 vervollkommnet hatte, brachte das väterliche Gewerbe erst recht in Flor. Nach seiner Rückkehr heiratete der stattliche junge Meister jene liebliche, durch einen Vormund um ihr Vermögen geprellte Schafhirtin, deren Geschichte in der »Reutlinger Glockengiesserfamilie« erzählt ist.

In Wirklichkeit hiess sie Magarete; der Dichter hat ihr diesen Namen genommen, schwerlich aus Irrtum, sondern weil er ihn für die im »Witwenstüblein« erzählte Geschichte seiner eigenen Vatersschwester, der bekannten »Frau Dote«, brauchte, und hat ihn durch den gleichfalls poetischen Namen einer andern Vatersschwester Dorothea ersetzt. Herr Johannes war ein heftiger und ehrsüchtiger Mann, der nicht die geringste ihm zugefügte Unbill ertragen konnte; aber als bei dem grossen Brande seiner Vaterstadt, dem er als Spritzenmeister zu wehren hatte, ein langjähriger Freund sein ganzes ihm anvertrautes Hab und Gut veruntreute, nahm er diesen Schlag geduldig als göttliche Schickung hin und begann getrosten Muts sein Handwerk von neuem. Was von ihm in der »Reichsstädtischen Glockengiesserfamilie« erzählt wird, scheint durchweg auf Tatsachen zu beruhen, wogegen bei der romantischen Liebesgeschichte seines Sohnes Franz ebenso wie in der seines Enkels »Wie der Grossvater die Grossmutter nahm« der historische Zettel stark mit dichterischem Einschlag verwebt ist. Dagegen sind die Persönlichkeiten hier wie in den nachfolgenden Geschichten 19 getreu nach den Überlieferungen und zum Teil nach der Erinnerung gezeichnet, besonders jener letztgenannte Grossvater, der alte patriarchalische Senator Johannes, der »Herr Ehni« des Dichters, der als Siebenundachtzigjähriger wenige Tage vor seinem Tod in Gegenwart seines Enkels Hermann beim Scheibenschiessen den Meisterschuss tat. Diesem liebenswürdigen Greis wird eine an den Jünger Johannes erinnernde Sanftmut nachgerühmt, welche Eigenschaft bis dahin nicht zu den vorwiegenden Stammesmerkmalen gehörte. Züge von ihm finden wir später in der heimeligen Gestalt des alten glockengiessenden »Amtsbürgermeisters« der »Heimatjahre« wieder, dem sogar ein verstecktes Kennzeichen beigegeben ist: die Zinnbecher, aus denen der Wackere seine Gäste labt, tragen das Kurtzsche Familienwappen, den Löwen, der auf dem Dreiberg steht. Es liegt ein unwiderstehlicher, aus dem Gemüte fliessender Zauber über der Schilderung seines Heimwesens – »eine Heimstätte, wo wir ewig verweilen möchten,« nennt es der geistvolle Kürnberger in seinen »Literarischen Herzenssachen«.

Vom Ururgrossvater bis zur unvergesslichen »Frau Dote« hat der Dichter vier Generationen seiner Familie in ihren Eigenheiten und ihrer Umgebung geschildert; ihnen schliesst sich noch das Bild vom alten Vaterhause seiner Mutter in Tübingen an, das im ersten Buch der »Denk- und Glaubwürdigkeiten« so lebendig gezeichnet ist. Über die eigenen, früh verlorenen Eltern aber geht 20 der Dichter mit wenigen eingestreuten Worten rasch hinweg; wohl nicht, weil ihn sein Gedächtnis auf diesem Punkt im Stiche liess, sondern aus einer Scheu des Gefühlslebens, die ihm gerade über die Nächsten und Teuersten den Mund verschloss. Es waren auch keine Erinnerungen so heller und freudiger Art, die ihn mit dem eigenen Vaterhaus verknüpften.

