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Dem düsteren »Sonnenwirt« fiel ein freundlicheres Los als den sonnigen »Heimatjahren«. Der rührige Frankfurter Verleger Meidinger hatte den Roman zu günstigen Bedingungen für seine »Deutsche Bibliothek« erworben. Im Frühjahr 1854 nahm Hermann Kurz den seit zehn Jahren unterbrochenen Faden wieder auf. Es scheint, dass er zunächst nur einen Teil seiner Redaktionsgeschäfte provisorisch einem Stellvertreter übergab, denn er zeichnete noch das ganze Jahr hindurch den »Beobachter« mit seinem Namen. Die Zeit war knapp, bis zum Herbst musste das Buch im Handel erscheinen. Das Material war schon früher zusammengestellt, sonst wäre die Vollendung innerhalb acht Monaten eine Unmöglichkeit gewesen. Man hat dem Verfasser oft von befreundeter Seite seine Gründlichkeit und Umständlichkeit in den Vorstudien als Fehler vorgeworfen – mit Unrecht, wie mir dünkt, denn wer historische Schatten mit Blut beleben will, der muss, wie weiland Odysseus, seine Grube tief graben. Dass wenigstens die Raschheit der Ausführung nichts zu wünschen übrig liess, wird niemand bezweifeln, der erkennt, wie der Verfasser an die Grenzen seines Stoffs gebunden war und wie er mit jedem 189 Federstrich das aufgerollte Kulturbild noch bereicherte und vertiefte. Wenn er in den »Heimatjahren« noch vielfach seiner Phantasie freien Spielraum liess, so waren ihm hier durch die unerbittliche tragische Folgerichtigkeit der Entwicklung wie durch die Lebenskreise, in denen das Schicksal seines Helden verläuft, die strengsten Schranken gezogen, und es brauchte die Feuerströme der gereiftesten Kraft, um innerhalb dieser Schranken das zu vollbringen, wozu er von der Natur ausersehen war: die vollkommene Verschmelzung des kulturhistorischen mit dem psychologischen Roman. Der ältere kulturhistorische Roman war fast nur ein mehr oder minder bewegtes Schattenspiel gewesen; sein Verfasser hatte das mögliche getan, wenn er ihn mit lebendigen Lokalfarben, mit »Milieu«, wie man heute sagt, umgab. Hermann Kurz brachte ein Neues hinzu in der schrittweisen unausweichlichen psychologischen Entwicklung, die erst eine viel spätere literarische Periode zu ihren Forderungen schrieb.
Der »Sonnenwirt« ist ebenso wie die »Heimatjahre« eine Sammlung schwäbischer Charaktertypen, nur innerhalb einer niedrigeren Lebenssphäre, was ihre Mannigfaltigkeit fast noch bewundernswerter macht. Aber der Verfasser selbst ist unterdessen ein anderer geworden, er sieht seine Gestalten nicht mehr im »goldenen Duft der Morgenröte«, sondern im scharfen Licht 190 des Tages. Welch ein Unterschied zwischen dem Hannikel und seinen Gesellen, um die noch trotz ihrer schaurigen Tat am Gaisbühl und ihrem ebenso schaurigen Ende alle Lichter des Humors aufzucken, und der unerbittlich realen Zigeunergesellschaft, in die der Sonnenwirt gerät! Nicht nur die geistige, auch die seelische Anspannung muss eine übergrosse gewesen sein an diesem Werke, werden ja schon beim Lesen die Saiten des Gefühls bis zum Zerreissen gespannt. Es sei ein finsteres Geschäft, hatte der Verfasser noch über den helleren ersten Kapiteln an einen Freund geschrieben. Man könnte versucht sein zu fragen, wie gerade er mit seinem weichen Gemüt sich einen Stoff von solcher Härte wählen mochte. Ein ähnlich grausames Motiv, das ihn lange verfolgte, die Geschichte der Afra, die, wie er mir einmal schaudernd und im Flüsterton erzählte, unter dem Regiment eines Urahns in Reutlingen als letzte Hexe lebendig verbrannt wurde, was ihm wie eine vererbte Schuld auf der Seele lastete, gab er trotz dem persönlichen Drang einer Sühne auf, denn bei der Realistik, zu der seine Muse sich entwickelt hatte, waren dem Grausen eines Hexenprozesses auch seine Nerven schliesslich nicht gewachsen, und der Schatten des armen »Aferle« blieb ungesühnt. Vielleicht widerstrebte auch das Passive, das blosse Leiden ohne Schuld, das den Hexenprozessen anhaftet, seiner männlichen Feder. Im »Sonnenwirt« gab es Stoff und 191 Gegenstoss, da werden den Verbrechen des Gesetzes die einer gesetzlosen Welt entgegengestellt, und wenn ihn das Schicksal seines Helden um Sühnung und tragische Gerechtigkeit anrief, so konnte er in diesem trotzigen Schwabensohn sogar einen verwandten Zug erkennen: war er doch selbst in ständigem Kampfe mit einer übermächtigen, bald bureaukratisch engen, bald spiessbürgerlich stupiden Umgebung herangereift: diese Welt der Beschränktheit, des kleinlichen Eigennutzes, der starren Vorurteile zur Monumentalität gesteigert und in ein härteres Jahrhundert, in ländliche Umgebung versetzt, ergab jene typischen Gestalten des Amtmanns, des Pfarrers, die nicht einmal Personennamen führen, so sehr sind sie Vertreter ihrer Klasse, und jene kleinlich boshaften Weiber, wie die Sonnenwirtin und die Amtmännin, die wie unpassierbare Klippen den verlorenen Kurs des Helden umstarren. An jedem Zuge sieht man, wie ganz der Dichter hier auf eigenem wohlbekanntem Boden stand. So himmelweit der »Sonnenwirt« von einem Tendenzwerk entfernt ist, lässt sich doch in gewissem Sinne von ihm sagen, dass er innerlich mit des Dichters politischem Wirken zusammenhängt: das versteinerte Beamtenwesen mit dessen Überresten er am »Beobachter« den langen Krieg geführt hatte, stellte er hier noch einmal in seiner empörenden Missgestalt hin, und obgleich diese Typen heute nicht mehr existieren können, weil die Einrichtungen völlig andere geworden sind, 192 ist doch ihre Lebenswahrheit so gross, dass man sie noch persönlich zu kennen glaubt.