Sein Vater Gottlieb David Kurtz, der schon im dreiundvierzigsten Jahre an der Schwindsucht starb, war ein Mann von vorwiegend geistigen Interessen, ein heller Kopf, dabei glühender Verehrer Schillers, der glücklich war, wenn sein begabter Ältester schon als kleiner Junge Schillerische Balladen und andere Gedichte rezitierte. Aber er hatte den kaufmännischen Beruf ohne innere Neigung erwählt, und dieser brachte ihm kein Glück; da er nun obendrein selbst eine Fortschritts- und Dissidentennatur war, sich auch durch einen Aufenthalt in der Schweiz grössere Gesichtspunkte angeeignet hatte, konnte es ihm in der stockenden Enge seiner heimischen Verhältnisse nicht allzuwohl sein. Er wurde ein Parteigänger seines unglücklichen Landsmanns, des »Weltverbesserers« List, und spann dabei nach dem Zeugnis seiner Gattin »keine Seide«. Wie der grosse Nationalökonom um jene Zeit in seiner Heimatstadt angeschrieben war, beweist des Dichters Bericht, dass, wenn er in der Knabenzeit sich irgendwie nicht in den hergebrachten Schlendrian fügen wollte, erschreckte Basen ihm 21 zu drohen pflegten: »Wart, dir wird es gehen wie dem List!« – Durch unglückliche Unternehmungen kam mein Grossvater um den grössten Teil seines Vermögens. Der Kummer über dieses Missgeschick, zu dem sich das körperliche Leiden gesellte, verdüsterte seinen frühen Lebensabend und trübte den Humor, der als Familienzug auch ihm nachgerühmt wird. Darunter hatte die Jugend des Sohnes zu leiden. Die beiden waren ganz geschaffen, sich zu verstehen, aber wie es häufig zwischen einem reizbaren Vater und einem lebhaften Sohne zu gehen pflegt, sie fanden den Weg nicht zu einander. Zwischen dem kränklichen, verstimmten Mann und dem begabten, temperamentvollen Knaben kam es häufig zu Missverständnissen, die noch in der Seele des Sohnes schmerzlich nachzitterten, als er selber ein gereifter Mann war. Als düsterster Schatten aus seiner Jugendzeit begleitete ihn die Erinnerung an des Vaters Sterbestunde. Es war am 13. April 1826, dass den Leidenden in Gegenwart der Seinen der Tod ereilte. Man glaubte ihn schon verschieden, und der zwölfjährige Sohn Hermann hielt ihm ein Licht an den Mund, um zu sehen, ob er noch atme. Da öffnete der Sterbende noch einmal die Augen und liess einen grossen Blick über ihn hinrollen, in dem das erschrockene Kind einen Vorwurf über diese letzte Störung zu lesen glaubte. – Des Vaters unbefriedigendes Schicksal muss dem jungen Hermann Kurz vor allem vorgeschwebt haben, als 22 er im Jahr 1841 einem neugeborenen Neffen die Verse schrieb:Ungedruckt.

– –
Du bist, o Kind, von einem Stamme,
Dem es noch selten hier gelang,
Ein schöner Stern war seine Amme,
Doch leider stets im Untergang.

Die einen sind im Sand versunken,
Von dumpfem Missgeschick bedrängt,
Die andern sind im Schlund ertrunken,
Vom jähen Mut dahingesprengt.

Stets unvollendete Geschicke,
Der Anfang gross, das Ende klein!
Wird das so bleiben mit dem Glücke?
Das Halbe nie ein Ganzes sein?
– –

Sei du es denn, in dessen Leben
Vollendet ist der Väter Haus,
Dein, dein sei unser ernstes Streben,
Und führ es du ans Ziel hinaus.

Dir sei's, mein Liebling, zum Gewinne,
Was edel war an uns und echt,
Du unser Erbe und beginne
Ein neues glückliches Geschlecht.

Dieselben Gedanken und Empfindungen hatte er schon drei Jahre früher in einem Brief an Eduard Mörike ausgesprochen:

»Dieses Misslingen nämlich, von dem ich sagte, scheint den Meinigen – von der gegenwärtigen Generation lässt sich noch nichts sagen – angeboren : mein Vater hatte die grössten Ansprüche auf ein gelungenes Leben und ist bitter getäuscht worden; und ebenso ist es mit Onkeln und Vettern 23 gegangen: die einen taugten gar nicht in die Welt, die andern haben mit dem besten Willen und Verstand nichts Gescheites herausgebracht (ich kann sagen just die, die den Familiencharakter entschieden an sich trugen; an Indifferenten hat's nicht gefehlt, die vorwärts gekommen sind), so dass sich einer, der das in seinem Blute fühlt, oft fragen mag: wird dieser Typus so fortdauern oder kommt zuletzt einer, dem Fortuna das gibt, was sie seinen Vorfahren so oft hinhielt und wieder zurückzog?« – Jener Neffe, dem er die im selben Brief erwähnte, sauer zu verdienende »Vollendung« zugedacht hatte, sollte ihrer freilich nicht teilhaft werden, denn er starb im frühen Kindesalter.