Es ist ein stehender Brauch geworden, den »Sonnenwirt« mit dem »Michael Kohlhaas« zu vergleichen. Meines Erachtens reicht aber die Parallele nicht weit. Den tragischen Rosskamm macht doch das Aufdiespitzetreiben seines Rechts, das an die fixe Idee streift, zu einem ganz besonderen, bizarren Menschentypus. Sein Fall ist ein Spezialfall, den nicht der Menschheit Jammer durchzittert; er erliegt, wie alle Helden Kleists, seinem eigenen Dämon. Bei dem unseligen Friedrich Schwahn aber sind es die nächsten, heiligsten Gefühle der Menschenbrust, die ihn den schwarzen Pfad hinunterreissen. Es ist mir immer als ein besonders feiner Zug erschienen, dass all sein Übermut, sein Schwadronieren, seine Gewalttätigkeit dem Wildling gar nicht sonderlich schaden: erst als das Beste und Edelste in ihm erwacht, als er dem Weib seiner Liebe Wort halten und seinen Kindern Vater sein will, ergreift und zermalmt ihn die erbarmungslose Maschine der Gesellschaftsordnung. Aber nicht nur in dem Furchtbar-tragischen, auch in dem Heimlich-trostlosen, dem inneren Welken und Absterben zeigt uns der Künstler das Walten der unentrinnbaren Notwendigkeit. Wie die blonde Christine allmählich mit dem Schmelz der Jugend auch den inneren Schmelz verliert und in eine nüchterne Alltäglichkeit fällt, die erst im Augenblick des letzten tragischen Wiedersehens auf der 193 Richtstätte wieder einem Strahl des früheren Liebesglanzes Raum gibt, das ist ein aus den innersten Naturgesetzen geborener Meisterzug.
Alles wirkte zusammen, den Guss des gewaltigen Werkes rasch zu fördern. Das Manuskript wanderte bogenweise, wie es aus der Feder kam, in die Presse, und der Setzer jagte den Verfasser weiter. In gleichmässiger Fülle der Erfindung, wie ein Strom, der nirgends schwächer wird, eilte so die Arbeit vorwärts bis zu jenem ungeheuren Wendepunkt, wo die herzgebrochene Umkehr des Helden beginnt, der sich aus den Greueln seiner Räubergemeinschaft zur Sühnung dem Gesetz in die Arme wirft, und wo die nunmehr »gerettete« Gesellschaft seiner inneren Läuterung nichts Besseres entgegenzubringen hat, als das Rad des Henkers. Aber gerade an dieser Stelle, wo es eines neuen, mächtigen Zusammenfassens aller dichterischen Mittel bedurft hätte, lauerte der Unstern, um das Gelingen zum Teil zu hemmen.
Eine Hirnentzündung befiel den Erstgeborenen, der damals anderthalb Jahre alt war, und stürzte das Haus in Schreck und Jammer. Die zarte Konstitution des Kindes gab wenig Hoffnung auf Rettung. Der Dichter verbrachte die Nächte am Bette des Knaben neben der verzweifelnden Mutter, die unter solchen Umständen nicht mehr daran denken konnte, sein Schaffen zu behüten; die Tage teilte er zwischen dem Schreibepult und dem Krankenzimmer. Jenen 194 künstlerischen Egoismus, der sich die Störungen um jeden Preis vom Halse hält, kannte er nicht, auch erlaubte ihm die Enge der Wohnung kaum, sich zu isolieren, und seine angstvolle Zärtlichkeit für den Knaben stand der der Mutter wenig nach. In dieser Aufregung stockte der Strom der Erfindung, die Gesichte verschwanden. Welcher Dichter hätte nicht schon jenen Sturz aus Wolkenhöhe erlebt, wo die umgebende Wirklichkeit, die vor der Intensität des inneren Schauens völlig versunken war, plötzlich mit Gewalt ihre Rechte zurücknimmt und die Visionen verscheucht, dass, wo vorher eine ganze lebendige Welt gewesen, auf einmal nichts mehr da ist als ein leeres weisses Papier? Auf die Rückkehr der Stimmung zu warten, war dem Verfasser des »Sonnenwirts« nicht vergönnt, der Verleger drängte, die Setzer klopften stürmisch an die Tür, die Bogen mussten abgeliefert werden; so griff er zu einem verzweifelten Auskunftsmittel, indem er auf die freie Darstellung verzichtete und von der Muse Abschied nahm, um an ihrer Stelle die Geschichtsschreibung im Aktenstaube wühlen zu lassen. Das 38. Kapitel gibt in der Tat den Rohstoff in fast unbearbeiteter Gestalt und sogar mit teilweisen Auszügen aus den Gerichtsakten, was die Kritik von jeher, und mit Recht, gerügt hat. Die psychologische Wichtigkeit des hier massenhaft gehäuften Materials, das er bei dichterischer Darstellung zum grossen Teile hätte über Bord werfen müssen, mochte ihn zu diesem Ausweg 195 mit verleitet haben. Aber man hat doch dem Dichter die Fiktion von der Muse, die nicht in die Höhle des Verbrechens und über die Schwelle des Gerichtssaals mitkönne, allzu willig geglaubt, indem man annahm, dass ihm an dieser Stelle der Stoff schlechtweg über den Kopf gewachsen sei und die Gestaltungskraft lahmgelegt habe. Nach der ganzen Ökonomie des Romans konnte es nie in der Absicht des Verfassers gelegen haben, nach dem Rachemord am Fischerhanne, womit der Held seinem Schicksal verfällt, das Gewebe der blutigen Taten noch weiter zu spinnen. Vielmehr war es hier ganz augenscheinlich von vornherein auf das Überspringen eines langen Zeitraums und auf eine wahrscheinlich grossenteils im Dialog zu gebende knappe Rückschau über die dem Morde folgenden Ereignisse abgesehen, woran sich unmittelbar die letzte Peripetie schliessen musste. Dass beides zu einem dürren urkundlichen Bericht geworden ist, war, wie gesagt, eine Wirkung äusserer, unabwendbarer Umstände. Auch ist dieser Bericht nur für solche Leser gänzlich dürre, denen die Phantasie nicht über die Schulter mitliest, weil der Gang, welchen die Dichtung nehmen sollte, unter der aktenmässigen Darstellung sich, wenn auch verschüttet, durchfühlen lässt. Bei der Begegnung des verfemten Mannes mit dem württembergischen Deserteur an der badischen Grenze, der ihm das verderbenbringende Pferd aufdrängt, bis zu seinem traumverlorenen Einritt in das 196 verhängnisvolle Vaihingen, hört man deutlich das Schreiten der tragischen Muse. Sollte es wirklich für den Dichter in seiner Vollkraft eine unübersteigliche Schwierigkeit gewesen sein, von hier aus die Menge des zwischen dem vorhergehenden und diesem Kapitel liegenden Stoffes, die Gemeinschaft mit dem wirklichen Verbrechertum, zusammenfassend zu bewältigen? Ich glaube es nun und nimmermehr. Meint man doch da und dort die Punkte durchzufühlen, wo das Gewebe sich befestigen liess, wie denn ein aus so tiefen Wurzeln gewachsenes Dichterwerk das Gesetz seiner Entwicklung in sich selber trägt. Freilich bleibt darum das Auskunftsmittel, zu dem der Verfasser gezwungen war, nicht minder zu bedauern; es lag mir hier nur daran, einmal den wahren Hergang, wie er in der Familie bekannt ist, klarzulegen.
»Sechs Setzer hat Meidinger hinter mir hergejagt,« schrieb mein Vater nach Vollendung der Arbeit aufatmend an seinen Freund Kausler. Als das Kind aus der Gefahr und das häusliche Leben wieder im Gleise war, hatte ihm die zurückgekehrte Muse noch das kurze ergreifende Schlusskapitel geschenkt, in dem es ihm gelang, die dichterische Höhe wieder zu erreichen.
Ihm selber blieb das vielberufene 38. Kapitel lebenslang ein Pfahl im Fleische, und dass es umgearbeitet werden müsse, stand ihm fest. Wäre es rasch zu einer neuen Auflage gekommen, solange die Fülle des Stoffes ihm noch gegenwärtig war und die Stimmung vorhielt, so wäre der 197 Umguss der verfehlten Partien sicher vollzogen worden. Aber nach dem ersten buchhändlerischen Erfolg – binnen acht Monaten waren laut Mitteilung Meidingers mehr als dreitausend Exemplare abgesetzt – kam der Vertrieb ins Stocken, der Unstern trat wieder ins Spiel, der treffliche Verleger starb unversehens weg, das Buch geriet in fremde Hände, das Interesse für den »Sonnenwirt« erkaltete, und zwar nicht nur beim Publikum, sondern schliesslich beim Verfasser selbst. Erst in den sechziger Jahren, als das von Janke in Berlin unterdessen erworbene Verlagsrecht zu Ende ging, trat die Frage der Neubearbeitung ernstlich an ihn heran. Aber ein Jahrzehnt war unterdessen vergangen, die unmittelbare Begeisterung für den Gegenstand war in ihm verdampft, ja, er fühlte eine Art von Grausen, sich aufs neue in die Wogen dieses blutigen Stoffes tauchen zu sollen.