Ich gestehe, dass ich den auch sonst in der Familie verbreiteten Aberglauben, als ob ihre Glieder zum Unheil prädestiniert seien, meinerseits nie begriffen habe. Ich weiss freilich nicht, wer die »im Schlund Versunkenen« sind. Die von dem Dichter geschilderte Ahnengalerie zeigt lauter Charakterköpfe, die sich mit ihren Eigenheiten und ihrem Willen durchzusetzen wussten. Um Hermann Kurz' dornenvolles Dichterlos zu erklären, bedarf es keines besonderen Familienunsterns, die politischen und sozialen Konstellationen seiner Zeit und seines kleinen Vaterlandes genügen dazu vollauf. Und wenn Goethe recht hat, dass das höchste Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit ist, so darf sich dieses Geschlecht sogar ein begünstigtes nennen, denn es hat zu allen 24 Zeiten starke Persönlichkeiten hervorgebracht. Ich will von der späteren Generation, neben dem Dichter selbst, nur seinen Lieblingsvetter, den eidgenössischen Obersten und Präsidenten des Berner Grossrats, Albert Kurtz nennen, von dem er uns Kindern gern das kühne Stück erzählte, dass dieser, als einst in Bern ein Engländer sich in angetrunkenem Zustand in den städtischen Bärenzwinger hinabgelassen hatte, den Unseligen mit eigener höchster Lebensgefahr der fürchterlichen Gesellschaft entriss, freilich schon zerfleischt und als Leiche.

Der Buchdruckerherr Schramm mit Frau und Kindern, worunter als Jüngstes die Mutter des Dichters

War die Stellung zum Vater eine schwierige, so stand der Knabe seiner Mutter um so inniger nahe. Sie war eine Tochter des aus westfälischer Familie stammenden akademischen Buchdruckerherrn Schramm aus Tübingen, eine zarte, stille, sinnige Natur, von der nach den Aufzeichnungen des jüngeren Sohnes der Dichter die feine Auffassung menschlichen Wesens und Treibens und die Milde des Charakters geerbt hat, während der poetische Sinn vom Vater stammen soll. Ob sich das letztere so ohne weiteres behaupten lässt, möchte ich jedoch bezweifeln. Dass mein Grossvater dem phantasievollen Knaben die Romane, die dieser wirr durcheinander las, aus den Händen nahm oder vielmehr riss und ihm dafür Reisebeschreibungen und dergleichen unterschob, zeugt zwar von pädagogischer Weisheit und von gutem Geschmack, und dass er den Aberglauben in jeder Gestalt verfolgte, macht seinem Verstand Ehre; 25 dass er aber den Rationalismus so weit trieb, auch mit den alten »Volksbüchern« in Fehde zu liegen, spricht gerade nicht für poetischen Sinn. Dass das eigentlich Poetische dennoch von Seiten der Schwertmagen stammt, glaube ich aber gerne, denn die Pfarrerin Kenngott, bekannt unter dem Namen der »Frau Dote«, des Kaufmanns David Kurtz älteste Schwester, die die zweite Erzieherin des Dichters wurde, war selbst ein lebendiges Historienbuch und besass daneben eine so grosse Phantasie, dass dieser ihr im »Witwenstübchen« sagen konnte: »Ich weiss, wie schnell du ein Märchen zusammenbringst, wenn man eins von dir haben will.« Von dieser köstlich frischen, temperamentvollen Frau mit der unversiegbaren Laune und dem drastischen Mutterwitz, deren Wesen, freilich in viel engerem Rahmen und unter viel bescheideneren Formen, mannigfach an die berühmte »Frau Rat« erinnert, ist augenscheinlich die Lust am Fabulieren in die Familie gekommen und der Humor, der die Welt überwindet. Dagegen ist der sichere psychologische Instinkt, der sich oft in den Briefen der Mutter Kurtz ausspricht, dem Romandichter als schätzbares Kunkellehen zugefallen. Hinter der kraftvollen Silhouette der Frau Dote tritt freilich die Mutter des Dichters mit ihren zarten, fast hingehauchten Linien etwas zurück, aber eine unbedeutende Frau ist sie darum keineswegs gewesen. Bei aller Zartheit zeigen ihre Briefe eine grosse Selbständigkeit des Denkens, so besonders, 26 wenn sie ihren Hermann wiederholt ermahnt, sich auch der neueren Sprachen zu befleissigen, da er sie einmal nötig haben könne, und vor allem den Widerwillen gegen das Französische zu überwinden, das nun einmal Weltsprache sei. So weit dachte niemand in ihrer Umgebung. Auch ein empfindliches ästhetisches Gefühl ist ihr eigen: einmal prasselt sie in helle Entrüstung auf, als der ebenso fein geartete Sohn sich vorübergehend in einer roheren Ausdrucksweise gefällt, womit die Kameraden ihn angesteckt haben, und vom Klarinettblasen rät sie ihm ab aus demselben Grunde, weshalb einst Alkibiades die Flöte verwarf.