»Was du vom Sonnenwirtle sagst, findet mich gepanzert«, schrieb er damals in seiner humoristischen Art an Paul Heyse, der nicht abliess, ihm den hohen Wert dieses Werkes und die Notwendigkeit einer Retouche vor Augen zu halten. »›Frieder, mir gruselt vor dir‹, muss ich mir immer sagen, wenn ich denke, dass er in drei Jahren aus dem Zuchthaus (Janke) kommt und von seinem unglücklichen Vater versorgt, gewaschen, gekämmt usw. sein will. Mit Dornhandschuhen will ich ihn empfangen.«
Um jene Zeit hatte ohnehin das Nervenleiden 198 schon begonnen, das ihm die frei schaffende, dichterische Tätigkeit lähmte, obwohl er sich dessen noch nicht bewusst war, und es kam niemals auch nur zum Versuch. So ist der »Sonnenwirt« einem edlen antiken Torso zu vergleichen, dem ein nicht entsprechender Arm oder Fuss angestückt ist. Man sollte sich, meine ich, endlich damit abfinden können.
Als das Buch im Oktober fertig war, rächte sich das misshandelte Nervensystem durch die ersten vorübergehenden Anzeichen jener Überreizung, die sich später zu einem chronischen Leiden entwickeln sollte. Diesmal trug das Übel noch seine Heilung in sich selbst. Die Unruhe trieb ihn gleich zu einem neuen dichterischen Entwurf, dessen Stoff er der Vorbewegung des Bauernkriegs entnehmen wollte. Er durchwanderte zu Fuss das Remstal, um in Kapellenberg und Schorndorf die Spuren des »Armen Konrad« aufzusuchen und kam schon nach wenigen Tagen von der Bewegung in freier Luft erfrischt und neugeboren nach Hause; so wenig bedurfte es damals noch, um seine Konstitution von einer Riesenanstrengung wieder herzustellen. Weshalb der »Arme Konrad«, auf dessen Entstehen Meidinger mit Eifer drang, am Ende doch nicht geschrieben wurde, weiss ich nicht; der Dichter mochte es wohl auch satt sein, im Blute zu waten. Jedenfalls war die nächste Arbeit, die er in Angriff nahm, idyllischer Natur. Meidinger wünschte für 1855 eine Weihnachtsnovelle. So 199 entstand während eines Sommeraufenthalts in dem Schwarzwaldbad Liebenzell der »Weihnachtsfund«. Die Fabel dazu oder vielmehr das wirkliche Ereignis, worauf sie beruht, war dem Autor zur rechten Stunde durch den Stadtpfarrer Buttersack geliefert worden, bei dem wir dort zur Miete wohnten – ich sage »wir«, denn die kleine Familie war im Winter durch meine schreiende Wenigkeit vermehrt worden. Der Landaufenthalt war der Arbeit sehr günstig: am frühen Morgen ging der Dichter mit Papier und Bleistift in den Wald und brachte dort auf Rasen und Nadelstreu liegend, mit einem Stein als Unterlage, seine erste Niederschrift aufs Blatt; der frische Harzduft ist der Erzählung noch anzuspüren. Der Form nach ist sie ein kleiner Roman geworden. Ihr Stoff lag dem Verfasser insofern sehr glücklich, als er ihm Gelegenheit gab, aus seiner unerschöpflichen Kenntnis der Sitten, Bräuche und Anschauungen des Volkes heraus wieder einen seiner farbensatten Kulturhintergründe für die einfache Herzensgeschichte aufzubauen. Die Kritik hat den »Weihnachtsfund« immer sehr hoch gestellt – zum Teil sogar höher als des Dichters andere Werke, wobei ich nicht zustimmen kann – aber buchhändlerisch hat er erst recht kein Glück gemacht. Denn um die Zeit seines Erscheinens hatten die Auerbachschen Dorfgeschichten den Geschmack für bäuerliche Stoffe zwar in den weitesten Kreisen geweckt, ihn aber auch auf Jahrzehnte 200 hinaus verdorben. Ein Menschenalter später hätten sowohl der »Sonnenwirt« wie der »Weihnachtsfund« einem neuerwachten literarischen Bedürfnis entsprochen und das äussere Glück ihres Autors begründet.
Die ersten Jahre nach dem Rücktritt vom »Beobachter« gehören zu den dichterisch fruchtbarsten meines Vaters. Wenn sein Schaffen vorher und nachher immer ein stossweises war, so lag das nicht an einer Ungleichheit der Inspiration, wie es dem Uneingeweihten scheinen muss, sondern lediglich an den äusseren Verhältnissen, die ihn so oft zur Zersplitterung seiner Kraft zwangen; der Genius war immer willig, wenn der Dichter ihm nur gehören durfte. Jetzt gehörte er ihm einmal ganz, und zugleich war ihm, zum ersten und letzten Male, das Glück wiederfahren, einen Verleger zu finden, der ihn durch freudigen Glauben und opferwillige Begeisterung auf seinem Wege förderte und vorwärtsdrängte. Der treffliche Mann gab sich auch alle Mühe, meinen Vater zur Übersiedelung nach Frankfurt zu bereden, was vielleicht sein Heil gewesen wäre, wie alles, was ihn der heimischen Enge entrissen hätte. Aber er konnte ihm nicht die für die Familie genügenden Mittel bieten, und schliesslich kam die Zeitschrift, in deren Redaktion mein Vater eintreten sollte, überhaupt nicht zustande. Wenige Jahre später wurde dann das schöne Verhältnis zwischen Autor und Verleger durch den frühen Tod des letzteren zersprengt.
201 Unter den Projekten, die den Dichter in jener Zeit des neuen Aufschwungs beschäftigten, war auch die Dramatisierung des Sonnenwirts. Schon hatte ein gewisser Walburg Kramer den Versuch gemacht, den »Erzböswicht« auf die Bühne zu bringen, und hatte ein höchst lächerliches Machwerk zustande gebracht, das der grässlichen historischen Wahrheit und aller poetischen Möglichkeit in die Zähne dem Trauerspiel einen rührenden Versöhnungsschluss gab. Da musste, nachdem durch drei Akte die Dialoge des Romans nicht ohne eine gewisse Geschicklichkeit zusammengestellt waren, im vierten, gerade im Augenblick der Katastrophe, der Herzog Karl in eigener durchlauchtiger Person auf den Brettern erscheinen, um den Verbrecher zu retten und ihn samt seiner Christine glücklich nach Amerika zu spedieren. Ob die vieraktige Missgeburt jemals über die Bühne ging, weiss ich nicht. Nun wollte Hermann Kurz, um ähnlichen Verballhornisierungen vorzubeugen, die Bühnenbearbeitung selbst übernehmen. Der Verleger war Feuer und Flamme für den Plan, weil er nicht nur der Sache selbst einen glänzenden Erfolg, sondern auch eine günstige Rückwirkung auf den Absatz des Romans erhoffte. Es wurden auch wirklich einige Szenen geschrieben, die, wie ich glaube, noch existieren. Aber der Stoff widerstrebte der dramatischen Behandlung, denn mit Entfernung der zweiten Christine musste eins der reizvollsten Motive und zugleich ein 202 psychologischer Hauptfaktor ausfallen, und doch war diese Entfernung unerlässlich, denn die Spaltung seiner Seele zwischen zwei Frauen hätte dem Helden als Bühnencharakter erst recht den Hals gebrochen. Mein Vater sah dies jedenfalls zeitig ein, wie ich aus dem raschen Abbrechen des Versuchs schliesse.
Der »Weihnachtsfund« war das letzte, was Hermann Kurz im breiten epischen Stil geschrieben hat. Die andern Romanentwürfe, die seltsamerweise alle auf den Namen »Konrad« gingen, denn ausser dem »Armen Konrad«, der zwar freilich keinen Personennamen bedeutet, war noch ein »Konrad Breuning« und ein »Konrad Wiederhold« geplant, kamen nicht mehr zur Ausführung. Vielmehr kehrte der Dichter in jener Periode verjüngter Schaffenslust nunmehr auf das Gebiet der Novelle zurück, wo er sich die ersten Sporen verdient hatte und wo, wie ich glaube, seine Kunst sich am reinsten und freudigsten ausspricht. Es versteht sich ja von selbst, dass ein so gewaltiger Bau wie der »Sonnenwirt« und selbst die jugendlicheren »Heimatjahre« grössere Anforderungen an die Kraft ihres Autors stellen, aber den ungetrübtesten künstlerischen Genuss gewähren doch die kürzeren Erzählungen. Ein so berufener Kritiker wie Ludwig Pfau pflegte das »Arkanum« schlechtweg die beste deutsche Novelle zu nennen. Ich hatte von Jugend auf unter diesen Novellen eine stille Liebe, »Die blasse 203 Apollonia«, deren Reiz ich mir früher nicht mit Gründen erklären konnte, die ich aber später mit gereifteren Augen als ein Juwel von höchster künstlerischer Schönheit erkennen lernte. Denn hier ist ein tiefes psychologisches Problem, das den Stoff zu einem ganzen Romanband enthält, auf wenige Seiten zusammengedrängt, und ebenso grosse Bewunderung verdient die geradezu einzige Form der Einkleidung: wie aus dem Munde zweier Berichterstatter von verschiedenem Temperament und Bildungsgrad, die sich gegenseitig widersprechen und ergänzen, gleichsam zwischen zwei Spiegel gerückt, die ergreifende Gestalt des seltsamen Mädchens ersteht und wie der Schluss poesievoll das Grauen der Richtstätte wieder wegwischt durch das friedliche Wiesengrün einer lichteren, menschlicheren Zeit. Auch die Apollonia kann man noch gewissermassen zu den Stoffen aus der Familientradition rechnen, denn bei der Verurteilung der vierzehnjährigen Mörderin hatte ein Ahnherr eingegriffen, indem er den grausamen Spruch, der auf den Scheiterhaufen lautete, in den Tod durchs Schwert milderte. Dieses Prachtstück der neuen Novellensammlung war übrigens schon in den Karlsruher Tagen entstanden. Aus Briefstellen meines Vaters geht hervor, dass damals Auerbach, dem er die Erzählung frisch aus dem Manuskript vorlas, das Urteil abgab, die Geschichte sei recht hübsch, aber es fehle etwas daran, weshalb ihn der Autor verschiedentlich um Belehrung 204 anging, was denn fehle, bis er im Herbste desselben Jahrs in Auerbachs »Gevattersmann« die Entdeckung machte, dass dieser sich unterdessen selber des Motivs bemächtigt und es für eine seiner Tendenztiraden zurechtgeschneidert hatte. So wenig wurde die schlichte wundervolle Fassung dieses novellistischen Edelsteins verstanden.