Beide Söhne haben die Frühverstorbene als ein stilles, rührendes Heiligenbild verehrt; von ihr wurde in der Familie auch der aristokratische Zug in der Natur des Dichters abgeleitet. Sie hatte eine für ihre Zeit und ihren Stand durchaus nicht gewöhnliche Bildung und schrieb mit fliessender gleichmässiger Hand – im Gegensatz zu den seltsamen Kratzfüssen und dem fossilen »Gotisch« der Frau Dote – ein modernes, fast reines Deutsch. Auch ihre jüngere Schwester, die im Jahre 1863 verstorbene Pfarrerin Mohr, von der noch eine Erinnerung wie ein blasser Schein in meine eigenen Kinderjahre fällt, hob sich durch ein feineres und vornehmeres Wesen von ihrer Umgebung ab, soll jedoch der Schwester nicht gleichgekommen sein. Von diesen Jugendeindrücken schreibt sich jedenfalls des Dichters 27 Vorliebe für zarte weibliche Naturen her, die in gedrückten Verhältnissen ihren angeborenen Adel bewahren. Solche spürte er im Leben gerne auf und hat ihren Typus auch im »Weihnachtsfund« in der sanften und fast seherisch tief blickenden Gestalt der Schusterin gezeichnet, die zwischen den derben Figuren der Umgebung hervorschimmert wie eine in grobes Gestein eingesprengte Goldader. Trotz der geringen Sorgfalt, die damals auf die Mädchenerziehung verwendet wurde, hatte der civis academicus Schramm erklärt, dass jede seiner sechs Töchter etwas lernen dürfe, entweder Malen oder Musik; meine Grossmutter mit zwei andern Schwestern hatte das Malen gewählt, was ihr denn als Witwe, freilich in bescheidenster Form, zugute kommen sollte, da sie durch Anmalen von Bilderbogen (zu zwei Kreuzern pro Stück!) einen kleinen Zuschuss erwarb, wobei ihr der jüngere Sohn Ernst, wenn er die Schulaufgaben fertig hatte, des Abends noch ein paar Stunden behilflich war. Es gibt ein rührendes, altväterisches Familienbild, sich die beiden, Mutter und Sohn, bei der Öllampe oder dem Talglicht über ihren Bilderbogen zu denken, wie sie mühsam ein paar Kreuzer zusammenverdienen, das Taschengeld für den begabten Ältesten, der damals schon als Zögling in der Maulbronner Klosterschule sich auf das theologische Studium vorbereitete.

Der Dichter charakterisiert das Wesen seiner Mutter in wenig Worten, indem er sagt, dass sie 28 alle Eigenschaften zur Führerin des heranwachsenden Jünglings gehabt hätte, dass es ihr aber bei ihrer Milde und Sanftmut gänzlich an der Schneide gebrach, die einem Knaben gegenüber erforderlich ist. Deshalb rief die Witwe in schwierigen Fällen, wo die mütterliche Autorität nicht ausreichte, die im Nachbarhause wohnende Schwägerin Kenngott zuhilfe, die das Regieren von Grund aus verstand. Mit welch anmutiger Überlegenheit die alte Frau dabei zuwege ging, ist im »Witwenstüblein« zierlich dargestellt. Des Autors ausführliche Schilderung seiner Schulnöte und wie schalkhaft klug die Frau Dote als strickende Muse seinen lateinischen Pegasus zum Wettlauf anfeuerte, hatte Heyse in seiner Ausgabe der Gesammelten Werke aus künstlerischen Gründen geopfert, und es hätte vielleicht dabei sein Bewenden haben dürfen, weil die Hauptgeschichte, von diesem Gestrüppe befreit, sich wirksamer abhebt. Fischer hat die gestrichenen Stellen und damit die etwas beschnittene Gestalt der Frau Dote wieder ergänzt; was die Kunst dabei verliert, hat die Autobiographie gewonnen. Vielleicht ist dieses Kapitel auch kulturgeschichtlich nicht ganz unwichtig; es zeigt, wie sauer unsern Vätern der Weg zur Schule gemacht wurde und was die gute alte Zeit, aus der Nähe gesehen, für ein knochenhartes Gesicht hat. Mit Grausen erinnere ich mich gewisser Massenexekutionen in der Schule, von denen mein Vater in der Erinnerung selbst noch grausend erzählte.

29 In dem halb klösterlich, halb militärisch eingerichteten Seminar dauerte die strenge Zucht, wenn auch natürlich ohne körperliche Strafen, fort; wie ihr der Jugendübermut an allen Ecken und Enden Schnippchen schlug, ist in den »Jugenderinnerungen« ergötzlich zu lesen. Noch ausführlicher hat der Dichter das Maulbronner Treiben in dem früheren Schluss der »beiden Tubus« dargestellt. Manche der dort eingeflochtenen Anekdoten habe ich ihn als selbsterlebte erzählen hören, wie überhaupt in allen seinen Schriften, den einzigen »Sonnenwirt« vielleicht ausgenommen, ein gut Stück Autobiographie verwoben ist.