Dieselbe künstlerische Meisterschaft, die mit jedem Stoffe die Form wechselt, geht durch fast sämtliche Novellen von Hermann Kurz bis herab zu dem unscheinbaren, aber innerlich bedeutsamen »Donnerwetter im Hornung«. Es zeigt sich in ihnen der reine Grundtypus der Novelle als erweiterte und ganz mit Kunst durchtränkte Anekdote, wie sie die grossen Künstler lateinischer Rasse von Bocaccio bis auf Maupassant gepflegt haben, deutlich ausgeprägt. Der Gaumen des deutschen Lesers ist nur leider im Durchschnitt auf die Feinheit solcher Kost nicht eingerichtet, er zieht meist eine tüchtige Menge Stoff und eine Handvoll grobes Gewürze vor. Und auch dem feinsinnigeren Kritiker entgeht es nur allzuleicht, wieviel dazu gehört, eine Geschichte zu formen, die ganz aus der Tiefe des Menschenlebens und der gehäuften Erfahrung geholt ist, fern von jeder Willkür, dann wiedergeboren im Geist, um und um losgelöst vom grobstofflichen, ganz durchleuchtet von der ewigen Wahrheit und dabei doch sinnlich greifbar bis in die kleinste Einzelheit. Man schätzt den Geist des Dichters, man wärmt sich an 205 seinem Gemüt, aber die eigentliche Kunst wird kaum beachtet, ja man könnte sagen, am Nichtverstandensein kennt man bei uns den feineren Künstler. Doch darf man den deutschen Leser nicht allzuhart verklagen, denn auch die Nationen von älterer Kultur machen es in dieser Hinsicht kaum besser. Der feinste Künstler, den Frankreich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hervorgebracht hat, Guy de Maupassant, musste die Aufmerksamkeit der Welt durch eine Reihe dickflüssiger, gequälter, höchst gepfefferter und doch so langweiliger Romane auf sich ziehen, während seine wundervollen kleinen Contes, Juwelen, die für die Ewigkeit geschliffen sind, mit lächerlich geringen Auflageziffern neben den 160 oder mehr Auflagen des Belami stehen. Seit die Massen lesen können und lesen wollen, musste die Literatur um so viel herabsteigen, als das mittlere Bildungsniveau gesunken ist. In hundert Jahren, wenn, so Gott will, unsre Kolonien in Blüte gekommen sind, wird der deutsche Buchhandel auch mit dem Geschmack des Kamerunnegers zu rechnen haben.
Bei der in den fünfziger Jahren entworfenen dreibändigen Sammlung der »Erzählungen« legte Hermann Kurz, seiner früheren Neigung zum novellistischen Potpourri entgegen, einen festgeschlossenen Zyklus an, worin altes und neues in bestimmter Ordnung zusammengestellt werden und ein Stück dem andern gewissermassen 206 die Hand reichen sollte. Leider war auch diesmal dafür gesorgt, dass nicht alle Blütenträume reiften, denn mehrere der geplanten Erzählungen blieben ungeschrieben, weshalb sich jenes innere Ineinanderschliessen nicht durchführen liess.
Er verstand es, diesen kleinen bodenwüchsigen Geschichten die ganze altschwäbische Intimität zu geben ohne die im Leben davon unzertrennliche Kleinlichkeit. Sein Stil machte alles, womit er sich beschäftigte, gross, denn über dem kleinsten Stoff steht er mit der Weltweite seines Gedankens: immer öffnet er Fenster ins Universum hinaus. Erst in späteren Jahren, als seine innere Vereinsamung zunahm, in der Oberesslinger und Tübinger Zeit, begegnet es ihm dann und wann, dass er ein Schiebfensterchen aufzieht, das nicht ins Weite, sondern in ein Gewinkel von kleinen Innenhöfen führt, wo es zwar ganz heimelig aussieht, aber weil wir nicht als Kinder mit ihm dort gespielt haben, finden wir uns nicht darin zurecht. Damals aber ging sein Blick noch in lauter grünes sonniges Gelände. Man fühlt es diesen Novellen ordentlich an, wie der Autor sich über der Arbeit verjüngte. Er legt seinen im Roman schon fast zu herbe gewordenen Realismus wieder ab und taucht aufs neue seine Gegenstände in die Farbe des Morgenrots. Der wundervolle Humor, der über den Erzählungen schwebt, veranlasste den feinsinnigen Kausler auf die Übersendung des ersten Bändchens zu der Frage, weshalb der Autor nicht einen humoristischen 207 Roman aus der deutschen Geschichte schreibe. Der köstliche Schwank »Den Galgen, sagt der Eichele«, hatte die Lust nach mehr von dieser Sorte geweckt. Die Antwort, die Hermann Kurz auf diesen Vorschlag gab, wirft auf ihn selbst und auf die Dinge ein so helles Licht, dass ich es mir nicht versagen kann, die bezügliche Briefstelle wiederzugeben.