Ein frischer, geistig angeregter Zug ging durch die ganze Promotion,Unter Promotion versteht man die Abiturienten einer Altersklasse des niedrigen Seminars, die gemeinsam zur Hochschule abgehen; auch diese Altersklasse schlechtweg. der Hermann Kurz angehörte, und die weltabgeschiedene Lage des alten schönen Klosters inmitten tiefdunkler Wälder, seine herrlichen, damals etwas verfallenen Bauformen, regten den Hang zur Poesie und Romantik mächtig auf. Nicht nur zu solchen nächtlichen Abenteuern wie den Kletterpartien über die Dächer und der Entdeckung des berüchtigten Blutflecks an der Mauer in Dr. Fausti Gemach (zu welchem Fund jedoch Mutter Kurtz ketzerisch bemerkte: »Ich glaub's gewiss nicht, dass den Faust der Teufel geholt hat«) taten sich die 30 Kameraden heimlich zusammen; man pflegte auch ganz in der Stille ideale Interessen, die im Seminar als Allotria verpönt waren, und mancher, der später ein zahmer Philister werden sollte, hat damals munter seinen Pegasus mitgetummelt. Da wurde ein »Maulbronner Musenalmanach« geführt, zu dem die mehr oder minder begabten Mitarbeiter ihr Bestes an Poesie oder Witz beigesteuert haben. Von den darin verewigten Namen ist nur der des »Primus« Eduard Zeller, des nachmaligen Berliner Philosophieprofessors, der Öffentlichkeit bekannt geworden. An denselben Zeller ist ein launiges Gedicht meines Vaters gerichtet, worin sich die Strophe findet:

»Zeller, lieber Zeller, sage,
Was ich in dem Herzen trage,
Denn die Philosophen können
Alles was es gibt benennen.«

Beweis, dass jeder von den beiden Siebzehnjährigen seinen künftigen Beruf vorausgenommen hatte. Der Almanach ist zwar von meines Vaters Hand geschrieben, aber die Kinder seiner eigenen Muse enthält er nicht; diese, die neben den dilettantischen Versuchen der andern schon die Löwenkralle zeigen, stehen in einem besonderen Heft; darunter sogar einige seiner besten lyrischen Sachen neben andrem ganz unreifem, wie es dem Alter des Verfassers entsprach. Aus seinem späteren rückblickenden Gedichte »Maulbronn« sieht man, welcher Vorfrühling diese zeitigen Blüten herausgelockt hat. 31

– »Aber nachts, wenn alle schliefen, wacht' ich bei der Lampe Licht
Forschend in des Lebens Tiefen, denn die Ruhe kannt' ich nicht.
Doch es kam ein Frühgewitter über meinen Lebenstraum,
Und ein Doppelregenbogen stand an meines Himmels Saum.
Lieb und Freundschaft, wie erhellten sie mein dunkles Herz zugleich!
Wie mit Leid und Freude machten sie mein armes Leben reich!Hier fanden sich in der ersten Ausgabe der Gedichte von 1836 die Zeilen:
    Wenn ich denke, wie als Gast ich weilt' in ihrem lichten Haus,
    Sprech' ich beide seufzend immer noch mit Einem Namen aus.
Das »lichte Haus« der Liebe und Freundschaft war – die hellgelb angestrichene Apotheke von Vaihingen.

Und in manchem leisen Liede löst' ich dunklen Herzensdrang,
Das in scheuen Tönen zwischen fernem Waldgebüsch verklang. –«

Der liebebedürftige Jüngling hatte sich nach einigen vorangegangenen Enttäuschungen mit dauernder Neigung seinem gleichaltrigen Stubengenossen Edmund Bilhuber angeschlossen, mit dem er Bett an Bett schlief. Von dem Freunde, der auf seine poetischen Interessen einging und sich auch nachmals verschiedentlich an seinen metrischen Übersetzungen beteiligte, wurde Hermann Kurz je und je zum Maienfest oder über die Weihnachtsferien in sein Elternhaus nach 32 Vaihingen mitgenommen, wo der Vater Apotheker war. Dieser, ein literarisch angehauchter und sehr wohlgelaunter Mann, pflegte den jungen Dichter dadurch in Harnisch zu bringen, dass er die im Literaturblatt abgedruckten Angriffe Menzels auf Goethe wiederholte und eifrigst verteidigte, was dann heftige Kontroversen hervorrief. Dort lernte er die drei Schwestern des Freundes kennen, und der ältesten, Luise, widmete er seine ersten und vielleicht ernstesten poetischen Huldigungen. Der Schauplatz dieses ganz aus Illusion gewobenen Jugendglücks hat sich dem Dichter tief ins Herz geprägt; die Enz, die jenes Tal durchzieht, rauschte noch mächtig in seiner Phantasie, als er die »Heimatjahre« schrieb; das Lottchen dürfte die idealisierten Züge der Jugendgeliebten tragen. Auch die Lieder, in denen sich der »dunkle Herzensdrang« löste, sind nicht alle verklungen; die besten davon wie »Bei dem lieblichsten Geschäfte« und »Stille, stille« finden sich noch in der neuen Ausgabe. Ebenso wie die Unruhe einer ersten Leidenschaft trieb den Jüngling das Gären und Wogen der Dichterphantasie umher und der Unmut, sich bei dem eisernen Stundenplan der produktiven Stimmung nicht hingeben zu dürfen. Einige ungedruckte Gedichte aus dieser Zeit lasse ich als kleine Nachlese am Schluss des Kapitels folgen, darunter der Merkwürdigkeit halber ein schwäbisches Sonett, wohl das erste, das in dieser Mundart gedichtet worden ist, wie der Verfasser selbst vermutet. Man 33 erwarte keine reingeschliffenen lyrischen Edelsteine; nur als Zeugnisse des Werdens haben diese Gedichte eines Siebzehnjährigen für die Nachlebenden ihre Bedeutung.

Der Freiheitskampf der Polen regte in der politischen Stille jener Tage das Gemüt des deutschen Volkes mächtig auf. Unsre Maulbronner Jugend spendete der unterliegenden Sache nicht nur reichlichen poetischen Tribut, sie verband sich auch zur werktätigen Unterstützung der Flüchtigen. Die Zöglinge veranstalteten Auktionen, wo dieselben Gegenstände zwei- bis dreimal verkauft wurden; auch Konzerte und eine Theateraufführung »zum Benefiz der edlen Polonen« fanden statt. Hermann Kurz, damals ein schmächtiger, lang aufgeschossener junger Mensch, spielte in Körners »Banditenbraut« die Titelrolle.

Aber das junge Talent mit seinem wühlenden inneren Leben und seinem starken Unabhängigkeitstrieb konnte sich in die starre Klosterdisziplin nicht finden, und seine häufigen Verstösse zogen ihm das Misswollen der Lehrer zu, obgleich gegen seinen Fleiss und seine Fortschritte nichts einzuwenden war. Insbesondere ein Repetent namens Hartmann, ein nicht unedler, aber jähzorniger und nervös aufgeregter Mann, war ihm aufsässig, und es schien eine Zeitlang, als habe es dieser »tiran«, wie ihn die Frau Dote in ihren Briefen nennt, darauf abgesehen, den Ausschluss des unbotmässigen Zöglings zu 34 veranlassen. Es regnete auf den Übelangekommenen mit Noten und Karzerstrafen, die alsbald nach Reutlingen berichtet wurden und beide Witwenstübchen in Angst und Aufruhr setzten.

Zu dem raschen Wesen des Jünglings stehen die angstvollen Mutterbriefe, die der Sohn pietätvoll aufbewahrt hat, in wehmütigem Kontrast. Wie quält sich die arme Frau um die Entwicklung und Zukunft des Wildlings, wie glücklich ist sie, wenn seine Briefe ihr die Hoffnung geben, dass jetzt ein sanfterer Geist in ihn eingezogen sei! Sie sucht ihm das Wesen seiner Lehrer zurechtzulegen, die sie doch nur aus seinen Schilderungen kennt, sie rät dem Ungestümen vom übereilten Freundschaftschliessen ab und warnt vor falschen Kameraden, die sie mit feinem Instinkt aus der Ferne durchschaut. Gewiss ist das Gedicht:

Monika die bange Mutter
Augustins des Stolzen, Hohen

aus der Erinnerung an diese Ängste geboren. – Einmal hat er sich gar eine Pfeife angeschafft! Eine Pfeife, die unnützes Geld kostet, während er weiss, dass das Rauchen im Seminar aufs strengste verboten ist, ja mit Ausschluss aus der Anstalt bestraft werden kann. Aber die Kameraden haben ein heimliches Rauchkonventikel eingeführt, und wer sich entzieht, wird als Kopfhänger verspottet. Schweres Dilemma für ein Jünglingsherz! In einem vier Seiten langen, tränenüberströmten Brief lässt die Mutter Hölle 35 und Himmel auf ihn einstürmen. Und damit nicht genug; auch die Dote mit ihrem Ur- und Kerndeutsch rückt diesmal zur Unterstützung der Schwägerin heran. Mit ihrer erstaunlichen Pfote und einer ganz unerhörten Orthographie schreibt sie dem jungen Sünder:

»bei deinem ab' Schied war ich so vergnüt und Sagte zu dir, ietz hab ich keine Sorgen mehr über dich aber es hat nicht lang gewehrt, so kommen sie mit Haufen. Warum bist du wieder ins Katzer gekonnen, was hast du gethan um Gottes willen, wen du noch Einmal darein konnst, so wirst du hin aus geworfen, was wehre das for ein unglick for dich u. deine l. Mutter u. l. Ernst u. d. par Tag wo ich noch leb. es ist doch zu arg was du uns for iammer Machst. Das hat viel tränen ver urschat u. noch eine Pfeife gekauft u. keine Eigenen 1 + (Kreuzer) dar zu gehabt, u. eben das Hinaus werffen dar auf gesetz ist, es Scheint mir bald voll als thaste du es dar auf. kein grösser un glück läss sich denken vor dich u. deine so zärtzlich Mutter, die blos vor ihre Kinder lebt u. für ihr wohl. –«