»An einen humoristisch-historischen Roman habe ich gerade früher oft gedacht,« schreibt er zurück. »Seit ich aber die deutsche Geschichte näher zu kennen anfange, ist mir das Ding vergangen. Sie hat freilich politische Schellenkappen genug, womit man einen Don Quichote und einen Sancho aufputzen könnte, dabei aber ein so echtes und herzbrechendes Pathos, dass ich kein Stück von ihr, nicht einmal 1848, vorzunehmen wüsste, das nicht weit über den Don Quichote hinausginge. Bis zur lächelnden Rührung zwar bringt's dieser auch, aber in unserer Geschichte ist immer mindestens soviel Stoff zum Weinen und zur Erschütterung als zum Lachen, und das sprengt die Form des komischen oder auch nur bloss-humoristischen Romans. Ich habe mich deshalb mit dem Eichele auf den Standpunkt eines mittelalterlichen Faschings gestellt, an welchem ein politischer Fastnachtsschwank vorgetragen wird, der als blosser Schwank so kurz als möglich sein muss, d. h. ein ›unsinniglicher‹ historischer Roman, aber auf einem halben Bogen. Historisch sind die Begebenheiten 208 grossenteils, selbst bis zum wollenen KappenzipfelDiese historische Grundlage hat der Verfasser in viel späteren Jahren in dem Aufsatz »Der Kappenzipfel« aufgedeckt. Erschienen in der Germania, Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. XV. Jahrgang. Wien 1870. S. 95 f. inklusive.«
Eine fernere Stelle dieses Briefes ist für den aufmerksamen Leser der »Erzählungen« gleichfalls von Reiz, weil sie zeigt, wie dem Verfasser der innere Zusammenhang der Geschichten unter einander vorschwebte.
»In der Zaubernacht sollte nur scheinbar dem mit der Reformation aufgegangenen Lichte ein Morgenlied angestimmt werden, denn die christliche Reaktion, die mit Luther dem italienischen Heidentum bereitet wurde, tat den christlichen Höllenrachen weiter auf, als er je in den vergangenen Jahrhunderten geöffnet war, und beide Konfessionen, die lutherische voraus, verbrannten in ihrem durch die Trennung gestachelten Wetteifer im 16. und 17. Jahrhundert mehr Hexen als das ganze Mittelalter, wohl zehnmal mehr und drüber. Dass bei dem ›Riesenfeuerteufel‹ ein Nachkomme eines alten malleus maleficarum beteiligt war, erfährt der Leser freilich erst aus dem zweiten Band.Nämlich aus der Geschichte der als Hexe verbrannten Afra, die mein Vater damals schreiben wollte, für die aber nie die Feder eingetaucht wurde. Diesmal aber fürchte ich, würde dir's ein Pietist im Verständnis zuvorgetan haben, und zwar mit unaussprechlichem Brummen. Eher 209 noch werde ich den Katholiken mit dieser Zusammenstellung gewinnen, und dies ist auch nötig, da ich ihn im zweiten Band samt einer gemischten Ehe per Pulvermühle in die Luft fliegen lassen will. Dies natürlich sub rosa, wie sich's bei jeder Pulververschwörung von selbst versteht.«
Mit der letzteren Stelle ist die Novelle »Der heilige Florian« gemeint, die gleichfalls unausgeführt geblieben ist. Das Motiv von der katholisch-protestantischen Brautschaft und von dem Schutzheiligen des katholischen Teils, der auf Glas gemalt und in einer Pulverfabrik unbedacht als Fensterscheibe eingesetzt, durch eine kleine Linse Braut und Bräutigam mitsamt dem ganzen Konfessionsstreit in die Luft sprengt, war äusserst verführerisch, aber das Werk wurde nicht zur guten Stunde begonnen, die Exposition war augenscheinlich zu breit, und der Ton hat auch nicht die den Erzählungen sonst fast durchweg eigene bezaubernde Frische, weshalb es weggelegt und nie wieder aufgenommen wurde.
Dagegen hatte der Dichter mittlerweile seinen allerglücklichsten Griff getan mit jener von Humor sprudelnden Erzählung, die unter ihrem späteren Titel »Die beiden Tubus« allgemein bekannt ist. Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wenn ich von dieser Novelle weiter sprechen wollte, da sie von allen Werken meines Vaters weitaus die grösste Verbreitung gefunden hat, wenn auch leider erst nach dem Tode des Verfassers. Auch 210 diese Erzählung stützt sich auf eine wirkliche Begebenheit, wie es oft bei solchen Motiven der Fall ist, die der Leser für die allerwillkürlichste Erfindung des Dichters hält, denn das Leben selbst ist der barockste aller Humoristen. In einem Taschenbuch meines Vaters steht darüber die kurze Notiz: »Die beiden Pfarrer, (Rechberg und Frickenhausen) die einander durch den Tubus kennen lernen, als Anknüpfung einer Novelle.«
Niemand würde es dieser gesundheitsprühenden, von siegreichstem Humor wahrhaft durchsonnten Erzählung ansehen, dass sie ihren Verfasser nach der Vollendung im traurigsten Zustand zurückliess. Seit lange ohne alle Ausspannung und Erholung und stündlich gehetzt durch die Sorge um die Erhaltung der wachsenden Familie, hatte er sich bei der freudigsten Arbeit derart übernommen, dass sein vorher schon empfindliches Nervensystem in völligen Aufruhr geriet und eine gefährliche Krankheit zu drohen schien. Ein schlimmer Zufall vermehrte noch das Übel: er hatte zwei ganz gleiche niedere Steinkrüge auf seinem Tischchen stehen, wovon der eine ein Mineralwasser, der andere Arak enthielt. Von heftigem Durst gepeinigt, goss er eines Tages ein Glas voll und trank die farblose Flüssigkeit, im Glauben, dass es Wasser sei, auf einen Zug aus. Er hatte sich in der Aufregung geirrt und den Arak ergriffen. Die Wirkung war schrecklich, er glaubte innerlich zu verbrennen. Er konnte keinen Laut mehr ertragen und schloss sich in seinem Zimmer ein; das Essen musste ihm durch ein Schiebfenster hineingestellt werden und blieb gewöhnlich unberührt. Durch mehrere Tage liess er keine Seele vor sich, nicht einmal seine Frau, die Tag und Nacht spähend an seinem Schlüsselloch stand, immer in Furcht vor einer Katastrophe. Da sah sie ihn stundenlang am Waschtisch stehen, wie er mit einem grossen Schwamm die Stirn kühlte oder die Haare, deren Fülle ihn belästigte, fort und fort mit dem Kamm nach oben strich. Endlich gelang es unsrem Hausarzt, dem trefflichen Dr. Stockmayer, sich durch List, indem er ein wichtiges Geldgeschäft vorschützte, Einlass zu verschaffen; unter dem Vorgeben, dass man im Freien sich besser unterreden könne, lockte er ihn zu einem Spaziergang hinaus und schleppte ihn durch Wälder und Dörfer, immer weiter, bis der Kranke physisch völlig ermattet war. Bei sinkender Nacht brachte er ihn todmüde, aber genesen zurück. Ein tiefer Schlaf folgte, der erste seit Wochen, und am Morgen waren die Gespenster verschwunden.
Ähnliche Zustände, nur von geringerer Heftigkeit und Dauer, waren auch schon nach der Überanstrengung am »Sonnenwirt« eingetreten und sollten fortan jeden Aufschwung zu dauernder, rein produktiver Tätigkeit begleiten als tragische Busse für die Misshandlung des Genius, der seine frischesten Kräfte in der Frone einer Zeitungsredaktion eingesetzt hatte. Als sein Leben zur 212 verfrühten Neige ging, spielten »Die beiden Tubus« noch einmal eine ominöse Rolle, denn bei einem unternommenen zweiten Teile dieser Arbeit war es, dass ihn der letzte und schwerste dieser Anfälle traf.
Die drei Bände Erzählungen, unter die auch einige der älteren Stücke aus den »Genzianen« und den »Dichtungen« in teilweiser Überarbeitung herübergenommen wurden, erschienen in den Jahren 1858–60 bei Franckh in Stuttgart; – der treffliche Meidinger war unterdessen zum grössten Unheil meines Vaters gestorben. Sie machten von allen Arbeiten des Dichters noch das schlechteste Glück. So unüberwindlich war die Stumpfheit des Publikums, dass jene Auflage, wie man mir versicherte, vor wenigen Jahren noch nicht völlig vergriffen war.
Unterdessen war es gegen Schluss des Jahres 1856 endlich auch zu einer Neuauflage der »Heimatjahre« gekommen – dreizehn Jahre hatten seit ihrem ersten Erscheinen, zwanzig seit der Vollendung des Manuskripts verfliessen müssen, zwei Zahlen, die ebenso die Ungunst des Glückes anklagten, wie sie für die innere Lebenskraft des Werkes Gewähr gaben. In völlig durchgearbeiteter, straff zusammengezogener Gestalt, wobei es nichts von seinem Jugendreiz eingebüsst hatte, trat es jetzt aufs neue ans Licht. Aber der alte Unstern wollte nicht weichen. Das Buch musste abermals im selben kleinen Verlag wie das erstemal erscheinen, denn alle Versuche Meidingers, es für sich 213 zu erwerben, waren an der Weigerung des neuen Eigentümers der Franckhschen Buchhandlung, Leins, gescheitert. So drang es auch diesmal nicht mit Flugkraft über die schwarzroten Grenzpfähle hinaus, (obschon es ins Französische übersetzt wurde und unter den »Meilleurs romans contemporains« erschien); innerhalb des Landes aber erhielt sich sein Ruhm nur wie eine dunkle Sage, ohne den Vertrieb in Gang zu bringen.
Auf Wunsch des Autors, dem daran lag, sich von einer parteilosen Feder bestätigen zu lassen, dass seine politische Tätigkeit nicht auf die Neugestaltung des Romans abgefärbt hatte, übernahm Kausler die Anzeige des Buchs; sein Lob war so fein und so leise, dass Autor und Verleger sich an dem diskreten Ton freuten, (»Der Mann heisst LeinsSchwäbisch für leise. und muss es wissen,« schrieb der Autor an den Rezensenten) dass aber das Publikum gar nicht aufhorchte. Meines Vaters Freunde waren ihm innerlich viel zu sehr verwandt, um laut für ihn ins Horn zu stossen, und konnten darum die breite Masse, unter der sie selbst als Fremdlinge lebten, nicht nachziehen. Kauslers Mahnung, jetzt endlich die alte Sünde an dem Verfasser gut zu machen, verhallte ungehört. Und noch jahrzehntelang sollten sich die glänzendsten Federn Deutschlands vergebens für dieses Werk regen; das Auge der Menge blieb mit Blindheit geschlagen: den Geist sieht, den Schatz hebt nur das Sonntagskind. 214