Ein andermal bei ähnlichem Anlass fasst die Dote sich kürzer und rät ihm nur aus ihrer Lebenskenntnis heraus:

»Was andere thun das du ia Selber nicht vor gut halst tu es ia nicht. Dir nimms man vor übeler auf als die Reiche Kerl.«

36 Das A und O der mütterlichen Ermahnungen ist das Sparen. Sie empfiehlt ihm, den Wachsstock nicht unnütz zu verbrennen, denn er hat vierundzwanzig Kreuzer gekostet! und auch das Siegellack auf den Briefen besser zu sparen – die »verpetschirten Briefe« erzürnen sie ohnehin, weil sie nicht schnell genug zum Inhalt kommen kann. Diese Sorge für das Allerkleinste darf man nicht mit Kleinlichkeit verwechseln; bezeugt doch auch der in viel glücklicheren Verhältnissen aufgewachsene Robert v. Mohl in seinen »Lebenserinnerungen«, dass man im alten Württemberg nicht durch Einnahmen, sondern durch Nichtausgaben wohlhabend wurde oder wenigstens die Lebensforderungen befriedigen konnte. Wenn dies von den Familien der Geheimen Räte und Präsidenten gilt, so kann man daraus den Rückschluss auf das Witwenstübchen meiner Grossmutter ziehen. Sie kargt und darbt denn auch, wie es nur eine Mutter fertig bringt, sie »malt sich fast blind«, um ein paar Kreuzer für ihn zu erübrigen, der kleine Bruder steuert gelegentlich sein eigenes Erspartes bei, und dann beben beide, ob der Strudelkopf das Geld auch richtig verwende. Dieser tut sein Bestes, aber ein Spargenie wie die andern Familienglieder ist er nicht. Immer wieder lässt er sich kleine Ausschreitungen zu schulden kommen, die er zwar reuig selbst bekennt, aber umsonst, die Versuchung zum Splendidsein überwältigt ihn stets aufs neue. Zuweilen droht die 37 arme Frau, ihm die kleinen Subsidien ganz zu entziehen, aber sie bringt es nicht übers Herz, und am Schluss des Briefes legt sie dann doch wieder ihren Taler ein. Dass der Jüngling eines Tages solch einen sauer gesparten mütterlichen Taler in einem Biergarten der aufwartenden Hebe als scheue Huldigung unbemerkt ins Schürzentäschchen gleiten liess, das hat sie zum Glück nie erfahren! Rasch zehrte der Druck des Lebens diesen zarten Organismus auf. Zwar sobald ein Sonnenstrahl in ihr trübes Dasein fällt, so bricht auch ihr jugendliches Gemüt wieder durch, sie ist imstand, sich höchlich an einem Seiltänzer zu ergötzen und wünscht sich die Freude, bei einer Hochzeit in der Verwandtschaft noch einmal mit ihrem Hermann zu tanzen, aber mit vierzig Jahren neigt sich schon ihr Leben zu Ende.

In ihr letztes Jahr fiel die Hinrichtung des Helfers Brehm,Der Prozess des Hilfsgeistlichen oder »Helfers« Brehm war zu seiner Zeit eine cause célèbre, von der heute wohl nur noch wenige wissen. Der unglückliche Vikar hatte das neugeborene Kind seiner Magd, mit der er ein Liebesverhältnis unterhielt, beiseite geschafft und wurde wegen Kindsmords zum Tode verurteilt. Als erschwerender Umstand fiel ins Gewicht, dass er Geistlicher war. jene schauerliche Begebenheit, die F. Th. Vischer unterm Namen »Schartenmaier« im Bänkelsängerton besungen hat. Ihr jüngerer Sohn wurde mit der übrigen Schuljugend nach der wilden Sitte der Zeit zum 38 Zuschauen kommandiert, woran er noch als alter Mann mit Entsetzen dachte. Für die feinfühlige Frau, die viel humaner empfand als ihre Zeit, war das ein fürchterlicher Tag, wie schon der ganze Prozess, über den sie ihren Ältesten immer auf dem laufenden hielt, ihr mit der Menschheit ganzem Jammer zugesetzt hatte. Und angstvoll war ihr vor dieser schauerlichen Mahnung der Zweifel aufgestiegen, ob ihr Sohn denn wirklich zum Geistlichen auch den inneren Beruf habe. Als wäre sie hellsehend geworden, wirft sie schon jetzt die Frage auf, die den Jüngling wenige Jahre später in so schwere innere Kämpfe stürzen sollte.

Während Mutter und Sohn die Tage bis zu den nächsten Ferien zählten, lauerte schon der Tod, das Wiedersehen zu vereiteln. Am 16. Februar 1830 wurde die Liebevolle ihren verwaisten Söhnen entrissen.

Da sie nie von ihren Leiden sprach, und der letzte Brief, der vierzehn Tage vor ihrem Tode geschrieben ist, noch mit derselben Sorgfalt auf alle kleinen Einzelheiten eingeht, muss der Schlag den abwesenden Sohn ganz unvorbereitet getroffen haben. Er überliess sich der leidenschaftlichsten Verzweiflung, so dass der jüngere Bruder ihn trösten musste. Dieser, dem Verhältnisse und Anlagen eine viel bescheidenere Laufbahn bestimmten, sah stets mit Bewunderung zu den glänzenden Gaben des älteren auf, war aber bei seinem gelassenen, gleichmässigen 39 Temperament und seinem friedlichen Lebensgang öfter in der Lage, jenem eine Stütze zu sein. Ein liebevolleres, neidloseres Bruderherz hat es nie gegeben. Der Ältere erwiderte die brüderliche Liebe mit der gleichen Anhänglichkeit und liess den Jüngeren an seiner geistigen Fülle teilnehmen, so weit es die getrennten Lebenswege gestatteten. Die Brüder sind sich denn auch lebenslang in unwandelbarer Treue verbunden geblieben; der Jüngere, der selbst ein anmutiges poetisches Formtalent besass und mit grösster Leichtigkeit launige Gelegenheitsgedichte schrieb, hat das Schaffen des Dichters, wie er selber sagt, »mit Andacht« verfolgt, er hat ihm in schweren Zeiten ein Asyl in seinem Hause geboten und ist später dessen Hinterbliebenen ein treubesorgter Berater gewesen, bis den Hellen, Freundlichen selber unerwartet ein düsteres Verhängnis wegriss.

Nach dem Tode der Mutter trat die Frau Dote mit ihrer ganzen Person in die Lücke. Sie nahm den Knaben Ernst unter ihre warmen Fittiche, bis er etwa fünfzehnjährig bei seinem späteren Schwiegervater, dem Stabsamtmann FaberDieser Faber tritt in den »Heimatjahren,« deren Episodenreichtum ja vielfach auf Überlieferungen beruht, als der Nürtinger Lateinschüler auf, der dem vom Herzog geschossenen Hasen den kunstgerechten Genickfang gibt. als Inzipient die Notariatskarriere betrat. Ihren Hermann, der ihr Augapfel war und blieb, bemutterte sie aus der Entfernung, sorgte für all seine kleinen Bedürfnisse und setzte ihm den 40 Kopf zurecht, wenn er sich in die Menschen nicht schicken wollte. Es lässt sich kein liebenswürdigeres Verhältnis denken, als das zwischen der einfachen alten Frau und dem genialen hochstrebenden Jüngling, zu dessen ihr kraus dünkenden Wegen sie nie das Vertrauen verliert, dass es die rechten seien, weil es ja die seinen sind, – und der seinerseits mit den gärenden Welten im Hirn doch immer den Respekt vor der schlichten ungelehrten Menschlichkeit seiner alten Pflegerin bewahrt. Übrigens kam er mit seinen Vorgesetzten besser zurecht, seit jener Hartmann, der sich nach und nach mit der ganzen Promotion verfeindet hatte, vom Schauplatz abgezogen war, und statt seiner der junge David Friedrich Strauss als Repetent Kolleg las. Dieser entzückte schon damals durch seinen geistvollen und lebendigen Unterricht die jungen Leute, die er ein Jahr später auf der Hochschule abermals als begeisterte Zuhörer seiner philosophischen Vorträge um sich versammeln sollte.

Im Herbst 1831 fand die Schlussprüfung statt, die dem Zögling die Pforten des höheren theologischen Seminars in Tübingen öffnete. Als der Maulbronner Freundeskreis sich trennte, schrieb der junge Hermann Kurz einem Kameraden mit Namen Scherber auf das erste Blatt seines Stammbuchs:

    Die wir jung und lebensfrisch
Hier in Scherbers Album hausen,
Werden einst an seinem Tisch
Als bekreuzte Blätter schmausen. 41
Grüss' ich denn hiermit den Trupp
Der noch kommenden Genossen,
Denn dereinst im stillen Klub
Bleibt der Mund mir fest verschlossen.
Scherbern auch, den edlen Wirt,
Grüss ich namens aller Gäste,
Wenn er mit uns schmaust und klirrt
An dem stummen Totenfeste.

Wie charakteristisch ist dieser Stammbuchvers für die überstarke Jugendkraft, die in ihrer Lust am Gegensatz so gerne mit dem Todesgedanken spielt! 42

 


 


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